Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

O du Oxfordstraße! Du Stiefmutter mit dem steinernen Herzen! So also wurde ich von dir erlöst, von dir, die du den Seufzern der Waisen lauschst, von dir, die die Tränen der Kinder trinkt – endlich von dir erlöst. Endlich war die Zeit gekommen, wo ich nicht mehr, vom Elend gedrückt, deine unendlichen Häuserreihen entlang schleichen mußte, wo ich in Traum und Wachen in den Krallen des Hungers mich fand. Viele, viele Nachfolger sind wahrscheinlich seitdem in unseren, in Anns und meinen Fußtapfen gewandelt – Erben unseres Elends; andere Waisen als Ann haben geseufzt, andere Kinder bittere Tränen geweint; und du, Oxfordstreet, hast seitdem immer wieder das Echo unzähliger Herzensseufzer vernommen. Für mich aber schien der Sturm, den ich eben erlebt hatte, ein Unterpfand langen schönen Wetters bedeuten zu sollen; die überstandenen Leiden, die ich da unten bezahlt hatte, schienen als eine Abfindung für viele kommende Jahre gelten zu sollen, als ein Lösegeld für eine lange Befreiung von Sorgen. Wenn ich wieder durch London ging – ich tat's oft –, als ein einsamer und nachdenklicher Mann, so geschah es meist in Heiterkeit und Seelenfrieden. Und obgleich die Entbehrungen meiner Muluszeit in London ihre Wurzeln so tief in meine Körperkonstitution geschlagen hatten, daß sie später aufschossen und von neuem blühten und zu nächtlichen Schatten aufwuchsen, die meine späteren Jahre überschattet und verdunkelt haben, so war ich gegen diesen zweiten Leidensansturm doch besser gefeit; konnte mit der Kraft eines gereiften Geistes mich besser dagegen stemmen und fand Erleichterung durch mitfühlende Zuneigung, die tief und mild war. Doch trotz all dieser Erleichterungen waren noch viele, viele Jahre durch seine Ketten von Leiden gefesselt an die Wurzel eines gemeinsamen Ursprunges. Und, um zu zeigen, wie kurzsichtig menschliche Wünsche sind: während meiner ersten Schmerzenszeit in London war es mein Trost – wenn man überhaupt von Trost sprechen kann –, von Oxfordstreet aus jede Straße hinaufzublicken, die durch Marylebone hindurch in die Felder und Haine mündet; wenn meine Augen die langen Häuserreihen, die halb im Lichte und halb im Schatten lagen, entlang wanderten, dann dachte ich: »Das ist der Weg nach Norden, der Weg zum Ziele deiner Sehnsucht.« Hätte ich Taubenflügel gehabt, dann wäre ich geflogen. Das sagte und das wünschte ich mir – in meiner Blindheit. Und doch war es gerade in diesen nördlichen Gegenden, in diesem selben Tal – ach – in demselben Hause, nach dem damals meine irrigen Wünsche flogen, daß eine zweite Leidenszeit für mich lebendig wurde, und daß die Leiden zum anderen Male die Feste meines Lebens und meiner Hoffnung belagerten. Dort wurde ich jahrelang von gräßlichen Traumbildern und gespenstischen Erscheinungen gepeinigt, so gräßlich, wie je sie das Lager eines Orest umtanzten. Ich aber war unglücklicher als er, denn der Schlaf, der zu allen Menschen als Zuflucht und Erquickung kommt, der zu ihm besonders als ein gesegneter Balsam für sein wundes Herz, sein müdes Hirn kommen durfte, kam zu mir als die bitterste Geißel. – So mit Blindheit geschlagen waren meine Wünsche. Wenn aber ein Schleier zwischen dem getrübten Blicke eines Mannes und den Leiden seiner Zukunft hängt, dann kommt es vor, daß derselbe Schleier ihm auch ihre Linderungsmittel verbirgt, und ein Kummer, vor dem man keine Sorge hatte, ist dann manchmal begleitet von Tröstungen, auf die man nicht gehofft. Wie ich an allen Leiden des Orest Anteil hatte – ausgenommen einzig die Gewissensbisse –, hatte ich auch Anteil an den Tröstungen, die ihm zuteil wurden. Meine Eumeniden kauerten, wie die seinen, zu Füßen meiner Bettstatt und starrten durch die Vorhänge hindurch mir ins Gesicht. Aber wachend sah bei meinem Kissen, sich selbst den Schlaf versagend, um mir in den schleichenden Stunden der Nacht Gefährtin zu sein, meine Elektra. Denn du, geliebte Gefährtin meiner späteren Jahre, warst meine Elektra! Und weder an Großmut noch an Geduld ließest du dich von deiner griechischen Schwester übertreffen. Denn die niederen Dienste der Nächstenliebe und der innigen Zuneigung zögertest du nicht, mir zu leisten. Mir Jahre hindurch den ungesunden Tau von der Stirn zu wischen; meine Lippen zu kühlen, wenn sie aufgesprungen und trocken vom Fieber waren. Selbst als dein eigener friedlicher Schlummer durch die lange Gemeinsamkeit unseres Denkens von den gleichen gräßlichen Bildern und furchtbaren Kämpfen mit den Traumgestalten und schattenhaften Feinden beunruhigt wurde, die mir oft zuriefen: Schlaf nicht weiter! – auch da merkte ich nichts von Klage und Murren, noch überzog Schatten deine engelhaften Züge, noch wurden deine Liebesdienste lässiger. – Mehr hast du getan, als je Elektra tat! – Denn sie, die eines Königs Tochter war, weinte doch manches Mal und mußte ihr überströmtes Gesicht in den Falten ihrer Kleider bergen.

Aber auch diese Qualen sind vergangen, und nun wirst du die Erinnerung an diese, für uns beide so schmerzliche Zeit lesen wie ein Märchen von einem schreckhaften Traum, der nie wiederkehren kann.

Wieder bin ich jetzt in London, und manchmal streiche ich des Nachts an den Häuserreihen von Oxfordstreet entlang. Manchmal, wenn die Angst mich überfällt, so daß ich alle Philosophie zusammensuchen muß, so daß ich mir einbilden muß, du seiest in der Nähe – wenn dann ich daran denke, daß dreihundert Meilen uns trennen und drei traurige Monate uns fern voneinander halten, dann schaue ich in den Mondnächten nordwärts durch die Straßen, die von Oxfordstreet dahinlaufen, und mache die Sehnsüchte meiner jugendlichen Hoffnungen wieder lebendig. Dann denke ich daran, daß du jetzt allein in diesem stillen Tale wohnst, Herrin des Hauses, zu dem die Blindheit meiner Herzenswünsche vor neunzehn Jahren floh. Ich denke daran, wie blind ich tatsächlich war, wie die Winde so vieles zerschmettert haben, wie die Schläge meines Herzens Beziehungen zu zukünftigen Zeiten gehabt haben und ihre Rechtfertigung fanden, wenn man sie von dem anderen Standpunkte betrachtet. Wenn ich heute noch einmal zu den hilflosen Wünschen meiner Kindheit hinabsteigen dürfte, dann würde ich mir wieder wünschen, wenn ich nach Norden ausschaue:

»Oh, daß ich doch Taubenflügel hätte – – –« Und mit welchem Vertrauen in dein gutes und anmutvolles Wesen würde ich die andere Hälfte meiner kindlichen Wünsche wieder hinzufügen: »Daß ich zum Ziele meiner Sehnsucht flöge!«


 << zurück weiter >>