Alexander Puschkin
Der Schneesturm und andere Erzählungen
Alexander Puschkin

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Der Stationsaufseher

Wer hat noch nicht auf die Stationsaufseher geflucht, wer sich mit ihnen noch nicht herumgeschlagen? Wer hat von ihnen im Augenblick des Zornes noch nicht das ominöse Buch verlangt, um in dasselbe eine zwecklose Beschwerde über Schikanen, Grobheiten und Unpünktlichkeit einzutragen? Wer hält sie nicht für Verbrecher am Menschengeschlecht, ähnlich den Rechtsverdrehern an den alten Gerichten oder wenigstens den Räubern von Murom? Wollen wir jedoch gerecht sein und uns in ihre Lage versetzen; dann werden wir sie vielleicht viel nachsichtiger beurteilen. Was ist so ein Stationsaufseher? Ein wahrer Märtyrer der vierzehnten Beamtenklasse, durch seinen Rang nur vor Schlägen geschützt, und auch das nicht immer (ich appelliere an das Gewissen meiner Leser). Wie ist das Amt dieses »Diktators«, wie ihn der Dichter Fürst Wjasemskij im Scherz nennt? Ist es nicht eine wahre Zuchthausstrafe? Keine Ruhe bei Tag und Nacht. Den ganzen Ärger, der sich während der langen langweiligen Fahrt angesammelt hat, läßt der Reisende an ihm aus. Das Wetter ist unerträglich, der Weg schrecklich, der Postkutscher eigensinnig, die Pferde wollen nicht fahren, – Schuld hat aber an allem der Stationsaufseher. Betritt der Reisende seine ärmliche Behausung, so sieht er ihn gleich als einen Feind an; es ist noch gut, wenn er den ungebetenen Gast schnell abfertigen kann; wenn aber zufällig keine Pferde da sind? ... Mein Gott, was für Flüche, was für Drohungen fallen ihm dann auf das Haupt! Bei Regen und Schmutz muß er auf der Suche nach Pferden von Hof zu Hof laufen; bei Sturm und beim Dreikönigsfrost geht er auf den Flur hinaus, um sich nur für einen Augenblick vom Geschrei und den Püffen des wütenden Gastes zu erholen. Ein General kommt gefahren; der zitternde Stationsaufseher muß ihm die beiden letzten Troikas geben, darunter auch die für die Kuriere bestimmte. Der General fährt weiter, ohne sich bedankt zu haben. Nach fünf Minuten wieder ein Glöckchen... und der Feldjäger wirft ihm seine Ordre auf den Tisch. ... Wenn wir dies alles genau bedenken, wird sich unser Herz eher mit aufrichtigem Mitleid als mit Empörung füllen.

Nur noch einige Worte: im Laufe von zwanzig Jahren habe ich Rußland in allen Richtungen bereist; fast alle Poststraßen sind mir bekannt; ich kenne mehrere Generationen von Postkutschern; es gibt wenige Stationsaufseher, die ich nicht kennte, mit wenigen habe ich noch nicht zu tun gehabt; die interessante Sammlung meiner Reisebeobachtungen gedenke ich in kürzester Zeit zu veröffentlichen; heute möchte ich nur sagen, daß die öffentliche Meinung eine ganz falsche Anschauung vom Stande der Stationsaufseher hat. Diese viel verleumdeten Stationsaufseher sind im allgemeinen friedliche Leute, von Natur dienstfertig, zum geselligen Leben geneigt, bescheiden in ihren Ansprüchen auf Ehren und nicht allzu eigennützig. Aus ihrer Unterhaltung (die die Herren Reisenden mit Unrecht verschmähen), kann man viel Interessantes und Belehrendes schöpfen. Und was mich betrifft, so ziehe ich, offen gestanden, eine Unterhaltung mit ihnen den Reden irgendeines Beamten der sechsten Rangklasse vor, der im dienstlichen Auf1trage reist.

Man wird leicht erraten, daß ich in diesem ehrenwerten Stande der Stationsaufseher meine Freunde habe. Und in der Tat, das Andenken eines von ihnen ist mir sehr teuer. Die Umstände hatten uns zusammengeführt, und von ihm möchte ich auch meinen geneigten Lesern erzählen.

Im Mai des Jahres 1816 fuhr ich zufällig durch das ***sche Gouvernement auf einer heute abgeschafften Poststraße. Ich bekleidete damals einen unbedeutenden Rang, reiste mit der Post und bezahlte für zwei Pferde. Aus diesem Grunde machten die Stationsaufseher mit mir wenig Federlesens, und ich mußte mir oft mit Gewalt erkämpfen, was mir meiner Ansicht nach von rechtswegen zukam. Da ich jung und aufbrausend war, entrüstete ich mich über die Gemeinheit und den Kleinmut eines Stationsaufsehers, wenn er die für mich bereitstehenden Troikapferde vor die Equipage eines höheren Beamten spannte. Ebenso lange konnte ich mich nicht daran gewöhnen, an der Tafel des Gouverneurs von einem wählerischen leibeigenen Diener mit einer Speise übergangen zu werden. Heute erscheint mir das eine wie das andere ganz in der Ordnung der Dinge. Und in der Tat, wie würde es mit uns stehen, wenn an die Stelle der allgemein anerkannten Regel: »Der Rang ehre den Rang« eine andere, zum Beispiel: »Der Verstand ehre den Verstand«, käme? Was für Streitigkeiten würden da entstehen! Und in welcher Reihenfolge würden die Diener die Speisen herumtragen? Aber ich kehre zu meiner Erzählung zurück. Es war ein heißer Tag. Drei Werst von der Station begann es zu tröpfeln, und nach wenigen Minuten war ich schon von einem Regenguß bis aus die Haut durchnäßt. Nach der Ankunft auf der Station war meine erste Sorge, so schnell als möglich meine Kleider zu wechseln, und die zweite – mir Tee geben zu lassen. »He, Dunja.« rief der Stationsaufseher: »Bereite den Samowar und hole Sahne.« Bei diesem Wort kam hinter dem Verschlag ein etwa vierzehnjähriges Mädchen heraus und lief in den Flur. Ihre Schönheit setzte mich in Erstaunen. »Ist das deine Tochter?« fragte ich den Stationsaufseher. – »Ja, meine Tochter,« antwortete er mit der Miene befriedigten Stolzes: »und sie ist so gescheit und so flink, ganz wie ihre selige Mutter.« Hier begann er meine Ordre ins Buch einzutragen, und ich sah mir indessen die Bilder an, die die Wände seiner bescheidenen, doch reinlichen Behausung schmückten. Sie stellten die Geschichte des verlorenen Sohnes dar: auf dem ersten entließ ein ehrwürdiger Greis in Nachtmütze und Schlafrock den ruhelosen Jüngling, der von ihm eilig den Segen und einen Sack mit Geld in Empfang nahm. Auf dem nächsten war in leuchtenden Farben der liederliche Lebenswandel des jungen Mannes dargestellt; er sitzt an einer Tafel, umgeben von falschen Freunden und schamlosen Weibern. Ferner sah man den verarmten Jüngling in Bettlerkleidung und Dreispitz Schweine hüten und mit ihnen das Mal teilen; sein Gesicht drückte tiefen Kummer und Reue aus. Schließlich war auch seine Rückkehr zum Vater dargestellt: der gute Greis stürzt ihm in derselben Nachtmütze und im selben Schlafrock entgegen; der verlorene Sohn liegt auf den Knien; im Hintergrunde schlachtet der Koch ein gemästetes Kalb, und der ältere Bruder befragt die Diener nach der Ursache einer solchen Freude. Unter jedem der Bilder las ich entsprechende deutsche Verse. Dies alles ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, ebenso die Balsaminentöpfe, das Bett mit den bunten Vorhängen und die übrigen Gegenstände, die mich umgaben. Ich sehe auch noch den Wirt selbst vor mir, einen noch frischen und rüstigen fünfzigjährigen Mann, in einem langschößigen grünen Rock mit drei Medaillen an verschossenen Bändern an der Brust.

Kaum hatte ich mit dem Kutscher, mit dem ich bisher gefahren war, abgerechnet, als Dunja mit dem Samowar zurückkehrte. Die kleine Kokette hatte schon beim zweiten Blick den Eindruck gemerkt, den sie auf mich machte; sie schlug ihre großen blauen Augen nieder; ich begann ein Gespräch mit ihr; sie antwortete mir ohne die geringste Scheu, wie ein Mädchen, das schon die Welt gesehen hat. Ich bot ihrem Vater ein Glas Punsch an; Dunja gab ich eine Tasse Tee, und wir unterhielten uns zu dreien, als wären wir schon seit einer Ewigkeit bekannt. Die Pferde standen schon lange bereit, ich hatte aber noch immer keine Lust, mich vom Stationsaufseher und seiner Tochter zu trennen. Endlich nahm ich doch Abschied; der Vater wünschte mir glückliche Reise, und die Tochter begleitete mich zum Wagen. Im Flure blieb ich stehen und bat sie um Erlaubnis, sie küssen zu dürfen; Dunja willigte ein... Ich könnte viele Küsse aufzählen, die ich genossen, seitdem ich dieses Handwerk treibe, aber keiner hat in mir eine so dauernde, so angenehme Erinnerung hinterlassen.

Es vergingen mehrere Jahre, und die Umstände brachten mich wieder in die gleiche Gegend, auf die gleiche Poststraße. Ich erinnerte mich der Tochter des alten Stationsaufsehers und freute mich beim Gedanken, daß ich sie wiedersehen würde. »Vielleicht,« dachte ich mir, »ist aber der alte Stationsaufseher schon abgesetzt; Dunja ist wohl auch verheiratet.« Auch der Gedanke, daß einer von beiden gestorben sein könnte, ging mir durch den Sinn, und ich näherte mich der Station *** mit banger Vorahnung. Die Pferde hielten vor dem kleinen Stationsgebäude. Als ich ins Zimmer trat, erkannte ich sofort die Bilder, die die Geschichte des verlorenen Sohnes darstellten; der Tisch und das Bett standen noch auf ihren alten Stellen, aber auf den Fensterbänken gab es keine Blumen mehr, und alles ringsum zeigte Vernachlässigung und Verfall. Der Stationsaufseher schlief unter einem Schafspelze; meine Ankunft weckte ihn; er stand auf... Er war es in der Tat, Simeon Wyrin; aber wie alt war er geworden. Während er sich anschickte, meine Ordre ins Buch einzutragen, betrachtete ich sein graues Haar, die tiefen Runzeln in seinem schon lange nicht mehr rasierten Gesicht, den gekrümmten Rücken, und ich mußte darüber staunen, wie die drei oder vier Jahre diesen rüstigen Mann in einen gebrechlichen Greis zu verwandeln vermochten. »Hast du mich erkannt?« fragte ich ihn: »Wir sind ja alte Bekannte.« – »Ist schon möglich,« antwortete er mürrisch, »hier ist ja eine Landstraße, gar viele Reisende sind schon hier gewesen.« – »Geht es deiner Dunja gut?« fuhr ich fort. Der Alte machte ein finsteres Gesicht. »Gott mag das wissen,« antwortete er. – »Sie ist also wohl verheiratet?« fragte ich. Der Alte tat, als hätte er meine Frage überhört, und fuhr fort, meine Ordre im Flüstertone zu lesen. Ich gab meine Fragen auf und ließ mir Tee kochen. Die Neugier begann mich zu quälen, und ich hoffte, daß der Punsch meinem alten Freund die Zunge lösen würde. Ich hatte mich nicht getäuscht: der Alte lehnte das angebotene Glas nicht ab. Ich bemerkte, daß der Rum ihn aufheiterte. Beim zweiten Glas wurde er gesprächig: er erinnerte sich meiner oder tat bloß so, und ich erfuhr von ihm die Geschichte, die mich damals außerordentlich fesselte und rührte.

»Sie kannten also meine Dunja?« begann er. »Wer hat sie auch nicht gekannt? Ach, Dunja, Dunja. Was war das für ein Mädel. Wer auch vorbei kam, ein jeder lobte sie, niemand hatte ihr etwas vorzuwerfen. Die Damen schenkten ihr bald ein Tüchlein und bald Ohrringe. Die Herren Reisenden machten hier absichtlich halt, als wollten sie zu Mittag oder zu Abend essen, in Wirklichkeit aber nur, um sie länger sehen zu können. Wie wütend mancher Herr auch war, in ihrer Gegenwart wurde er still sprach mit mir gnädig. Glauben Sie es mir, Herr: Kuriere und Feldjäger verplauderten mit ihr oft halbe Stunde. Das ganze Haus hielt sich nur durch sie: sie räumte auf und kochte und kam immer zurecht. Und ich alter Narr konnte mich gar nicht sattsehen, konnte mich nicht genug freuen; habe ich denn meine Dunja nicht geliebt, habe ich mein Kind nicht verhätschelt? Hat sie nicht ein gutes Leben bei mir gehabt? Aber nein, vor dem Unglück ist niemand gefeit, was einem beschieden ist, dem kann man nicht entrinnen.« Hier erzählte er mir ausführlich von seinem Kummer. Vor drei Jahren, an einem Winterabend, als der Stationsaufseher ein neues Buch liniierte und seine Tochter hinter dem Verschlag an einem Kleide nähte, hielt vor dem Hause eine Troika, und ein Reisender, mit einer Tscherkessenmütze und Militärmantel angetan, in einen Schal gewickelt, trat ins Zimmer und verlangte Pferde. Sämtliche Pferde waren fort. Bei dieser Nachricht erhob der Reisende schon seine Stimme und seine Reitpeitsche; aber Dunja, die an solche Szenen gewöhnt war, kam hinter dem Verschlag herausgelaufen und wandte sich an den Reisenden mit der Frage: »Ob es ihm nicht genehm sei, etwas zu speisen?« Dunjas Erscheinen verfehlte seinen Eindruck nicht. Der Zorn des Reisenden verpuffte. Er erklärte sich bereit, auf die Pferde zu warten, und bestellte ein Abendessen. Nachdem er die nasse, zottige Mütze abgenommen, den Schal abgelegt und den Mantel zusammengerollt hatte, stand der Reisende als junger schlanker Husar mit kleinem schwarzen Schnurrbart da. Er machte es sich beim Stationsaufseher bequem und fing an, sich mit ihm und seiner Tochter lustig zu unterhalten. Man reichte das Abendessen. Indessen waren Pferde zurückgekehrt, und der Stationsaufseher ließ sie, ohne sie erst zu füttern, sofort an den Wagen des Reisenden spannen; als er aber in die Stube zurückkehrte, fand er den jungen Mann fast bewußtlos auf der Bank liegen; es war ihm plötzlich schlecht geworden, er hatte Kopfweh und konnte unmöglich weiterfahren... Was war da zu tun? Der Stationsaufseher trat ihm sein Bett ab, und es wurde beschlossen, wenn es dem Kranken nicht besser ginge, am nächsten Morgen aus S*** einen Arzt zu holen. Am anderen Tage hatte sich der Zustand des Husaren verschlechtert. Sein Diener ritt nach der Stadt, um den Arzt zu holen. Dunja umband ihm den Kopf mit einem mit Essig befeuchteten Tuch und setzte sich mit ihrer Näharbeit an sein Bett. In Gegenwart des Stationsaufsehers stöhnte der Kranke und sprach fast kein Wort, trank aber zwei Tassen Kaffee und bestellte sich stöhnend ein Mittagessen. Dunja wich nicht von seiner Seite. Jeden Augenblick verlangte er zu trinken, und Dunja reichte ihm einen Becher mit Limonade, die sie zubereitet hatte. Der Kranke benetzte seine Lippen und drückte, sooft er den Becher zurückgab, mit seiner schwachen Hand dankbar die Hand Dunjas.

Um die Mittagsstunde kam der Arzt. Er fühlte dem Kranken den Puls, sprach mit ihm auf deutsch und erklärte dann auf russisch, daß er nur der Ruhe bedürfe und so nach zwei Tagen seine Reise fortsetzen können würde.

Der Husar händigte ihm fünfundzwanzig Rubel für die Visite ein und forderte ihn auf, mit ihm zu essen; der Arzt willigte ein; beide aßen mit großem Appetit, tranken eine Flasche Wein und schieden sehr zufrieden miteinander. Es verging noch ein Tag, und der Husar war wieder lebendig geworden. Er war außerordentlich heiter, scherzte unaufhörlich bald mit Dunja und bald mit dem Stationsaufseher, pfiff allerlei Lieder, plauderte mit den Reisenden, trug ihre Ausweise in das Postbuch ein und gefiel dem guten Stationsaufseher so gut, daß es ihm sehr leid tat, sich am dritten Morgen von seinem liebenswürdigen Gast trennen zu müssen. Es war ein Sonntag. Dunja wollte zur Messe. Der Wagen des Husaren hielt vor der Tür. Er nahm Abschied vom Stationsaufseher, entlohnte ihn reichlich für die Unterkunft und die Bewirtung; nahm auch von Dunja Abschied und machte ihr den Vorschlag, sie bis zur Kirche zu fahren, die sich am anderen Ende des Dorfes befand. Dunja stand ratlos da... »Was fürchtest du denn? sagte ihr der Vater. »Seine Hochwohlgeboren sind doch kein Wolf und werden dich nicht auffressen; fahre doch mit ihm zur Kirche.« Dunja setzte sich in den Wagen neben den Husaren, der Diener sprang auf den Bock, der Kutscher pfiff, und die Pferde sprengten davon. Der arme Stationsaufseher begriff selbst nicht, wie er nur Dunja hatte erlauben können, mit dem Husaren mitzufahren, wie diese Verblendung über ihn hatte kommen können und wo er damals seinen Verstand hatte. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als sein Herz sich zusammenkrampfte und sich seiner eine solche Unruhe bemächtigte, daß er sich nicht länger beherrschen konnte und selbst zur Messe ging. Als er sich der Kirche näherte, sah er, daß die Leute schon auseinandergingen, aber Dunja war weder auf dem Kirchhofe noch vor der Kirchentüre zu sehen. Er trat eilig in die Kirche; der Geistliche kam aus der Sakristei; der Küster löschte die Lichter; zwei alte Frauen beteten noch in einem Winkel, aber Dunja war auch nicht in der Kirche. Der arme Vater konnte sich kaum entschließen, den Küster zu fragen, ob sie bei der Messe gewesen sei. Der Küster antwortete, sie sei nicht dagewesen. Der Stationsaufseher kehrte mehr tot als lebendig nach Hause zurück. Nur eine Hoffnung war ihm noch geblieben: vielleicht war es Dunja in ihrem jugendlichen Leichtsinn eingefallen, bis zur nächsten Station mitzufahren, wo ihre Patin wohnte. In qualvoller Unruhe erwartete er die Rückkehr der Troika, mit der er sie hatte fahren lassen. Der Kutscher kam lange nicht. Erst gegen Abend kehrte er allein und betrunken zurück mit der niederschmetternden Nachricht: »Dunja ist von der nächsten Station mit dem Husaren weitergefahren.« Der Alte konnte diesen Schlag nicht ertragen: er legte sich sofort in das gleiche Bett, in dem einen Tag vorher der junge Betrüger gelegen hatte. Jetzt kam der Stationsaufseher, indem er alle Umstände erwog, dahinter, daß die Krankheit geheuchelt gewesen sei. Der Ärmste erkrankte an einem heftigen Fieber; man brachte ihn nach S*** und besetzte seinen Posten vorübergehend mit einem anderen Beamten. Der gleiche Arzt, der zum Husaren gekommen war, behandelte auch ihn. Er versicherte dem Stationsaufseher, daß der junge Mann vollkommen gesund gewesen sei; er hätte schon damals seine böse Absicht vermutet, aber aus Furcht vor seiner Reitpeitsche geschwiegen. Ob der Deutsche die Wahrheit sprach oder bloß mit seinem Scharfsinn prahlen wollte, jedenfalls tröstete er damit den armen Kranken in keiner Weise. Kaum hatte er sich von seiner Krankheit erholt, erbat er sich vom Postmeister zu S*** einen Urlaub für zwei Monate und machte sich, ohne jemand auch ein Wort von seiner Absicht gesagt zu haben, zu Fuß auf, seine Tochter zu suchen. Aus den Reisepapieren wußte er, daß der Rittmeister Minskij aus Smolensk nach Petersburg fuhr. Der Kutscher, der ihn gefahren hatte, erzählte, daß Dunja während der ganzen Fahrt geweint habe, obwohl sie doch freiwillig mitzufahren schien. »Vielleicht bringe ich mein verirrtes Schäfchen doch noch heim,« dachte sich der Stationsaufseher.

Mit diesen Gedanken kam er nach Petersburg, stieg im »Ismajlowskij-Polk«, im Hause eines verabschiedeten Unteroffiziers, seines alten Kameraden, ab und machte sich auf die Suche. Bald erfuhr er, daß Minskij sich in Petersburg befand und im Demutschen Gasthofe wohnte. Der Stationsaufseher entschloß sich, ihn aufzusuchen. Am frühen Morgen kam er zu ihm ins Vorzimmer und bat, Seiner Hochwohlgeboren zu melden, daß ein alter Soldat ihn zu sehen wünsche. Der Bursche, der einen Stiefel auf einem Leisten putzte, erklärte ihm, daß der Herr noch schlafe und vor elf Uhr niemand empfange. Der Stationsaufseher ging und kam zur angegebenen Zeit wieder. Minskij kam selbst in Schlafrock und roter Mütze zu ihm heraus. »Was willst du, Bruder?« fragte er ihn. Dem Alten klopfte das Herz, Tränen traten ihm in die Augen, und er sagte mit zitternder Stimme bloß: »Euer Hochwohlgeboren... erweisen Sie mir die göttliche Gnade...« Minskij sah ihn scharf an, wurde rot, nahm ihn bei der Hand, führte ihn in sein Kabinett und verschloß die Tür. »Euer Hochwohlgeboren!« fuhr der Alte fort: »Was verloren, ist verloren; geben Sie mir wenigstens meine arme Dunja wieder. Sie haben sich an ihr genug ergötzt; richten Sie sie nicht unnütz zugrunde.«  – »Was geschehen, kann ich nicht mehr ändern,« antwortete der junge Mann in größter Verwirrung: »Ich bin schuldig gegen dich und will dich um Verzeihung bitten; glaube aber nicht, daß ich von Dunja lassen könnte. Sie wird glücklich sein, ich gebe dir mein Ehrenwort drauf. Was brauchst du sie? Sie liebt mich; sie hat sich ihres früheren Lebens entwöhnt. Keiner von euch, weder du noch sie wird das Geschehene vergessen können.« Dann steckte er dem Alten etwas in den Ärmel, öffnete die Tür, und der Stationsaufseher trat, er wußte selbst nicht wie, wieder auf die Straße.

Lange stand er unbeweglich. Endlich gewahrte er in seinem Ärmelaufschlag einen Pack Papiere; er holte ihn hervor und entfaltete einige zerknüllte Fünfzigrubelscheine. Wieder traten ihm Tränen in die Augen – Tränen der Entrüstung. Er ballte die Banknoten zu einem Knäuel zusammen, warf diesen auf den Boden, trat mit den Füßen drauf und ging weiter... Nach einigen Schritten blieb er stehen ... überlegte sich ... ging zurück ... aber die Banknoten waren schon verschwunden. Ein gut gekleideter junger Mann stürzte sich, als er ihn erblickte, zu einer Droschke, setzte sich eilig hinein und rief dem Kutscher: »Fahr zu.« Der Stationsaufseher verfolgte ihn nicht. Er hatte beschlossen, auf seine Station zurückzukehren; aber vorher wollte er wenigstens einmal seine arme Dunja sehen. In dieser Absicht ging er nach zwei Tagen wieder zu Minskij; der Bursche sagte ihm aber streng, daß der Herr niemand empfange, drängte ihn mit der Brust aus dem Vorzimmer hinaus und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Der Stationsaufseher stand noch eine Weile da und ging dann seiner Wege.

Am Abend des gleichen Tages ging er durch die Litejnaja-Straße, nachdem er zuvor in der Kirche »Aller Betrübten Freude« einen Gottesdienst hatte abhalten lassen. Plötzlich flog eine elegante Droschke an ihm vorüber, und der Stationsaufseher erkannte Minskij. Die Droschke hielt vor einem dreistöckigen Hause, und der Husar lief die Stufen hinauf. Ein glücklicher Gedanke ging dem Stationsaufseher durch den Kopf. Er kehrte um, ging auf den Kutscher zu und fragte ihn: »Wessen Pferd ist das, Bruder? Gehört es nicht dem Minskij? – »Ja,« antwortete der Kutscher, »aber was willst du?« – »Siehst du, dein Herr hat mir befohlen, seiner Dunja ein Briefchen zu bringen, und ich habe vergessen, wo diese Dunja wohnt.« – »Sie wohnt hier im zweiten Stock. Du kommst zu spät mit deinem Briefchen, Bruder: er ist jetzt selbst bei ihr.«  – »Tut nichts,« entgegnete der Stationsaufseher mit unsagbarem Herzklopfen, »ich danke dir für die Auskunft, meine Sache werde ich schon selbst besorgen.« Und mit diesen Worten ging er die Treppe hinauf.

Die Tür war verschlossen; er klingelte. Einige Sekunden vergingen in einer für ihn schier unerträglichen Erwartung. Der Schlüssel rasselte; man machte ihm auf. »Wohnt hier Awdotja Simeonowna?« fragte er. – »Hier,« antwortete ihm eine junge Magd. »Was willst du von ihr?« – Der Stationsaufseher trat, ohne ihr zu antworten, in den Salon. – »Nicht doch!« rief ihm die Magd nach: »Awdotja Simeonowna hat Besuch!« – Aber der Stationsaufseher ging, ohne auf sie zu hören, weiter. In den beiden ersten Zimmern war es dunkel; im dritten brannte Licht. Er trat in die offene Tür und blieb stehen. Im prachtvoll ausgestatteten Zimmer saß Minskij in Gedanken versunken. Dunja, mit allem Luxus der Mode gekleidet, saß auf der Lehne seines Sessels wie eine Reiterin in einem englischen Sattel. Sie sah Minskij zärtlich an und wickelte sich seine schwarzen Locken um ihre diamantfunkelnden Finger. Der arme Stationsaufseher! Noch niemals hatte er seine Tochter so schön gesehen; er mußte sie unwillkürlich bewundern. »Wer ist da?« fragte sie, ohne den Kopf zu heben. Er schwieg noch immer. Da Dunja keine Antwort bekam, hob sie den Kopf ... und fiel mit einem Schrei zu Boden. Der erschrockene Minskij stürzte zu ihr hin, um sie aufzuheben, erblickte aber in der Tür den alten Stationsaufseher, ließ Dunja los und ging zitternd vor Wut auf ihn zu: »Was willst du?« sagte er zu ihm mit zusammengepreßten Zähnen: »Was schleichst du mir überall nach wie ein Räuber? Oder willst du mich ermorden? Mach', daß du fortkommst.« Und er packte den Alten mit starker Hand am Kragen und stieß ihn auf die Treppe hinaus.

Der Alte kehrte in sein Quartier zurück. Sein Freund riet ihm, sich zu beschweren; aber der Stationsaufseher dachte eine Weile nach, winkte abwehrend mit der Hand und entschloß sich, nichts zu unternehmen. Nach zwei Tagen begab er sich aus Petersburg auf seine Station zurück und trat sein Amt wieder an. »Es ist schon das dritte Jahr,« schloß er seine Erzählung, »daß ich ohne Dunja lebe und von ihr nichts gehört oder gesehen habe. Ob sie lebt oder nicht, weiß Gott allein. Alles ist in dieser Welt möglich. Sie ist nicht die erste und nicht die letzte, die von einem durchreisenden Taugenichts verführt, eine Zeitlang ausgehalten und dann verlassen wird. In Petersburg gibt es viele solche jungen dummen Gänse, die heute in Samt und Seide gehen und morgen mit allerlei Gesindel die Straße kehren. Wenn ich so bedenke, daß auch Dunja ebenso zugrundegehen kann, so sündige ich unwillkürlich und wünsche ihr den Tod...« Das war die Geschichte meines Freundes, des alten Stationsaufsehers, die Geschichte, die mehr als einmal von Tränen unterbrochen wurde, welche er malerisch mit seinem Rockschoß abwischte, wie der eifrige Terentjitsch in Dmitrijews schöner Ballade. Diese Tränen waren zum Teil vom Punsche hervorgerufen, von dem er während der Erzählung fünf Glas geleert hatte; aber wie dem auch sei, sie rührten mich sehr. Nachdem ich mich von ihm getrennt hatte, konnte ich lange Zeit den alten Stationsaufseher nicht vergessen und dachte auch lange an die arme Dunja... Als ich vor kurzem wieder durch das Städtchen *** fuhr, erinnerte ich mich meines Freundes; ich erfuhr, daß die Station, der er vorgestanden, aufgehoben worden war. Auf meine Frage, ob der alte Stationsaufseher noch lebe, konnte mir niemand eine befriedigende Antwort geben. Ich entschloß mich, die mir bekannte Gegend aufzusuchen, mietete mir ein Privatfuhrwerk und fuhr nach dem Dorfe N. Es war im Herbst. Graue Wolken bedeckten den Himmel, ein kalter Wind wehte von den abgemähten Feldern und riß das rote und gelbe Laub von den Bäumen. Ich kam ins Dorf bei Sonnenuntergang und hielt vor dem Posthause. In dem Flur (wo mich einst die arme Dunja geküßt hatte) empfing mich eine dicke Frau und antwortete mir auf meine Fragen, daß der alte Stationsaufseher seit einem Jahre tot sei und daß in seinem Hause jetzt ein Bierbrauer wohne; sie selbst sei die Frau dieses Bierbrauers. Ich fing schon an, meine zwecklose Fahrt und die sieben Rubel, die sie mich gekostet, zu bereuen. »Woran ist er denn gestorben?« fragte ich die Frau des Bierbrauers. – »Am Trunke, Väterchen,« antwortete sie. – »Und wo hat man ihn beerdigt?« – »Hier auf dem Friedhofe, neben seiner verstorbenen Frau.«  – »Kann mich nicht jemand zu seinem Grabe führen?«  – »Warum nicht? He, Wanjk! genug mit der Katze zu spielen. Führe den Herrn auf den Friedhof und zeige ihm des Stationsaufsehers Grab.«

Bei diesen Worten kam ein zerlumpter, rothaariger und einäugiger Junge zu mir herausgelaufen und führte mich sofort auf den Friedhof.

»Hast du den Verstorbenen gekannt?« fragte ich ihn unterwegs.

»Wie soll ich ihn nicht gekannt haben! Er hat mich gelehrt, Rohrpfeifen zu schnitzen. Manchmal geht er (Gott hab' ihn selig!) aus der Schenke, und wir laufen ihm nach und schreien: ›Großvater, Großvater. Gib uns Nüsse! und er schenkte uns Nüsse. Immer gab er sich mit uns ab.«

»Erinnern sich die Reisenden noch seiner?«

»Jetzt fahren wenig Reisende durch; höchstens kommt noch der Assessor her, aber der kümmert sich nicht um die Toten. Im letzten Sommer kam eine vornehme Dame gefahren, die fragte nach dem alten Stationsaufseher und besuchte auch sein Grab.«

»Was für eine Dame?« fragte ich neugierig.

»Eine wunderschöne Dame,« antwortete der Junge. »Sie fuhr in einer sechsspännigen Kutsche mit drei kleinen Kindern, mit einer Amme und mit einem schwarzen Hündchen, und als man ihr sagte, der alte Stationsaufseher sei tot, fing sie zu weinen an und sagte zu ihren Kindern: ›Bleibt ruhig sitzen, ich gehe zum Friedhof.‹ Ich erbot mich, sie hinzuführen. Aber die Dame sagte: ›Ich kenne selbst den Weg.‹ Und sie schenkte mir einen silbernen Fünfer... So eine gute Dame.«

Wir kamen zum Friedhof, einem öden, nicht eingezäunten Platz, voller Holzkreuze, doch ohne einen einzigen Baum. Seit ich lebe, habe ich noch keinen so traurigen Friedhof gesehen.

»Das ist das Grab des alten Stationsaufsehers,« sagte mir der Junge, auf einen Sandhaufen springend, auf dem ein schwarzes Kreuz mit einem kleinen Heiligenbild aus Messing stand.

»Kam auch jene Dame her?« fragte ich ihn. »Ja, sie kam her,« antwortete Wanjka, »ich habe ihr von weitem zugeguckt. Sie warf sich hier nieder und lag lange da. Dann ging die Dame ins Dorf, ließ den Popen kommen, gab ihm Geld und fuhr davon, mir aber gab sie einen silbernen Fünfer ... eine gute Dame.« Auch ich schenkte dem Jungen einen Fünfer und bedauerte nicht mehr, daß ich diesen Abstecher gemacht und die sieben Rubel ausgegeben hatte.

 


 


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