Alexander Puschkin
Der Schneesturm und andere Erzählungen
Alexander Puschkin

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Der Schuß

I

Wir lagen im Städtchen ***. Das Leben eines Linienoffiziers ist ja bekannt. Morgens Exerzierplatz und Reitschule; Mittagessen beim Regimentskommandeur oder im jüdischen Wirtshause, und abends Punsch und Karten. In *** gab es keine einzige Familie, bei der man verkehren könnte, und kein einziges junges Mädchen. Wir versammelten uns beieinander, wo wir nichts als unsere Uniformen sahen.

Nur ein einziger Mensch gehörte zu unserem Kreise, ohne Militär zu sein. Er war an die fünfunddreißig Jahre alt und wurde von uns daher wie ein alter Mann behandelt. Seine Erfahrungen gaben ihm verschiedene Vorzüge vor uns; zudem hatten seine gewöhnlich finstere Stimmung, sein schroffer Charakter und seine böse Zunge einen mächtigen Einfluß auf unsere jugendlichen Gemüter. Etwas Geheimnisvolles umhüllte sein Schicksal; er schien Russe zu sein, obwohl er einen fremden Namen trug. Einst hatte er bei den Husaren gedient und sogar mit gutem Erfolg; niemand kannte die Ursache, die ihn bewogen hatte, den Dienst zu quittieren und sich im armseligen Städtchen niederzulassen, wo er zugleich ärmlich und verschwenderisch lebte: er ging stets zu Fuß und trug einen alten schwarzen Rock, hielt aber für sämtliche Offiziere unseres Regiments ein offenes Haus. Die Diners, die er uns gab, bestanden allerdings nur aus zwei oder drei Gerichten, die ein alter, verabschiedeter Soldat zubereitete, aber der Champagner floß in Strömen. Sein Vermögen und seine Einnahmen waren unbekannt, und niemand wagte, ihn darüber zu befragen. Er besaß auch Bücher, zum größten Teil militärischen Inhalts, und auch Romane. Er gab sie uns gerne zum Lesen und verlangte sie niemals zurück; dafür gab er auch ein Buch, das er selbst entlieh, niemals dem Besitzer zurück. Seine Hauptbeschäftigung war das Schießen mit Pistolen. Die Wände seines Zimmers waren mit Kugeln gespickt und voller Löcher wie die Honigwaben. Eine reiche Pistolensammlung war der einzige Luxus der ärmlichen Hütte, in der er wohnte. Die Kunst, die er sich im Schießen angeeignet hatte, war ganz außerordentlich, und hätte er sich erboten, einem von uns eine Birne von der Mütze zu schießen, so würde sich niemand im ganzen Regiment geweigert haben, ihm seinen Kopf hinzuhalten. Unsere Gespräche drehten sich oft um Duelle; Silvio (so will ich ihn nennen) mischte sich niemals in diese Gespräche ein. Die Frage, ob er schon Duelle gehabt habe, beantwortete er trocken, daß es solche Fälle wohl gegeben habe, aber auf Einzelheiten ließ er sich niemals ein, und es war uns klar, daß solche Fragen ihn unangenehm berührten. Wir glaubten, daß er auf dem Gewissen irgendein unglückliches Opfer seiner unheimlichen Kunst habe. Übrigens kam es uns niemals in den Sinn, ihn einer Regung zu verdächtigen, die nur irgendwie der Feigheit ähnlich sähe. Es gibt Menschen, deren Äußeres allein schon jeden derartigen Verdacht ausschließt. Ein unerwarteter Vorfall setzte uns alle in Erstaunen.

Einmal aßen zehn Offiziere unseres Regiments bei Silvio zu Mittag. Man trank wie gewöhnlich, das heißt sehr viel; nach dem Essen baten wir den Hausherrn, uns eine Bank zu halten. Erst weigerte er sich, denn er spielte fast nie; endlich ließ er aber die Karten holen, schüttete ein halbes hundert Dukaten auf den Tisch und setzte sich, um die Karten zu geben. Wir umringten ihn, und das Spiel begann. Silvio hatte die Angewohnheit, beim Spiel vollkommenes Stillschweigen zu beobachten; niemals stritt er oder ließ sich auf Erklärungen ein. Wenn aber einer der Spieler sich verrechnete, so zahlte er sofort den Überschuß aus oder schrieb das Fehlende auf. Wir wußten das schon und hinderten ihn nicht, auf seine Art zu walten; aber unter uns befand sich ein Offizier, der erst vor kurzem zu uns versetzt worden war. Beim Spiele bog er aus Zerstreutheit eine Ecke zuviel ein. Silvio nahm die Kreide und brachte die Rechnung nach seiner Gewohnheit in Ordnung. Der Offizier glaubte, er hätte sich geirrt, und versuchte sich mit ihm auseinanderzusetzen. Silvio fuhr fort, schweigend die Karten auszuteilen. Der Offizier verlor die Geduld, nahm die Bürste und wischte das, was er für irrtümlich angeschrieben hielt, ab. Silvio nahm die Kreide und schrieb es wieder auf. Der durch den Wein, das Spiel und das Lachen der Kameraden erhitzte Offizier hielt sich für grausam beleidigt, ergriff in seiner Wut einen Messingleuchter vom Tisch und warf ihn auf Silvio, dem es kaum gelang, dem Wurfe auszuweichen. Wir wurden alle verlegen. Silvio erhob sich, erbleichte und sagte mit funkelnden Augen: »Mein Herr, wollen Sie sich entfernen und danken Sie Gott, daß dies in meinem Hause geschehen ist.«

Wir zweifelten nicht an den Folgen und betrachteten unseren neuen Kameraden schon als tot. Der Offizier erklärte, daß er dem Herrn Bankhalter jede gewünschte Satisfaktion geben werde, und entfernte sich. Das Spiel dauerte noch einige Minuten; da wir aber merkten, daß der Hausherr nicht mehr bei der Sache war, gaben wir einer nach dem anderen das Spiel auf und kehrten in unsere Quartiere zurück, unterwegs über die Vakanz, die es wohl bald geben würde, sprechend.

Am anderen Tage in der Reitschule fragten wir uns schon, ob unser armer Leutnant noch am Leben sei, als er selbst unter uns erschien; wir richteten an ihn die gleiche Frage. Er antwortete, daß er von Silvio noch nichts gehört habe. Dies setzte uns in Erstaunen. Wir gingen zu Silvio und trafen ihn schon auf dem Hofe, damit beschäftigt, Kugel auf Kugel in ein ans Tor geklebtes Aß zu jagen. Er empfing uns wie gewöhnlich und erwähnte den gestrigen Vorfall mit keinem Worte. Es vergingen drei Tage, unser Leutnant war noch immer am Leben. Wir fragten uns erstaunt: »Wird sich Silvio denn gar nicht schlagen?«

Silvio schlug sich nicht. Er gab sich mit einer kurzen Erklärung zufrieden und söhnte sich mit seinem Gegner aus. Dies schadete anfangs außerordentlich seinem Ansehen bei der Jugend. Mangel an Mut wird am allerwenigsten bei den jungen Leuten verziehen, die in der Tapferkeit gewöhnlich den Gipfel aller menschlichen Tugenden und eine Entschuldigung für alle möglichen Laster sehen. Nach und nach wurde das aber vergessen, und Silvio erwarb sich wieder seinen früheren Einfluß.

Ich allein vermochte ihm nicht mehr nahezukommen. Von Natur mit einer romantischen Phantasie begabt, hatte ich mich früher mehr als alle diesem Menschen angeschlossen, dessen Leben ein Rätsel war und der mir als Held eines geheimnisvollen Romans erschien. Er liebte mich; wenigstens gab er im Verkehre mit mir allein seine schroffe und lästerliche Art auf und sprach mit mir über alle möglichen Gegenstände einfach und ungemein angenehm. Aber nach jenem unglückseligen Abend wollte mich der Gedanke, daß seine Ehre befleckt und nach seinem eigenen Willen nicht reingewaschen sei, nicht verlassen und hinderte mich, ihn wie früher zu behandeln; ich mußte mich schämen, ihn anzusehen. Silvio war zu klug und zu erfahren, um das nicht zu merken und die Ursache dieser Veränderung nicht zu erraten. Dies schien ihn zu kränken; wenigstens sah ich ihm einige Male den Wunsch an, sich mit mir auseinanderzusetzen; ich ging aber jeder Gelegenheit dazu aus dem Wege, und Silvio gab mich auf. Von nun an sah ich ihn nur noch in Gesellschaft von Kameraden, und unsere früheren vertrauten Gespräche hörten auf.

Die an Zerstreuungen reichen Bewohner der Hauptstadt haben keine Vorstellung von vielen Aufregungen, die den Bewohnern der Dörfer und kleinen Städte bekannt sind, z. B. von der Erwartung des Posttages: jeden Dienstag und Freitag war unsere Regimentskanzlei mit Offizieren angefüllt; der eine erwartete Geld, der andere einen Brief, der dritte Zeitungen. Die Sendungen wurden gewöhnlich gleich geöffnet und alle Neuigkeiten mitgeteilt, und so bot die Kanzlei ein sehr belebtes Bild. Silvio bekam seine Briefe an die Adresse unseres Regiments und befand sich gewöhnlich auch in der Kanzlei. Einmal übergab man ihm einen Brief, den er mit dem Ausdrucke größter Ungeduld entsiegelte. Während er den Brief überflog, funkelten seine Augen. Die Offiziere, die mit ihren eigenen Briefen beschäftigt waren, merkten nichts. »Meine Herren,« sagte ihnen Silvio, »die Umstände verlangen meine sofortige Abreise; ich verreise heute nacht; ich hoffe, daß Sie es mir nicht abschlagen werden, bei mir zum letzten Male zu Mittag zu essen. Ich erwarte auch Sie,« fuhr er fort, sich an mich wendend, »ich erwarte Sie unbedingt.« Mit diesen Worten entfernte er sich eilig, während wir, nachdem wir uns verabredet hatten, uns bei Silvio zu treffen, auseinandergingen.

Ich kam zu Silvio zur festgesetzten Stunde und traf bei ihm fast das ganze Regiment an. Alle seine Sachen waren schon gepackt; es blieben nur die nackten, zerschossenen Wände zurück. Wir setzten uns zu Tisch; der Hausherr war außerordentlich gut aufgelegt, und die lustige Stimmung wurde bald allgemein; die Pfropfen knallten jeden Augenblick, die Gläser schäumten unaufhörlich, und wir wünschten dem Abreisenden mit dem größten Eifer gute Reise und jeden Segen. Wir erhoben uns sehr spät vom Tische. Als wir aufbrachen, nahm Silvio beim Abschied mich bei der Hand und hielt mich, als ich schon fortgehen wollte, zurück. »Ich muß mit Ihnen sprechen,« sagte er leise. Ich blieb.

Die Gäste waren fort, und wir blieben allein. Wir setzten uns einander gegenüber und begannen schweigend unsere Pfeifen zu rauchen. Silvio schien besorgt; von seiner früheren krampfhaften Lustigkeit war keine Spur geblieben. Die düstere Blässe, die funkelnden Augen und der dichte Tabaksrauch, der ihm aus dem Munde kam, verliehen ihm das Aussehen eines echten Teufels. Es vergingen einige Minuten, und Silvio brach das Schweigen. »Vielleicht sehen wir uns nie wieder,« sagte er mir. »Vor der Trennung möchte ich mich Ihnen gegenüber aussprechen. Sie werden wohl bemerkt haben, daß ich auf fremde Meinung nicht viel gebe; Sie aber liebe ich, und es wäre mir peinlich, in Ihrer Phantasie eine ungerechte Vorstellung zu hinterlassen.«

Er hielt inne und begann seine ausgebrannte Pfeife neu zu stopfen; ich schwieg und hielt die Augen gesenkt. »Es kam Ihnen seltsam vor,« fuhr er fort, »daß ich von diesem betrunkenen Narrn R.*** keine Satisfaktion gefordert habe. Sie werden doch zugeben, daß sein Leben, da ich die Wahl der Waffe hatte, sich in meiner Hand befand, während das meinige fast außer jeder Gefahr war; ich könnte meine Mäßigung meiner Großmut allein zuschreiben, ich will aber nicht lügen. Könnte ich den R.*** züchtigen, ohne mein Leben einer Gefahr auszusetzen, so würde ich es ihm nicht verziehen haben.«

Ich sah Silvio erstaunt an. Dieses Geständnis machte mich ganz wirr. Silvio fuhr fort:

»Es ist so: ich habe nicht das Recht, mich einer Lebensgefahr auszusetzen. Vor sechs Jahren habe ich eine Ohrfeige bekommen, und mein Feind ist noch am Leben.«

Meine Neugier war im höchsten Grade erregt. »Sie haben sich mit ihm nicht geschlagen?« fragte ich. »Dann haben wohl die Umstände Sie von ihm getrennt?«

»Ich habe mich mit ihm wohl geschlagen,« antworte Silvio, »und hier ist die Erinnerung an unseren Zweikampf.«

Silvio stand auf und holte aus einem Karton eine rote Mütze mit goldener Quaste und goldener Tresse (wie sie die Franzosen bonnet de police nennen); er setzte sie auf; sie war zwei Zoll über der Stirne durchschossen. »Sie wissen,« fuhr Silvio fort, »daß ich im ***schen Husarenregiment gedient habe. Mein Charakter ist Ihnen bekannt: ich bin gewohnt, überall die erste Rolle zu spielen; aber in meiner Jugend war das bei mir geradezu eine Leidenschaft. In unserer Zeit waren tolle Streiche in Mode: ich war wohl der tollste Offizier in der ganzen Armee. Wir prahlten mit unserer Kunst zu trinken: ich übertraf darin den berühmten, von Denis Dawydow besungenen Burzow. Duelle gab es in unserem Regiment jeden Augenblick: ich beteiligte mich an allen entweder als Zeuge oder als handelnde Person. Die Kameraden vergötterten mich, und die Regimentskommandeure, die jeden Augenblick wechselten, betrachteten mich als ein unvermeidliches Übel.

So genoß ich ruhig (oder unruhig) meinen Ruhm, als in unser Regiment ein junger Mann aus einer reichen und vornehmen Familie eintrat (seinen Namen will ich nicht nennen). Seit ich lebe, habe ich noch keinen so glücklichen und glänzenden Menschen gesehen. Denken Sie sich Jugend, Geist, Schönheit, die tollste Lustigkeit, die verwegenste Tapferkeit, einen wohlklingenden Namen, unglaublichen Reichtum, der sich niemals erschöpfte, und stellen Sie sich nun den Eindruck vor, den er auf uns machte. Meine Vorherrschaft geriet ins Schwanken. Von meinem Ruhme geblendet, suchte er anfangs meine Freundschaft; ich nahm ihn aber sehr kühl auf, und er verließ mich ohne jedes Bedauern. Ich fing ihn zu hassen an. Seine Erfolge im Regiment und bei den Frauen brachten mich zur Verzweiflung. Ich suchte einen Streit mit ihm. Meine Epigramme beantwortete er mit Epigrammen, die mir immer unerwarteter und beißender als die meinigen erschienen und die natürlich unvergleichlich lustiger waren: er scherzte, während ich wütete. Endlich, als ich ihn einmal auf einem Balle bei einem polnischen Gutsbesitzer als Gegenstand der Aufmerksamkeit aller Damen und besonders der Hausfrau, mit der ich ein Verhältnis hatte, sah, sagte ich ihm eine platte Grobheit ins Ohr. Er fuhr auf und gab mir eine Ohrfeige. Wir stürzten nach unseren Säbeln; die Damen fielen in Ohnmacht; man brachte uns auseinander, und in der gleichen Nacht fuhren wir noch hinaus, um uns zu schlagen.

Es war beim Tagesanbruch. Ich stand mit meinen drei Sekundanten an der verabredeten Stelle. Mit unbeschreiblicher Ungeduld wartete ich auf meinen Gegner. Die Frühlingssonne war schon aufgegangen, und es fing an, heiß zu werden. Ich sah ihn in der Ferne. Er ging zu Fuß, hatte seinen Waffenrock am Säbel hängen und war von nur einem Sekundanten begleitet. Er näherte sich, eine Mütze voll Kirschen in der Hand. Die Sekundanten maßen uns zwölf Schritte ab. Ich hatte als erster zu schießen; aber meine Wut war so groß, daß ich mich auf die Sicherheit meiner Hand nicht verlassen wollte und ihm den ersten Schuß abtrat, um mich indessen etwas abzukühlen; mein Gegner wollte darauf nicht eingehen. Es wurde beschlossen, das Los entscheiden zu lassen: die erste Nummer fiel auf ihn, den ewigen Liebling Fortunas. Er zielte, und seine Kugel durchbohrte meine Mütze. Nun war ich an der Reihe. Endlich hatte ich sein Leben in meiner Hand; ich sah ihn gierig an und bemühte mich, aus seinem Gesicht auch nur einen Schatten von Unruhe zu entdecken. Während er vor meiner Pistole stand, suchte er sich aus seiner Mütze die reifen Kirschen aus und spuckte die Steine vor sich hin, so daß sie mir fast vor die Füße flogen. Seine Gleichgültigkeit machte mich rasend. Was nützt es, dachte ich mir, ihm das Leben zu nehmen, wenn er so wenig Wert darauf legt. Ein böser Gedanke ging mir durch den Kopf. Ich senkte die Waffe. ›Mir scheint, Sie denken jetzt nicht an den Tod,‹ sagte ich ihm: ›Sie belieben zu frühstücken; ich will Sie nicht stören.‹ – ›Sie stören mich nicht im geringsten,‹ antwortete er, ›wollen Sie nur schießen, – übrigens wie es Ihnen beliebt; Ihr Schuß bleibt Ihnen; ich stehe Ihnen immer zur Verfügung.« Ich wandte mich an die Sekundanten, erklärte ihnen, daß ich heute nicht die Absicht hätte, zu schießen, und damit war das Duell beendet...

Ich quittierte den Dienst und zog mich in dieses Städtchen zurück. Es ist aber seitdem nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht an Rache gedacht hätte. Nun ist meine Stunde gekommen...«

Silvio holte aus der Tasche den Brief, den er am Morgen bekommen hatte, und gab ihn mir zu lesen. Jemand (anscheinend ein Bevollmächtigter) teilte ihm mit, daß die bewußte Person sich demnächst mit einem schönen jungen Mädchen verheiraten würde. »Sie ahnen wohl,« sagte Silvio, »wer diese bewußte Person ist. Ich gehe nach Moskau. Wir wollen sehen, ob er den Tod vor der Hochzeit ebenso gleichgültig hinnehmen wird, wie er ihn damals bei seinen Kirschen erwartete!«

Bei diesen Worten stand Silvio auf, warf seine Mütze auf den Boden und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen wie ein Tiger in seinem Käfig. Ich hatte ihm regungslos zugehört: seltsame, widerstreitende Gefühle regten sich in mir. Der Diener kam herein und meldete, daß die Pferde bereitstünden. Silvio drückte mir kräftig die Hand; wir umarmten uns. Er setzte sich in den Wagen, in dem zwei Koffer standen, der eine mit seinen Pistolen, der andere mit seinen übrigen Sachen. Wir verabschiedeten uns wieder, und die Pferde sprengten von dannen.

II

Es vergingen mehrere Jahre, und die Familienverhältnisse zwangen mich, in ein armes Dörfchen des N***schen Kreises zu ziehen. Ich beschäftigte mich zwar mit der Bewirtschaftung des Gutes, hörte aber nicht auf, im Geheimen meinem früheren lärmenden und sorglosen Leben nachzuseufzen. Am schwersten fiel es mir, mich daran zu gewöhnen, die Frühlings- und Winterabende in voller Vereinsamung zuzubringen. Die Zeit vor dem Mittagessen gelang es mir noch irgendwie totzuschlagen: ich sprach mit dem Dorfschulzen, sah mir die Arbeiten an oder machte einen Rundgang durch die neuen Gebäude; aber sobald es zu dunkeln anfing, wußte ich gar nicht, was anzufangen. Die wenigen Bücher, die ich unter den Schränken und in der Vorratskammer gefunden hatte, wußte ich bereits auswendig. Alle Märchen, die die Haushälterin Kirilowna nur wüßte, hatte sie mir schon erzählt; die Lieder der Bauernweiber langweilten mich. Ich machte mich schon an den ungesüßten Fruchtschnaps, aber davon bekam ich Kopfweh; auch fürchtete ich, offen gestanden, mich aus Kummer dem Trunke zu ergeben, also Quartalsäufer zu werden, wofür es in unserem Kreise mehrere Beispiele gab. Nahe Nachbarn hatte ich nicht, mit Ausnahme von zwei oder drei Quartalsäufern, deren Unterhaltung hauptsächlich im Aufstoßen und Seufzen bestand. Die Einsamkeit war schon leichter zu ertragen. Endlich entschloß ich mich, so früh als möglich zu Bett zu gehen und so spät als möglich zu Mittag zu essen. Auf diese Weise verkürzte ich den Abend und verlängerte den Tag; und ich fand, daß es gut war.

Vier Werst von mir lag ein großes Gut, das der Gräfin B*** gehörte; es war nur vom Verwalter allein bewohnt; die Gräfin war auf ihr Gut nur einmal im ersten Jahre nach ihrer Verheiratung gekommen und hatte hier keinen vollen Monat verbracht. Aber im zweiten Frühling meines Einsiedlerlebens kam das Gerücht auf, daß die Gräfin mit ihrem Manne für den Sommer auf das Gut kommen würde. Sie trafen in der Tat Anfang Juni ein. Die Ankunft eines reichen Nachbarn ist ein wichtiges Ereignis für alle Landbewohner. Die Gutsbesitzer und ihr Gesinde sprechen davon zwei Monate vorher und drei Jahre nachher. Was aber mich betrifft, so muß ich gestehen, daß die Nachricht von der Ankunft der jungen und schönen Nachbarin einen großen Eindruck auf mich machte; ich brannte vor Ungeduld, sie zu sehen, und so begab ich mich am ersten Sonntag nach ihrer Ankunft nach dem Essen ins Kirchdorf ***, um den beiden Erlauchten als nächster Nachbar und ergebenster Diener meine Aufwartung zu machen.

Ein Lakai führte mich in das Kabinett des Grafen und ging, um mich anzumelden. Das geräumige Zimmer war mit dem größten Luxus ausgestattet; an den Wänden standen Schränke mit Büchern und auf jedem von ihnen eine Büste aus Bronze; über dem Marmorkamin hing ein breiter Spiegel; der Fußboden war mit grünem Tuch ausgeschlagen und mit Teppichen bedeckt. Da ich mir in meiner ärmlichen Behausung jeden Luxus abgewöhnt und schon lange keinen fremden Reichtum gesehen hatte, wurde ich hier von einer gewissen Scheu ergriffen und erwartete den Grafen mit Beben, wie ein Gesuchsteller aus der Provinz das Erscheinen eines Ministers erwartet. Die Tür ging auf, und ein hübscher Mann von etwa zweiunddreißig Jahren trat ein. Der Graf näherte sich mir mit der herzlichsten und freundschaftlichsten Miene, ich machte mir Mut und fing an, mich vorzustellen, aber er kam mir zuvor. Wir setzten uns. Seine ungezwungene und liebenswürdige Unterhaltung zerstreute bald meine linkische Scheu; ich fing schon an, meine gewöhnliche Stimmung wiederzugewinnen, als plötzlich die Gräfin erschien, und sich meiner eine noch größere Verlegenheit bemächtigte. Sie war in der Tat eine Schönheit. Der Graf stellte mich ihr vor; ich wollte ungezwungen erscheinen, aber je mehr ich mich bemühte, mir eine ungezwungene Miene zu geben, um so verlegener fühlte ich mich. Um mir Zeit zu lassen, mich zu beruhigen und mich an die neuen Bekannten zu gewöhnen, fingen sie an, miteinander zu sprechen, wie man es ungezwungen in Gegenwart eines guten Nachbarn tut. Ich fing indessen an, auf- und abzugehen und mir die Bücher und die Bilder anzusehen. Von Bildern verstehe ich nicht viel, aber eines zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte irgendeine Schweizer Landschaft dar; mich fesselte aber nicht die Malerei, sondern der Umstand, daß das Bild von zwei Kugeln durchbohrt war, die aufeinander saßen. »Ein vorzüglicher Schuß,« sagte ich, mich an den Grafen wendend. – »Ja,« antwortete er, »es ist ein merkwürdiger Schuß. Schießen Sie gut?« fuhr er fort. – »Nicht schlecht,« antwortete ich, erfreut, daß das Gespräch endlich einen mir vertrauten Gegenstand berührte. »Auf dreißig Schritte Distanz verfehle ich keine Karte, natürlich mit einer Pistole, die ich schon kenne.« – »Wirklich?« fragte die Gräfin mit dem Ausdrucke eines großen Interesses. »Kannst auch du, mein Freund, eine Karte auf dreißig Schritte Distanz treffen?« – »Das wollen wir einmal versuchen,« antwortete der Graf. »Zu meiner Zeit schoß ich nicht schlecht; aber seit vier Jahren habe ich keine Pistole mehr angerührt.«  – »Ah,« bemerkte ich, »in diesem Falle möchte ich wetten, daß Erlaucht auch auf zwanzig Schritte Distanz keine Karte treffen werden; die Pistole verlangt tägliche Übung. Das weiß ich aus Erfahrung. In unserem Regiment galt ich als einer der besten Schützen. Einmal traf es sich, daß ich einen ganzen Monat keine Pistole anrührte, denn die meinigen waren in Reparatur. Und was glauben Sie, Erlaucht: als ich wieder zu schießen begann, verfehlte ich viermal hintereinander eine Flasche auf zwanzig Schritte Distanz. Wir hatten einen Rittmeister, einen geistreichen Witzling; er war zufällig dabei und sagte mir: ›Ich weiß, Bruder, du kannst deine Hand nicht gegen eine Flasche erheben.‹ Nein, Erlaucht, man soll die tägliche Übung nicht für gering halten, sonst verlernt man es ganz. Der beste Schütze, den ich jemals gesehen habe, pflegte jeden Vormittag wenigstens dreimal zu schießen. Das war bei ihm Sitte wie das Glas Branntwein vor dem Essen.«

Der Graf und die Gräfin freuten sich, daß ich so gesprächig geworden war. »So, wie schoß er denn?« fragte mich der Graf. – »Nun, Erlaucht: wenn er mal eine Fliege auf der Wand sitzen sah ... Sie lachen, Gräfin? Bei Gott, es ist wahr... Wenn er eine Fliege sah, rief er gleich: ›Kusjka, die Pistole!‹ Kusjka bringt ihm die geladene Pistole. Paff, und die Fliege steckt schon tief in der Wand!« –

»Erstaunlich!« sagte der Graf. »Und wie hieß er?« – »Silvio, Erlaucht.« – »Silvio!« rief der Graf und sprang von seinem Platze auf. »Sie kannten also Silvio?« – »Gewiß, Erlaucht, wir waren Freunde; er wurde in unserem Regiment als Kamerad behandelt; aber seit fünf Jahren habe ich von ihm nichts mehr gehört. Also haben auch Sie ihn gekannt, Erlaucht?« – »Ja, sogar sehr gut. Hat er Ihnen nicht von einem sehr seltsamen Erlebnis erzählt?« – »Meinen Erlaucht vielleicht die Ohrfeige, die er auf einem Balle von einem jungen Taugenichts bekommen hat?«  – »Hat er Ihnen nicht den Namen dieses Taugenichtses genannt?«  – »Nein, Erlaucht, er hat ihn nicht genannt... Ach, Erlaucht!« fuhr ich fort, die Wahrheit ahnend: »Entschuldigen Sie ... ich habe es nicht gewußt ... waren Sie es?« ... – »Ja, ich,« antwortete der Graf mit höchst verlegener Miene, »und das durchschossene Bild ist ein Andenken an unsere letzte Begegnung.« – »Ah, Liebster,« sagte die Gräfin: »um Gottes willen, erzähle es nicht. Es wird mir schrecklich sein, es zu hören.« – »Nein,« entgegnete der Graf, »ich will alles erzählen; er weiß, wie ich seinen Freund beleidigt habe; soll er nun hören, wie Silvio sich an mir gerächt hat.« Der Graf schob mir einen Sessel hin, und ich hörte mit gespanntester Neugier folgende Erzählung: »Vor fünf Jahren habe ich geheiratet. Den ersten Monat verbrachte ich hier in diesem Dorfe. Diesem Hause danke ich die schönsten Augenblicke und zugleich eine der schrecklichsten Erinnerungen. Abends ritten wir beide aus; das Pferd meiner Frau scheute; sie erschrak, gab mir die Zügel und ging zu Fuß nach Hause. Ich ritt voraus. Auf unserem Hofe traf ich einen Reisewagen; man sagte mir, daß in meinem Kabinett ein Mann sitze, der seinen Namen nicht nennen wollte und einfach gesagt habe, daß er mit mir etwas zu erledigen hätte... Ich trat in dieses Zimmer und erblickte in der Dunkelheit einen mit Staub bedeckten bärtigen Mann; er stand hier am Kamin. Ich ging auf ihn zu und versuchte mich zu erinnern, wo ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hätte. ›Du hast mich nicht wiedererkannt, Graf?‹ fragte er mit zitternder Stimme. – ›Silvio!‹ rief ich aus, und ich muß gestehen, ich fühlte, wie mir die Haare zu Berge standen. – ›Ja, das bin ich,‹ fuhr er fort,‹ ›Ich habe noch einen Schuß und bin hergekommen, um meine Pistole zu entladen; bist du bereit?« In seiner Seitentasche steckte wirklich eine Pistole. Ich maß zwölf Schritte ab, stellte mich dort in den Winkel und bat ihn, schneller zu schießen, ehe meine Frau zurückkäme. Er zögerte und verlangte Licht. Man brachte Kerzen. Ich schloß die Türe zu, befahl niemand hereinzulassen und bat ihn wieder, zu schießen. Er holte seine Pistole aus der Tasche und zielte... Ich zählte die Sekunden und dachte an sie... So verging eine entsetzliche Minute. Silvio ließ die Hand sinken. ›Es tut mir leid,‹ sagte er, ›daß die Pistole nicht mit Kirschkernen geladen ist ... die Kugel ist schwer. Ich habe das Gefühl, daß es kein Duell sei, sondern ein Mord: ich bin nicht gewohnt, auf einen Wehrlosen zu schießen. Fangen wir von vorn an; losen wir, wer zuerst schießen soll.‹ Der Kopf schwindelte mir... Ich glaube, ich wollte darauf nicht eingehen. Endlich wurde noch eine Pistole geladen; wir rollten zwei Zettel zusammen; er legte sie in die Mütze, die ich einst durchlöchert hatte; und ich zog wieder Nummer eins heraus. ›Du hast teuflisches Glück, Graf,‹ sagte er mit einem Lächeln, das ich niemals vergesse. Ich begreife nicht, was mit mir los war und wie er mich dazu hat zwingen können ... aber ich schoß und traf dieses Bild hier.« (Der Graf zeigte mit dem Finger auf das durchbohrte Bild; sein Gesicht glühte wie Feuer; die Gräfin war weißer als ihr Taschentuch; ich konnte mich nicht eines Ausrufes enthalten.)

»Ich schoß,« fuhr der Graf fort, »und fehlte Gott sei Dank; nun begann Silvio .... (in diesem Augenblick war er wirklich schrecklich) begann Silvio zu zielen. Plötzlich geht die Tür auf, Mascha stürzt herein und wirft sich mir schreiend um den Hals. Ihre Gegenwart gab mir meinen Mut wieder. ›Liebste,‹ sagte ich ihr, ›siehst du denn nicht, daß wir scherzen? Wie erschrocken du bist. Geh', trink' ein Glas Wasser, und dann komm' wieder zurück; ich will dir einen alten Freund und Kameraden vorstellen.‹ Mascha wollte mir nicht recht trauen. ›Sagen Sie, spricht mein Mann die Wahrheit?‹ wandte sie sich an den schrecklichen Silvio: ›Ist es wahr, daß Sie beide scherzen?‹ – ›Er scherzt immer, Gräfin,‹ antwortete ihr Silvio. ›Einmal gab er mir im Scherz eine Ohrfeige; dann schoß er mir im Scherz eine Kugel durch diese Mütze; im Scherz hat er soeben fehlgeschossen; jetzt bin ich an der Reihe, zu scherzen...‹ Mit diesem Worte wollte er auf mich zielen ... in ihrer Gegenwart. Mascha warf sich ihm zu Füßen. ›Steh auf, Mascha, schäme dich‹ rief ich wütend. ›Und Sie, mein Herr, werden Sie mal aufhören, sich über ein armes Weib lustig zu machen! Werden Sie schießen oder nicht? – › Nein, ich werde nicht,‹ antwortete Silvio. 'Ich bin befriedigt: ich sah deine Verwirrung und deine Angst, ich zwang dich, auf mich zu schießen. Für mich ist das genug. Du wirst mich nicht vergessen. Ich überlasse dich deinem Gewissen.‹ Er wollte schon hinausgehen, blieb aber noch in der Türe stehen, warf einen Blick auf das von mir durchlöcherte Bild, schoß darauf, fast ohne zu zielen, und verschwand. Meine Frau lag in einer Ohnmacht; die Diener wagten nicht, ihn zurückzuhalten und sahen ihn entsetzt an; er trat vor das Haus, rief seinem Kutscher und fuhr davon, ehe ich zur Besinnung kommen konnte.«

Der Graf verstummte. So erfuhr ich das Ende dieser Geschichte, deren Anfang mich einst in solches Erstaunen versetzt hatte. Den Helden dieser Geschichte sah ich niemals wieder. Man sagt, daß Silvio beim Aufstande Alexander Ypsilantis an der Spitze einer Abteilung Heteristen, die er befehligte, in der Schlacht bei Skulleni gefallen sei.

 


 


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