Alexander Puschkin
Der Schneesturm und andere Erzählungen
Alexander Puschkin

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Die Pique-Dame

I.

Die Pique-Dame bedeutet versteckte Feindseligkeit.
(Neuestes Wahrsagebuch)

Beim Gardeoffizier Narumow fand ein Kartenabend statt. Die lange Winternacht ging ganz unmerklich dahin, und man setzte sich zum Souper erst um fünf Uhr morgens. Diejenigen, die gewonnen hatten, zeigten großen Appetit, die andern saßen zerstreut vor den leeren Tellern. Als der Champagner kam, wurde die Unterhaltung lebhafter, und alle nahmen an ihr teil.

»Nun, wie geht's, Ssurin?« fragte der Gastgeber. »Schlecht, ich habe alles verloren, wie gewöhnlich. Ich muß gestehen, ich habe immer Pech: ich spiele Mirandole, ruhig, gelassen, lasse mich durch nichts aus der Fassung bringen, und doch verliere ich immer.« »Hast du dich denn nie hinreißen lassen, Route zu setzen? ... Ich bewundere deine Selbstbeherrschung!« »Wie gefällt euch der Hermann?« sagte ein Gast, auf einen jungen Genieoffizier zeigend. »Er hat noch nie im Leben eine Karte angerührt, nie gesetzt, und doch bringt er es fertig, mit uns bis fünf Uhr dazusitzen und dem Spiel zuzuschauen.«

»Das Spiel interessiert mich sehr,« sagte Hermann, »ich bin aber nicht in der Lage, das Unentbehrliche auf die Karte zu setzen, um Überflüssiges zu gewinnen.«

»Hermann ist ein Deutscher: er ist sparsam und vernünftig  – das ist die Sache!« versetzte Tomskij. »Wen ich aber nicht begreife, das ist meine Großmutter Anna Fjodorowna.«

»Wieso?« riefen die Gäste.

»Ich finde es unbegreiflich,« fuhr Tomskij fort, »warum sie nie pointiert.«

»Es wäre doch weit merkwürdiger, wenn eine achtzigjährige Alte pointieren würde,« bemerkte Narumow.

»Wißt ihr denn gar nichts von ihr?«

»Nein, wirklich nichts.«

»Also hört! Ihr müßt wissen, daß meine Großmutter vor sechzig Jahren in Paris war und dort großen Erfolg hatte. Das ganze Volk lief zusammen, um die ›Venus moscovite‹ zu sehen. Selbst Richelieu machte ihr den Hof, und meine Großmutter behauptet, er hätte sich ihretwegen beinahe das Leben genommen. Um jene Zeit spielten die Damen noch Pharao. Einmal verlor meine Großmutter bei Hofe an den Herzog von Orleans eine bedeutende Summe, die sie ihm schuldig bleiben mußte. Nach Hause zurückgekehrt, erzählte sie dem Großvater, während sie die Mouches vom Gesicht nahm und den Reifrock abstreifte, von ihrer Spielschuld und befahl ihm, diese zu begleichen. Mein seliger Großvater wurde, so viel ich mich erinnere, von der Großmutter mehr als Haushofmeister behandelt und hatte vor ihr den größten Respekt. Als er aber von dieser ungeheuren Spielschuld hörte, wurde er ganz wild. Er brachte sein Ausgabenbuch und zeigte ihr, daß sie im letzten Halbjahr eine halbe Million verlebt hätten; bei Paris hätten sie weder die Moskauer, noch die Ssaratower Güter, er könne also unmöglich das Geld beschaffen. Die Großmutter gab ihm eine Ohrfeige und ging allein zu Bett, um ihm ihre Ungnade zu zeigen: Am nächsten Morgen ließ sie den Mann rufen, den sie durch diese häusliche Strafe bekehrt glaubte. Er war aber noch immer unerbittlich. Da ließ sich die Großmutter zum erstenmal in ihrem Leben herab, mit ihm zu verhandeln; sie redete ihm ins Gewissen und versuchte ihm zu beweisen, daß eine Spielschuld doch etwas anderes sei als eine gewöhnliche Schuld, und daß es doch einen Unterschied gäbe zwischen einem Herzog und einem Wagenlieferanten. Alles war vergebens, der Großvater ließ sich durch nichts umstimmen. Die Großmutter wußte nicht, was sie machen sollte.

Nun war sie mit einem höchst merkwürdigen Menschen intim bekannt. Ihr habt wohl alle etwas vom Grafen Saint-Germain gehört, von dem so merkwürdige Dinge erzählt wurden. Ihr wißt wohl, daß er sich für den Ewigen Juden, für den Erfinder des Lebenselixiers und des Steins der Weisen und so weiter ausgab. Er wurde oft als Scharlatan angesehen und verlacht; Casanova behauptet aber in seinen Memoiren, er sei ein Spion gewesen. Dieser Saint-Germain sah übrigens, trotz aller Geheimniskrämerei sehr ehrwürdig aus und verstand es, sich in Gesellschaft höchst liebenswürdig zu zeigen. Meine Großmutter liebt ihn noch heute mit heißer Liebe, und sie kann es nicht leiden, wenn man von ihm unehrerbietig spricht. Sie wußte, daß er über unheimliche Geldmittel verfügte. Sie schrieb ihm also ein Billett, er möchte sie sofort besuchen. Der alte Sonderling leistete der Einladung sofort Folge und fand sie in größtem Kummer. Sie beschrieb ihm in den düstersten Farben die Barbarei ihres Mannes und sagte, sie setze ihre letzte Hoffnung auf seine Freundschaft und Liebenswürdigkeit. Der Graf geriet in einige Verlegenheit. ›Ich könnte Ihnen wohl die nötige Summe leihen,‹ sagte er, ›aber ich weiß, daß Sie keine Ruhe finden werden, ehe Sie mir das Geld zurückzahlen; ich will Ihnen aber keine neuen Sorgen machen. Ich weiß ein anderes Mittel: Sie können das Geld zurückgewinnen.‹

›Aber, lieber Graf,‹ sagte die Großmutter, ›ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir kein Geld haben.‹

›Sie brauchen dazu kein Geld,‹ sagte Saint-Germain. ›Hören Sie mich nur an.‹

Und da vertraute er ihr ein Geheimnis an, für das wohl jeder von uns sehr viel geben würde...«

Die jungen Leute verdoppelten ihre Aufmerksamkeit.

Tomskij zündete sich seine Pfeife an und fuhr fort:

»Am gleichen Abend erschien meine Großmutter in Versailles beim jeu de la reine. Der Herzog von Orleans hielt die Bank; meine Großmutter entschuldigte sich zuvor, daß sie die Spielschuld nicht mitgebracht habe, wofür sie irgend einen erdichteten Grund angab, und begann zu setzen. Sie wählte drei Karten und setzte auf sie nacheinander: alle drei gewannen, und so kam sie wieder zu ihrem Geld.«

»Zufall!« sagte ein Gast.

»Ein Märchen!« meinte Hermann.

»Vielleicht waren es gar gezeichnete Karten!« bemerkte ein Dritter.

»Das glaube ich nicht,« erwiderte Tomskij.

»Wie,« sagte Narumow, »du hast eine Großmutter, die drei Karten hintereinander trifft, und hast ihr diese Hexerei noch nicht abgeguckt?«

»Ja, zum Teufel!« antwortete Tomskij. »Sie hatte vier Söhne, und alle, darunter auch mein Vater, waren verzweifelte Spieler; doch hat sie keinem von ihnen ihr Geheimnis anvertraut, obwohl sie es alle – und auch ich auch – recht gut brauchen könnten. Mein Onkel, der Graf Iwan Iljitsch, hat mir aber folgende Geschichte erzählt, deren Richtigkeit er mit seinem Ehrenworte bekräftigte: Der berühmte Tschaplizkij, der bekanntlich Millionen verspielt hat und als Bettler gestorben ist, hatte einmal in seiner Jugend dreihunderttausend Rubel – wenn ich nicht irre, an Sorin – verloren. Er war ganz verzweifelt. Meine Großmutter, die sonst dem Leichtsinn junger Leute gegenüber sehr streng war, hatte nun Mitleid mit dem Tschaplizkij. Sie gab ihm drei Karten an, die er nacheinander zu besetzen hatte, und verpflichtete ihn mit einem Ehrenwort, nie wieder zu spielen. Tschaplizkij ging zu seinem glücklichen Partner, setzte auf die erste Karte fünfzigtausend und gewann Sonika, er bot Paroli und Paroli-Pe und gewann seinen Verlust wieder und noch ein rundes Sümmchen dazu...«

»Es ist aber Zeit, daß wir schlafen gehen. Die Uhr hat eben dreiviertel sechs geschlagen.«

In der Tat – der Tag graute bereits. Die jungen Leute leerten ihre Gläser und brachen auf.

II

»Il paraît, que monsieur est décidément pour les suivantes.«
»Que voulez-vouz, madame? Elles sont plus fraiches.«
(Aus einem Salongespräch.)

Die alte Gräfin *** saß in ihrem Toilettenzimmer vor dem Spiegel; drei Zofen umgaben sie. Die eine hielt ein Töpfchen Rouge, die zweite eine Schachtel mit Haarnadeln und die dritte eine hohe Haube mit feuerroten Bändern.

Die Gräfin hatte alle Ansprüche auf Schönheit längst aufgegeben, aber sie bewahrte alle Gewohnheiten ihrer Jugendzeit, kleidete sich streng nach der Mode der siebziger Jahre, und ihre Toilette war ebenso sorgfältig und nahm ebensoviel Zeit in Anspruch, wie vor sechzig Jahren. Am Fenster saß über einen Stickrahmen gebeugt ein junges Mädchen – ihre Pflegetochter.

»Guten Tag, grand'maman!« sagte ein junger Offizier, ins Zimmer tretend. »Bon jour, madmoiselle Lise! Grand'maman, ich komme mit einer Bitte.«

»Was ist's, Pawel?«

»Gestatten Sie mir, daß ich einen meiner Freunde bei Ihnen einführe und ihn Freitag zu Ihrem Ball mitbringe.«

»Gut. Bring' ihn Freitag mit, und dann kannst du ihn mir gleich vorstellen. Warst du übrigens gestern bei ***?«

»Gewiß! Da ging es sehr lustig zu. Man tanzte bis fünf Uhr früh. Die Jeletzkaja war entzückend!«

»Aber, mein Lieber! Was findest du denn an ihr? Kann man sie denn mit ihrer Großmutter, der Fürstin Darja Petrowna, vergleichen? ... Die Fürstin ist wohl sehr gealtert?«

»Wieso, gealtert?« Tomskij mußte auflachen. »Sie ist ja seit sieben Jahren tot.«

Das junge Mädchen horchte auf und machte ihm ein Zeichen. Da fiel es erst Tomskij ein, daß man der alten Gräfin den Tod ihrer Altersgenossinnen zu verheimlichen pflegte. Er biß sich in die Lippen, die Gräfin hatte aber die Nachricht gehört und blieb ziemlich ruhig.

»Also sie ist tot!« sagte sie. »Und ich habe nichts davon gewußt! Wir wurden beide gleichzeitig zu Hofdamen ernannt; als wir uns dann der Kaiserin vorstellten ...«

Die Gräfin erzählte die Geschichte ihrem Enkel bereits zum hundertsten Mal.

»Nun, Pawel,« sagte sie dann, hilf mir aufstehen; Lisa, wo ist meine Tabatière?«

Die Gräfin zog sich mit ihren Zofen hinter eine spanische Wand zurück, um ihre Toilette zu vollenden. Tomskij und das junge Mädchen blieben allein.

»Wen wollen Sie bei uns einführen?« fragte Lisaweta Iwanowna leise.

»Den Narumow. Kennen Sie ihn denn nicht?«

»Nein! Ist er Offizier oder Zivilist?«

»Offizier.«

»Genieoffizier?«

»Nein, Kavallerist. Wie kommen Sie auf einen Genieoffizier?«

Das junge Mädchen lachte und gab keine Antwort.

»Pawel!« rief die Gräfin hinter der spanischen Wand. »Schicke mir, bitte, irgendeinen Roman, aber keinen von den modernen.«

»Wie meinen Sie das, grand'maman?«

»Also einen Roman, in dem der Held weder Vater noch Mutter umbringt und in dem keine Wasserleichen vorkommen. Ich habe solche Angst vor Wasserleichen.«

»Solche Romane gibt es jetzt gar nicht. Wollen Sie nicht einen russischen Roman lesen?«

»Gibt es denn überhaupt russische Romane? Schick' mir einmal einen, mein Freund.«

»Verzeihen Sie, grand'maman, ich habe große Eile... Auf Wiedersehen, Lisaweta Iwanowna! Also warum glaubten Sie, Narumow sei Genieoffizier?«

Tomskij verließ das Toilettenzimmer.

Lisaweta Iwanowna blieb allein. Sie ließ ihre Handarbeit liegen und blickte zum Fenster hinaus. An einer Straßenecke erschien bald ein junger Offizier. Sie wurde rot und neigte den Kopf über den Stickrahmen. In diesem Augenblick kam die Gräfin, die ihre Toilette beendet hatte. »Lisa,« sagte sie, »laß einspannen, wir wollen etwas spazieren fahren.«

Lisa stand auf und begann ihre Handarbeit wegzuräumen.

»Was ist denn, Lisa? Bist du taub?« schrie die Gräfin. »Laß gleich einspannen!«

»Sofort!« sagte das Mädchen leise und lief ins Vorzimmer. Ein Diener trat ein und brachte der Gräfin Bücher vom Fürsten Pawel Alexandrowitsch.

»Gut. Ich lasse danken,« sagte die Gräfin. »Lisa, Lisa, was rennst du so?«

»Ich will mich anziehen.«

»Du hast noch Zeit. So, setz' dich hierher, nimm den ersten Band und lies mir vor...«

Lisa nahm das Buch und las einige Zeilen.

»Lauter!« unterbrach sie die Gräfin. »Was hast du denn, Kind? Hast du keine Stimme mehr? Wart', rück' mir mal den Fußschemel her, noch näher... So!«

Lisaweta Iwanowna las noch zwei Seiten. Die Gräfin gähnte.

»Leg' das Buch weg,« sagte sie, »es ist ja ganz albernes Zeug! Schick' es dem Fürsten Pawel zurück und lass danken... Was ist mit dem Wagen?«

»Der Wagen ist bereit,« sagte Lisaweta Iwanowna, nachdem sie zum Fenster hinausgeblickt hatte.

»Warum bist du noch nicht fertig?« fragte die Gräfin. »Immer muß man auf dich warten. Auf die Dauer ist es unerträglich!«

Lisa eilte in ihr Zimmer. Nach zwei Minuten begann die Gräfin aus allen Kräften zu schellen. Drei Zofen erschienen in einer Tür, ein Kammerdiener in der anderen.

»Warum kommt ihr nicht gleich, wenn ich schelle?« herrschte sie die Gräfin an. »Sagt Lisaweta Iwanowna, daß ich warte.«

Lisaweta Iwanowna kam in Hut und Mantel.

»So, endlich kommst du, mein Kind!« sagte die Gräfin »Wozu dieser Aufzug? Wen willst du heute erobern? ... Wie ist das Wetter? Ich glaube, es ist sehr windig.«

»Durchaus nicht, Durchlaucht, es ist windstill!« antwortete der Kammerdiener.

»Ihr redet immer aufs Geratewohl! Mach' einmal das Fenster auf! Natürlich ist es windig, auch noch kalt dazu! Laß wieder ausspannen! Lisa, wir fahren nicht aus, der ganze Aufputz war überflüssig.«

 – So ist mein ganzes Leben – dachte Lisa.

Lisaweta Iwanowna war in der Tat ein unglückliches Geschöpf. Fremdes Brot schmeckt bitter, sagt Dante, und die Stufen eines fremden Hauses sind steil; aber niemand fühlt so sehr die Bitterkeit der Abhängigkeit, wie eine arme Pflegetochter einer vornehmen alten Dame. Gräfin *** hatte kein böses Herz, aber, wie jede verwöhnte Weltdame, ihre Launen; sie war geizig und egoistisch wie alle alten Leute, die ihr Leben und Lieben hinter sich haben und denen die Gegenwart fremd ist. Sie nahm an allen Veranstaltungen der großen Welt teil und besuchte alle Bälle, wo sie geschminkt und nach der alten Mode gekleidet in einer Ecke saß, als häßliches, aber notwendiges Prunkstück des Ballsaals; alle Gäste begrüßten sie immer zuerst mit tiefen Verbeugungen, wie es die Sitte vorschrieb, und beachteten sie dann nicht mehr. Auf ihren Empfängen erschien die ganze Stadt, sie beobachtete die strengste Etikette, erkannte aber keinen von den Geladenen. Die zahlreiche Dienerschaft, die in den Vorzimmern und Mädchenkammern alt und fett geworden war, tat, was sie wollte, und bestahl die sterbende Alte auf die infamste Weise. Lisaweta Iwanowna war die Märtyrerin des Hauses. Sie mußte Tee einschenken und Vorwürfe wegen übermäßigen Verbrauchs von Zucker anhören. Sie mußte Romane vorlesen und wurde für jeden Fehler des Verfassers verantwortlich gemacht. Sie mußte die Gräfin bei ihren Ausfahrten begleiten und die Verantwortlichkeit für das Wetter tragen. Es war ihr ein bestimmtes Gehalt ausgesetzt, das aber nie voll ausbezahlt wurde; und doch wurde von ihr verlangt, daß sie sich »wie alle«, d. h. wie sehr wenige, kleide. In der Gesellschaft spielte sie eine recht traurige Rolle. Alle kannten sie und niemand bemerkte sie; auf den Bällen tanzte sie nur dann, wenn gerade ein Visavis fehlte, und die Damen nahmen sie unter den Arm, so oft sie in die Garderobe mußten, um etwas an ihren Toiletten zu richten. Sie war dabei sehr stolz und empfindlich, sie fühlte die Unerträglichkeit ihrer Lage und wartete mit Ungeduld auf einen Erlöser. Die jungen Leute waren viel zu berechnend und hochmütig, um ihr die geringste Beachtung zu schenke, obwohl sie hundertmal mehr Reiz besaß als die frechen und kalten jungen Mädchen, denen sie die Cour schnitten. Oft verließ sie unbemerkt den prunkvollen aber langweiligen Salon und ging in ihr Kämmerchen, wo eine mit Tapeten beklebte spanische Wand, eine Kommode, ein kleiner Spiegel und ein gestrichenes Bett standen und in einem Messingleuchter ein einsames Talglicht flackerte; dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Zwei Tage nach dem Kartenabend, den wir am Anfang der Erzählung beschrieben haben, und acht Tage vor der Szene, an der wir stehen geblieben sind, blickte Lisa einmal zufällig von ihrem Stickrahmen auf und bemerkte draußen vor dem Fenster einen jungen Genieoffizier. Er stand unbeweglich da und starrte zum Fenster hinauf. Sie senkte gleich den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Als sie aber nach fünf Minuten wieder hinaussah, stand der junge Offizier noch immer auf der gleichen Stelle. Es war nicht ihre Art, mit vorbeigehenden Offizieren zu kokettieren; sie saß dann noch etwa zwei Stunden an ihrer Arbeit, ohne ein einziges Mal hinauszuschauen. Als das Mittagessen gereicht wurde, stand sie auf und begann ihre Stickerei wegzuräumen; als ihr Blick dabei zufällig ins Fenster fiel, sah sie den Offizier noch immer stehen. Das kam ihr etwas sonderbar vor. Nach dem Essen trat sie etwas beunruhigt ans Fenster: der Offizier war fort, und bald darauf vergaß sie ihn ganz ...

Als sie zwei Tage später das Haus verließ, um mit der Gräfin auszufahren, sah sie ihn wieder. Er stand dicht an der Einfahrt, sein Gesicht war von dem Biberkragen halb verdeckt, und unter dem Hut funkelten seine schwarzen Augen. Lisaweta Iwanowna erschrak, sie wußte selbst nicht warum, und setzte sich mit seltsamer Beklommenheit in den Wagen.

Nach Hause zurückgekehrt, eilte sie sofort ans Fenster: der Offizier stand noch immer an gleicher Stelle und starrte sie an; sie entfernte sich, von Neugierde gequält und von einem ihr ganz neuen Gefühl ergriffen. Von nun an erschien der junge Mann jeden Tag zur gleichen Stunde vor ihrem Fenster. Zwischen ihm und ihr entwickelte sich ein stummes Verhältnis. Wenn sie an ihrer Arbeit saß und sein Nahen fühlte, hob sie den Kopf und blickte ihn an; von Tag zu Tag wurde dieser Blick länger. Der junge Mann war ihr dafür, wie es schien, sehr dankbar: sie sah mit dem scharfen Blick der Jugend, wie seine blassen Wangen jedesmal rot wurden, wenn sich ihre Blicke trafen. Nach weiteren acht Tagen lächelte sie ihm bereits zu...

Als Tomskij seine Großmutter um Erlaubnis bat, ihr einen seiner Freunde vorstellen zu dürfen, bekam das arme Mädchen Herzklopfen. Als sie aber erfuhr, daß Narumow nicht Genieoffizier, sondern Gardekavallerist sei, bereute sie ihre Frage, die dem leichtsinnigen Tomskij ihr Geheimnis verraten konnte.

* * *

Hermann war der Sohn eines eingewanderten Deutschen, der ihm ein kleines Kapital hinterlassen hatte. Er setzte sich zum Ziel die Festigung seiner materiellen Unabhängigkeit; er ließ daher selbst die Zinsen seines Kapitals unberührt, lebte vom Gehalt allein und erlaubte sich keinerlei Extraausgaben. Im übrigen war er so verschlossen und ehrgeizig, daß seine Kameraden nur selten Gelegenheit hatten, über seine übertriebene Sparsamkeit zu spotten. Er hatte ein leidenschaftliches Temperament und eine feurige Phantasie, aber seine Charakterstärke bewahrte ihn vor den gewöhnlichen Verirrungen der Jugend. Er war ein geborener Spieler, und doch nahm er nie eine Karte in die Hand, denn er behauptete, seine Lage erlaube ihm nicht, Unentbehrliches auf die Karte zu setzen, um Überflüssiges zu gewinnen. Er verbrachte aber ganze Nächte am Kartentisch, mit fieberhafter Erregung alle Wendungen des Spiels verfolgend.

Die Anekdote von den drei Karten hatte auf ihn einen starken Eindruck gemacht, und er mußte an sie die ganze Nacht denken. »Wie wäre es nun,« dachte er, als er am nächsten Abend durch die Straßen von Petersburg flanierte, »wie wäre es nun, wenn die alte Gräfin mir ihr Geheimnis anvertraute? Oder mir für einen Fall die drei Karten nennte? Warum sollte ich nicht mein Glück versuchen? ... Ich könnte mich ihr vorstellen lassen, ihre Sympathie erwerben, vielleicht auch ihr Liebhaber werden; dies alles erfordert Zeit, sie ist aber siebenundachtzig Jahre alt und kann in einer Woche, oder in zwei Tagen sterben! ... Dann diese Anekdote ... Ob sie auch wahr ist? ... Nein! Berechnung, Mäßigkeit und Fleiß – das sind die drei zuverlässigsten Karten, die mein Vermögen verdreifachen, versiebenfachen und mir Ruhe und Unabhängigkeit verschaffen werden!«

Mit solchen Gedanken beschäftigt, kam er auf seiner Wanderung in eine der Hauptstraßen und blieb vor einem alten Palais stehen. Unzählige Equipagen hielten vor der Einfahrt und füllten die ganze Straße. Aus den Equipagen streckte sich bald das schlanke Füßchen einer jungen Schönen, bald ein sporenklirrender Reiterstiefel, bald der gestreifte Strumpf und der Schuh eines Diplomaten heraus. In Pelze und Mäntel gehüllte Gestalten eilten am majestätisch aussehenden Portier vorbei. »Wem gehört das Haus?« fragte er einen an der stehenden Wachsoldaten.

»Der Gräfin ***,« antwortete dieser.

Hermann gab es einen Ruck. Die merkwürdige Anekdote fiel ihm wieder ein. Er begann vor dem Hause auf und ab zu gehen und dachte unaufhörlich an die Gräfin und an ihre wunderbare Fähigkeit. Spät abends kehrte er in seine bescheidene Wohnung zurück und schlief lange nicht ein. Als der Schlaf sich endlich einstellte, träumte er von Karten, Spieltischen, Bergen von Dukaten und Haufen von Banknoten. Er setzte eine Karte nach der andern, bot entschlossen Paroli, gewann in einem fort, sammelte das Gold ein und steckte die Banknoten in die Tasche. Als er erwachte, seufzte er über den Verlust des geträumten Reichtums und begann wieder in den Straßen zu irren. Er kam wieder vor das Haus der Gräfin ***; eine sonderbare Gewalt schien ihn dorthin zu locken. Er blieb stehen und blickte nach den Fenstern hinauf. An einem Fenster bemerkte er ein braunes Köpfchen, das über ein Buch oder über eine Handarbeit gebeugt war. Das Köpfchen erhob sich. Hermann sah ein frisches Gesicht und dunkle Augen. In diesem Augenblick war sein Schicksal besiegelt.

III

Vous m'écrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire.
(Aus dem Briefwechsel)

Kaum hatte Lisaweta Iwanowna ihren Hut und Mantel abgelegt, als die Gräfin wieder nach ihr schickte und einspannen ließ. Sie stiegen in die Equipage. Als zwei Lakaien die Alte in den Wagen hoben, bemerkte Lisaweta Iwanowna dicht beim Wagen ihren Offizier; er hatte ihre Hand erfaßt; sie war ganz erschrocken. Der junge Mann verschwand, und in ihrer Hand blieb ein Billett. Sie verbarg es in ihrem Handschuh und war dann während der ganzen Fahrt wie geistesabwesend. Die Gräfin pflegte während der Ausfahrten ununterbrochen Fragen zu stellen: wer war das eben? wie heißt diese Brücke? was steht dort auf dem Schild? Lisaweta Iwanowna gab diesmal unzutreffende Antworten, und die Gräfin wurde böse.

»Was hast du, mein Kind? Hast du den Starrkrampf? Du hörst mich nicht und verstehst mich nicht ... Gott sei Dank, ich habe keinen Sprachfehler und bin noch bei Sinnen!« Lisaweta Iwanowna gab keine Antwort. Sobald sie zu Hause waren, lief sie in ihr Zimmer und holte das Billett aus dem Handschuh hervor: es war nicht versiegelt. Lisaweta Iwanowna begann zu lesen. Der Brief enthielt eine Liebeserklärung, er war in zärtlichen aber höflichen Ausdrücken gehalten und wörtlich aus einem deutschen Roman abgeschrieben. Lisaweta Iwanowna las aber keine deutschen Bücher und war mit dem Brief zufrieden.

Der Brief, den sie von dem Offizier angenommen hatte, begann sie bald zu beunruhigen. Es war das erstemal, daß sie mit einem jungen Mann in intimere Fühlung trat. Seine Kühnheit erschreckte sie. Sie machte sich Vorwürfe wegen ihres unvorsichtigen Benehmens und wußte nicht, was sie unternehmen solle: sollte sie nie mehr ans Fenster treten und durch ihre Gleichgültigkeit ihm die Lust zu weiteren Schritten vertreiben? Sollte sie den Brief zurückschicken? Oder ihn kühl und abweisend beantworten? Sie hatte niemand, den sie um Rat fragen konnte, weder eine Freundin, noch eine Leiterin. Sie entschloß sich, zu antworten.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und Papier und saß eine Zeitlang sinnend da. Sie fing ihren Brief einige Male an, doch zerriß sie das Geschriebene gleich wieder: bald kam ihr der Ton zu wohlwollend vor, bald wieder zu schroff. Endlich brachte sie einige Zeilen fertig, mit denen sie zufrieden war. Sie schrieb: »Ich bin von der Lauterkeit Ihrer Absichten überzeugt wie auch davon, daß Sie mich durch Ihren unbedachten Schritt nicht haben beleidigen wollen; unsere Bekanntschaft sollte aber auf eine andere Art angeknüpft werden. Ich schicke Ihnen Ihren Brief zurück und hoffe, daß ich in Zukunft keine Ursache haben werde, mich über eine unverdiente Mißachtung zu beklagen.«

Als Lisaweta Iwanowna am nächsten Tage zum Fenster hinaussah und Hermann erblickte, stand sie auf, ging in den Salon und ließ, auf die Geschicklichkeit des jungen Offiziers vertrauend, ihr Billett aus dem Klappfenster auf die Straße fallen. Hermann lief herbei, hob das Billett auf und ging in einen Konditorladen. Er erbrach das Siegel und fand seinen Brief und Lisas Antwort. So hatte er es auch erwartet. Er ging heim, ganz mit der angeknüpften Intrige beschäftigt.

Drei Tage darauf brachte eine junge flinke Ladenmamsell ein Billett für Lisaweta Iwanowna. Sie entfaltete es mit einiger Unruhe, denn sie fürchtete, es sei eine Mahnung wegen einer unbezahlten Rechnung. Da erkannte sie die Handschrift Hermanns.

»Sie haben sich geirrt, meine Liebe,« sagte sie der Mamsell, »das Billett ist nicht für mich.«

»Nein, es ist bestimmt für Sie!« antwortete das flinke Mädel mit einem schelmischen Lächeln. »Lesen Sie es nur!« Lisaweta Iwanowna überflog den Zettel. Hermann bat um ein Stelldichein.

»Es stimmt doch nicht,« sagte sie, durch diese plötzliche Forderung und durch die Art, wie er sie ihr übermittelte, erschreckt, »der Brief ist nicht für mich.« Mit diesen Worten zerriß sie das Billett in kleine Fetzen. »Warum zerreißen Sie ihn denn, wenn er nicht für Sie ist?« sagte die Mamsell. »Ich hätte ihn sonst der Person zurückgegeben, die mich geschickt hat.«

»Ich bitte Sie, mein Kind,« sagte Lisaweta Iwanowna, durch diese Bemerkung zum Erröten gebracht, »mir in der Zukunft keine Billetts zu überbringen. Dem Herrn, der Sie geschickt hat, sagen Sie aber, er solle sich schämen!« Aber Hermann ließ sich nicht beirren. Lisaweta Iwanowna bekam von ihm – bald auf diese, bald auf jene Weise – täglich Briefe. Sie waren jetzt nicht mehr deutschen Romanen entlehnt. Hermann schrieb sie selbst, durch seine Leidenschaft angeregt, in seiner eigenen Sprache. In diesen Briefen spiegelte sich sein eigensinniges Verlangen und seine verworrene zügellose Phantasie. Lisaweta Iwanowna dachte gar nicht daran, sie ihm jetzt zurückzuschicken; sie berauschte sich an ihnen und schrieb ihm wieder – ihre Billetts wurden von Tag zu Tag länger und zärtlicher. Schließlich warf sie ihm folgenden Zettel zu: »Heute abend ist Ball beim ***schen Gesandten. Die Gräfin geht hin. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, mich allein zu treffen. Wir bleiben bis gegen zwei Uhr dort. Sobald die Gräfin fort ist, wird wohl auch die ganze Dienerschaft das Haus verlassen; der Portier wird wahrscheinlich bleiben, aber er wird sich wohl in seine Kammer zurückziehen. Kommen Sie um halb zwölf und gehen Sie gleich die Treppe hinauf. Wenn Sie im Vorzimmer auf jemand stoßen, so fragen Sie, ob die Gräfin zu Hause ist. Sie werden dann hören, daß sie nicht zu Hause sei, und leider abziehen müssen. Wahrscheinlich werden Sie aber auf niemand stoßen. Die Zofen schlafen alle in einem Zimmer. Wenn Sie das Vorzimmer passiert haben, so gehen Sie links, immer geradeaus bis zum Schlafzimmer der Gräfin. Im Schlafzimmer finden Sie hinter der spanischen Wand zwei kleine Türen: rechts befindet sich ein Kabinett, das die Gräfin nie betritt, links ein Korridor mit einer schmalen Wendeltreppe, die in mein Zimmer führt.« Hermann zitterte in der Erwartung der bestimmten Stunde wie ein Tiger. Um zehn Uhr abends postierte er sich schon vor dem Palais. Das Wetter war sehr schlecht: der Wind pfiff, und der nasse Schnee fiel in großen Flocken; die Straßenlaternen brannten trüb, die Straßen waren leer. Nur selten fuhr eine Droschke vorbei, deren Kutscher nach einem verspäteten Fahrgast ausspähte. Hermann war nur mit einem Rock bekleidet, doch spürte nichts von Wind und Schnee. Endlich fuhr der Wagen vor. Hermann sah, wie die Lakaien eine in Zobelpelz gehüllte zusammengeschrumpfte alte Dame in den Wagen hoben und wie ihr ihre Pflegetochter in einem Mantel und mit Blumen im Haar nachfolgte. Die Wagentür wurde zugeschlagen, und der Wagen rollte schwer über den weichen Schnee. Der Portier schloß die Tür, in den Fenstern war kein Licht mehr zu sehen. Hermann ging noch immer vor dem Hause auf und ab. Er trat an eine Laterne und sah auf die Uhr: es war erst zwanzig Minuten nach elf. Er blieb bei der Laterne stehen, den Blick auf den Minutenzeiger gerichtet. Punkt halb zwölf trat er in den hellbeleuchteten Flur. Der Portier war nicht da. Hermann lief die Treppe hinauf, öffnete die Vorzimmertür und erblickte einen Lakai, der vor einer Lampe, in einem alten schmierigen Lehnsessel sitzend, schlief. Hermann ging mit leichtem und festem Schritt an ihm vorbei. Der Salon und das Empfangszimmer waren dunkel, und nur aus dem Vorzimmer drang spärliches Licht. Er kam ins Schlafzimmer. Vor dem Heiligenschrein, der mit alten Bildern gefüllt war, brannte eine goldene Lampe. An den mit chinesischen Tapeten bekleideten Wänden standen in trauriger Symmetrie mit verblaßter Seide überzogene Sessel und Sofas, deren Vergoldung alt und schwarz war. Auf der Wand hingen zwei von Madame Lebrun in Paris gemalte Bildnisse. Das eine stellte einen etwa vierzigjährigen Herrn mit vollem rosigem Gesicht und hellgrüner Uniform mit Ordensstern dar; das andere – eine junge Schönheit mit einer Adlernase, glattfrisierten Schläfen und einer Rose im gepuderten Haar. In allen Ecken standen Porzellanschäferinnen, vom berühmten Leroy stammende Stutzuhren, Schächtelchen, Roulettes und alle möglichen Damenspielsachen, die am Ende des vorigen Jahrhunderts zugleich mit dem Montgolfier-Ballon und dem Mesmerismus erfunden worden sind. Hermann trat hinter die spanische Wand; da stand eine Eisenbettstelle, rechts war die Tür ins Kabinett, links die zum Korridor. Hermann öffnete die letztere und sah jene schmale Wendeltreppe, die ins Zimmer der armen Pflegetochter führte. Er kehrte aber um und ging in das finstere Kabinett. Die Stunden schleppten sich langsam hin. Alles war still. Die Uhr im Empfangszimmer schlug Mitternacht, dann schlugen auch alle anderen Uhren des Hauses, und dann war wieder alles still. Hermann stand an einen kalten, ungeheizten Ofen gelehnt. Er war ruhig, und sein Herz schlug gleichmäßig, wie bei einem, der eine gefährliche, aber notwendige Sache beschlossen hat. Die Uhren schlugen eins, dann zwei, und da hörte er das ferne Rollen eines Wagens. Er wurde etwas unruhig. Der Wagen hielt vor dem Hause, und Hermann hörte, wie der Wagentritt herabgelassen wurde. Im ganzen Hause wurde es lebendig. Die Diener liefen hin und her, es wurde Licht gemacht, und viele Stimmen ließen sich vernehmen. Drei alte Zofen kamen ins Schlafzimmer gelaufen, und ihnen folgte die Gräfin; sie war todmüde und ließ sich gleich in einen Voltaire-Sessel sinken. Hermann beobachtete alles durch die Türspalte. Lisaweta Iwanowna ging an ihm vorbei, und er hörte, wie sie die Wendeltreppe hinaufeilte. Er spürte etwas wie Gewissensbisse, doch nur für einen Augenblick. Er war wie versteinert. Die Gräfin entkleidete sich vor dem Spiegel. Man steckte ihr die mit Rosen geputzte Haube los und nahm ihr vom kurz geschorenen Schädel die gepuderte Perücke ab. Die Stecknadeln fielen wie ein Regen um sie herum. Die gelbe silbergestickte Robe fiel zu ihren unförmigen Füßen. Hermann war Zeuge aller abstoßenden Mysterien ihrer Toilette. Schließlich blieb sie in einer Nachtjacke und einer Nachthaube sitzen. In diesem Aufputz, der ihrem Alter besser entsprach, sah sie viel weniger abstoßend und schrecklich aus. Wie die meisten alten Leute, litt die Gräfin an Schlaflosigkeit. Als ihre Nachttoilette beendet war, schickte sie die Zofen fort. Die Kerzen wurden fortgetragen, und das Zimmer war wieder nur von der Lampe, die vor den Heiligenbildern brannte, beleuchtet. Die Gräfin war ganz gelb, sie bewegte stumm ihre herabhängenden Lippen, ihr Oberkörper pendelte hin und her. Ihre trüben Augen drückten keinerlei Denken aus; man konnte glauben, daß die Bewegungen der schauerlichen Alten nicht ihrem Willen, sondern einer verborgenen galvanischen Kraft entsprangen. Plötzlich ging auf ihrem leblosen Gesicht eine schreckliche Veränderung vor sich, die Lippen bewegten sich nicht mehr, die Augen lebten auf: vor der Gräfin stand ein unbekannter Mann.

»Um Gottes willen, erschrecken Sie nicht!« sagte er leise, aber deutlich. »Ich habe keine feindlichen Absichten, ich will Sie nur um eine Gnade anflehen.«

Die Alte starrte ihn stumm an, sie schien ihn nicht zu hören. Hermann dachte, sie sei taub; er neigte sich zu ihrem Ohr und wiederholte die gleichen Worte. Die Alte schwieg noch immer.

»Sie können mein Lebensglück begründen,« fuhr Hermann fort, »es soll Sie nichts kosten: ich weiß, daß Sie die Fähigkeit besitzen, drei hintereinander folgende Karten zu erraten ...«

Hermann stockte: die Gräfin schien zu begreifen, was er von ihr wollte, und nach Worten zu suchen. Endlich sagte sie:

»Es war ein Scherz, ich schwöre Ihnen, daß es nur ein Scherz war!«

»Mit so etwas soll man nicht scherzen,« entgegnete Hermann zornig, »denken Sie nur .... Tschaplizkij, dem Sie zur Wiedererlangung seines Verlustes verhalfen.«

Die Gräfin geriet offenbar in Verlegenheit. Ihre Züge drückten eine starke seelische Erregung aus, bald verfiel sie aber in ihre frühere Teilnahmslosigkeit. »Können Sie mir die drei sicheren Karten nennen?« fuhr Hermann fort.

Die Alte schwieg.

»Für wen wollen Sie Ihr Geheimnis bewahren? Für die Enkel? Die sind ohnehin reich und kennen auch den Wert des Geldes nicht. Einem Verschwender können Ihre drei Karten nichts nützen. Wer das väterliche Erbe nicht zu bewahren weiß, der wird trotz aller Teufelskünste in Armut sterben. Ich bin kein Verschwender und kenne den Wert des Geldes. Ihre drei Karten sind also bei mir nicht verloren. Nun! ...«

Er hielt inne und erwartete bebend ihre Antwort. Sie schwieg. Hermann sank in die Knie. »Wenn Ihr Herz jemals Liebe kannte, wenn Sie sich noch der Freuden der Liebe erinnern, wenn Sie nur einmal beim Schrei eines Neugeborenen gelächelt haben, wenn sich je etwas Menschliches in Ihrer Brust geregt hat, so beschwöre ich Sie bei den Gefühlen einer Gattin, Geliebten, Mutter, bei allem, was im Leben heilig ist, – vertrauen Sie mir Ihr Geheimnis an! ... Was nützt es Ihnen? ... Vielleicht ist es mit irgendeiner schrecklichen Sünde, mit dem Verlust der ewigen Seligkeit, mit einem Teufelspakt verbunden... Denken Sie doch daran, daß Sie alt sind und nicht mehr lange zu leben haben – ich bin bereit, Ihre Sünde auf mich zu nehmen. Eröffnen Sie mir nur Ihr Geheimnis. Bedenken Sie doch, daß Sie jetzt das Glück eines Menschen in der Hand haben, daß nicht nur ich, daß auch meine Kinder, Enkel und Urenkel Ihr Andenken stets heilig halten werden...«

Die Alte entgegnete kein Wort.

Hermann stand auf.

»Alte Hexe!« sagte er mit zusammengepreßten Zähnen. »Ich werde dich zwingen, mir zu antworten...«

Mit diesen Worten holte er eine Pistole hervor. Als die Alte diese sah, zeigte sie zum zweitenmal eine heftige Erregung. Sie nickte mit dem Kopf, hob die Hand, als ob sie ihr Gesicht schützen wollte, fiel dann in den Sessel ... und blieb unbeweglich.

»Lassen Sie diese Kindereien,« sagte Hermann, ihre Hand ergreifend. »Ich frage Sie zum letztenmal: wollen Sie mir die drei Karten nennen? Ja oder nein?«

Die Alte antwortete nicht, und Hermann sah, daß sie tot war.

IV

Homme sans mœurs et sans religion!
(Aus dem Briefwechsel.)

Lisaweta Iwanowna saß noch immer im Ballkleid ihrem Zimmer. Sie war in Gedanken versunken. Sobald sie nach Hause gekommen war, schickte sie die verschlafene Zofe, die ihr beim Auskleiden behilflich sein wollte, fort und ging bebend in ihr Zimmer, in der Hoffnung, dort Hermann zu treffen, und mit dem Wunsch, ihn nicht zu treffen. Beim ersten Blick sah sie, daß er nicht gekommen war, und dankte dem Schicksal, das ihm irgend ein Hindernis in den Weg gelegt hatte. Sie setzte sich, ohne sich auszukleiden, hin und ließ alle Umstände, die sie in so kurzer Zeit so weit gebracht hatten, Revue passieren. Es waren ja seit jenem Tage, als sie den jungen Mann zum erstenmal im Fenster erblickt hatte, kaum drei Wochen verstrichen, und doch korrespondierte sie mit ihm bereits und hatte ihm sogar ein nächtliches Stelldichein gewährt! Seinen Namen kannte sie nur aus den Unterschriften seiner Briefe; sie hatte mit ihm noch nie gesprochen, kannte selbst den Klang seiner Stimme nicht und hatte – bis zu diesem Abend  – noch nie von ihm sprechen hören. Es hatte sich so sonderbar gefügt! – Tomskij wollte heute auf dem Ball die junge Fürstin Pauline *** ärgern, weil sie diesmal gegen ihre Gewohnheit mit einem andern und nicht mit ihm kokettierte; um sich zu rächen, engagierte er Lisaweta Iwanowna zu einer endlosen Mazurka. Während des Tanzes neckte er sie wegen ihrer Vorliebe für Genieoffiziere und behauptete, viel mehr zu wissen, als sie glaube; einige seiner Scherze waren so geschickt gezielt, daß Lisaweta Iwanowna zu glauben anfing, daß er ihr Geheimnis kenne.

»Von wem wissen Sie das alles?« fragte sie lachend.

»Von den Freunden einer Ihnen wohlbekannten Person,« erwiderte Tomskij, »eines ganz ungewöhnlichen Menschen.«

»Wer ist denn dieser ganz ungewöhnliche Mensch?«

»Er heißt Hermann.«

Lisaweta Iwanowna fand keine Antwort, aber ihre Glieder erstarrten zu Eis...

»Dieser Hermann,« fuhr Tomskij fort, »ist eine echte Romangestalt: er hat das Profil von Napoleon und die Seele eines Mephisto. Ich glaube, daß er mindestens drei Verbrechen auf dem Gewissen hat. Wie blaß Sie geworden sind!...«

»Ich habe Kopfweh... Was hat Ihnen dieser Hermann erzählt ... oder wie heißt er doch?...«

»Hermann ist mit seinem Freund höchst unzufrieden; er sagt, daß er an seiner Stelle anders gehandelt hätte ... Ich glaube übrigens, daß dieser Hermann selbst Absichten auf Sie hat: jedenfalls kann er die Liebesergüsse seines Freundes nicht gleichgültig anhören.«

»Wo hat er mich denn gesehen?«

»Vielleicht in der Kirche ... oder auf der Promenade. Gott weiß wo! Vielleicht auch in Ihrem Zimmer, während Sie schliefen: er ist zu allem fähig.«

In diesem Augenblick traten an sie drei Damen heran mit der Frage: »Oubli ou regret?« So wurde dies Gespräch, welches für Lisaweta Iwanowna so quälend interessant geworden war, unterbrochen.

Die Dame, die sich Tomskij jetzt wählte, war eben die Fürstin Pauline, von der er sich anfangs abgewandt hatte.

Sie tanzte mit ihm eine Extratour und machte wieder alles gut. Als Tomskij auf seinen Platz zurückkehrte, dachte er weder an Lisa, noch an Hermann. Sie wollte durchaus das begonnene Gespräch fortsetzen, aber die Mazurka war schon zu Ende, und die alte Gräfin brach auf.

Die Worte Tomskijs waren nichts mehr als ein gewöhnliches Mazurka-Geschwätz, und doch drangen sie tief in die Seele der jungen Träumerin. Das von Tomskij entworfene Bild stimmte mit dem, das sie sich selbst ausgemalt hatte, überein, und die eigentlich ganz gewöhnliche Gestalt reizte und ängstigte ihre von den neuen Romanen stark beeinflußte Phantasie. Sie saß, die nackten Arme gekreuzt und den noch mit Blumen geschmückten Kopf auf die entblößte Brust gesenkt, als die Tür aufging und Hermann eintrat. Sie erbebte...

»Wo waren Sie?« flüsterte sie ängstlich.

»Im Schlafzimmer der alten Gräfin,« antwortete Hermann, »ich habe sie erst eben verlassen. Die Gräfin ist tot.«

»Mein Gott! ... Was sagen Sie? ...«

»Und ich glaube,« fuhr Hermann fort, »daß ich ihren Tod verschuldet habe.«

Lisaweta Iwanowna sah ihn an und mußte an die Worte Tomskijs denken: dieser Mensch hat mindestens drei Verbrechen auf dem Gewissen! Hermann setzte sich neben sie auf das Fensterbrett und erzählte ihr alles.

Lisaweta Iwanowna hörte ihm zitternd zu. Die leidenschaftlichen Briefe, die ungestümen Forderungen, die frechen hartnäckigen Nachstellungen – dies alles bedeutete also nicht Liebe! Geld! – nur nach Geld lechzte er! Nur Geld, und nicht sie, sollte sein Verlangen stillen und ihn glücklich machen! Die arme Pflegetochter war also nur die blinde Helferin eines Räubers, des Mörders ihrer alten Wohltäterin... Sie weinte bittere Tränen der späten, qualvollen Reue. Hermann sah sie schweigend an: auch er war bestürzt, doch waren es nicht die Tränen des jungen Mädchens und nicht die große Schönheit ihrer Verzweiflung, was ihn so ergriff. Eines quälte ihn nur: der unwiederbringliche Verlust des Geheimnisses, auf das er seine Hoffnung auf Bereicherung gesetzt hatte. »Sie sind ein Ungeheuer!« sagte endlich Lisaweta

»Ich habe ihren Tod nicht gewollt,« erwiderte Hermann. »Die Pistole war ja gar nicht geladen.«

Beide blieben schweigend sitzen.

Der Morgen brach an. Lisaweta Iwanowna blies die niedergebrannte Kerze aus. Das erste blasse Morgenlicht drang ins Zimmer. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Hermann an. Er saß mit gekreuzten Armen und drohend gerunzelter Stirne auf dem Fensterbrett. In dieser Stellung hatte er große Ähnlichkeit mit Napoleon. Diese Ähnlichkeit erschütterte Lisaweta Iwanowna. »Wie verlassen Sie nun das Haus?« sagte sie nach einer Pause. »Ich hatte vor, Sie über die geheime Treppe hinunterzuleiten; man muß da aber das Schlafzimmer passieren, und ich habe solche Angst...« »Erklären Sie mir nur, wie ich zu der geheimen Treppe komme; ich finde dann schon selbst hinaus.« Lisaweta Iwanowna stand auf, holte aus der Kommode einen Schlüssel und gab ihn Hermann mit einer genauen Anweisung, wie er zu gehen habe. Hermann drückte ihre kalte leblose Hand, küßte ihren gesenkten Kopf und verließ das Zimmer.

Er ging die Wendeltreppe hinunter und kam wieder ins Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Alte saß wie versteinert, ihre Züge drückten tiefen Frieden aus. Hermann blieb vor ihr stehen und sah sie lange an, als ob er sich noch der schrecklichen Wahrheit vergewissern wollte; dann ging er ins Kabinett, wo er tastend eine hinter der Tapete verborgene Tür fand. Er kam auf eine dunkle Treppe. Sonderbare Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er die Stufen hinunterstieg: »Vor sechzig Jahren schlich vielleicht über diese Treppe in dies Schlafzimmer und um diese selbe Stunde ein junger, glücklicher Galan im gestickten Rock, à l'oiseau royal frisiert und den Dreimaster ans Herz drückend; er ist längst im Grabe zu Staub zerfallen, das Herz seiner alten Geliebten hat aber erst heute zu schlagen aufgehört...« Unten angelangt, fand Hermann eine Tür, die er mit dem gleichen Schlüssel öffnete, und kam so in einen Korridor, durch den er auf die Straße gelangte.

V.

Heute Nacht erschien mir die verstorbene Baronin v. A***. Sie war ganz in weiß gekleidet und sagte mir: »Guten Abend, Herr Rat.«
Emanuel von Swedenborg.

Drei Tage später begab sich Hermann um neun Uhr früh in die Kirche des ***schen Klosters, zum Totenamt für die verstorbene Gräfin. Er empfand keine Reue, und doch gelang es ihm nicht, eine innere Stimme zum Schweigen zu bringen, die ihm ununterbrochen zuflüsterte: »Du bist der Mörder der Alten!« Obwohl er keinen richtigen Glauben hatte, war er doch sehr abergläubisch. Er glaubte, daß die tote Gräfin sein weiteres Leben ungünstig beeinflussen könne, und daher kam er zu ihrer Beerdigung, um sie um Vergebung zu bitten. Die Kirche war überfüllt, und Hermann konnte sich nur mit der größten Mühe durch die Volksmenge hindurch drängen. Der Sarg stand auf einem prunkvollen Katafalk unter einem Samtbaldachin. Die Tote lag im offenen Sarg mit gekreuzten Armen und war mit einer Spitzenhaube und einem weißen Atlaskleid angetan. Um den Katafalk standen ihre Angehörigen und Hausgenossen: Diener in schwarzen Livreen mit Wappenbändern an der Schulter und Kerzen in der Hand, dann die Familie – ihre Kinder, Enkel und Urenkel, alle in Trauerkleidung. Niemand weinte, denn Tränen wären ja une affection gewesen. Die Gräfin war so alt, daß ihr Tod niemand erschüttern konnte, und die ganze Verwandtschaft betrachtete sie längst als gestorben. Ein junger Bischof hielt die Grabrede. Er schilderte in schlichten und rührenden Worten das friedliche Hinscheiden der Gerechten, deren langes Leben nur eine stille rührende Vorbereitung auf ein christliches Ende gewesen sei. »Der Engel des Todes,« sprach der Prediger, »fand sie wachend in gottgefällige Gedanken versunken und den Bräutigam, der da von Mitternacht kommt, erwartend.« Der Gottesdienst war zu Ende. Die Verwandten begannen Abschied von der Leiche zu nehmen. Ihnen folgte das Publikum, das in Scharen herbeigeströmt war, um derjenigen, die so lange Zeit an ihren Festen teilgenommen hatte, die letzten Ehren zu erweisen. Dann kam das Hausgesinde an die Reihe. Schließlich nahte die Haushälterin – eine Altersgenossin der Verstorbenen, von zwei Mädchen an den Armen geführt. Sie hatte nicht die Kraft, um die vorgeschriebene tiefe Verbeugung zu machen, dafür vergoß sie aber allein einige Tränen, während sie die erkaltete Hand der Herrin küßte.

Zuletzt entschloß sich auch Hermann an den Sarg zu treten. Er verbeugte sich bis zur Erde und blieb einige Augenblicke auf dem kalten mit Tannenreisig bestreuten Fußboden liegen; dann erhob er sich und ging die Stufen zum Katafalk herauf; er war so blaß wie die Tote selbst. Als er sich über die Tote neigte, schien es ihm, daß sie ihm höhnisch zulächelte und mit einem Auge blinzelte. Hermann wich eilig zurück, stolperte und fiel rücklings auf den Boden. Man hob ihn auf. Im gleichen Augenblick fiel Lisaweta Iwanowna in Ohnmacht, man trug sie schleunigst aus der Kirche ins Freie. Dieser Zwischenfall störte etwas die Feierlichkeit des traurigen Amtes. Die Besucher begannen zu tuscheln, und ein dürrer Kammerherr – ein naher Verwandter der Verstorbenen – erklärte einem neben ihm stehenden Engländer, der junge Offizier sei ein natürlicher Sohn der Gräfin, worauf der Engländer nur kühl »Oh?« erwiderte.

Den ganzen Tag darauf war Hermann sehr verstimmt. Er aß in einem entlegenen Gasthaus zu Mittag und trank dabei, ganz gegen seine Gewohnheit, viel Wein: er wollte sich etwas betäuben. Der Wein erhitzte aber seine Phantasie noch viel mehr. Nach Hause zurückgekehrt, legte er sich angekleidet ins Bett und schlief gleich ein.

Als er erwachte, war es bereits Nacht. In sein Zimmer drang Mondlicht. Die Uhr zeigte dreiviertel drei. Er hatte ganz ausgeschlafen; auf dem Bette sitzend, dachte er noch an die Totenfeier der alten Gräfin. Da blickte plötzlich jemand von der Straße in sein Fenster herein und verschwand sofort wieder. Hermann schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Nach einigen Minuten hörte er die Vorzimmertür knarren. Hermann dachte, es sei sein Bursche, der wie gewöhnlich betrunken heimkomme. Die Schritte kamen ihm jedoch unbekannt vor: es waren die Tritte leise schlürfender Pantoffel. Die Tür ging auf: ins Zimmer trat eine weißgekleidete weibliche Gestalt. Hermann glaubte im ersten Augenblick, es sei seine alte Amme, und wunderte sich, daß sie ihn um diese Nachtstunde besuche. Die weiße Frau kam immer näher und da erkannte er – die Gräfin!

»Ich komme zu dir gegen meinen Willen,« sagte sie mit fester Stimme. »Es ist mir aber befohlen worden, deine Bitte zu erfüllen. Die Drei, die Sieben und das Aß werden hintereinander gewinnen; du darfst aber im Laufe einer Nacht nur eine Karte besetzen und dann im ganzen Leben nie wieder spielen. Ich verzeihe dir meinen Tod, wenn du meine Pflegetochter Lisaweta Iwanowna heiratest ...« Mit diesen Worten wandte sie sich um, ging schlürfenden Schrittes zur Tür und verschwand. Hermann hörte noch, wie draußen die Tür zugeschlagen wurde, und sah, wie jemand wieder von der Straße ins Fenster blickte. Es verging lange Zeit, ehe Hermann zur Besinnung kommen konnte. Er ging ins Nebenzimmer. Sein Bursche schlief auf dem Fußboden, und mit großer Mühe gelang es Hermann, ihn zu wecken. Der Bursche war wie gewöhnlich betrunken, und man konnte aus ihm kein Wort herausbringen. Die Haustür war versperrt. Hermann ging wieder in sein Zimmer, machte Licht und notierte sich seine Vision.

VI.

Zwei unverrückbare Gedanken können in der Welt des Abstrakten unmöglich nebeneinander wohnen, wie in der Welt des Greifbaren zwei Körper unmöglich den gleichen Raum einnehmen können. In Hermanns Phantasie wurde das Bild der toten Alten ganz von den drei Karten – Drei, Sieben und Aß – verdrängt. Drei, Sieben und Aß gingen ihm nicht aus dem Kopfe und wichen nicht von seinen Lippen. Wenn er ein junges Mädchen sah, sagte er: »Sie ist schlank wie eine Coeur-Drei!« Wenn man ihn nach der Zeit fragte, sagte er: »In fünf Minuten eine Sieben.« Jeder beleibte Herr erinnerte ihn an das Aß. Drei, Sieben und Aß verfolgten ihn selbst im Traume und nahmen da alle möglichen Formen an: die Drei blühte als ein wunderbarer Grandiflorus, die Sieben erschien ihm als ein gotisches Portal und das Aß in der Gestalt einer Riesenspinne. Alle seine Gedanken liefen immer auf das eine hinaus: wie das so teuer erkaufte Geheimnis ausnutzen? Er wollte den Dienst quittieren und Reisen unternehmen. In den öffentlichen Spielsälen von Paris wollte er die Göttin Fortuna versuchen. Ein Zufall machte dies alles überflüssig. In Moskau hatten einige reiche Spieler einen Klub begründet; den Vorsitz führte der berühmte Tschekalinskij, der sein ganzes Leben am Spieltisch verbracht und Millionen erworben hatte, indem er Wechsel gewann und bares Geld verlor. Seine langjährigen Erfahrungen verschafften ihm das Vertrauen seiner Freunde; durch seine Gastfreundschaft, gute Küche und Liebenswürdigkeit erwarb er sich die Achtung des Publikums. Er siedelte nach Petersburg über. Die Jugend strömte scharenweise in sein Haus und vergaß die Bälle über den Karten und die Lockungen der Damenwelt bei den Lockungen des Pharao. Hermann wurde zu ihm von Narumow gebracht. Sie passierten eine Reihe prunkvoller Zimmer, in welchen wohlerzogene Lakaien herumstanden. Alle Säle waren überfüllt. Einige Generale und Geheimräte spielten Whist, die jüngeren Gäste lehnten in den Sofas, aßen Gefrorenes und rauchten Pfeifen. Im Salon stand ein langer Tisch, um den sich etwa zwanzig Spieler drängten; der Hausherr selbst hielt die Bank. Es war ein etwa sechzigjähriger Herr von höchst ehrwürdigem Äußern, sein Kopf war stark ergraut, sein volles frisches Gesicht drückte Gutmütigkeit aus, seine Augen leuchteten und lächelten unaufhörlich. Narumow stellte ihn Hermann vor. Tschekalinskij drückte ihm freundschaftlich die Hand, bat ihn, wie zu Hause zu sein, und fuhr fort, die Bank zu halten. Diese Taille dauerte lange. Auf dem Tische lagen gegen dreißig Karten. Nach jedem Wurf machte Tschekalinskij eine Pause, um den Spielern Gelegenheit zum Ordnen ihrer Karten und zum Ankreiden ihrer Verluste zu geben. Er hörte höflich jeden Wunsch an und glättete noch höflicher die aus Versehen umgebogenen Kartenecken. Endlich war die Taille zu Ende. Tschekalinskij mischte die Karten und machte Anstalten, mit der neuen Taille zu beginnen. »Gestatten Sie, daß ich mitspiele,« sagte Hermann, seine Hand hinter einem sehr korpulenten Pointeur hervorstreckend.

Tschekalinskij lächelte und nickte bejahend. Narumow gratulierte Hermann laut lachend zur Beendigung der langen Abstinenz und wünschte ihm einen glücklichen Anfang. »Ich setze!« sagte Hermann, den Betrag über ankreidend.

»Wieviel?« fragte der Bankhalter sich vorneigend. »Sie verzeihen, ich kann es nicht lesen.« »Siebenundvierzigtausend,« erwiderte Hermann. Alle Augen richteten sich auf Hermann. »Er ist wahnsinnig!« dachte Narumow.

»Gestatten Sie die Bemerkung,« sagte Tschekalinskij mit dem gleichen Lächeln, »daß Ihr Spiel sehr hoch ist; hier hat noch niemand über zweihundertfünfundsiebzig simple gesetzt.«

»Nun,« sagte Hermann, »wollen Sie meine Karte schlagen oder nicht?«

Tschekalinskij nickte wieder höflich bejahend.

»Ich möchte noch bemerken,« sagte Tschekalinskij, »daß ich, wie ich es dem mir entgegengebrachten Vertrauen schuldig bin, nur mit barem Geld Bank halte. Ich bin, natürlich fest davon überzeugt, daß Ihr Wort genügt. Lediglich der Ordnung wegen bitte ich Sie, Ihren Einsatz auf die Karte zu legen.«

Hermann zog ein Bankbillett aus der Tasche und reichte es Tschekalinskij. Dieser sah es flüchtig an und legte es auf Hermanns Karte. Dann begann er zu werfen. Rechts fiel eine Neun, links eine Drei.

»Gewonnen!« sagte Hermann, seine Karte vorzeigend. Unter den Spielern erhob sich ein Gemurmel. Tschekalinskij wurde ernst, sein Lächeln kehrte aber gleich wieder. »Wünschen Sie das Geld gleich in Empfang zu nehmen?« fragte er Hermann. »Wenn ich bitten darf.«

Tschekalinskij zog aus der Tasche einige Bankbilletts und beglich den Verlust. Hermann nahm das Geld und verließ gleich den Tisch. Narumow war ganz bestürzt. Hermann leerte ein Glas Limonade und fuhr nach Hause. Am nächsten Abend erschien er wieder bei Tschekalinskij, der auch diesmal die Bank hielt. Als Hermann an den Spieltisch trat, machten ihm die Pointeurs gleich Platz. Der Wirt lächelte ihm freundlich zu, Hermann wartete eine neue Taille ab und setzte dann auf eine Karte seine siebenundvierzigtausend und noch den gestrigen Gewinn dazu. Tschekalinskij spielte aus: rechts fiel ein Bube, links – eine Sieben.

Hermann zeigte seine Sieben.

Man schrie förmlich auf. Tschekalinskij wurde verlegen. Er zählte vierundneunzigtausend ab und übergab sie Hermann. Dieser nahm das Geld höchst kaltblütig in Empfang und ging sofort nach Hause.

Am nächsten Abend war er wieder da. Man erwartete ihn bereits, die Generale und Geheimräte hatten ihren Whist verlassen, um diesem ungewöhnlichen Spiel zuzusehen. Die jungen Offiziere verließen ihre Sofas, selbst die Lakaien kamen herbei. Alles drängte sich um Hermann. Die anderen Spieler setzten gar nicht und warteten erst den Ausgang ab. Hermann stand dem bleichen, aber noch immer lächelnden Tschekalinskij als einziger Pointeur gegenüber. Jeder nahm ein Spiel neuer Karten in die Hand. Tschekalinskij mischte, Hermann hob ab, wählte sich eine Karte und bedeckte sie mit einem Haufen von Banknoten. Es sah wie ein Duell aus. Tiefes Schweigen herrschte ringsum.

Tschekalinskij spielte mit zitternden Händen aus: rechts fiel eine Dame, links – ein Aß.

»Das Aß hat gewonnen!« sagte Hermann und zeigte seine Karte.

»Ihre Dame ist geschlagen!« versetzte Tschekalinskij verbindlich.

Hermann zuckte zusammen: er hatte in der Tat statt eines Asses eine Pique-Dame besetzt. Er traute seinen Augen nicht und begriff nicht, wie er sich hatte irren können. In diesem Augenblick kam es ihm vor, als ob die Pique-Dame mit den Augen blinzelte und ihm zulächelt. Eine ungeheure Ähnlichkeit fiel ihm auf.

»Die Alte!« schrie er ganz außer sich.

Tschekalinskij kassierte die verlorenen Banknoten ein. Hermann stand wie versteinert. Als er seinen Platz am Tisch verließ, erhob sich ein Lärm von vielen Stimmen.

»Er hat es gut gemacht!« meinten die Spieler.

Tschekalinskij mischte die Karten, und ein neues Spiel begann.

Epilog.

Hermann wurde verrückt. Er befindet sich jetzt im Obuchowschen Spital auf Nummer siebzehn. Er antwortet auf keine Frage und murmelt mit rasender Geschwindigkeit unaufhörlich vor sich hin: »Drei, Sieben, Aß! Drei, Sieben, Dame!...«

Lisaweta Iwanowna verheiratete sich mit dem Sohn des ehemaligen Verwalters der alten Gräfin, einem liebenswürdigen jungen Menschen, der irgendwo im Staatsdienst ist und ein kleines Vermögen besitzt. Sie hat eine arme Verwandte als Pflegetochter bei sich aufgenommen. Tomskij ist Rittmeister geworden und hat die Fürstin Pauline geheiratet.

 


 


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