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Zweiter Teil

Gegen Mitte November hatte Made's Bande sich auf Les Taschouères, dem Ermingenschen Gut, versammelt. Es war eine Kaprice von Madeleine de Guivre, die Paris plötzlich müde geworden, Christian hatte sich überreden lassen und die andern mit ihm, trotzdem die Jahreszeit für die Jagd nicht günstig war. Der dicke Campardon, der selbst kein Jäger war, erklärte, das bloße Zuschauen, wenn die andern sich anstrengten, würde ihn magerer machen. Jérôme sah sich die Treibjagden mit einem Band Moralprinzipien unter dem Arm an. Das Ehepaar d'Ars war auch erschienen, ferner Saraccioli, den Madame de Guivre zu ihrem speziellen Kavalier – wie Campardon sagte, zu ihrem Kerzenträger – gemacht hatte und der Maler Apistral, der mit Rémi de Lasserade in sportlicher Eleganz wetteiferte.

Zur Haupttreibjagd kamen auch noch der Marquis de la Monnerie und Madame d'Avigre mit ihren Töchtern.

Das Schloß, im Stil Louis XIII., mit seiner langen Fassade und den schiefergedeckten Pavillons, lag mitten im Walde, etwa fünf Kilometer von den Dörfern entfernt. Der Park mit seinen weiten Rasenplätzen und schönen alten Baumgruppen verlor sich allmählich in die etwas monotone Umgegend: grauer Boden mit dürftigem Getreide, dazwischen Gebüsch, Eichenwälder und stille Teiche, von Hecken umgeben.

Während die Jäger von ihren Rebhühnern und Hasen in Anspruch genommen waren, machten die übrigen Spaziergänge oder Tennispartien. Da die Abende trotz der Jahreszeit noch ungewöhnlich warm waren, wurde es Mode, nach dem Diner noch in den Park zu gehen, er wurde zu einer Art galantem Salon, wo die einzelnen Paare sich nach Belieben zerstreuten. Der dicke Campardon isolierte sich mit Madame d'Ars, denn Apistral tat jetzt, als ob er Arlette den Hof machte. Madeleine de Guivre hatte Christian, Saraccioli und Rémi in ihrem Gefolge. Später sammelte man sich um die Spieltische zum Bridge oder Poker, das oft bis in die Morgenfrühe hinein dauerte.

Die Leidenschaftlichste beim Spiel wie bei der Jagd war die Fürstin von Ermingen. Apistral wich nicht von ihrer Seite, oft ritten sie nachmittags zusammen aus, und ihr war kein Ritt zu anstrengend oder zu wagehalsig. Abends am Spieltisch war es wiederum sie, die alles auf die Spitze trieb und nie aufhören wollte. Diese nervöse Unermüdlichkeit trug ihr Madeleines Bewunderung ein. »Bravo, Arlette, jetzt verdienst du es wieder, zu meiner Bande zu gehören. Alle, Jérôme vielleicht ausgenommen, fanden, daß sie sich ziemlich schnell über Rémi getröstet hätte und hielten Apistral für den Tröster. Der Maler fühlte sich dadurch geschmeichelt und lächelte zufrieden in seinen Henri IV-Bart hinein, wenn man ihm gratulierte. Er hütete sich wohl, zu gestehen, daß er, ebenso wie die arme Martine, der Fürstin oft nur dazu diente, ihre Nervosität an ihm auszulassen. Ja, eines Morgens im Walde, als er versuchte, ihren Nacken mit seinem Schnurrbart zu streifen, hatte er kaum noch Zeit gehabt, mit dem Arm einen kräftigen Schlag ihres Spazierstöckchens abzuwehren.

Seit jenem Nachmittag bei Holtz, wo ihr ganzer Schmerz sich noch einmal aufgebäumt und wo sie zum erstenmal nähere Beziehungen zwischen Rémi und Madeleine geahnt hatte – war ihr das innere Gleichgewicht völlig abhanden gekommen, und sie suchte sich jetzt auf alle Weise zu betäuben. In einsamen Stunden machte sie sich wohl die ganze Abscheulichkeit dieses Beisammenseins mit Christian, Madeleine und Rémi klar. Aber was hätte sie tun sollen? Wohin gehen, wohin sich flüchten? Und was sollte aus ihr werden, wenn sie entfloh? Der Schmerz, daß Rémi sie verlassen hatte, ließ mehr und mehr nach, sie war auch nicht eifersüchtig auf Madeleine, nur begann sie allmählich Abscheu vor ihr zu empfinden. Das einzige, was sie noch für Rémi fühlte, war eine nervöse Angst, es möchte ihm etwas zustoßen – irgend eine tragische Katastrophe zwischen ihm und Christian. Sie zermarterte ihr armes Hirn mit schrecklichen Vorstellungen von Christians Zorn, der sowohl Rémi wie sie treffen konnte, denn die Ursache ihrer geheimen Angst bestand immer noch fort, trotz dem Übermaß von körperlichen Anstrengungen, das sie sich zumutete, in einer unklaren Hoffnung, sich davon zu befreien. Völlig zerschlagen, mit lahmen Gliedern und schmerzendem Kopf suchte sie so spät wie möglich, oft erst gegen drei Uhr morgens, ihr Zimmer auf, wo Martine, ebenfalls halbtot vor Müdigkeit und Unruhe, sie erwartete.

»Rasch, Martine, hilf mir ausziehn.«

Arlette war hart gegen sie wie eine römische Patrizierin gegen ihre Sklavin, äußerte bei jedem Anlaß ihre Unzufriedenheit und ließ sich durch nichts besänftigen. Sie glaubte in Martinens Augen einen beständigen stummen Vorwurf zu lesen, das Mädchen kam ihr beinah vor, wie ein zweites Gewissen, das sich mahnend und verdammend vor ihr aufrichtete.

Diese körperliche und geistige Anspannung erschütterte ihre Gesundheit immer mehr. Eines Abends, als sie ihr Zimmer betrat, bekam sie einen heftigen Herzkrampf, wie damals bei der Anprobe. Und diesmal wagte Martine eine leise Mahnung:

»Hoheit dürfen mich schelten, soviel Sie wollen, es ist einfach meine Pflicht, nicht mehr zu schweigen. – Hoheit dürfen nicht mehr reiten, dürfen sich nicht mehr so schnüren. – Ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie Hoheit sich zugrunde richten, ich kann es nicht –«

Arlette war einen Augenblick ganz starr, sie versuchte zornig zu werden, aber die selbstlose Anhänglichkeit, die aus Martinens Worten sprach, rührte sie tief.

»Was meinst du damit?

Arlette lag auf dem Bett, und Martine kniete neben ihr, so bewegt, daß sie ihre gewohnte Zurückhaltung vergaß.

»Hoheit, ich bitte Sie, lassen Sie sich von mir pflegen – richten Sie sich nicht so zugrunde. Es macht mich so unglücklich.«

Einen Augenblick herrschte Stillschweigen zwischen Herrin und Dienerin. Arlette beherrschte ihre Überraschung und ihren Zorn. Langsam und in trocknem Ton sagte sie dann:

»Kleide mich jetzt aus und sprich kein Wort mehr.«

Sie konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen, sondern lag und dachte: »Sie weiß um mein Geheimnis – wäre es nicht am Ende besser, wenn ich sie bäte, mir zu helfen. Sie ist sehr auf Geld aus, und wenn ich ihr viel Geld gäbe, könnte sie vielleicht Rat schaffen. Mein Gott, warum ist es mir so peinlich, es ihr vorzuschlagen.«

Vielleicht zum erstenmal wagte sie es, ihrem Schicksal voll ins Gesicht zu sehen, und obgleich es eine warme Nacht war und noch dazu ein Feuer im Kamin brannte, zitterte sie an allen Gliedern, – »ich muß mich zu irgend etwas entschließen, es muß etwas geschehen. Warum noch länger warten, es ist kein Zweifel mehr.«

Die Folgen ihrer Schuld lasteten auf ihr wie ein unerträgliches Gewicht – was tun, was beginnen? Bei dem Gedanken, daß Christian, dessen sinnlosen Jähzorn sie wohl kannte, eines Tages etwas ahnen könnte, sie fragen – gerann ihr das Blut zu Eis.

Sie dachte an alle die Skandalgeschichten, die bei der »Bande« das häufigste Gesprächsthema bildeten – ihr fielen Namen ein von galanten, jungen Damen der Gesellschaft, selbst von anständigen Frauen, die mit Zustimmung ihres Mannes – – Es muß also doch nicht so schwierig sein, in Geschichten heißt es immer, daß schon ein anstrengender Ritt, ein heftiger Sprung – – aber ich habe mich in diesen letzten vierzehn Tagen fast umgebracht, und es ist immer noch beim Alten.«

Also noch mehr wagen, sich nicht auf den Zufall verlassen, sondern das Schicksal einfach zwingen.

– Arlette dachte nicht weiter über die moralische Seite der Sache nach, was sie fürchtete, waren nur die Schwierigkeiten und die Gefahr, – sie konnte daran sterben. Und bei diesem Gedanken rieselte wieder ein Schauer durch ihren zarten, jungen Körper.

»O nein, nur das nicht! – nur das nicht! – Aber was dann?«

»Lieber noch fliehen, wenn es wirklich so ist, wie ich fürchte. Denn ganz sicher ist es schließlich doch nicht. Aber dann muß ich mich retten vor Christian, vor seiner Mutter, vor allem. Ich habe ja doch keinen Menschen, an dem mir etwas liegt. Und mir bleibt ja immer noch meine kleine Rente von zweitausend Franken. Damit kann ich ins Ausland gehen und irgendwie existieren.«

Und in ihrer kindlichen Unwissenheit stellte sie sich ein Budget auf. Sie mußte sich selbst eingestehen, daß sie mit zweitausend Franken schwerlich reichen würde, aber dann dachte sie: »Ich kann ja arbeiten, Martine behauptet, ich hätte soviel Geschmack, daß ich als Modistin leicht mein Brot verdienen könnte.« So grübelte und rechnete sie noch eine Zeitlang, aber das ungewohnte Nachdenken ermüdete sie, und sie schlief schließlich unter Tränen ein, wie ein Kind, das Schläge bekommen hat.

Für den nächsten Tag hatte der Marquis de la Monnerie die ganze Gesellschaft zu einer großen Treibjagd eingeladen. Um ein halb elf sollten sich alle zum Frühstück in la Fauconnière versammeln. Die unermüdliche Madame d'Ars schlug vor, schon um sieben Uhr aufzubrechen und sich über Bloir nach dem Meierhof zu begeben, was einen großen Umweg bedeutete. Arlette wachte viel zu spät auf, um den Ausflug mitzumachen, sie hatte nur eben Zeit, sich anzukleiden, um nach la Fauconnière nachzukommen in einem kleinen Wagen, den sie selbst lenkte. Um den Weg abzuschneiden, fuhr sie mitten durch den Park, in kaum einer Viertelstunde hatte sie das Gehölz erreicht, von dem aus man die roten Dächer des Hofes schimmern sah. Von da aus mußte sie zu Fuß gehen und schickte das leichte Fuhrwerk mit dem Groom zurück. Ein schmaler Weg mit einer hölzernen Brücke verband die beiden Besitzungen miteinander. Das Wetter war schön und trocken, und der einsame Gang durch das Gehölz machte ihr Vergnügen. Langsam ging sie den schmalen Pfad entlang, der sich durch Unterholz und Gebüsche hinschlängelte. Manchmal hatte sie beinahe Lust, wieder umzukehren, aber die Einsamkeit in les Taschouères schreckte sie ebenso ab, wie das Zusammentreffen mit der Gesellschaft. So ging sie weiter über das weiche, grüne Moos, auf dem hier und da die Sonnenstrahlen spielten, manchmal flog dicht vor ihr ein Fasan auf mit seinem schwerfälligen Flügelschlag, oder ein Hase lief so rasch über den Weg, daß man nur einen auf und nieder springenden weißen Fleck und zwei lange Ohren sah.

Plötzlich blieb sie stehen und horchte auf. Der Fußweg kreuzte hier gerade einen breiteren Weg, und in dem Gebüsch seitwärts hörte sie Stimmen. Sie schienen aus einer verlassenen, halbverfallenen Köhlerhütte zu kommen, die man durch das Dickicht liegen sah. Das Dach war gänzlich eingefallen, nur die Vorderwand war ganz geblieben und verbarg die Sprechenden.

Arlette näherte sich der Hütte, in dem einfachen Jagdkostüm konnte sie ungehindert durch das Gebüsch kommen. Und nun erkannte sie Rémis spöttische Stimme:

»Kleine Made, jetzt ist's aber genug für heute morgen. Dein Fürst wird jetzt schon in la Fauconnière angekommen sein, und dann fängt er sofort an zu toben.«

Und Madeleine antwortete in ihren weichsten Tönen: »Aber ich sage dir ja, Benis paßt auf und kommt sofort im Galopp, uns Bescheid sagen, wenn er sein Automobil auf der Landstraße sieht.«

»Das ist mir ganz egal,« gab Rémi zurück, »ich habe diese ewigen Vorsichtsmaßregeln satt bis dahinaus. Eines schönes Tages werde ich ihm alles ins Gesicht sagen.«

Madeleine schrie so entsetzt auf, daß Arlette ganz bewegt war.

»Das verbiete ich dir, – er würde dich niederschlagen, ohne weiteres – deine schönen Augen, dein junges Gesicht – alles das sollte ihm preisgegeben werden? Diesem Wüterich – ja, kennst du ihn denn so wenig?«

Rémi sprang auf und trat aus der Hütte. Arlette wagte sich nicht zu rühren, sie dachte schon, er hätte sie gesehen, aber das dichte Gebüsch verbarg sie.

»Bah,« sagte Rémi, »wir wiegen uns gegenseitig auf, er ist stärker und ich bin gewandter. Außerdem würde es wohl nicht gerade einen Faustkampf zwischen uns geben.«

Nun kam auch Madeleine aus der Hütte, sie glättete ihren kurzen Rock und rückte den Hut zurecht.

»Schweig, der Gedanke an einen Zusammenstoß zwischen euch beiden ist mir unerträglich,« sie kam näher auf ihn zu – »so sei doch vernünftig, du sollst es nicht bereuen. Höre mal, ich habe eine Idee. Du hast doch heute morgen deine Einberufung bekommen?«

»Ja, in sechs Tagen muß ich nach Bourges und dann einen Monat jeden Tag um fünf Uhr aufs Pferd und was sonst dazu gehört. Es lebe die Armee!«

»Hast du dem Fürsten erzählt, auf wann du einberufen bist?«

»Nein, er weiß nur, daß ich übermorgen abreise.«

»Das ist sehr gut – heute ist Samstag – nachher bei Tisch muß du möglichst laut erzählen, daß du Dienstag antreten mußt und nur noch Zeit hast, am Montag deinen Großvater in Paris zu besuchen.«

»Großartig – und du verzichtest am Dienstag auf die Genüsse von les Taschouères und triffst mich in Paris.«

»Dienstag ist noch zu früh – Christian möchte mißtrauisch werden, aber Mittwoch.«

»Gut, also Mittwoch, Rue d'Off ... Und um welche Zeit?« –

»Ja, Rue d'Off ... wenn nichts dazwischen kommt – Komm zum Essen – Und jetzt höre.«

Damit zog sie ihn dichter zu sich heran:

»Ich muß dann aber diese Tage sehr nett mit dem Fürsten sein. Und du darfst kein böses Gesicht dazu machen. Bedenke, daß er im Grunde doch derjenige ist, der« – Sie sagte ihm etwas ins Ohr und er lächelte. »Und jetzt drück dich,« fügte sie hinzu, »du mußt vor ihnen in la Fauconnière sein – von hier aus den Weg rechts und dann den ersten Fußsteig – ich gehe links und dann direkt auf das Haus zu.

Rémi entfernte sich und gleich darauf Madame de Guivre, nachdem sie ihre Toilette erst noch völlig in Ordnung gebracht hatte. Arlette wartete, bis sie keine Schritte mehr hörte, dann verließ sie das Gebüsch und ging weiter, denselben Weg, auf dem Madeleine eben verschwunden war. Ihr war seltsam zumut, was sie eben angehört hatte, erfüllte sie mit Abscheu und zugleich mit förmlicher Erleichterung, daß sie selber nicht in dergleichen verwickelt war. Vor allem – nicht die geringste Eifersucht. Im Gegenteil, das verliebte Getu der beiden ernüchterte sie und brachte den letzten Rest von Schmerz zum Verstummen. Das war etwas so ganz andres, als was sie für sich selber erhofft und ersehnt hatte.

»Nein, niemals wieder, Gott sei Dank, jetzt bin ich völlig fertig damit.«

Sie sah jetzt schon das große, rote Gebäude, von mächtigen uralten Bäumen umgeben, dicht vor sich. Jérôme, die kleinen Avigres, Apistral, Rémi und Madeleine standen vor der Tür, und man hörte das Automobil nahen, in dem Christian, Saraccioli und das Ehepaar d'Ars kamen.

Es war Arlette peinlich, Rémi und Madeleine gleich wieder zu begegnen, so wartete sie, bis das schwerfällige weiße Gefährt vor der Tür hielt und sie in dem ganzen Trubel sich möglichst unbemerkt unter die andern mischen konnte. Der Marquis de la Monnerie, der aussah wie ein Trinker von Franz Hals, kam auf sie zu und begrüßte sie. Madeleine schloß sie in die Arme:

»Wo kommst du denn auf einmal her, wie eine Fee aus dem Walde?«

»Ja, ich bin durchs Holz gegangen.«

»Ich auch,« sagte Madeleine völlig unbefangen. Madame d'Ars wickelte sich aus ihren Schleiern, warf Saraccioli, der eifrig und erregt um sie herumtänzelte, ihren Pelz zu und erzählte Jérôme von den Erlebnissen während der Fahrt, wo sie das Automobil gelenkt hatte.

»Bei Lucenay ist ein Vogel tot geblieben, einfach von dem Luftdruck. Zehn Kilometer weiter, bei einem Abhang, hab ich einen Hund überfahren. Aber ich glaube, wir haben mindestens 65 gemacht. Durch Cissey fuhren wir in einem wahnsinnigen Tempo, die Bauern waren wütend und warfen uns Steine nach. Wir haben uns königlich darüber amüsiert. Der Fürst hat einen an den Hut bekommen.«

Unter diesem Geplauder trat man ins Haus, wo die Marquise ihre Gäste erwartete. Ihr feines, anziehendes Gesicht war von vorzeitig weiß gewordenem Haar umrahmt.

La Fauconnière war ein alter Landsitz, den Christians Vater, der Comte de Calm, gekauft und für seine Jagden eingerichtet hatte. Nach seinem Tode hatte die Fürstin Charlotte Wilhelmine ihn wieder an den Marquis de la Monnerie verkauft. Das Schönste an dem ganzen Hof waren die majestätischen Ulmenbäume, die das Haus umgaben und selbst an den heißesten Tagen köstliche Frische spendeten.

An diesem etwas kühlen Herbsttag hatte man den großen Saal geheizt, wo auch der Tisch gedeckt war, und die Flammen prasselten lustig im Kamin.

Arlette saß zwischen dem Marquis und Apistral und aß mit gutem Appetit. Sie hatte es heute morgen geduldet, daß Martine sie etwas loser schnürte, und fühlte sich bedeutend leichter und wohler. Zerstreut, aber nicht mißgestimmt ließ sie die faden Galanterien Apistrals über sich ergehen, ebenso die etwas plumpen Scherze zwischen Campardon und dem Marquis, die fabelhaftesten Jagd- und Automobilgeschichten. Dann erzählte Saraccioli in gewählter und möglichst malerischer Redeweise von einer Hirschjagd in der Campagna.

Die Fürstin von Ermingen saß ziemlich abwesend daneben; zufällig hörte sie, wie Jérôme mit seiner Nachbarin von der Zeit sprach, wo er Assistent am Hospital Beaujon war, und dabei stieg ein Gedanke in ihr auf.

»Jérôme ist Arzt, und man kann ihm absolut vertrauen. Er ist immer mein Freund gewesen; es ist nur meine Schuld, daß unser Verhältnis seit meiner Heirat etwas kühler geworden ist. – – – Aber er würde mir sicher seinen Rat nicht versagen, wenn ich ihn darum bäte.«

Wie weit sie sich ihm anvertrauen wollte, wußte sie noch nicht. Wie alle oberflächlichen Menschen hatte sie nur den Mut, etwas anzufangen, und es dann dem Schicksal zu überlassen.

Nach beendigter Mahlzeit, als die Jäger sich zum Aufbruch rüsteten, erklärte Arlette, sie habe die letzte Nacht schlecht geschlafen und fühle sich zu müde, um mit auf die Jagd zu gehen. Statt dessen wolle sie zu Fuß nach les Taschouères zurückgehen. Apistral erbat sich, sie zu begleiten.

»Nein,« sagte sie, »das Schlußtableau des Abends würde zu sehr verlieren, wenn Sie dabei fehlten, aber ich denke, mein Vetter, der doch nur mit einem Buch unter dem Arm jagt, wird mit mir gehen.« »Aber mit Vergnügen,« sagte Jérôme, »es ist mir in diesem Falle nur angenehm, daß ich ein schlechter Jäger bin.«

Sie amüsierten sich noch eine Zeitlang damit, dem Abmarsch der Jäger zuzusehen. Christian und Madeleine waren die ersten, dann kam Rémi mit Madame d'Ars und Saraccioli und alle die übrigen.

Dann schlugen Jérôme und Arlette denselben Weg ein, den sie vorher gekommen war.

»Ich schmeichle mir nicht, daß du nur meine Gesellschaft wünschst,« sagte er scherzend – »hast du mir irgend etwas zu sagen?«

»Im Gegenteil, deine Gesellschaft ist mir sehr angenehm,« erwiderte sie, »und dann möchte ich dich allerdings auch um etwas fragen – du bist doch Arzt, nicht wahr, und ein guter Arzt?«

»Guter Arzt – das weiß weder ich noch sonst jemand, da ich nicht praktiziere. Ich habe meinen Doktor gemacht, voilà tout

»Ah,« sagte sie etwas entmutigt – »warum übst du deinen Beruf eigentlich nicht aus?«

»Ich habe es früher einmal versucht, liebe Cousine, aber man hat mich nicht ernst genommen. Ich habe eben das Unglück, Graf Péfaut zu sein und für reich zu gelten. Siehst du, man ist ungerecht gegen uns – schimpft über die untätigen Aristokraten, duldet uns aber nicht, wenn wir einen ernsthaften Beruf ergreifen wollen. Wir sollen nur das Recht haben, uns mit Pferden und Frauen abzugeben, und unglücklicherweise habe ich für beides nicht viel Sinn. Bah, das macht nichts... Mit Büchern und Gedanken kann man sich über alles trösten. Und es scheint ja, daß ich jetzt eine Patientin bekomme.«

»O, es handelt sich nicht um mich,« berichtigte Arlette rasch mit etwas unsicherer Stimme.

»Um wen dann?« fragte Jérôme.

»Um meine Kammerjungfer – du kennst sie ja.«

»Martine? Nun freilich – ein tadelloses Mädchen. Ich habe manchmal am Telephon mit ihr gesprochen, und sie drückt sich aus wie eine Dame.«

»Ja, sie ist nicht übel. Aber siehst du, sie hat eine Dummheit gemacht – –«

»Eine Liebesgeschichte?« fragte Jérôme und sah sie an.

Arlette wich seinem Blick aus; sie fühlte, daß sie ungeschickt log. Sie kamen an die Brücke, welche die beiden Güter voneinander trennte. Arlette ging voran hinüber, froh, ihr Erröten verbergen zu können. Als Jérôme sie eingeholt hatte, begann sie etwas ruhiger:

»Nun ja – ein junger Mensch hat sie verführt und dann sitzen lassen. Und jetzt fürchtet sie die Folgen, und nicht ohne Grund.«

»Warum fürchten? Sie ist doch frei, und ein Kind ist niemals ein Unglück – sie muß bei dir doch auch genug verdienen können, um die Hebamme zu bezahlen und das Kind in Kost geben zu können.«

»Ja, das schon,« murmelte Arlette. Seine ruhigen Antworten verwirrten sie so, daß sie nicht mehr wußte, was sie eigentlich fragen wollte.

»Was wünschst du denn in diesem Fall von mir?« fragte Jérôme. »Fühlt sie sich krank?«

»Ja, eben,« antwortete sie lebhaft, »sie fühlt sich fortwährend elend, kann sich aber nicht entschließen, zum Arzt zu gehen. Du verstehst schon, sie hat es mir nicht direkt gesagt, aber ich kann es mir ungefähr zusammenreimen.«

»Soll ich selbst mit ihr sprechen, das kann ja gleich geschehen, wenn wir in Taschouères sind.«

»Nein, nein, das ist nicht nötig – momentan geht es ihr gerade besser; ich meinte nur, für den Fall, daß sie hier krank wird, wollte ich dich bitten, damit du dich nicht wunderst, wenn ich dich plötzlich rufen lasse und die Sache dann geheim hältst. – So, das war alles, und wenn du jetzt noch die andern treffen möchtest, will ich dich nicht aufhalten.

Sie treiben jetzt bei dem Teich von Villiers, du brauchst nur direkt dorthin zu gehen und wirst noch vor ihnen ankommen.«

»Es wäre dir also lieber, wenn ich dich allein ließe?« fragte Jérôme. »Du weißt, mir würde es sehr viel Freude machen, den Nachmittag mit dir zusammen zu sein, wie früher, als du ein kleines Mädchen warst. Erinnerst du dich noch daran?«

»Ja, ja,« sagte Arlette, die plötzlich nervös geworden war – »aber ich bin heute schlechte Gesellschaft, ich habe etwas Migräne, laß mich lieber allein, Jérôme. Geh jagen und amüsiere dich. Dort mußt du gehen, wenn du nach Villiers willst.«

Sie blieb stehen und ihre Ungeduld zeigte deutlich, daß sie allein zu sein wünschte. Jérôme fühlte das wohl, und drang nicht weiter in sie.

»Gut denn. Wenn du es so wünschest, gehe ich zu der Jagdgesellschaft. Aber noch ein Wort in bezug auf Martine.«

»Ich sage dir ja, es eilt nicht.«

»Bitte, laß mich ausreden,« sagte er so bestimmt, daß sie schwieg. »Wenn die Vermutung sich bestätigt, wird das Mädchen in Versuchung kommen, sich den Folgen zu entziehen. Dann ist es deine Pflicht ihr davon abzuraten. Wenn es sich um eine Dame der Gesellschaft handelte, würde es genügen, ihr zu sagen: Nehmen sie sich vor dem Gerede in Acht. Hier handelt es sich um ein einfaches Mädchen, und man muß Sie darauf aufmerksam machen, was sie riskiert: In neun Fällen von zehn die Gesundheit und in einem von zweien den Tod.«

»Ist das so gefährlich?« fragte Arlette, die wider ihren Willen ganz blaß geworden war.

»Bei den zweifelhaften Individuen, die sich dazu hergeben, sehr gefährlich. Sag ihr das. – Auf Wiedersehen heute Abend.«

Er ging rasch fort, um dem Gespräch ein Ende zu machen. Einen Augenblick hatte sie Lust ihn zurückzurufen, ihm nachzulaufen. Das Geständnis schien ihr plötzlich so leicht – hatte er nicht so wie so alles erraten? Aber während sie es noch erwog, hatte er sich schon ziemlich weit entfernt, und sie setzte langsam ihren Weg fort. Sie war unsagbar müde, und als sie in ihr Zimmer kam, warf sie sich auf eine Chaiselongue und schlief ein.

Erst am Abend erwachte sie wieder, die Jagdgesellschaft war zurückgekommen, sie hörte die Schritte und Stimmen im Speisesaal. Martine sagte ihr, daß Madeleine sich gleich nach ihr erkundigt und gebeten hatte, es sie gleich wissen zu lassen, wenn Arlette aufgewacht sei.

»Laß sie nur heraufkommen, wenn sie will,« sagte die Fürstin.

Madeleine kam denn auch gleich, und erkundigte sich zuerst freundlich nach ihrem Befinden. Dann plauderten sie von der Jagd, von den einzelnen Gästen, von allem möglichen.

Madeleines Gesellschaft war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil sie war froh etwas von ihren Gedanken abgelenkt zu werden.

»Übrigens, Liebste,« sagte Madeleine, »muß ich wahrscheinlich etwas früher wie Ihr andern nach Paris zurück.«

»Warum denn?« fragte Arlette. In demselben Augenblick fiel ihr ein, daß Rémi heute beim Frühstück verkündet hatte, er müsse Mittwoch nach Bourges, um seine Übung zu machen.«

»Ach, Geschäftssachen, mein Notar aus Rouen hat mir geschrieben, und ich kann es nur persönlich abwickeln.«

»Ach, wie langweilig,« rief Arlette, »wie soll die Sache hier ohne dich gehen? Wäre es nicht gescheiter, wenn wir dann alle schon aufbrächen?

»O nein,« meinte Madame de Guivre lebhaft, »ich werde hier schon alles ins Geleise bringen, du kleines Faultier, außerdem handelt es sich nur um zwei Tage, da ihr Samstag fahrt. – Aber woran denkst du denn?«

Arlette saß mit starrem Blick da und fuhr jetzt plötzlich in die Höhe.

Als Madeleine von den zwei Tagen sprach, war ihr plötzlich der Gedanke gekommen: Zwei Tage und zwei Nächte. Nach dem Gespräch mit Jérôme waren die schlimmen Pläne, die sie beschäftigt hatten, einstweilen wieder in den Hintergrund getreten, aber gab es nicht noch ein andres Mittel, wenn Madeleine zwei Tage und zwei Nächte fort war?

Es verbündete sich alles miteinander, die dringende Notwendigkeit irgendwie zu handeln und diese zufällige Abwesenheit Madeleines, um in Arlettens Hirn einen Plan zu reifen, an den sie bisher noch nicht gedacht hatte.

Als Madame de Guivres sie verlassen hatte, dachte sie lange darüber nach. Ihr Zusammenleben mit Christian war seit jener ersten Woche nach der Hochzeit nie eine wirkliche Ehe gewesen. Es ging so weit, daß sie jedes Tête-à-tête, jede auch nur flüchtige Begegnung vermieden, kaum daß ihre Hände sich einmal streiften, und das auch nur, wenn sie durch die Gegenwart andrer dazu gezwungen waren. Bei alledem standen sie sich aber durchaus nicht feindlich gegenüber, es fehlte eben nur jede innere Beziehung zwischen ihnen.

Immerhin war es für Arlette unter diesen Umständen nicht ganz leicht, ihr Unternehmen ins Werk zu setzen. Sie suchte ihre angeborne Passivität gewaltsam zu überwinden, indem sie sich immer wieder sagte: »es muß sein – es muß sein –« denn was sonst? – Skandal und Todesgefahr. – Es muß sein!«

Und während dieser Tage vor Madeleines Abreise gab sie sich alle Mühe alle die Empfindungen von Widerwillen und Scham zu besiegen, die sie immer wieder überkamen. Sie zwang sich dazu nur an die äußeren Möglichkeiten zu denken, zu überlegen, ob sich denn wirklich noch alles so zurechtlegen ließe, daß die Wahrscheinlichkeit gewahrt blieb.

Sie rechnete die Daten aus – ja, wenn ihr Vorhaben gelang, war sie gerettet. Aber wie sollte sie es anfangen ein Tête-à-tête mit Christian zu arrangieren, und wenn es soweit kam, wie ihm zu verstehen geben, daß sie nach dreijähriger Trennung sich ihm als Gattin wieder näherte?

So lange Madeleine da war, wußte sie sehr wohl, daß alles umsonst sein würde. Bei ihrer Neigung, sich mit den Dienstboten auf vertraulichen Fuß zu stellen, wußte sie ziemlich genau Bescheid über die erotischen Gewohnheiten des Fürsten. Martinens Vorgängerin, dieselbe die Arlette jene Unannehmlichkeit mit Rémis Depesche bereitete, hatte sich eines Tages erlaubt ihr zu sagen:

»Der Fürst hat seine guten Gründe, um Madame de Guivre keine Streiche zu spielen?«

»Wieso?« hatte Arlette gefragt.

»Nun, Madame de Guivre stellt sehr starke Ansprüche, und der Fürst hat wohl keine Lust in ähnlicher Weise, wie ihr einstiger Mann zu endigen.« Aus diesem und vielleicht auch aus noch andern Gründen schien es festzustehen, daß überhaupt keine andre Frau wie Madeleine für Christian existierte. Aber wenn sie nicht da war?

Wer sich der Wollust ergibt, wird immer ihr Sklave sein, und Arlette erinnerte sich bei dieser Gelegenheit einer häßlichen Geschichte mit einem Dienstmädchen, welches behauptete, von Christian vergewaltigt worden zu sein, als Madeleine einmal ein paar Tage abwesend war.

Alles das gab ihr zu denken, wie tief sie sich erniedrigen mußte, aber was blieb ihr übrig! Und wie sollte sie es überhaupt anfangen? Je länger sie darüber nachdachte, um so mehr empfand sie ihre eigne Unerfahrenheit. Sie hatte nichts von jener angebornen Koketterie, mit der andre Frauen auf Männer zu wirken wissen. Christian hatte sie damals als völlig unwissendes Kind besessen, und von ihrem Verhältnis mit Rémi war sie fast ebenso unberührt geblieben. Vergebens suchte sie in ihren Erinnerungen, wie sie es wohl anstellen könne, wenn auch nur für dieses eine Mal das Verlangen ihres Mannes zu erregen. Und unter allen diesen Ängsten flog die Zeit rasch dahin. Rémi de Lasserade war am Montag abgereist, und am Mittwoch verließ Madame de Guivres ebenfalls das Gut. Christian war überzeugt, daß Rémi schon seit achtundvierzig Stunden in Bourges wäre und trennte sich ohne jeden Argwohn von ihr.

Unglückerweise begann es gerade an diesem Tage zu regnen, jener seine Herbstregen, der den Horizont verschleiert und die ganze Landschaft verändert. – Arlette hatte gehofft, die tägliche Jagdpartie benutzen zu können, um die erste Annäherung an ihren Mann zu versuchen, und nun war sie enttäuscht und verzweifelt. Sie saß in ihrem Zimmer und blickte trübselig in den Regen hinaus, mit ihrer schwachen Erfindungsgabe fühlte sie sich schon gänzlich entwaffnet. Und was sollte sie heute mit den Gästen anfangen, Jérôme ausgenommen, waren sie alle an solchen Tagen gelangweilt und schlechter Laune und wußten nichts Besseres zu tun, wie die Zeit mit Kartenspielen totzuschlagen. Gleich nach dem Déjeuner begann man mit dem Bakkarat, zwischen sieben und zehn Uhr gab es eine Pause zum Ankleiden und Diner, dann wurden die kleinen Tische zum Bridge und Poker zurechtgerückt, und nun ging es fast bis tief in die Nacht hinein. Arlette spielte mit, verlor anfangs und fing dann plötzlich an zu gewinnen. Als der Abend einbrach, hatte sie das Verlorene wieder und noch zweitausend Franks darüber. Ihr Mann hatte ebenfalls Glück gehabt und einige Scheine gewonnen. Man verließ den Salon erst, als es höchste Zeit war, zum Diner Toilette zu machen. Das Spielfieber hatte die ganze Gesellschaft ergriffen, und die Mahlzeit verlief ziemlich heiter. Arlette trank nur Champagner, der Fürst, den Madeleine sonst etwas zu überwachen pflegte, ließ sich heute auch mehr gehen und sprach dem Weine gehörig zu. –

Sofort nach Tisch begann das Spiel von neuem und dauerte bis zwei Uhr morgens. Als Arlette auf ihr Zimmer ging, wirbelte ihr der Kopf von dem vielen Wein, sie hatte heute mit Absicht so viel getrunken, daß sie halb berauscht war. Es war jetzt allmählich eine gewisse Umwandlung in ihr vorgegangen, sie begann sich vor ihrem eignen Gewissen zu rechtfertigen. – »Jetzt ist es Zeit,« dachte sie, »und es soll und muß gelingen. Mein Gott, und schließlich ist er doch mein Mann, was ist denn dabei. Ich tue doch wirklich nichts Schlimmes, wenn ich ihn wieder zu gewinnen suche. – Ich will ihn etwas glauben machen, was nicht wahr ist, – nun ja, schlimm genug. Man hat mir wirklich genug angetan, warum soll ich mich nicht dafür rächen?«

Und dann überlegte sie:

»Von seinem Zimmer führt eine Tür in die Bibliothek. Ich werde mir irgend ein Buch holen, wenn alle zu Bett sind. Dann lasse ich irgend einen schweren Band fallen, – er wird hereinkommen, um zu sehen, wer da ist –«

Was dann kam, wollte sie sich nicht weiter ausmalen. Aber warum wand sich ihr Körper geradezu unter der Vorstellung, als ob alle Sinne auf eigne Hand weiter dächten und sich dagegen empörten? Sie versuchte, sich selbst die niedrigsten Motive unterzuschieben, die Motive einer Kokotte: »Ich bin zu nervös. – – Christian gilt doch für einen schönen Mann, er gefällt den Frauen – warum soll nur ich – –«

Ja warum? Stammte dieser Widerwille noch aus jener ersten Woche ihrer Ehe, wo gleich die ersten Erfahrungen sie entsetzt und eingeschüchtert hatten, oder aus den dann folgenden drei Jahren, wo sie so viele Kränkungen zu erdulden hatte?

Die Uhr schlug halb drei. In dem großen Hause war allmählich jedes Geräusch verstummt, und es lag so still da, baß man nur noch das leise Rieseln des Herbstregens draußen vor den Fenstern vernahm.

Arlette ist allein in ihrem Zimmer, sie hat Martine fortgeschickt, schon ehe sie mit Auskleiden fertig war, als könne sie nicht einmal diese stumme, nichts ahnende Zeugin ihrer Pläne um sich sehen. Arlette ist allein und trifft in fieberhafter Hast ihre letzten Vorbereitungen. In ihrer Unerfahrenheit richtet sie sich fast her wie eine Kurtisane, wirft nur ein leichtes Gewand von alten Valenciennespitzen über das Nachthemd.

Alles schweigt ringsumher, selbst der Regen tropft immer leiser und fast unhörbar.

Arlette öffnet die Tür ein wenig und überzeugt sich, daß das elektrische Licht überall ausgelöscht und alles zur Ruhe ist. Sie schaudert leise, aber nicht vor Kälte, – und plötzlich erinnert sie sich wieder an die zwingende Notwendigkeit ihres Vorhabens: sie hat Angst, ihren Henker vielleicht gar nicht zu treffen, ihn schlafend zu finden, –»es ist ja Wahnsinn, noch länger zu warten – –« Dann nimmt sie einen Leuchter und verläßt das Zimmer.

Christian von Ermingen hatte sich inzwischen ebenfalls in seine Gemächer begeben. Sie bestanden aus einem großen Salon, der mit Jagdutensilien aller Art angefüllt war und einem etwas kleineren Schlafzimmer. Er hatte sich von seinem Kammerdiener auskleiden lassen, dann schickte er ihn fort, warf einen japanischen Schlafrock über, rauchte Zigaretten und vergewisserte sich noch einmal, ob seine Patronentasche für die morgige Jagd genügend gefüllt wäre. Der Fürst war so an den Alkohol gewöhnt, daß der leichte Rausch von vorhin längst verflogen war, aber ihm war unruhig und nervös zu Mut, er fürchtete, nicht schlafen zu können und hatte deshalb noch keine Lust, zu Bette zu gehen.

Seit dem ersten Tage in les Taschouères war er gewöhnt, sobald alles zur Ruhe gegangen war, Madame de Guivre in ihrem Zimmer aufzusuchen, das von dem seinen durch die Bibliothek und noch einen Raum getrennt war. Und heute, wo sie fort war, quälte ihn der Gedanke an eine Nacht ohne die Freuden der Liebe. Selbst in Paris kam es selten vor, daß er sie vierundzwanzig Stunden nicht sah. Aber dort konnte er sie nur am Tage besuchen, während ihr Zusammenleben hier sich weit intimer gestaltete, beinah als wären sie verheiratet. Christian hatte es so einzurichten gewußt, daß die Räume, die zwischen ihren Zimmern lagen, unbenutzt blieben; er war immer noch bis zur Raserei in Madeleine verliebt und glückselig, wenn er, so wie hier, mit ihr zusammenleben konnte.

Als er mit der Patronentasche fertig war, ging er wieder in das Schlafzimmer und blätterte in den Pariser Zeitungen, die neben dem Bett lagen. Aber während er versuchte zu lesen, drehten sich seine Gedanken fortwährend um Madeleine. »Was mag sie jetzt tun?« dachte er, und in fast greifbarer Deutlichkeit sah er ihr Haus in der rue d'Offèmont vor sich, die leichte grüngestrichene Eisentreppe, die zu ihr hinaufführte, ihr Zimmer, das ganz in Weiß gehalten war, das niedrige Bett, von lauter weißen Fellen umgeben – – ein andrer wie er in diesem Zimmer? – Und welcher andre? – Bei dem bloßen Gedanken umklammerten seine Finger das Gewehr, das er noch in der Hand hielt. Dann stellte er es wieder an seinen Platz und dachte nach. Er dachte an Rémi de Lasserade, und plötzlich stieg ein Verdacht in ihm auf – sollten die beiden – – während er hier in Taschouères saß? –

Die Adern an seinen Schläfen schwollen an und auf seiner Stirn erschienen rote Flecken: – »Ah, ich würde sie töten – alle beide.« Und für einen Augenblick haßte er Madeleine, weil sie selber es ihm unmöglich gemacht hatte, sie ganz und gar zu besitzen. Was half es, daß sie seine Geliebte war – auch vor der Welt? Er fühlte wohl, daß er ihr Leben nicht ganz ausfüllte, wie er es gewollt hätte, und daß er unfähig war, sie zu durchschauen und zu entlarven, wenn sie ihn einmal verraten sollte.

»Nein, nein, Rémi ist sicher in Bourges, um seine Übung zu machen und Madeleine hat mir heute von Paris aus telegraphiert – morgen muß ein Brief von ihr aus Rouen kommen.«

Dabei beruhigte er sich schließlich, seine Eifersuchtsanfälle pflegten ihn so mitzunehmen, daß sein Gehirn ganz ermattet war. Und nun erfaßte ihn plötzlich ein heftiges Verlangen, wie alle Abende, in Madeleines Zimmer hinüberzugehen. In den Gemächern einer Frau, in denen sie noch vor wenigen Stunden sich aufhielt, schlief, Toilette machte, bleibt immer etwas von dem Duft ihres Wesens, ja, von ihrem intimsten Selbst zurück. – So stürzte er nach der Tür, die von der Bibliothek und den leeren Zwischenräumen zu Madeleines Zimmern führte. Aber sie war von innen verriegelt; Madeleine, die immer sehr auf die Dehors bedacht war, pflegte sie nur abends, wenn sie wußte, daß Christian kam, zu öffnen. Im ersten Augenblick schlug er wütend mit der Faust dagegen, dann fiel ihm ein, daß er ja nur durch den Korridor zu gehen brauchte; nach der andern Seite hin hatte sie ihre Tür sicher nicht abgeschlossen.

Als er hinaustrat, glaubte er im andern Flügel des Schlosses eine Tür gehen zu hören und blieb unentschlossen stehen. Es wäre ihm nicht angenehm gewesen, hier gesehen zu werden. Dann ging er rasch weiter, ohne das elektrische Licht aufzudrehen. Der Korridor lag in tiefem Dunkel, nur von der offengebliebenen Tür zu Christians Zimmern drang ein schwacher Lichtschein. Ohne Hindernisse gelangte er jetzt an sein Ziel, öffnete die Tür und machte Licht – in der Mitte des Zimmers stand das Bett, ihr Bett mit dem leichten seidenen Baldachin. Als er sich umwandte, um die Tür zu schließen, sah er plötzlich Arlette vor sich – sie stand im Korridor und beobachtete ihn. Bei all seiner herkulischen Kraft besaß Christian durchaus keine Geistesgegenwart; er stand dem Unvorhergesehenen so schüchtern und linkisch gegenüber wie ein Kind, ausgenommen in solchen Fällen, wo er in plötzlichen Zorn geriet.

Aber Arlette hatte schon seit Tagen die Möglichkeit dieser Begegnung vorausgesehen und überlegte. So sah sie ihm ruhig ins Gesicht und sagte mit fester Stimme, was sie sich vorher zurechtgelegt hatte:

»Ich konnte absolut nicht schlafen und wollte mir ein Buch aus der Bibliothek holen.«

Der Fürst hatte seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen und antwortete:

»Mir geht es ebenso, ich konnte auch nicht einschlafen,« und so ungeschickt wie möglich fügte er, beinah mit denselben Worten wie Arlette, hinzu: »deshalb bin ich hergegangen, um mir ein Buch zu holen, das Madeleine gerade las und mir sehr empfohlen hat.«

Aber in dem tadellos aufgeräumten Zimmer war nichts von einem Buch zu sehen und so setzte er rasch hinzu:

»Sie muß es mitgenommen haben, es ist nicht zu finden.«

So standen sie sich eine Zeitlang gegenüber und sahen sich an. Arlette war so erregt, daß man ihren Busen unter dem leichten Gewebe wogen sah. War es nun, um dieser peinlichen, halb komischen Situation ein Ende zu machen, oder ergriff ihn wirklich ein plötzliches Verlangen – das Verlangen des brutalen Sinnesmenschen, der nimmt, was ihm in den Weg kommt, weil er das nicht gefunden hat, was er suchte.

Arlette fühlte sich plötzlich von seinen Armen umschlungen und fortgetragen. Das kam so brutal und unvermittelt, daß sie alle ihre Erwägungen für einen Augenblick vergaß und ihr Körper sich aufbäumte wie in einem Krampf von Entsetzen und Widerstreben. Und zweifellos war es gerade ihr Widerstand, verbunden mit den Erinnerungen die dieses Zimmer und dieses Bett dort vor ihm heraufbeschworen, die Christians Begehren noch heftiger entflammten. – Es war das erste Mal seit sechsundzwanzig Monaten, daß er seine Frau im Nachtgewande sah und sie kam ihm anders vor wie früher – reifer, mehr Weib.

Sie war ihrer Empörung wieder Herr geworden und ließ sich von ihm auf das Bett niederlegen, wie ein willenloses Opfer schloß sie die Augen und bemühte sich krampfhaft immer wieder zu denken: »gleich bin ich gerettet, gleich, und dann soll er mich niemals wieder anrühren.« Sie wollte nichts andres denken, vergessen, was mit ihr geschah, und sich gewissermaßen von ihrem Körper abstrahieren. Und es schien auch, daß Christian nichts weiter von ihr verlangte wie willenlose Hingabe an seine Umarmung. Seine Liebkosungen erfüllten sie mit Abscheu, sie mußte sich von Sekunde zu Sekunde gewaltsam beherrschen, um sich ihm nicht zu entwinden – seinen Händen, seinen Lippen, diesem Bart, der ihre zarte Haut streifte.

»Ah,« dachte sie, »wenn er mich nur an sich reißen wollte, mich dieses eine Mal seine Frau sein lassen – und dann nie wieder, fürs ganze Leben.«

Es kam ihr vor, als ob das alles eine unendliche Zeit dauerte und Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn wie bei einer Schwerkranken, die unter den Händen des Chirurgen allmählich in eine Art Starrkrampf versinkt. Sie biß die Zähne zusammen, sie wollte sich ihm hingeben – um jeden Preis.

Ob Christian sich klar machte, welchen Abscheu er seiner Frau einflößte? Oder fiel es ihm plötzlich ein, daß Madeleine ihn übermorgen erwarte und ihr spöttisches Lächeln, wenn sie sich in ihren anspruchsvollen Erwartungen getäuscht sah. – In dem Augenblick, wo Arlette, von innerer Angst überwältigt auf dem Punkt war ihm zuzurufen: »So nimm mich doch, nimm mich endlich hin« – in diesem Moment fühlte sie plötzlich, wie er sie losließ. – Zu Tode ermattet sank sie zurück, ihr ganzes Wesen war wie aufgelöst in einem Gefühl von wohltätiger Ruhe. Dann richtete sie sich plötzlich auf, das leere Zimmer war hell erleuchtet.

»Wo bin ich denn, wie komme ich hierher?« dachte sie, wie aus einem bösen Traum erwachend. Damit stand sie auf – und nun kam ihr die abscheuliche Wirklichkeit mit erdrückender Wucht wieder zum Bewußtsein. »Hier, in diesem unseligen Zimmer, auf diesem Bett habe ich mich meinem Mann zur Sklavin seiner Lüste angeboten, und er hat es verschmäht sie an mir zu stillen. Selbst jetzt, wo er allein, wo sie nicht da ist.«

Eine Zeitlang ging sie rasch im Zimmer auf und ab. Mein Gott, mein Gott, was hab ich dir getan – das ist zu viel. In ihrer gänzlichen Verwirrung fing sie an zu beten, aber sie hätte ebensogut fluchen oder lästern können. Dann sprach sie wieder halblaut vor sich hin: Ja, ja, er bleibt ihr treu, seine Sinnlichkeit geht nur so weit, wie seine Kräfte reichen. – Ob er das Mädchen damals ebenso behandelt hat wie mich. – – Aber für mich ist jetzt alles aus, ich bin verloren.

Und nun ergriff sie die Flucht, ohne das Licht zu löschen, ohne das Bett wieder in Ordnung zu bringen – sie machte nicht einmal die Tür hinter sich zu, eilte, wie verfolgt von ihrem eignen Entsetzen durch den Korridor, in ihr Zimmer und schloß sich ein.

»Alles das habe ich über mich ergehen lassen,« schluchzte sie, »und doch umsonst. Ich bin verloren.«

Dann wurde ihr die Einsamkeit plötzlich unerträglich, sie stürzte an die Tür des kleinen Zimmers, wo Martine schlief:

»Martine, Martine!«

Das Mädchen wachte auf und sprang sofort aus dem Bett:

»Sind Hoheit krank?«

Arlette fühlte sich so namenlos hilfsbedürftig, daß sie sich ihr in die Arme warf, mit solcher Heftigkeit, daß Martine auf ihr Bett zurücktaumelte. Die Fürstin lag vor ihr auf dem Boden und barg den Kopf in ihrem Schoß wie ein Kind. Und dabei schluchzte sie unaufhörlich:

»Es ist aus mit mir, ich bin verloren.«

Martine versuchte sie aufzurichten, aber sie ließ es nicht zu und schluchzte nur immer wieder:

»Verloren – ich bin verloren.«

Immer dichter schmiegte sie sich an Martinens Brust, und die drückte sie an sich wie eine Schwester oder Freundin. Ihre üppigen, schwarzen Haare flossen aufgelöst über Hals und Schultern, Arlette sog ihren Duft ein und benetzte sie mit ihren Tränen. Und ohne zu wissen, was sie sagte, wiederholte sie krampfhaft:

»Ich bin verloren.«

»Aber was ist denn geschehen, Hoheit, ich kann es nicht begreifen.«

Arlette richtete sich plötzlich auf, und in dem unfreundlichen Ton, den sie Martine gegenüber manchmal anschlug, sagte sie:

»Ach, du weißt es sehr wohl – tu doch nicht so. Das macht mich allmählich nervös. Du weißt sehr wohl, in welchem Zustand ich mich befinde.«

»Ja, das weiß ich,« erwiderte Martine.

»Nun also« – und Arlette stand auf, während Martine auf ihrem Bett sitzen blieb – »seit zwei Jahren hat der Fürst mich nicht angerührt – verstehst du jetzt?«

»Und jetzt, heute nacht, hab ich all meinen Mut zusammengenommen, habe mich ihm an den Hals geworfen wie eine Dirne – ich hatte mich möglichst schön gemacht, um ihn zu verführen – weil er seine Maitresse heute nicht bei sich hat. Aber er ist ihr treu – diesem elenden Weib – selbst in ihrer Abwesenheit. Mich hat er mit ein paar Liebkosungen abgefertigt, wie ein impotenter Greis. – Er denkt nicht daran, daß er doch mein Mann ist, er spart sich für Madeleine auf. – Ach, Martine, ich bin verloren, ich will sterben.«

Damit ging sie in ihr Zimmer zurück, als ob sie sich etwas antun wolle. Martine eilte ihr nach und faßte sie am Arm.

»Hoheit, ich beschwöre Sie, lassen Sie mich heute Nacht bei Ihnen bleiben.«

Arlette zerfloß in Tränen:

»Aber wozu? Wenn der Fürst die Wahrheit erfährt, tötet er mich. Und dann will ich mich lieber noch vorher selbst umbringen.«

Aber dann ließ sie sich doch in ihr Zimmer führen, ließ sich auskleiden und zu Bett bringen wie ein Kind. Und nun erst bemerkte sie, daß Martine im bloßen Hemde war.

»Du mußt ja frieren – da, zieh meinen Schlafrock an – ich will es haben – ich schenke ihn dir, ich will ihn nicht mehr haben, mir graut davor. Tu, was ich dir sage.«

Martine ergab sich und warf das elegante Negligé von Musselin und Spitzen über, das Arlette eben abgelegt hatte.

»Jetzt setz dich dahin und laß mich nicht allein.«

Sie setzte sich zu ihrer Herrin aufs Bett und hielt ihre Hand. Arlette blieb lange schweigend liegen und schien schon einzuschlafen, als sie plötzlich wieder emporfuhr und sich aufsetzte:

»Wer ist da? – ist es der Fürst?«

Halb im Traum hatte sie geglaubt, Christian vor sich zu sehen, wie er sie von neuem an sich reißen wollte. Martine beruhigte sie und redete ihr zu, einzuschlafen.

»Nein, ich will nicht schlafen,« sagte Arlette, »sonst kommen diese schrecklichen Träume immer wieder. Ich will lieber mit dir plaudern, das erleichtert mich etwas. – Ich habe das alles so lange allein in mir herumgewälzt und nicht gewagt mich jemand anzuvertrauen. Also sag mir, Martine, du hast dir alles gedacht?«

»Ja,« sagte Martine ohne Zögern, »Hoheit können sich denken, daß es mir nicht verborgen bleiben konnte. Aber weil Sie nicht mit mir darüber sprachen, mußte ich doch schweigen, nicht wahr? Aber ich konnte es kaum mit ansehen, wie Hoheit sich quälten.«

Arlette hörte schon nicht mehr zu, ihre großen blauen Augen blickten starr vor sich hin.

»Höre,« sagte Arlette und faßte Martinens beide Hände. »Du weißt jetzt mein Geheimnis und du kannst mich jetzt zugrunde richten. – Nein, nein, ich habe volles Vertrauen zu dir, obgleich du manchmal so mysteriös bist und man nicht weiß, was du im Grunde denkst. Du hast es in der Hand, mich zugrunde zu richten, aber auch mir zu helfen.«

»Wie meinen Hoheit das?«

Arlette wurde ungeduldig:

»Tu doch nicht so dumm – sonst glaube ich wirklich noch, daß du mit dem Fürsten unter einer Decke steckst. Soll ich dir noch einmal sagen, daß mein Mann mich seit zwei Jahren nicht angerührt hat und er will es auch jetzt nicht – ich habe ja den Beweis dafür. – Also, wenn mein jetziger Zustand bestehen bleibt, bin ich verloren. Du mußt mir helfen, dem ein Ende zu machen.«

Sie sah, daß Martine jäh erbleichte, fuhr aber fort:

»Es muß sein – und ich bin nicht die erste, die diesen Weg einschlägt. Ich habe getan, was ich konnte, um es nicht zum äußersten kommen zu lassen, es ist nicht meine Schuld, wenn es mißlungen ist. – Ich bin bereit, zu wagen, was gewagt werden muß, aber ich bin nicht imstande, die nötigen Schritte allein zu tun, du mußt mir dabei helfen.«

Martine war so bestürzt, daß sie kein Wort herausbrachte, Arlette faßte sie an beiden Armen.

»Martine, du mußt es tun, – rette mich, ich bin doch gut gegen dich gewesen, habe dir soviel Geld und soviel Freiheit gegeben, wie du wolltest. Wenn du mir hilfst, will ich deine Zukunft sicher stellen. Und willst du nicht, so bleibt mir nichts übrig, wie ins Wasser zu gehen oder Strychnin zu nehmen.«

Martine schwieg immer noch, aber ihr Gesicht war leichenblaß, und die Fürstin fühlte, daß ihre Arme bebten wie im Fieber.

»Warum antwortest du denn nicht?« fuhr Arlette fort, außer sich, daß nun dieser letzte Versuch auch noch fehlschlagen sollte. »Du willst nicht – aber warum? sag mir doch, warum. Kein Mensch will mir helfen. In ganz Paris gibt es außer dir kein Mädchen, daß seiner Herrin für gute Belohnung nicht beistehen würde. Aber so sprich doch endlich. Antworte mir, sage wenigstens ja oder nein.«

»Hoheit,« murmelte Martine mit erstickter Stimme, »ich bitte Sie, sprechen Sie nicht so – Sie dürfen nicht mehr daran denken und nicht davon sprechen. Ach, Hoheit, sagen Sie nie wieder, daß Sie nicht – – daß Sie nicht Mutter werden wollen.«

Dann verbarg sie das Gesicht in den Händen, als schäme sie sich, soviel gewagt zu haben. Aber es hatte in dem Ton ihrer Stimme etwas so unendlich Zartes und Weiches gelegen, daß Arlette gerührt war. Es durchdrang sie beinah wie eine Art Befreiung, wie eine ferne Hoffnung.

Sie sah, daß große Tränen über Martinens Gesicht rannen – eine Zeitlang hörte man nichts wie das unterdrückte Schluchzen des jungen Mädchens. Einen Augenblick lehnte Arlettens Stolz sich auf, »also so weit ist es gekommen, daß Martine mir Moralpredigten hält.« Aber diese Anwandlung ging rasch vorüber, sie fühlte, daß dieses Mädchen ihr moralisch überlegen war, »im Grunde muß sie mich verachten – seit eineinhalb Jahren hat sie Gelegenheit genug, mich zu kritisieren. Aber schließlich hat sie doch selber einen Liebhaber – sie hat es mir selbst gesagt.«

»Und wenn du an meiner Stelle wärest,« sagte sie bitter, »ob du es dann wohl auch so schön fändest, Mutter zu werden, du stehst allein und hast deine Freiheit, aber wenn dein Liebhaber dich in diese Lage brächte, was würdest du tun?«

Martine ließ die Hände sinken, ihr Gesicht war wieder ruhig geworden und die Tränen versiegten allmählich.

»Ich darf mich selbst nicht mit Hoheit vergleichen,« sagte sie, »aber ich kann Ihnen versichern, daß ich unter jeder Bedingung nur glücklich darüber wäre, und nur daran denken würde, ein Kind zu haben und es aufzuziehen.«

»Selbst wenn es dich deine Stelle kostete?«

»Aber natürlich.«

»Ach, das sagst du so, weil du es eben nicht an dir selbst erlebt hast.«

Martine sah ihre Herrin fest an und sagte:

»Doch, Hoheit – ich habe es erlebt.«

Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen und Arlette fragte ganz erstaunt:

»Wie – du hast ein Kind?«

»Ja, Hoheit.«

»Von deinem Liebhaber?«

»Ich habe keinen Liebhaber,« antwortete Martine mühsam.

»Ja, aber – –«

»Ich habe früher einmal einen Mann geliebt, und wir wollten uns heiraten.«

»Und er hat dich sitzen lassen, als du Mutter werden solltest.«

»Nein, er war ein rechtschaffener Mensch – er wollte mich heiraten, es war schon alles festgesetzt – aber er ist vorher gestorben.«

Sie weinte nicht mehr, aber aus ihren Zügen sprach ein so tiefer Schmerz, daß Arlette sie bewegt in ihre Arme schloß und sie küßte.

»Martine, verzeih mir, ich hab dich oft schlecht behandelt und nun quäle ich dich noch. Sei mir nicht böse – ich bin so unglücklich, daß ich manchmal selber nicht weiß, was ich tue.«

»Hoheit,« sagte Martine gerührt.

Und ganz schüchtern wagte sie es, mit ihren Lippen Arlettens Hals zu berühren, während diese sie immer noch umschlungen hielt. Es geschah das in aller Bescheidenheit und Ehrfurcht, wie wenn ein Gläubiger eine Reliquie küßt. Aber auf Arlettens zerrissenes Herz wirkte diese Zärtlichkeit wie lindernder Balsam.

»Kleine Martine,« flüsterte sie, »ich habe dich sehr lieb und volles Vertrauen zu dir.«

»Und ich würde mich für Hoheit jeden Augenblick töten lassen,« antwortete das Mädchen.

»Willst du mir nicht noch erzählen, wie das alles kam mit deinem Kind – wenn es dich nicht zu traurig macht?«

»Ja, gerne,« erwiderte sie, »aber Hoheit werden sehen, daß meine Geschichte nicht besonders interessant ist. – Also: Ich stamme aus Yvonne, meine Eltern hatten dort ein kleines Landgut und lebten ganz behaglich. Sie schickten mich in die Schule und ließen mich zur Lehrerin ausbilden.«

»Hast du denn die Examina gemacht?«

»Ja freilich, Hoheit.«

»Aber dann bist du ja eine halbe Gelehrte?«

»O nein, wirklich nicht,« sagte Martine lächelnd. »Ich habe immer gern gelernt und hätte es auch gewiß noch weiter gebracht, wenn die Umstände danach gewesen wären. Aber dann starb mein Vater, und meine Mutter heiratete einen andern Mann, der es auf ihr Vermögen abgesehen hatte. Ich fühlte mich nicht mehr wohl bei ihr, und ihr war es auch lieber, wenn ich nicht mehr nach Hause kam. Als ich dann in Ricaut als Hilfslehrerin angestellt wurde, betrachtete ich mich selbst als Waise, und es kam mir vor, als ob ich keinen Menschen auf der Welt mehr hätte. Eben dort an der Knabenschule war ein Lehrer, der fast im gleichen Alter stand wie ich –«

»Und der machte dir den Hof?«

»Wir sahen uns alle Tage. Die übrige Bevölkerung bestand fast nur aus Arbeitern; wir waren, was Verkehr und Interessen betrifft, ganz aufeinander angewiesen. Außerdem stand er ebenso allein wie ich.«

»War er schön?« fragte Arlette, und gleich darauf fühlte sie selbst, wie töricht diese Frage war.

»Mein Gott, er gehörte nicht zu den Männern, um die die Frauen sich reißen. Er war etwas kleiner wie ich und sehr kräftig gebaut. Aber ich liebte ihn vor allem, weil er die Güte und Ehrlichkeit selbst war. Ich glaube, wir wären sehr glücklich zusammen geworden.« Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Schon am Ende des ersten Jahres waren wir uns einig, daß wir heiraten wollten. Das Datum war schon festgesetzt. Da wir beide mittellos waren, mußten wir warten, bis er avancierte.«

»Und dann?« fragte Arlette.

»Dann, nun, wir haben uns sehr lieb gehabt, als ob wir schon Eheleute wären. Unsre Schulen lagen dicht beieinander, und Antonin kam jeden Abend zu mir, wenn schon das ganze Dorf schlief. Und dann im Februar fühlte ich mich Mutter, und wir freuten uns beide so darüber. Wir wollten ja bald heiraten und dann anderswo hingehen. Aber in dem Frühjahr bekam Antonin eine Bronchitis,« ihre Stimme senkte sich ein wenig und es lag ein Ton von schlichter Trauer darin – »Hoheit werden wohl begreifen, daß ich alle Rücksichten fahren ließ und ihn in seiner Wohnung pflegte wie eine Frau ihren Mann. Er ist in meinen Armen gestorben. Nach seinem Tode konstatierten die Ärzte, daß es keine Bronchitis, sondern Typhus war.«

»Und warum habt ihr euch nicht noch vor seinem Tode trauen lassen?«

»Das Ende kam zu plötzlich. Als ich wußte, daß er sterben müsse, habe ich auch an nichts andres mehr gedacht, wie bis zum letzten Augenblick bei ihm zu bleiben.«

Beide schwiegen eine Zeitlang. Arlette dachte nicht mehr an ihre eignen Qualen; ihre Einbildungskraft war ganz von der einfachen, traurigen Geschichte in Anspruch genommen, die Martine ihr erzählt hatte. Dann begann diese wieder:

»Als alles vorbei war, wurde ich selbst schwer krank. Ich ließ mich so gut wie möglich pflegen, denn um des Kindes willen, das ich von ihm unter dem Herzen trug, wollte ich weiterleben. – Kaum wiederhergestellt, ging ich nach Paris, wo mich niemand kannte und brachte dort einen schönen Knaben zur Welt – ja wirklich« – und ihr Gesicht verklärte sich – »es ist ein sehr schönes Kind.«

»O, Martine,« murmelte die Fürstin, »du glaubst gar nicht, wie mich das alles interessiert, und dann?«

»Als ich wieder auf war und das Kind bei einer Amme untergebracht hatte, waren meine Mittel völlig erschöpft. Eine Stelle als Lehrerin zu bekommen, wäre sehr schwierig gewesen, da meine Geschichte bekannt geworden war. Zufällig suchte eine ausländische Dame, die bei derselben Hebamme wie ich niederkam, eine Zofe und Gesellschafterin. Sie war reich und zahlte hohen Lohn, dreimal so viel, wie ich als Lehrerin verdient hätte. Ich stellte mich ihr vor und blieb bei ihr in Paris, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehrte. – Ich habe nur diese eine Stellung gehabt, ehe ich zu Ihnen kam.«

»Und dein kleiner Junge?«

»Er ist in St. Cloud bei einer braven und vernünftigen Frau, die ihn aufzieht. Er fühlt sich so glücklich wie ein kleiner König, und es hat ihm noch nie an etwas gefehlt. Für mich selbst brauche ich wenig, und Hoheit sind immer so freigebig gegen mich gewesen.«

»O,« sagte Arlette und schlug die Hände zusammen – »jetzt verstehe ich alles – daß du so oft ausgehen wolltest, und deinen vermeintlichen Geiz. Ich habe dich sehr oft falsch beurteilt, Martine.«

»Das dachte ich mir wohl und es machte mich oft traurig, aber ich tröstete mich mit meinem kleinen Pierre, er ist mein Trost für alles.«

»Ach, du bist sehr glücklich,« seufzte Arlette.

»Glücklich kann man wohl nie wieder sein, wenn man einen geliebten Mann verliert. Aber das Leben ist dennoch reich für mich.«

Die Fürstin dachte eine Zeitlang nach.

»Etwas wundert mich doch –« sie zögerte einen Augenblick – »du hast mit deinem Freunde ohne priesterlichen Segen zusammengelebt. Erinnerst du dich noch an das kleine Buch, das ich einmal bei dir entdeckte? Ich dachte danach, du wärest fromm.«

»Ja, ich bin es mit der Zeit geworden. Damals vor Antonins Tode war ich es noch nicht. Aber als ich vor seinem Bett auf den Knien lag und mir unwillkürlich die Gebete meiner Kinderzeit auf die Lippen traten – als ich die Notwendigkeit empfand, auf Wiedervereinigung mit ihm zu hoffen – und der entsetzliche Gedanke, daß der Tod das Ende von allem sein sollte – das alles hat die Sehnsucht nach Glauben in mir geweckt, ich habe angefangen, danach zu ringen, und mit der Zeit ist es denn auch gekommen.«

»Man kann den Glauben doch nicht erzwingen,« meinte die Fürstin leise.

»Vielleicht nicht, wenn man glücklich ist und sich stark fühlt, aber als armes, verlassenes Mädchen wenn man alles, was man liebte, verloren hat – da kommt es ganz von selbst, daß man in Gebet und Glauben Trost sucht.«

»Ich glaube an gar nichts,« sagte Arlette traurig. Wenn sie an ihr eignes Leben dachte, erschien es ihr so trostlos und trübe, daß sie Martine fast um ihr einfaches Schicksal beneidete. Und ihr Stolz war so gebrochen, daß sie es auch aussprach.

»Das Leben hat dir hart mitgespielt, aber du hast dein Kind, das dir alles ist und dich tröstet.«

Mit einer lebhaften und graziösen Bewegung beugte Martine sich zu ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr:

»Ach, Hoheit, es hängt nur von Ihnen ab, auch bald solch einen kleinen Tröster zu haben.«

»Nein, ich darf nicht Mutter werden. Du kennst meinen Mann. Wenn ich mich nicht umbringe, ehe er alles erfährt, so wird er mich töten.«

Von einem andern Ausweg wie dem Tode wagte sie jetzt nicht mehr zu Martine zu sprechen. Das Mädchen dachte nach, aber ebenso wie ihre Herrin schien sie auch keinen Rat zu wissen. So schwiegen sie eine Weile, beide mit denselben Gedanken beschäftigt. Das Zimmer war nur matt durch eine blauverschleierte Lampe erhellt, ringsum lag das ganze Schloß in tiefem Schweigen; man hörte nicht einmal mehr die Regentropfen fallen.

Martine trat an das Bett ihrer Herrin, rückte ihr die Kissen zurecht und brachte alles in Ordnung. Dann kniete sie neben dem Lager nieder, stützte den Kopf in die Hände und rührte sich nicht mehr. Arlette war so erschöpft von den Aufregungen dieser Nacht, daß sie nicht einmal mehr die Kraft hatte, zu fragen, was sie da täte. Aber sie erriet es auch so:

»Sie betet – und gewiß betet sie für mich. Armes Kind, was sollen die Gebete helfen, das Leben ist so schlimm, und es gibt kein überirdisches Wesen, das es für uns leitet.«

Aber das Gefühl, daß ein menschliches Wesen in ihrer Nähe war, neben ihr kniete und mit der Vorsehung um ihr Schicksal rang, hatte etwas seltsam Beruhigendes, und allmählich schlummerte sie ein. Wenn sie hier und da einen Augenblick aufwachte, sah sie Martine immer noch auf den Knien liegen, in tiefes Gebet versunken.

*

An demselben feuchtkalten Novembermorgen blieben an dem Hause Madeleines in der Rue d'Offémont die Fenster und Jalousien hermetisch verschlossen, ausgenommen ein kleines rundes Guckloch im dritten Stock, wo wahrscheinlich irgendein dienstbarer Geist wohnte, der in Abwesenheit der Herrin das Haus bewachte. In der Frühe um halb acht sah man dann auch ein niedliches kleines Dienstmädchen mit einem Schal um den Kopf das Haus verlassen und eine halbe Stunde später mit verschiedenen Paketen zurückkehren. Dann lag alles wieder wie ausgestorben da.

Und doch herrschte im Innern einiges Leben. Die entgegengesetzte Seite des Hauses ging auf Gärten mit wohlgepflegten Alleen und üppigem Blumenschmuck hinaus. Und hier waren die Fenster weit geöffnet, um die bleiche Herbstsonne hereinzulassen, die gegen zehn Uhr allmählich über den Nebel triumphierte. Es waren die Fenster von Madeleines kleinem Salon, der an ihr Schlafzimmer stieß. Grade als die ersten Sonnenstrahlen hereindrangen, saß Madame de Guivre beim ersten Frühstück mit einem Gast, den man auf den ersten Blick für eine Frau hätte halten können, der aber niemand anders war wie Rémi de Lasserade. Er war in ein Neglige von Madeleine gehüllt, das nicht übel zu seinem bartlosen Gesicht und seinem lockigen Haar stand. Am Abend vorher hatte er sich in der Dämmerung ins Haus geschlichen, nachdem er sich vorher vergewisserte, daß niemand ihn hineingehen sah. Gegen Mitternacht hatte Madame de Guivre ihn fortschicken wollen, sie war ein wenig unruhig, obgleich sie Christian noch in Taschouères wußte und er wiederum sie in Rouen glaubte. Aber der eigensinnige Page hatte sich einfach geweigert, in dieser regenfeuchten Nacht, wo man schwerlich noch einem Fiaker begegnete, nach dem Park Monceau zu wandern. Außerdem fühlte er sich hier so wohl, daß er entschlossen war, erst morgens nach dem ersten Frühstück zu weichen, und auch das wollte er nicht versprechen. Madeleine war so verliebt, und das Abenteuer machte ihr soviel Spaß, daß sie nachgab. Wie sollte man ihm auch widerstehen, diesem anmutigen, verzogenen Jungen, der sich ebenso gut aufs Schmollen wie auf Zärtlichkeit verstand, und den sie mit der ganzes Glut ihrer vierzig Jahre liebte. Ja, dieses Mal war es wirkliche Liebe, nicht nur sinnliches Verlangen, eine seltsam tiefe und hingebende Leidenschaft. Wenn er nur gewollt hätte – – Da gingen manchmal Gedanken und Träume durch den Kopf, über die sie sich wunderte, und die sie Rémi nicht zu gestehen wagte. Denn sie fürchtete seine Ironie, die jede sentimentale Redensart unbarmherzig verspottete. Ins Ausland gehen und dort mit ihm zusammen leben, – und wenn es nur auf ein Jahr wäre – frei von Christians Tyrannei und fern von diesem brausenden Pariser Leben, in dem sie sich nur noch vorübergehend zu betäuben suchte. Ein Leben wie diese Nacht in ihrem weißen Zimmer, das sie noch nie in solchem Liebesrausch gesehen hatte, wie heute morgen beim Frühstück im zärtlichen Tête-à-tête mit diesem entzückenden Pagen, der fast so anmutig war wie eine Frau und dabei so drollig pervers und doch auch so tapfer, denn er wußte wohl, welche Gefahr es bedeutete, Madeleine zu lieben.

Allen diesen Gedanken gab sie sich hin und blickte dabei Rémi an, der in seiner seltsamen Verkleidung beim Frühstück saß und gleichgültig in den Garten hinausblickte. Auf seinem hübschen Gesicht hatte die Liebesnacht keine Spuren zurückgelassen, aber mit leisem Schrecken sah sie ihre eignen, etwas welken Züge in dem Spiegel gegenüber. Und nun lachte er plötzlich auf wie ein Schuljunge.

»Du, Made, ich denke eben, was der Fürst für ein Gesicht machen würde, wenn er uns hier zusammen beim Frühstück sähe. Ich glaube, er würde einen Anfall bekommen.«

»Nein, lach nicht so, Mi, es ist gar nicht komisch. Ich zittere fortwährend, daß er plötzlich irgendwie hier herein kommt, über die Gartenmauer springt oder etwas ähnliches, und auf uns losgeht –«

»Aber warum läßt du dich so von ihm tyrannisieren. Schick ihn doch weiter, du bist doch durch nichts an ihn gebunden.«

»Wenn ich das doch könnte,« murmelte Madeleine, – »gleich morgen! Aber er würde mich auf der Stelle totschlagen.« – Und dann fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu: »Und jetzt, wo ich dich habe, möchte ich nicht sterben.«

»O Made, um Gottes willen keine dritte Aktszene.«

Dieser Spott verletzte sie tief, aber sie zwang sich zu lachen. Dann saß sie wieder da und betrachtete ihn, er amüsierte sich jetzt damit, einem jungen Mädchen zuzusehen, das im Nachbarsgarten auf und ab ging. – »Ja, so ist er,« dachte sie traurig, »alle Frauen reizen ihn, und alle sind ihm nur Zeitvertreib. Ich bin nicht so dumm und temperamentlos wie Arlette, und doch bedeute ich für ihn nicht mehr wie sie.«

Rémi war aufgestanden und kokettierte vor dem Spiegel mit seiner schlanken Taille, es machte ihm einen kindischen Spaß, als Frau verkleidet zu sein. Und Madeleine sah ihm zu, und bemühte sich, gewaltsam heiter zu sein. Da ging plötzlich die Tür auf und das Mädchen erschien auf der Schwelle, ihr Gesicht war ganz blaß.

»Was gibt's denn, Francine?«

»Gnädige Frau, der Fürst ist da.«

»Der Fürst,« stammelte Madeleine – und unwillkürlich stellte sie sich vor Rémi, wie um ihn zu schützen.

»Bitte näherzutreten, Hoheit,« scherzte Rémi.

»Du hast ihn doch hoffentlich nicht hereingelassen?« sagte Madeleine.

»O nein, gnädige Frau, er hat nicht einmal geschellt ... er steht in der Rue de Prony, etwa hundert Schritt von hier und beobachtet das Haus.«

»Bist du sicher, daß er es ist?«

»Vollkommen sicher, ich habe ihn von meinem Zimmer aus gesehen, als ich mich umzog.«

»Mein Gott, was sollen wir machen?« murmelte Madeleine, »lach doch nicht, Rémi, du machst mich nervös. Mir scheint wirklich, du hast keine Ahnung, was für ein wildes Tier er ist.«

»Francine,« sagte Rémi, »Sie müssen mich in Ihr Zimmer lassen, ich will mir doch das Vergnügen leisten, ihn Posten stehen zu sehn. – – Vorwärts, Made, mach doch nicht wieder dein Gesicht aus dem dritten Akt.«

Und lachend faßte er Madeleine um die Taille, Francine am Arm und zwang beide, die Treppe zum dritten Stock mit hinaufzukommen. Durch die kleine, runde Scheibe sahen sie wirklich den Fürsten, der auf dem Trottoir der Rue de Prony auf und ab ging und bei jeder Wendung einen Blick auf Madeleines Haus warf, manchmal blieb er stehen und betrachtete es, als suchte er die Geheimnisse seiner Mauern mit Blicken zu durchdringen.

Christian von Ermingen hatte wirklich, von einem plötzlichen Verdacht erfaßt, les Taschouères beim ersten Morgengrauen verlassen. Sein Mißtrauen entsprang nicht etwa aus irgendwelchen Reflexionen, es war nichts weiter als einer seiner Eifersuchtsanfälle. »Und wenn sie mich doch belogen hätte – – wenn sie in Paris wäre.«

So hatte er gleich den ersten Zug genommen und erreichte Paris in aller Frühe, Der Anblick der herabgelassenen Jalousien hatte ihn etwas beruhigt, aber dann stiegen wieder Zweifel auf:

»Das beweist noch nichts, wenn sie da ist, wird sie sich selbstverständlich verborgen halten.«

Es gab ein sehr einfaches Mittel, um Gewißheit zu erlangen, an der kleinen Tür unter dem Glasdach läuten, das Dienstmädchen, das er heute früh aus dem Hause hatte kommen sehen, beiseite schieben, und wie ein Polizist das Haus durchsuchen!

Aber im Grunde hatte er immer eine gewisse Angst vor Madeleine, sie war ihm völlig unentbehrlich, was wäre ihm noch geblieben, wenn sie mit ihm brach.

Madeleine und Rémi beobachteten ihn, sie sahen wie er plötzlich eine Handbewegung machte, als ob er jemand erwürgen wollte. Madeleine kannte diese Geste und schauderte; mit einem fast mütterlichen Aufschrei umarmte sie Rémi, und er erwiderte ihre Liebkosung ebenso stürmisch.

Der Fürst von Ermingen blieb den ganzen Tag auf seinem Posten, hier und da wagte er sich bis in die Rue d'Offémont vor und betrachtete das Haus ganz von der Nähe. Aber die Spannung seiner Nerven ließ allmählich nach, und ein intensives Wohlgefühl durchdrang seinen gewaltigen und primitiven Organismus. Er fühlte wieder ein unbedingtes Zutrauen zu Madeleine, nein, sie hatte ihn nicht belogen, sie war ihm treu. Am liebsten hätte er sie gleich wiedergesehen, um ihr alle seine Zweifel abzubitten.

So verging der Tag, aber er konnte sich immer noch nicht entschließen fortzugehen. Seit achtzehn Stunden hatte er weder gegessen noch getrunken, er fühlte auch keinen Hunger und keinen Durst, nur eine leichte Migräne begann ihn zu peinigen. Die ersten Straßenlichter wurden angezündet. Christian näherte sich dem Hause und musterte die Fenster mit seinem scharfen, unbestechlichen Jägerblick. Auf der Vorderseite blieb alles dunkel. Dann leuchtete plötzlich hinter dem kleinen, runden Mansardenfenster ein Licht aus. Er blickte danach hin, »das Dienstmädchen« dachte er.

Aber er blieb immer noch stehen, trotzdem sein Kopfschmerz sich verschlimmerte. Er war jetzt fest überzeugt, daß Madeleine fort sei und konnte sich doch nicht mehr so darüber freuen. Er schämte sich der Rolle, die er hier spielte und wie schon manchmal, wenn ein Eifersuchtsanfall vorüber war, überkam ihn ein Gefühl von Bitterkeit über sein verfehltes Leben. Dann dachte er an seine Vorfahren, diese stolzen, wilden Krieger, die Schlachten schlugen und Städte niederbrannten. Sein eignes Dasein als Pariser Lebemann bedrückte ihn, schien ihm so hohl und nichtig.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Das Licht im Mansardenfenster erlosch, bald darauf ging die Haustür auf, und dasselbe Dienstmädchen wie heute morgen erschien in Hut und Schleier. »Aha, Francine benutzt die Abwesenheit ihrer Herrin, um sich zu amüsieren,« dachte er, einen Augenblick war er drauf und dran sie anzurufen und sich nach Madeleine zu erkundigen. Aber wieder konnte er sich nicht dazu entschließen. Und nun endlich gab er seinen Posten auf und rief einen Fiaker heran, um heimzufahren.

Wenn er gewußt hätte, daß, während er sich hier in wahnsinniger Eifersucht verzehrte, Madeleine, und Rémi den ganzen Tag in zärtlichstem Tête-à-tête verbrachten und das Gefühl der Gefahr ihre Liebesglut nur noch steigerte! Hätte er ihre Gespräche mit anhören können, in denen sein Name mehr wie einmal scherzend erwähnt wurde, und geahnt, daß jene leichtfüßige Zofe in Hut und Schleier niemand anders war als Rémi de Lasserade, dem es unsagbaren Spaß machte, dem Fürsten einen derartigen Possen zu spielen. Und hätte er dann schließlich noch gesehen wie Madeleine, deren Liebesraserei selbst nach dieser Nacht und diesem Tage noch nicht gestillt war, rasch das leichte Gewand überwarf, das Rémi vorher getragen hatte, und ihre eignen Arme küßte, um wenigstens einmal noch den Duft des Geliebten einzuatmen ...

Ein paar Tage später hatte die ganze Bande les Taschouères verlassen und war nach Paris zurückgekehrt. Arlette und Martine traten die Reise in einem für den Nachmittag gemieteten Automobil an. Wie zwei vertraute Freundinnen saßen sie nebeneinander und genossen den schönen, stillen Herbsttag. Dabei plauderten sie eifrig, Arlette war ruhiger geworden und sah nicht mehr so verstört aus, wie in den letzten Tagen, Martinens Gesicht hatte seinen gewohnten, ernsten Ausdruck, den dann und wann ein freundliches Lächeln verklärte. Manchmal faßte sie die Hand ihrer Herrin und drückte einen Kuß darauf.

Jene tragische Nacht mit ihren gegenseitigen Geständnissen hatte sie einander sehr nahe gebracht, wenn auch Arlettens Stolz sich noch manchmal dagegen auflehnen wollte, daß sie bei diesem einfachen Mädchen eine Art moralischen Halt suchte und fand. Aber diese vorübergehenden Empfindungen kamen immer seltner und vermochten es nicht zu ändern, daß sie sich dem Einfluß Martinens immer mehr hingab. Sie konnte ihre Gesellschaft nicht mehr entbehren und ging kaum noch ohne sie aus.

Sie fuhren jetzt durch die herbstlich gelichteten Wälder, hinter denen die Sonne langsam niedersank.

Arlette legte ihre Hand auf Martinens Arm:

»Ich möchte dich etwas fragen, aber ohne dich zu quälen oder zu verletzen.«

»Alles, was Sie wollen, Hoheit.«

»Also – dein Kind, dein kleiner Pierre – welchen Namen führt er eigentlich?«

»Meinen natürlich – Pierre Lebleu.«

»Also nicht den seines Vaters –«

»Nein, das geht nicht anders, er muß meinen Namen tragen. Ich habe ihn gleich nach seiner Geburt anerkannt.«

»Aber wenn er groß ist und anfängt, zu begreifen – wenn er dich fragt?«

»Wenn er groß genug ist, um es zu verstehen, werde ich ihm alles so erzählen, wie es war; daß zu der Zeit, wo ich seinen Vater liebte, die Heirat mir nur eine Formalität bedeutete, die früher oder später erfüllt werden konnte. Und daß sein Vater starb, ehe wir heiraten konnten. Daß ich erst später religiös geworden bin. Ich denke ihn überzeugen zu können, daß wir beide nach unserm eignen Gewissen gehandelt haben, und ich hoffe, er wird es begreifen und mich ebenso lieb haben. O, dessen bin ich ganz sicher.«

»Ist er intelligent?«

»Ja, sehr – wie sein Vater.«

»Und wie du. Du bist sehr klug, Martine.«

»Nein, Hoheit, ich habe immer sehr viel Lust am Studieren gehabt, aber seit ich nicht mehr so viel Zeit zum Lesen habe, weiß ich nicht mehr viel.«

Sie hatten St. Cloud erreicht und fuhren dann wieder durchs Gehölz. Martine blickte auf die Uhr:

»In einer Viertelstunde sind wir bei Baby.«

Dabei sah sie vorwärts auf den Weg und schien ungeduldig darauf zu warten, daß das Haus vor ihnen auftauchte, vielleicht auch der kleine Pierre ihr entgegengelaufen käme. Die Sehnsucht, ihn wiederzusehen, beschäftigte sie jetzt so, daß sie sicher nicht mehr an ihre Herrin dachte. Und diese Freude, die ihre Wangen höher färbte und aus ihren Augen leuchtete, machte sie beinah schön. Arlette hatte ein häßliches Gefühl dabei, sie ärgerte sich über dieses Glück, wenn sie an ihre eignen Leiden dachte, für die es kein Heilmittel gab, und war nahe daran, den Chauffeur umkehren zu lassen.

Aber jetzt waren sie am Ziel, das Gefährt hielt vor einem kleinen Häuschen, das mitten zwischen Feldern lag. Über den hohen Gartenzaun ragten ein paar alte Obstbäume empor, und neben dem Hause stand eine jener mächtigen hundertjährigen Ulmen, die man hier und da in der Umgegend von Paris antrifft.

Und nun hörte man eine laute Kinderstimme: »Mutter, ein Wagen mit Leuten!« Dann ein eifriges Getrappel auf die Gartentür zu, und ein kleiner Kerl erschien mit wirrem Haar und dunklen Augen, die denen Martinens sprechend ähnlich waren, und ein lauter Freudenschrei:

»O Mimine! Mimine!«

Die kleinen Finger arbeiteten ungeduldig an dem Türschloß herum, bis es endlich aufging, und dann stürzte das Kind auf Martine zu, umschlang sie, überschüttete sie mit Liebkosungen und rief immer wieder:

»Mimine ist da! Mimine ist da!«

Um Arlette kümmerte er sich absolut nicht, als echtes Vorstadtkind, dem schöne Damen im Automobil kein ungewohnter Anblick sind.

»Komm, Pierre, Liebling, ich bitte dich, sei ruhig. Sag der Frau Fürstin guten Tag.«

Der Kleine, der noch auf dem Wagentritt stand, stutzte und betrachtete mit seinen großen klugen Augen die Dame, von der seine Mutter ihm schon so oft erzählt hatte.

Auf der Schwelle des Hauses war inzwischen eine alte Frau erschienen, die, mit dem Kochlöffel in der Hand, nach den Angekommenen ausspähte. Dann lief sie rasch in das Haus zurück, kam jetzt mit einer rasch umgebundenen weißen Schürze wieder zum Vorschein und näherte sich dem Wagen mit vielen Verbeugungen und liebenswürdigem Lächeln:

»Guten Tag, Frau Fürstin,« sagte Pierre jetzt ernsthaft.

»Guten Tag, mein kleiner Freund,« antwortete sie lächelnd und wandte sich dann an Martine:

»Komm, laß uns aussteigen, ich bin etwas angegriffen.«

Martine sprang aus dem Wagen und half ihr dann aussteigen. Arlettens Mißstimmung war rasch wieder verflogen; all das Neue, was sie hier sah, machte ihr Spaß, wie überhaupt dieser ganze heimliche Ausflug – es war doch endlich einmal etwas, das nicht Mode und ihre »Bande« arrangiert hatten. So trat sie in den Hof des kleinen Hauses, wo unter der riesigen Ulme schon die Schatten des Abends lagen.

Dieser Abend – sie kehrten erst gegen elf Uhr nach Paris zurück – mit allen seinen ungewohnten Eindrücken prägte sich Arlettens Gedächtnis unauslöschlich ein; noch oft in späteren Zeiten mußte sie daran zurückdenken. Und doch hatte der Ort, wo sie sich befand, nicht viel Besonderes oder Merkwürdiges. In dem alten Bauernhause gab es nur zwei Zimmer und noch einen Raum, der zur Aufbewahrung von allerhand Geräten diente. Das eine war Küche und Eßstube zugleich, in dem andren standen zwei Betten, wo die Alte und Pierre schliefen.

Die Alte führte Arlette hinein und erging sich in Entschuldigungen. »Salon gibt es leider keinen bei uns, sehr schön ist es hier nicht, und Hoheit sind es gewiß ganz anders gewöhnt, wir sind nur einfache Bauersleute –« Sie machte Arlette damit schließlich ganz nervös, so daß Martine sie in die Küche schickte, um den Tee zu bereiten.

Die Fürstin blieb mit Martine und dem Kleinen in dem geräumigen Zimmer, das ganz von Abendsonne erfüllt war. Pierre liebkoste seine Mutter, immer wieder preßte er seinen kleinen Mund auf ihre Arme und Hände.

Arlette sah ihm zu. Vor dem natürlichen Reiz des Kindes schmolzen alle die feindseligen Empfindungen von vorhin. Pierre war für seine sechs Jahre sehr groß und außerordentlich schlank und zart, er hatte ganz Martinens zierlichen Wuchs und ihre feingeformten Hände und Füße. Seine Züge waren regelmäßiger wie die ihren und feingeschnitten, der Teint brünett und die welligen Haare braunblond. Er war sorgfältig gekleidet in einen dunklen Matrosenanzug mit großem Kragen.

Martine hatte den Arm um seinen Hals gelegt, schaute ihn an und plauderte mit ihm. Das Kind antwortete offen und unbefangen, erzählte seine kleinen Erlebnisse in der Schule, die er seit kurzem besuchte. Arlette schwieg und beobachtete Martine, sie schien ihr hier eine andre, nicht die sanfte, gefügige Dienerin, sondern eine freie Persönlichkeit unter eigner Verantwortung. Und sie fühlte sich etwas bedrückt, nicht etwa dadurch, daß diese Leute einer niedren Gesellschaftsschicht angehörten, sondern weil ihr schien, daß sie in einer reineren und gesunderen Luft lebten, wie sie selbst. Während sie so Mutter und Kind betrachtete und nebenan die Alte mit ihren Tassen klappern hörte, dachte sie immer wieder:

»Und ich – und ich.«

Ihr eignes Leben kam ihr vor, wie etwas, das man lieber verbergen sollte. Nein, sie hätte Martine nicht in alles einweihen sollen. Mein Gott, was für ein Leben und ebenso das der andern: Christian, Madeleine, Madame d'Ars, Apistral! Galvanisierte Marionetten alle miteinander! Sie wollte lieber nicht mehr daran denken und zog das Kind zu sich heran.

»Wie ist er reizend!« sagte sie.

»Finden Hoheit wirklich?«

Sie war ganz glücklich und ließ den Kleinen bei Arlette, während sie hinausging, um nach dem Tee zu sehen. Die Fürstin blieb mit dem Kinde allein, und wieder überkam sie jenes quälende Gefühl, daß sie eigentlich nicht würdig sei, die Rolle der Mutter selbst auf diese kurze Zeit zu vertreten, und daß Martine ihr eine Art Gnade erwies, wenn sie ihr dieses reine Wesen anvertraute.

Das Kind blickte sie eine Zeitlang an und sagte:

»Nicht wahr, du bist Mamas Herrschaft?«

Arlette errötete und war froh, daß Martine diese Frage nicht hörte.

»Deine Mama arbeitet bei mir, und ich habe sie sehr lieb, mein Kind.«

»So, dann mußt du sie recht oft herkommen lassen. Du kannst auch mitkommen, wenn du willst,« sagte das Kind ernsthaft, wie man jemanden eine Gunst gewährt.

»Ja, du hast recht, wir werden recht oft zusammen herkommen.«

Liebevoll und mit leisem Neid betrachtete sie das hübsche Gesichtchen, die klaren, ausdrucksvollen Augen und den schwellenden, kleinen Mund.

»Wie ist Martine glücklich, das alles ihr Eigen zu nennen – und wie das Kind sie liebt. Ich habe niemanden, der mich liebt.«

Und sie versenkte ihre Lippen in das weiche, feine Haar.

»Du mußt mich auch etwas lieb haben,« sagte sie dann fast bittend.

»Ja, ich glaube, ich werde dich lieb haben,« antwortete Pierre, »du bist sehr hübsch, aber du siehst so traurig aus. Mimine ist viel vergnügter.«

Jetzt trat Martine wieder ein mit der Alten, die ein Tablett mit Tassen brachte, und sie tranken zusammen Tee. Martine servierte ihn, aber nicht wie eine Dienerin, sondern als Herrin des Hauses, die Besuch empfängt, und Pierre half ihr. Er war jetzt schon ganz vertraut mit Arlette und zählte ihr alle seine Spielsachen und Bücher auf.

»Komm, Liebling, laß die Frau Fürstin etwas in Ruhe,« sagte Martine, »du quälst sie.«

»Nein, das tu ich doch nicht, Frau Fürstin?« fragte das Kind.

»Aber sicher nicht, kleiner Schatz.«

»Dann komm jetzt, die große Ulme ansehen.«

Und sie mußten ihm zu Gefallen dem ehrwürdigen Riesenbaum einen Besuch abstatten. »So einen schönen Baum hast du doch zu Hause gewiß nicht?« fragte Pierre.

»Nein, freilich nicht,« sagte Arlette lachend.

»Ich möchte niemals in einem Hause wohnen, wo kein solcher Baum wäre,« meinte Pierre.

Beide hörten belustigt seinem muntren Geschwätz zu. Arlettens Schönheit und Eleganz zog ihn immer mehr an, und er begann unbefangen mit ihr zu spielen. Ihr taten diese kindlichen Liebkosungen wohl und erfüllten sie gleichzeitig mit schmerzlicher Rührung.

Dann hörte man die Uhr von einem benachbarten Meierhof langsam sechs schlagen.

»Sechs Uhr,« sagte Pierre, »jetzt hört da auf dem Hof die Arbeit auf, und die Leute gehen zum Essen. Aber wir essen erst um sieben Uhr,« fügte er hinzu und spielte mit Arlettens langer Uhrkette.

»Wir müssen nach Paris zurück,« sagte Arlette.

»Soll ich dem Chauffeur sagen, daß wir fahren wollen?« fragte Martine.

Arlette nickte bejahend. O, wie sie dieses Paris haßte und das gewohnte Leben, zu dem sie jetzt zurückkehren mußte!

Schweigend entfernte sie sich ein wenig, um Martine von dem Kleinen Abschied nehmen zu lassen. Pierre war ganz traurig geworden und hatte Tränen in den Augen. Als sie eingestiegen waren, kam er und bot Arlette die Stirn zum Kuß. »Adieu, Frau Fürstin.«

»Adieu, mein Liebling,« sagte sie und küßte ihn.

Dann fuhren sie ab.

Es war eine stille Mondnacht, nur einzelne weiße Wölkchen zogen über den Himmel dahin, und die beiden jungen Frauen saßen schweigend da, in den Anblick des nächtlichen Himmels versunken. Arlette wurde immer melancholischer, zum erstenmal in ihrem Leben gestand sie sich rückhaltslos ein, daß sie sich vor sich selber schämte. Voller Neid blickte sie auf Martine, die so klar und mutig ihren Weg gesucht und gefunden hatte. – »Wie muß sie mich im Grunde verachten, uns alle, denn die andern in meiner Umgebung sind um nichts besser wie ich, außer Jérôme und den kleinen d'Avigres.«

In ihrem Kreise, in Made's Bande, pflegte man lächelnd und in scherzendem Ton alle möglichen Geschichten zu erzählen, die mehr oder minder das Verbrechen streiften; hier hatte eine Frau ihren Mann beiseite zu schaffen gewußt – dort hegte ein Bruder unerlaubte Gefühle für seine Schwester – jener Haushalt bestand auf Kosten eines Onkels, den man in flagranti erwischt hatte. Und bei der Bande gehörte es zum guten Ton, sich über nichts zu entrüsten. Hatte sie selbst, Arlette, nicht auch eine Zeitlang daran gedacht, sich durch ein Verbrechen ihrer schwierigen Lage zu entreißen.

»Martine,« sagte sie plötzlich.

»Hoheit.«

»Ich habe mich heute nachmittag sehr glücklich gefühlt. Dein kleiner Pierre ist entzückend. Ah, du hast das Rechte gefunden – wenn man solch einen kleinen Tröster hat, kann man sich mit dem Schicksal abfinden.«

»Ja,« erwiderte Martine, »Hoheit werden bald selbst fühlen, wie schön es ist – diese kleinen Wesen erfüllen unser Leben ja schon, ehe sie zur Welt kommen. Und wenn sie erst geboren sind, ist alles wie umgewandelt.«

Der Wagen rollte jetzt durch das Bois de Boulogne, man begegnete nur noch einzelnen Fiakern oder Automobils.

»Ach, Martine,« sagte die Fürstin leise – »ich will ja mit Freuden Mutter werden. Aber es hängt ja nicht allein von mir ab. Wenn der Fürst es erfährt. O, ich habe solche Angst.«

Und wie hilfesuchend, wie ein Kind schmiegte sie sich an Martine, die vergebens nach einem tröstenden Wort suchte.

»Vielleicht, wenn Hoheit zu Ihrer Mutter gingen. Eine Mutter muß alles begreifen.«

Arlette schüttelte den Kopf.

»Nein, meine Mutter ist nicht wie andre. Sie würde nichts mehr von mir wissen wollen und eher noch mit dem Fürsten gemeinsame Sache gegen mich machen. Der Fürst ist mein Mann und kann mich zwingen, in seinem Hause zu leben. Oder sie würden zusammen irgend etwas Schreckliches aushecken, um den Skandal zu vermeiden. Wenn sie mich nicht umbringen, so stecken sie mich vielleicht in eine Irrenanstalt. Mein Gott, ich fürchte mich so.«

»Hoheit sollten einmal mit Monsieur de Péfaut reden,« meinte Martine.

»Mit Jérôme? wie kommst du darauf?«

»Er ist so gut, und ich glaube, er ist Hoheit viel mehr zugetan, wie Sie wissen. Ich bin ein einfaches Mädchen und weiß keinen Rat, aber der Herr Graf ist ein gescheiter Mann, der die Welt kennt und Einfluß genug hat, um jemanden, den er lieb hat, zu schützen.«

»Ja,« sagte Arlette, »aber Jérôme wird vielleicht denken – –«

»Ja, was würde er wohl denken – und was änderte das an der Sache. Es gibt Stunden der Verzweiflung, wo alles besser ist wie untätiges Abwarten.«

»Martine, laß uns gleich zu ihm gehen,« sagte sie plötzlich.

»Um diese Zeit?«

»Es ist noch nicht sieben und er ist sicher zu Hause.«

»Hoheit haben recht. Wir wollen gleich hin und dann werden Hoheit wenigstens eine ruhigere Nacht haben.«

Martine beugte sich vor und sagte dem Chauffeur die Adresse des Grafen, Rue de l'Université 146.

»Ich werde mehr Mut haben, wenn du mich begleitest,« sagte Arlette.

»Hoheit brauchen gar nicht besonders viel Mut. Der Herr Graf wird sich nur freuen, wenn Sie zu ihm kommen und er Ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt, daß er Ihr bester Freund ist, das ist nicht schwer zu sehen.«

»Sollte er mich wirklich so gerne haben?« dachte Arlette.

Es war ihr immer ein wenig so vorgekommen, als ob er zu der älteren Generation gehörte und sie hätte nie gedacht, daß er etwas andres in ihr sehen könnte, wie eine etwas leichtsinnige Kameradin, mit der man sich amüsierte.

Wieder schwiegen beide, während das Gefährt die Avenue du Bois entlang rollte und sich den Champs Elysées zuwandte.


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