Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil

1

Bis zum Jahr 1897 gab es zwei Familien, eine deutsche und eine französische, welche den Titel »Fürsten von Ermingen« für sich in Anspruch nahmen, nur mit dem Unterschied, daß zu Ende des 18. Jahrhunderts eine dieser beiden Familien erst durch kirchliche, dann auch durch zivilrechtliche Akte den Namen französisieren ließ und Erminge statt Ermingen daraus machte.

Ermingen ist ein Marktflecken im westlichen Odenwald, einige Kilometer von Darmstadt entfernt. Die 600 Einwohner haben ihre ärmlichen, aber sauberen Häuschen in ein grünes Tal hineingebaut, das durch einen reißenden Bach, den Kaubach, zwischen den Hügeln gebildet wird. Auf dem höchsten dieser Hügel erblickt der Tourist die Ruinen eines Feudalschlosses, und er wird ohne besonderes Erstaunen in den Chroniken lesen, daß dieses Schloß wie viele andre in den Rheinlanden während des 30jährigen Krieges von den Franzosen zerstört wurde. Aber trotzdem stand das Oberhaupt des Fürstentums – welches aus einigen Wald- und Weidestrecken um das Dorf herum bestand –, Otto von Ermingen, genannt der Einäugige, während der vierten Periode dieses entsetzlichen Krieges in französischen Diensten. Unter dem Oberbefehl Rantzaus wurde das Dorf durch eine jener abenteuernden Räuberbanden niedergebrannt, welche dem Baron von Durlach folgten und je nachdem Freund oder Feind zugrunde richteten, wie es gerade das Bedürfnis des Augenblicks oder die Zufälle des Krieges mit sich brachten. Nach dem westfälischen Vertrag empfand Fürst Otto kein Verlangen, seinen zerstörten Wohnsitz, sein niedergebranntes Dorf, dessen Einwohner entflohen waren, und die verwüsteten Wälder und Felder wiederzusehen. So folgte er seinem Befehlshaber nach Frankreich und blieb im Dienst des Königs. Dieser machte ihn zum Comte de Calm, steuerte ihn reichlich aus und verheiratete ihn mit Mademoiselle Juliette des Taschouères, die ihm das gleichnamige, zwischen Orleans und Blois gelegene Gut zubrachte. Er nannte sich von da an Comte de Calm, als Devise wählte er sich eine Sonne über friedlichem Meer, aber der Name und Titel seines deutschen Fürstentums figurierte weiter bei allen öffentlichen Akten, während der Schwan von Ermingen sein neues Wappen zierte.

Sein jüngerer Bruder, Rupert, erhob inzwischen in Deutschland Ansprüche auf die Rechte des Erstgeborenen. Mit der Einwilligung des Landgrafen von Hessen erbaute er sich ein neues Schloß, nicht weit von den Ruinen des zerstörten Fleckens, und siedelte dort die Bauern an, die sich um den neuen Herrscher sammelten. Seltsamerweise verloren diese beiden Brüder und späterhin ihre Familien sich nicht aus dem Auge, sie wechselten Briefe und besuchten sich gegenseitig. Dieses gute Einvernehmen, das trotz zwei und einem halben Jahrhundert der Kämpfe und Revolutionen bestehen blieb, wurde sogar durch verschiedene Heiraten besiegelt.

Bei Denain fiel ein Ermingen durch eine französische Kugel, die Armee des Prinzen von Soubise zählte einen Comte de Calm und Prince d'Erminge unter den Kompagniechefs, die sich in Port-Mahon ausschifften. Bei Koblenz unter Condé kämpfte ein Fürst von Ermingen Seite an Seite mit einem Prince d'Erminge. Selbst denen unter ihren Waffengenossen, die nichts von Physiognomie verstanden, fiel die Ähnlichkeit der beiden Vettern auf: dieselben breiten Schultern, derselbe eckige Gesichtsschnitt und die rauhen Züge, die hellblauen Augen und das gleiche blonde Haar. Alle die verschiedenen Kreuzungen mit fremdem Blut hatten bei keinem von ihnen den ursprünglichen germanischen Typus verwischt. Im Kriege von 1870, der die gesamte wehrbare Bevölkerung der beiden Länder zu den Waffen rief, standen sich ein Calm und ein Ermingen feindlich gegenüber – fast ein Bruderkampf, denn erst vor wenigen Jahren hatten der deutsche und der französische Zweig der Familie sich noch einmal näher miteinander verbunden. Charlotte Wilhelmine von Ermingen, eine Tochter des hessischen Fürsten, hatte den Grafen François de Calm geheiratet. Aber dieser starb schon 1868 an einer Magenerkrankung – sein Sohn Christian war gerade fünf Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Charlotte Wilhelminens Vater machte unter Friedrich Karl den französischen Feldzug mit, wurde bei Metz schwer verwundet, lebte als Krüppel noch zehn Jahre nach dem Frieden und setzte bei seinem Tode seine Tochter, die Gräfin von Calm, zur Universalerbin ein unter der Bedingung, daß Christian den Titel Fürst von Ermingen führen sollte. Sie war ganz Deutsche geblieben, hielt strenge auf die Traditionen des Hauses Ermingen und ging ohne Schwierigkeiten auf diese Bedingung ein. So kam es, daß Christian, dazumal Schüler der fünften Klasse, in seinem zwölften Jahr den Namen wechselte, während seine Mutter, die Comtesse de Calm, wieder zur Fürstin Charlotte Wilhelmine von Ermingen wurde.

Christian von Ermingen verlebte eine stürmische Jugend. Seine Mutter vermochte den wilden, sinnlichen Burschen nicht zu bändigen und gab ihn in ein Internat, wo er wegen seines Jähzorns unter den Kameraden förmlich gefürchtet war. Bei Nacht sprang er aus der ersten Etage auf die Straße hinunter, um mit zweifelhaften Mädchen zusammenzutreffen. Dabei war er von einer Tapferkeit, über die selbst die kühnsten seiner Kameraden erschraken; Gefahren oder Sinnenlust waren das einzige, was ihn überhaupt anzog. In der Reitbahn behielt er sich stets das schwierigste Pferd vor, bei den Bergtouren, die er während der Ferien unternahm, sagten die Führer ihm schließlich den Dienst auf, weil er sie immer überanstrengte und jeden Augenblick ihr Leben wie das seine aufs Spiel setzte. In den oberen Klassen zwang er einen seiner Mitschüler, sich heimlich mit ihm im Fechtsaal des Lyzeums zu duellieren. Er wurde dabei am Arm verwundet und mußte einen Monat das Bett hüten, verbarg aber stoisch die wahre Ursache seiner Wunde. Ebenso wie sein Mut kannte auch seine Verschwendungssucht keine Grenzen. Die Fürstin Charlotte Wilhelmine mußte etwa viermal hohe Spielschulden für ihn bezahlen und bei einer andern Gelegenheit durch eine bedeutende Summe das Stillschweigen eines Vaters erkaufen, dessen Tochter angeblich entehrt worden war. Und sie war entsetzt und außer sich darüber, daß er so aus sein Erbteil loswirtschaftete. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war das Vermögen der Calms, wie das der Ermingen ziemlich zurückgegangen, der Landbesitz war nicht viel wert, und im übrigen waren beim Tode des letzten Comte de Calm etwa 1 100 000 Francs vorhanden, welche die Fürstin durch ihre Sparsamkeit auf 1 800 000 erhöht hatte, solange Christian noch minderjährig war. Das Gut der Familie des Taschouères war zwar seit der Schenkung Louis XIV. den Ermingens verblieben, aber es bestand fast nur aus Jagd, deren Instandhaltung ungefähr 20 000 Francs im Jahr kostete. Charlotte Wilhelmine lebte sehr zurückgezogen und zitterte vor dem Augenblick, wo ihr Sohn mündig sein würde.

Auf den letzten Skandal hin verlangte sie von Christian, daß er in die Armee einträte, und er gehorchte ohne vielen Widerspruch, den Willen seiner Mutter achtete er wie ein folgsames Kind, und außerdem reizte ihn der Gedanke an das rauhe Soldatenleben. Die Fürstin hatte dadurch einen Aufschub von fünf Jahren erreicht und benutzte diese Zeit, um weiter zu sparen, sie lebte beinah ärmlich in einem düstren Entresol der Rue Barbet de Jony, wo sie außer den Freunden ihres verstorbenen Gatten kaum jemand empfing.

Christian machte währenddem den Feldzug nach Tonkin mit, wo er sich durch brutalen Heldenmut auszeichnete und die Verdienstmedaille bekam. Kurz darauf gelang es ihm nur mit Mühe dem Kriegsgericht und der Strafkompagnie zu entkommen.

Er kehrte, nunmehr großjährig, nach Paris zurück, und seine Leidenschaften entfesselten sich jetzt nach der langen Enthaltsamkeit um so stärker. Charlotte Wilhelmine lebte wieder in beständiger Angst, der ungestüme, zügellose Junge möchte binnen kurzem alles über den Haufen werfen, was sie in langen, mühevollen Jahren für den Glanz und die irdischen Güter des Hauses Ermingen getan hatte. Trotz ihrer streng moralischen Grundsätze empfand sie eine gewisse Erleichterung, als sie durch ihre alten Freunde und Klubkameraden Christians von einer Liaison ihres Sohnes mit der Komtesse de Guivre hörte. Mochte Madeleine de Buzet-Raincy, die mit 30 Jahren Witwe des Comte de Guivre geworden war, immerhin im Rufe einer galanten Weltdame stehen – sie war wenigstens ihre eigne Herrin, ziemlich vermögend und von guter Familie und würde Christian gerade vor dem behüten, was ihm am gefährlichsten war: vor minderwertigen Abenteuern und vor dem Spiel.

Tatsächlich schien seine etwas regellose Existenz geordneter zu werden, seine Sitten verfeinerten sich unter der Leitung der erfahrenen Pariserin. Madame de Guivre dachte sicherlich nicht daran, einen geistig ebenbürtigen Gefährten in ihm zu finden, aber sie wußte wenigstens seine überschüssige Kraft aus den Sport und die Vergnügungen der vornehmen Welt hinzulenken. Und die Fürstin Charlotte Wilhelmine atmete auf – die Gesellschaft wußte bald Bescheid und betrachtete das verliebte Paar mit der üblichen Neugier, halb amüsiert und halb gehässig. Übrigens befleißigten die beiden sich einer streng korrekten Haltung, beschränkten sich nach außen hin auf jenes Spiel der arrangierten Begegnungen und öffentlichen Rendezvous, das die leichten Sitten der Großstadt gerne dulden und begünstigen. Die Gesellschaft stand Madeleine de Guivre offen, sowohl wegen ihrer Herkunft und ihrer Schönheit als ihrer guten Beziehungen halber; und andrerseits war sie viel zu stolz an Türen zu klopfen, die ihr vielleicht verschlossen geblieben wären. Diese Türen waren auch nicht sehr zahlreich, und was konnten die Salons, die sie beschützten, einer Buzet-Raincy zu bieten haben, die durch ihren Vater in enger Beziehung zu den Familien Gaumont und Langeois stand, sowie zu dem Marquis de Lestang, einem der Löwen des zweiten Kaiserreichs? – So litt es die Gesellschaft ruhig, daß diese unabhängige Frau, die in ihrem Äußeren viel Ähnlichkeit mit Margarethe von Valois hatte, den Abkömmling des Hauses Ermingen zum Liebhaber wählte – den schönen Fürsten mit dem mächtigen rötlichen Barte, der so gut zu seiner hohen, geschmeidigen Gestalt paßte. Und obgleich sie vier Jahre älter war wie er, prophezeite man, sie würde eines Tages Fürstin von Ermingen sein.

Aber es vergingen Tage, Monate – zwei Jahre und Madeleine war noch immer nicht Fürstin geworden, obgleich das Verhältnis fort bestand. Die Welt, die für alles immer eine Erklärung bei der Hand hat, behauptete, die Fürstin Charlotte wolle nichts von einer Heirat ihres Sohnes mit dieser Frau wissen.

Tatsächlich begann die Fürstin allmählich zu finden, daß diese Liaison mit ihrem leichten Anstrich von Protektion zu lange dauerte und hoffte, ihr Sohn würde sich durch eine Heirat davon befreien. Sie dachte nicht daran, daß Christian ihrem mütterlichen Einfluß inzwischen doch vielleicht entwachsen sein möchte, und wußte nicht, daß Madeleine de Guivre durchaus nicht die Absicht hatte, ihn zu heiraten.

Von dem geheimen Drama, das sich zwischen den beiden abspielte, ahnte niemand etwas. Es bestand darin, daß ihre Sinnlichkeit sie unauflöslich aneinander kettete, zwei Jahre waren verflossen und ihr Verlangen immer noch dasselbe geblieben, und doch gab es Momente, wo einer in den Augen des andern eine Art Haß aufflammen sah.

Madeleine de Guivre besaß jene starke Erotik, die bei Frauen der modernen Gesellschaft sehr selten ist. Denn meistens spielen bei ihnen die Nerven eine größere Rolle wie die Sinne. Ihre Mutter war früh gestorben, ihr Vater, der Marquis de Buzet-Raincy, ging in erster Linie seinen eignen Vergnügungen nach. So verlebte sie ihre Jugend fast wie ein junger Mann, um dessen Erziehung man sich nicht bekümmert. Zum Glück verheiratete sie sich sehr jung und nach ihrem eignen Geschmack. Während ihrer neunjährigen Ehe gab sie ihrem Mann an Zärtlichkeit und Treue weit mehr, als sie von ihm empfing. Er war wohl verliebt in sie, aber ein großer Lebemann und starb schließlich an einer Art Auszehrung, die Stoff zu allerlei Gerede gab. Madeleine genoß ihre Freiheit mit Maß und Besonnenheit, sie rangierte von nun an unter jene Frauen, welche die allererste Gesellschaft nicht anerkennt, obgleich sie ihr eigentlich angehören, die aber in den unmittelbar folgenden Kreisen, wo viele Künstler und reiche Leute verkehren, eine hervorragende Rolle spielen.

Als sie Ermingen kennen lernte, war sie eben dreißig Jahre alt. Er war ein schöner Mann und wußte noch nichts von den Intriguen der vornehmen Welt. Und für sie, die das alles schon müde war, hatte seine Unerfahrenheit ebensoviel Reiz wie seine Schönheit. Es lockte sie, diese Naturkraft zu zähmen und zu glätten. Und sie wußte ihn vollständig zu erobern, sie brachte es fertig, aus dem brutalen Wildling, den weder Schule noch Militär zu bändigen vermochte, einen vollkommenen Weltmann zu machen. Er bekam sogar eine gewisse Leichtigkeit und Blasiertheit, die ihm ganz gut stand.

Aber man ändert sein innerstes Wesen ebensowenig wie die Farbe seiner Augen. Christian ließ sich wohl an die Kette legen, aber er war wie jene halbwilden Hunde, die ihren Herren äußerlich völlig ergeben sind, aber trotzdem imstande, ihn plötzlich anzufallen und in Stücke zu reißen, wenn er irgend ein andres Tier streichelt. – Er wollte Madeleine ganz für sich allein und auf immer. Und instinktiv mißtraute er ihr, ahnte in ihr eine perverse List und Verstellungskunst, die über seinen Scharfblick hinausging. Und dieses Gefühl seiner Inferiorität brachte ihn zur Verzweiflung, in den Stunden der Eifersucht reizte das Bewußtsein seiner Ohnmacht ihn beinahe dazu, seine Kraft zu mißbrauchen oder wenigstens damit zu drohen. Er wußte, daß er sie nie überraschen und daß sie sich höchstens über seinen Argwohn lustig machen würde, und so ließ er es aus Angst vor einem Bruch bei Drohungen bewenden. Dabei wußte er sich so wenig zu verstellen, daß Madeleine nicht daran zweifelte, er wäre imstande, sie gelegentlich zu erschlagen. So lag der eine beständig auf der Lauer, der andre wurde ungeduldig und fürchtete sich, und es entstand allmählich eine Art dumpfer Feindschaft zwischen ihnen, die an Haß grenzte. Und doch trieb das Verlangen sie einander immer wieder in die Arme.

So hatten ihre Beziehungen schon an vier Jahre gedauert, als Madeleine endlich eine Möglichkeit zur Befreiung zu entdecken glaubte. Die alte Fürstin quälte ihren Sohn immer mehr mit Vorwürfen über sein ungeregeltes Leben, ermahnte ihn, zu heiraten und drohte ihm, alle Hilfsquellen abzuschneiden, wenn er ihr nicht gehorchte. Und obgleich noch völlig in den Banden Madeleines, hatte der Fürst seiner Mutter gegenüber doch immer eine gewisse Gefügigkeit bewahrt, er besuchte sie getreulich jeden Tag um zwei Uhr und ließ ihre Vorwürfe wie ein Schuljunge über sich ergehen.

Madeleine war nun Diplomatin genug, um auch ohne persönliches Erscheinen der alten Dame eine Idee zu suggerieren – sie benutzte dazu einige geistliche Herren, die sich ahnungslos zu ihren Helfershelfern gebrauchen ließen. Es handelte sich um eine entfernte Cousine von ihr, Tochter eines gewissen Monsieurs de Cudère, der in Bordeaux einem blühenden und mächtigen Finanzunternehmen mit legitimistischer Tendenz, der Süd-West-Bank vorstand. Eben dieser Cudère wünschte nichts dringender wie die Verbindung mit einem fürstlichen Hause und sicherte seiner Tochter eine Mitgift von 300 000 Franks Rente zu! Der Adel der Familie war nicht gerade weit her, aber Monsieur de Cudère war ein hochangesehener und einflußreicher Mann und hatte der monarchistischen Partei bedeutende Dienste geleistet. Der alten Fürstin eilte es immer mehr, ihren Sohn im sicheren Hafen zu sehen, und Christian gab schließlich nach, als Madeleine ihm klar machte, diese Heirat sei notwendig für ihn und ihm versprach, sich nicht von ihm zu trennen.

Die einzige, die man noch nicht um ihre Meinung gefragt hatte und die nichts von alledem ahnte, war Marthe-Marguerite-Arlette de Cudère. Sie zählte neunzehn Jahre, war von seltener Schönheit und Herzensreinheit. Ihre Mutter, eine geborene de Bordeneuve, eine neurasthenische, unruhige Frau, lebte fast nie in Bordeaux, weil es ihr dort nicht gefiel und sie sich mit ihrem Manne schlecht vertrug. Man konnte ihr nicht gerade etwas nachsagen, aber sie machte sich durch eine krankhafte Koketterie lächerlich, lechzte beständig nach Huldigungen und war außer sich in dem Gedanken an das herannahende Alter. Auf ihren vielen Reisen schleppte sie immer die Tochter mit sich, putzte sie auf wie eine Puppe und überließ ihre Erziehung ausländischen Gouvernanten, die ebenso rasch wechselten wie Madame de Cudères Launen. So war Arlette während ihrer Kindheit und ersten Jugend eine jener Zierpuppen, wie man sie in Biarritz, Ostende, Rom und Kairo genugsam zu sehen bekommt, und die weit über ihr Alter hinaus in kurzen Kleidern herumlaufen. Ihre kindlichen Züge kamen ihr dabei zu Hilfe, so daß man sie mit siebzehn Jahren ruhig noch für vierzehn ansehen konnte. Sie war durchaus nicht unintelligent, aber ziemlich träge, á la diable unterrichtet und nahm das Leben, wie man es ihr bot, ohne besondere Freude und ohne Widerwillen. Jedes Jahr wurde sie auf vierzehn Tage nach Paris zu ihrer Tante, Madame de Péfaut, einer älteren Schwester ihres Vaters, geschickt. Diese hatte am Boulevard de la Tour Maubourg eine große Wohnung und lebte zusammen mit ihrem Sohn Jérôme, der etwa dreißig Jahre alt war, Medizin studiert hatte, aber keine Praxis ausübte, sondern auf eigne Hand wissenschaftliche Versuche machte. Wahrscheinlich um des Gegensatzes halber hatte das strenge, arbeitsame Leben der beiden für das junge Mädchen einen großen Reiz, ihr Vetter Jérôme verzog sie in seiner klugen, aufmerksamen Art, die sie angenehmer berührte wie die flüchtigen Liebkosungen und die oberflächliche Freigiebigkeit ihrer Mutter. Aber bald mußte sie ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen, das fortwährende Herumreisen und die Nervenanfälle ihrer Mutter. So ging es fort, bis Arlette ihr achtzehntes Jahr erreicht hatte. Um diese Zeit wollten Madame de Cudères sorgfältig gefärbte Locken und die unentrinnbaren Falten zu beiden Seiten ihres Mundes sich nicht mehr mit der blonden Haarfülle und der göttlichen Jugend Arlettens vertragen. Ihre Mutter begann die Ironie der Gewohnheit zu empfinden, wenn es hieß: man möchte Sie für Schwestern halten. So fand Madeleine de Guivre eine eifrige Verbündete in ihr. Und was die Braut selbst betraf, diesem jungen Dinge von achtzehn Jahren, dessen Seele noch kindlicher war wie ihr Gesicht, machte es vor allem Spaß, eine Fürstin zu werden, wie die Heldinnen der Märchen. Denn sie war wirklich jungfräulich geblieben, trotz der bunten kosmopolitischen Gesellschaft, in der ihre Mutter sie seit frühester Kindheit herumschleppte, und trotz dem gänzlichen Mangel an moralischer Leitung. Perverse pflegen von solchen jungen Mädchen zu sagen: es ist besser, ihr nichts zu erzählen, sie würde uns durch ihre Naivetät blamieren. Arlette las noch einen Monat vor ihrer Hochzeit kindliche Bücher und führte ihre Lieblingspuppen durch ganz Europa spazieren. Und alledem hatte sie es zu verdanken, daß sie Fürstin von Ermingen wurde. Madeleine de Guivre hatte Mutter und Tochter während der vorjährigen Saison in Pau kennen gelernt – sie wußte wohl, daß eine Arlette, mochte sie noch so jung und schön sein, ihren eignen Einfluß auf Christian nie erschüttern würde. Einer jener psychologischen Widersprüche, von denen das Seelenleben der Frau erfüllt ist – Madeleine wollte sich von Christian freimachen, aber er sollte sich nicht von ihr loslösen. Ihr klarer Verstand sagte ihr: »mache dich los von ihm« – und gleichzeitig flüsterte der erotische Instinkt ihr zu: »ja, ja, mach dich nur frei, aber so, daß du ihn jeden Tag zurückrufen kannst.« –

Christian, der weniger über sein eignes Innenleben nachdachte, wußte sehr wohl, was er tat und wollte. Er heiratete, um seine Mutter zufriedenzustellen und um aus der drückendsten Geldverlegenheit herauszukommen, aber gleichzeitig war er fest entschlossen, daß seine Beziehungen zu Madame de Guivre dadurch nicht gelockert werden dürften. Diese Heirat bedeutete also im höchsten Maße ein Verbrechen gegen den eigentlichen Sinn der Ehre. Die unschuldige und unerfahrene Arlette wurde wie ein willenloses Opfer diesem Manne in die Arme geworfen, der sie nicht liebte, nicht einmal lieben wollte und noch dazu von Natur aus brutal war.

Sie waren übereingekommen, daß Madeleine sich für den Winter in San Remo niederlassen sollte. Zehn Tage nach der Hochzeit kam Christian mit seiner jungen Frau ebenfalls dorthin. – Trotz aller Eifersucht hatte Madeleine noch keinen Gebrauch von ihrer Freiheit gemacht, sie zitterte vor Sehnsucht, den Fürsten wiederzusehen und stand völlig unter dem Banne jener Kraft, die stärker redet wie alle Vernunft – das unvermeidliche Ende jedes halben Bruches zwischen Liebenden.

Die junge Fürstin witterte keine Gefahr in diesem Zusammentreffen mit Madame de Guivre, die sie schon ein wenig kannte und der sie das Zustandekommen ihrer Heirat zum Teil zu danken hatte. Außerdem zog Madeleine sie durch ihre Eleganz und Liebenswürdigkeit an und kam ihr sehr freundlich entgegen. Als sie sich dann plötzlich verlassen sah – mitten in den Flitterwochen, wie eine Witwe, da begriff sie anfangs nicht, was das bedeutete, und gleichzeitig empfand sie beinahe etwas wie Erleichterung.

Sie hatte eigentlich noch nie tiefer über irgend etwas nachgedacht, so grübelte sie auch jetzt nicht weiter über die näheren Umstände ihrer Ehe. Ihre Seele blieb so kindlich und unberührt wie vorher. Es machte ihr Spaß, Fürstin genannt zu werden, von den nervösen Kaprizen ihrer Mutter befreit zu sein und in einer glänzenderen, bewegteren Umgebung zu leben. So geschah das Widersinnige, daß sie eine große Freundschaft für Madeleine faßte. Und Madeleine hatte sich vorgenommen, Arlette zu gewinnen, was ihr auch nicht schwer fiel, denn Arlettens kindliches Gemüt war leicht zu beeinflussen, sie war Madeleine dankbar, daß sie sich die Mühe nahm, sie ein wenig zu bilden und zu belehren und ihr einen gewissen Pariser Schliff beizubringen. Aber in dem Maße, wie sie in allen diesen Dingen Fortschritte machte, fing sie auch an, besser zu verstehen, die Wahrheit zu ahnen.

Sie waren jetzt alle nach Paris zurückgekehrt, wo die Saison auf ihrem Höhepunkt stand. Das Ermingensche Paar stürzte sich mit in die Flut von Vergnügungen, die in gewissen Kreisen von April bis Juli üblich sind. Die Gesellschaft von Vergnügungsjägern, denen sie sich anschlossen, wurde in vertrautem Kreise »Made's Bande« genannt. Es zählten dazu noch mehrere junge Ehepaare, so der Vicomte d'Ars und seine Frau, die wegen ihres ungeordneten Lebens bekannt waren, – Monsieur und Madame Destreux (de Saint Clair), die aus reichen Industriekreisen herstammten und bemüht waren, sich durch eifrige Sportpflege in der Gesellschaft zu behaupten, beide rechneten sich zu den hervorragendsten Golfspielern diesseits des Kanals – ferner ein dicker, lustiger Lebemann, Campardon genannt, der nicht ohne Geist war, Jacques et-pistroi, ein schöner, eleganter Maler und dementsprechender Snob, welcher Madame d'Ars die Kur machte. Und schließlich Jérôme de Péfaut, der für Arlette eine etwas besorgte Freundschaft an den Tag legte und sich manchmal von ihr zu den weniger extravaganten Zerstreuungen der »Bande« mitziehen ließ. Madeleine de Guivre befehligte diese fliegende Schwadron ohne Widerspruch, sie war es, die Partien und Diners arrangierte, Villen in Dauville oder Monte Carlo mietete, plötzlich eine Spritzfahrt nach London, Florenz oder Sevilla vorschlug, unter dem Vorwande, daß man irgend eine Bilderausstellung ansehen oder einer Feierlichkeit beiwohnen müsse – und zur gegebenen Zeit auch die Jagden organisierte. Selbst als die »Bande« im Herbst nach dem Schlosse des Taschouères übersiedelte, gab Madeleine das Kommando nicht ab, und Arlette hütete sich wohl, es ihr streitig zu machen. Ja, Arlette hatte jetzt allmählich alles begriffen, was um sie herum vorging, aber ihr Herz litt nicht darunter. Von der einzigen Woche, wo sie wirklich Christians Frau gewesen, war ihr nur die Angst geblieben, er möchte wieder zu ihr zurückkommen. Auch nach außen hin brauchte sie keine Demütigung zu empfinden, denn Christian und Madeleine hielten ihr zuliebe den Schein aufrecht. Nur hatte sie allen Glauben an Ehe und Liebe verloren und gelangte allmählich zu einem halb unbewußten Nihilismus. Denn man hatte sie nie gelehrt, die Dinge von irgend einem bestimmten Gesichtspunkt aus aufzufassen. So war sie über ihren Fall nicht weiter entsetzt oder empört; sie sah ein, daß er in dem Milieu, in welchem sie lebte, nichts Außergewöhnliches bedeutete, aber zu dieser Resignation gelangte sie nur auf Kosten ihres eignen moralischen Gefühls. Es vergingen zwei, drei Jahre in der entsetzlichen Monotonie dieser beständigen Jagd nach Zerstreuung. Ihr wurde der Hof gemacht, sie widerstand den Versuchungen ohne inneren Kampf und ohne Verdienst; ihre Seele war so abgestumpft, daß sie gar nicht imstande zu irgend einer Initiative war, weder im Guten, noch im Bösen.

»Made's Bande« hatte sich im Laufe der Zeit noch um einen jungen Mann vermehrt, der durch Madame Destreux eingeführt wurde. Er hieß Rémi de Lasserade und war der älteste von den drei Brüdern, die durch einen tragischen Unglücksfall mit dem Automobil beide Eltern verloren hatten. Ihr Großonkel, der alte Herzog de Lasserade, hatte sie bei sich aufgenommen und erzogen, Rémi hatte jetzt eben seinen Militärdienst absolviert und zeichnete sich bei seinem Debüt in der Gesellschaft durch außerordentliche Schönheit und liebenswürdige Unverschämtheit aus.

Er huldigte dem heutzutage beliebten Grundsatz, daß die Beziehungen der Geschlechter untereinander keine besondere Bedeutung haben, solange man nur im gesellschaftlichen Sinne »anständig« bleibt. Den Grad dieser Anständigkeit zu beurteilen, behielt er sich selber vor, und seine große Jugend – er zählte zweiundzwanzig Jahre – machte ihm Dinge möglich, die einen reifen Mann den Ruf gekostet hätten. Er war geistreich, kühn, bei aller Wildheit zärtlich und liebevoll und entwickelte von Anfang an eine außerordentliche und geradezu feminine Geschicklichkeit, in diesem leichtlebigen Milieu, in das er hineingeraten war, sich das zu erobern, was er wünschte. Binnen kurzem war er der »Löwe« der kleinen Gesellschaft – um ein Wort zu gebrauchen, das früher sehr Mode war und uns heute fehlt, weil der Gegenstand selten geworden ist – gefeiert, beneidet und nachgeahmt.

Es liegt in dem Schicksal gewisser Frauen, denen jede Perversität fehlt, in der Liebe beständig Opfer zu sein, ebenso wie bestimmte, rechtschaffene Männer es in Geldangelegenheiten sind. Arlette von Ermingen, an der Christian und Madeleine ein schwerwiegendes Verbrechen begangen hatten, war wie ausersehen für Rémis Neugier. Sie, deren Sinnlichkeit sich so wenig regte, die bis jetzt mühelos widerstanden hatte, ließ sich jetzt ohne weiteres in intime Beziehungen mit diesem Altersgenossen ein, der ihre tatsächliche Unschuld erriet, an die man sonst nicht recht glauben wollte und sich darüber amüsierte wie ein frühreifer Valmont über eine Cécile Volanges.

Während sie anfangs noch zögerte, suchte ihr Vetter Jérôme sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen, aber sie wies seine Ratschläge mit kindischer Gereiztheit zurück. So sagte er nichts mehr und tat, als ob er nichts bemerke. – Liebte sie denn Rémi Lasserade? Sie war wenigstens bereit, ihn zu lieben, ihr Leben für ihn hinzugeben, mit ihm zu entfliehen – wenn er nur etwas andres von ihr gewollt hatte wie ein flüchtiges Spiel. Es war wenigstens endlich einmal jemand gekommen, der ihr zärtliche Worte zuflüsterte, sie in seinen Armen hielt und sagte: Du bist mein Glück... Sie war wenigstens nicht mehr allein. Aber zum Unglück war der junge Mann dies kleine Abenteuer bald müde. Arlette war wirklich zu aufrichtig, zu sehr zur Gattin geschaffen. Als er sie glücklich gewonnen hatte, sah er ein, daß bei ihr nichts zu holen war, wie leidenschaftliche Liebe, und das war nicht, was er begehrte. Arlette war nicht zu verderben, mit dem Moment, wo man sie besaß, war auch das Spiel zu Ende...

Und nun brachen kurz aufeinander zwei schwere Schicksalsschläge über die junge Fürstin von Ermingen herein. Der erste war der Krach der Süd-Westbank, Monsieur de Cudère war ruiniert und mußte eine untergeordnete Stellung annehmen. Das Benehmen des Fürsten bei dieser Gelegenheit war durchaus korrekt, aber die Fürstin Charlotte-Wilhelmine betrachtete diesen Zusammenbruch als einen Verrat Arlettens: die beiden Frauen überwarfen sich miteinander und besuchten sich nicht mehr, obgleich sie in demselben Hause wohnten. Noch ganz mitgenommen von dieser Katastrophe, traf Arlette ein noch weit schmerzlicheres Ereignis. Der alte Herzog Lasserade zwang Rémi zu einer jener angeblichen Studienreisen, die in guten Familien manchmal über die Sühne verhängt werden, um irgendwelchen andern Dingen Einhalt zu tun. Diese Reise im Gefolge irgend eines Fürsten brachte einen Aufenthalt von etwa drei bis vier Monaten in Abyssinien mit sich. Rémi teilte Arlette seine Abreise erst am Abend vorher mit und versicherte ihr, er selbst sei erst jetzt durch den Herzog benachrichtigt worden. Arlette glaubte ihm alles und ergab sich in ihr Schicksal. Nach zehn Tagen bekam sie aus Livorno einen ziemlich kühlen Brief von ihm, einen Monat später noch eine Postkarte aus Port Said und dann nichts mehr. Sie war wieder allein und einsamer wie je, ihr Herz war voll von unendlichem Bangen, und sie konnte sich niemandem anvertrauen. Ihre Gesundheit fing an zu schwanken, sie wurde nervös und weigerte sich jetzt oft, an den Vergnügungen der »Bande« teilzunehmen. Man fand allgemein, daß sie sich eine immerhin unbedeutende Sache allzusehr zu Herzen nähme.

Drei Jahrhunderte waren vergangen seit jenen heroischen Zeiten, wo Otto der Einäugige in Schwaben an der Seite Rantzaus kämpfte – und was war noch geblieben von dem Ruhm und Glanz jener teutonischen Fürsten und französischen Grafen?

In einem der Neubauten an den Champs-Elysées, die den traurigen Beweis für die Unfähigkeit unserer modernen Architektur liefern, nahmen die Fürstin-Witwe Charlotte Wilhelmine, der Fürst Christian und seine Frau die beiden Wohnungen im vierten Stock ein. Von diesen drei Bewohnern hatte jedes sein Gebiet für sich, das der alten Fürstin war am kleinsten: ein Bibliothekssalon, ein Zimmer mit Nebenräumen und ein kleines Betzimmer – die Möbel streng im Stil Louis XIV., Ahnenbilder, zahllose alte Bücher – immerhin hatte diese Einrichtung am meisten Charakter von den dreien. Denn das übrige – nach dem Geschmack irgend eines großen Tapezierers aus der Rue de la Paix zusammengestellt – war eine beliebige Anhäufung von kostspieligen Dingen, wie man sie bei Menschen findet, die nichts von ihrer Seele in ihre Umgebung hineinzulegen wissen. Die Plafonds mit weißem Stuck, das Mobiliar mit einer kindlichen Stilhascherei und zugleich einer Unwissenheit zusammengestellt, über die ein echter Amateur hätte lächeln müssen. Die Gemächer des Fürsten, in englischem Stil gehalten, glichen dem Innern einer prunkvollen Jacht. In Arlettens kleinem Privatsalon und ihrem Schlafzimmer herrschte wiederum jener trostlose Tapeziererstil. Nur ihr Ankleidekabinett, das sie nach einem pompejanischen Tepidarium in reinstem italienischen Marmor hatte gestalten wollen, ergötzte das Auge durch den Kontrast zwischen antikem Stil und dem raffiniertesten Toilettenapparat der modernen Pariserin.

Außer Christians täglichem Besuch bei seiner Mutter, lebte jeder von den dreien vollständig für sich. Arlette besuchte ihre Schwiegermutter nicht mehr, seit sie miteinander brouilliert waren, mit ihrem Mann speiste sie fast nur noch auswärts zusammen oder wenn sie selbst Gäste hatten. Christians Leben spielte sich im Klub oder bei Madeleine ab, und Arlette verzehrte sich in Sehnsucht und Bitterkeit, während sie bald allein zu Hause saß ohne andre Gesellschaft wie ihre Kammerjungfer, bald sich kopflos in eine Flut von Zerstreuungen stürzte, deren sie nur allzubald wieder überdrüssig war.

Und die alte Fürstin saß drüben in ihren Gemächern und beobachtete den langsamen Zusammenbruch des Hauses Ermingen unter Geldschwierigkeiten und zerrütteten Familienverhältnissen, die sich jeden Augenblick zum Drama gestalten konnten.

*

An einem Oktobermorgen etwa zwei Monate nach Rémis Abreise, die von der übrigen Gesellschaft als Bruch mit Arlette ausgelegt wurde, erwachte die junge Fürstin sehr spät. Sie kämpfte noch eine Zeitlang mit dem Schlaf, sank in die Kissen zurück und fuhr plötzlich wieder empor, mit klopfendem Herzen und umschleierten Augen. Um sich endlich dem Schlummer ganz zu entreißen, richtete sie sich auf, zog die Knie empor und blieb so an die Kissen gelehnt sitzen. Draußen mußte voller Sonnenschein sein, denn eine Flut von Licht drang durch die dichten Vorhänge von gelbem Damast, welche beide Fenster verhüllten. Der ganze Raum war wie in hellen Schimmer getaucht, vor allem der große, dreiteilige Spiegelschrank, die Bilder ringsum an den Wänden und die Photographien auf dem Kaminsims. Noch voller drang der goldige Glanz durch eine halboffene Tür links vom Bett, sie führte in einen großen Raum, der als Ankleidezimmer und Badesaal diente. Diese Tür blieb die ganze Nacht durch offen, ebenso wie die zum anstoßenden Zimmer, wo die Kammerjungfer der Fürstin schlief. Denn Arlette ängstigte sich alleine und mußte das Gefühl haben, daß irgend ein menschliches Wesen in ihrer Nähe war, im Bereich ihrer Stimme, so daß sie nur zu rufen oder eine der beiden Türen aufzustoßen brauchte. In den letzten zwei Monaten, wo diese Art nervöser Angst sich noch gesteigert hatte, ließ sie Martine Lebleu, ihre Zofe und Vertraute, sogar manchmal in dem Badesaal schlafen, weil sie ihr da noch näher war.

Aus dem großen Gebäude mit seinen dichten Mauern und doppelten Türen drang kaum ein Geräusch zu ihr hinüber, während sie so regungslos dasaß, die Hände um die Knie geschlungen. Um so deutlicher ließ sich von draußen her das rege Straßenleben der Champs-Elysées vernehmen, vor allem als stets wiederkehrendes Motiv das Ächzen der Automobile und die kurzen, abgerissenen Warnungssignale. Arlette sah eine Zeitlang dem wechselnden Spiel der Schatten am Fries des Plafonds zu, gelangweilt und müde streifte ihr Blick über diese ganze gewohnte Umgebung hin. Dann rief sie leise: Martine!

Martine mußte schon auf ihren Ruf gewartet haben, denn im selben Augenblicke ging die Tür ganz auf und eine schlanke jugendliche Gestalt erschien als scharf umrissene Silhouette auf der Schwelle. Das grelle Licht, das nun ins Zimmer eindrang, blendete Arlette, und sie schloß die Augen. Gleich darauf stand Martine schon neben ihrem Bett und beugte sich über sie. Aus ihrem intelligenten Gesicht mit den dunklen Augen sprach aufrichtig Besorgnis:

»Haben Hoheit wohl geruht?«

»Nicht besonders, Martine – willst du die Vorhänge aufziehen, aber bitte, recht leise.«

Behutsam wie eine Krankenwärterin ließ das junge Mädchen nun das Tageslicht eindringen, dann kam sie zu ihrer Herrin zurück.

»Es ist wundervolles Wetter, fast wie im Sommer.«

Das volle Licht fiel jetzt auf Arlettens reizendes Gesichtchen, mit ihren kindlichen Zügen und der schweren, blonden Haarmasse sah sie fast aus wie ein schmollendes kleines Mädchen, denn um den weichen Mund mit den fast zu vollen Lippen, die zierliche, etwas unregelmäßige Nase und in den hellen, blauen Augen lag etwas Trübes, als wäre sie alles Lebens und Denkens unendlich müde. Ein silberner Spiegel im Stil der lothringischen Künstler, der dicht neben dem Bett stand, warf gleichzeitig Martines ernstes, kluges Gesicht zurück. Sie war nicht schön, hatte aber einen gewissen Charme – mit der schmalen, glänzenden Stirn und den ziemlich regelmäßigen Zügen. Nur der Teint war etwas unklar und die Haare von einem unbestimmten Kastanienbraun. Im ganzen wirkte sie am besten, wenn man die feine, geschmeidige Gestalt mit den sicheren, graziösen Bewegungen nur im allgemeinen sah.

Während Martine ihre Herrin mit fast mütterlicher Besorgnis anblickte, wurde diese plötzlich ungeduldig.

»Ist das Bad fertig?«

»Ja.«

»Worauf wartest du denn noch? Komm, hilf mir.«

Damit warf sie die Decken zurück, und ihre nackten Füße tasteten in dem weißen Pelz, der vor dem Bett lag, nach den Morgenschuhen. Martine half ihr sie anziehen, dann richtete sie sich auf, um Arlette ins Bad zu leiten. Aber die Fürstin machte sich plötzlich von ihr los.

»Nein, laß mich.«

In ihrem langen Nachthemd sah sie jetzt noch kindlicher aus. Etwas fröstelnd ging sie auf die Badewanne von rosa Marmor zu, die in den Boden eingelassen war. An alle kleinen Launen ihrer Herrin gewöhnt, machte Martine sich beständig, aber ohne Aufdringlichkeit um sie zu schaffen, sah nach dem Thermometer, regelte die Temperatur des Wassers, hob das Hemd auf, das achtlos zu Boden gefallen war und stützte den jungen Körper, während er sich ins Wasser gleiten ließ und sich in eine Wolke von Benzoë hüllte. Das laue Bad beruhigte ihre Nerven, sie lächelte zufrieden und ließ ihre Hände spielend durchs Wasser gleiten.

»Wieviel Uhr ist es?«

»Gleich elf.«

»Schon elf, – oh, wie angenehm.«

Elf Uhr – der ganze Morgen im Schlaf vergangen, ein Stückchen Leben spurlos hinabgeglitten – von diesem Leben, das ihr so endlos lang, so drückend vorkam. Während Martine ihr leicht Arme und Hände massierte, fragte Arlette:

»Gegen Mitternacht, als ich gerade eingeschlafen war, wachte ich von einem Donnergepolter wieder auf – was war denn das?«

»Ich glaube, es war der Fürst,« sagte Martine leise.

»War er wütend?«

Martine nickte mit dem Kopf.

»Worüber denn?«

»Jean hat vergessen, einen Brief zu besorgen, der Fürst gab ihm einen Stoß, und er hatte gerade ein Glas Wasser in der Hand.«

»Ich dachte nach dem Lärm, es wäre ein größerer Gegenstand gewesen,« sagte Arlette gleichgültig. Dann verließ sie das Bad und Martine hüllte sie in den Bademantel, der große Spiegel gab das Profil ihres kindlichen Körpers wieder, mit seiner zarten, bleichen Haut, der selbst das warme Wasser keine lebhaftere Farbe zu verleihen vermochte. Martine rieb und frottierte sie, Arlette ließ es willenlos geschehen, sie schloß die Augen und seufzte von Zeit zu Zeit leicht auf, dann warf sie sich auf einen Diwan in der Ecke des Badesaals und gähnte, während die Zofe sie mit weichen Tüchern bedeckte und ihr die Füße massierte.

»Weißt du, was ich jetzt am liebsten möchte? mich wieder ins Bett legen und schlafen, – viel besser wie in der Nacht, denn in der Nacht habe ich soviel Angst. – Ist heute nichts angekommen? Keine Briefe oder Telegramme?

»Nein, es war keine Post da. Nur eine Rechnung von Jubillard – für den Zobelpelz.«

Die Fürstin wurde etwas aufmerksamer.

»Was haben sie gesagt?«

»Daß die Sache eilte. Jubillards Bruder war da, Monsieur Maxime. Er sprach davon, mit der Rechnung zum Fürsten zu gehen.«

»Zum Fürsten,« rief Arlette und fuhr plötzlich in die Höhe.

»Aber ich habe die Rechnung genommen und gesagt, es würde heute jemand im Geschäft vorkommen.«

»Wie soll man es machen, daß er sich noch geduldet«, sagte Arlette nachdenklich.

»Hoheit dürfen sich nicht beunruhigen. Ich gehe heute selbst hin und werde mir schon irgend etwas ausdenken.« »Du bist eine durchtriebene Person,« sagte Arlette lachend und klopfte Martine vertraulich aus die Wange. »Wenn du Geschäftsmann geworden wärest, hättest du die ganze Welt auf den Kopf gestellt.«

Martine lächelte. Dann fuhr sie fort, ihre Herrin zu bedienen, immer bemüht, sie durch ihr Geplauder aufzuheitern. Sobald diese schwieg und in ihre schlechte Laune zurückzusinken drohte, fing Martine sofort an zu sprechen, erzählte eine Anekdote oder machte eine vorsichtige Bemerkung über Arlettens Schönheit. Sie wußte sich sehr gut, beinah elegant auszudrücken. Aber Arlette hörte kaum zu. Als Martine den Sessel vor dem Toilettetisch zurechtrückte, wandte sie sich plötzlich um und fragte:

»Wie denkst du eigentlich über Rémi? Du weißt doch, er soll wieder in Paris sein. Er hätte mir doch ein Wort schreiben können, mir eine Blume schicken können, seine Karte abgeben ... Aber nichts – Und ich hab ihm doch nichts zuleid getan.« Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Gesicht verdüsterte sich. Martine Lebleu schwieg und schüttelte nur teilnehmend den Kopf, während ihre Hände liebkosend durch das prachtvolle Haar der jungen Fürstin glitten.

Bei jedem Aufschluchzen bewegte sich das Köpfchen unter der dichten, goldnen Haarflut, und abgerissene Worte, die sie in kindlichem Eigensinn immer wiederholte, rangen sich los. »Ich habe ihm doch nichts getan – nichts – und doch« – –

Wieder teilten die geschickten Hände der Zofe die schönen rötlichen Haare, hoben sie empor und schlangen sie zu einem einfachen niedrigen Knoten Und nun kam ein verweintes, in Schmerz aufgelöstes Gesicht zum Vorschein. –

Um sie abzulenken, fragte Martine:

»Darf ich Hoheit jetzt den Tee bringen?«

»Nein, ich mag keinen Tee!«

»Aber was dann?«

Arlette dachte nach. Dann blitzten ihre Augen wie von einem plötzlichen Gelüst auf:

»Habt ihr nicht irgend eine Suppe in der Küche, eine ganz gewöhnliche Suppe, wie man sie bei mir zu Lande ißt?«

»Ja, Irma hat erst heute morgen eine gekocht, es muß noch etwas da sein.«

»Dann bring mir die – einen großen Teller voll und ganz heiß.«

Martine rückte am Fenster einen kleinen Tisch zurecht und bedeckte ihn mit einer Serviette. Dieser Badesaal, wo alles in Marmor gehalten war, war Arlettens Lieblingsaufenthalt. Oft blieb sie den halben Tag darin, das Schlafzimmer mit seinem Straßenlärm machte sie nervös und war ihr unsympathisch.

Martine war hinausgegangen, um die Suppe zu holen, als in einer Ecke des Saales ein gedämpftes Läuten erklang. Es war das Telephon, – um die Nerven der Fürstin zu schonen, hatte man den Klingelapparat mit einem dichten Kreppschleier verhüllt. Arlette zögerte noch, ob sie antworten sollte, als Martine mit dem Besteck und einer dampfenden Terrine wieder eintrat.

»Es wird antelephoniert,« sagte Arlette, »sieh, wer da ist und sage, ich schliefe.«

Martine ging ans Telephon und Arlette amüsierte sich damit, dem Gespräch zu folgen.

»Ja – die Kammerjungfer – ah – gewiß, gnädige Frau – Hoheit sind gestern spät schlafen gegangen und noch nicht aufgestanden. – Hallo – Danke sehr, gnädige Frau, Hoheit befinden sich wohl und werden gewiß ausgehen können. Ich werde es gleich ausrichten, sobald Hoheit aufgewacht sind. – Bei Holtz, um ½ 6 Uhr? – sehr wohl. Adieu, gnädige Frau.«

Damit hängte sie die Hörrohre wieder ein.

»War es Madeleine?« fragte Arlette.

»Ja, Hoheit. – Sie läßt bitten, heute nachmittag zu Holtz zu kommen, um ½ 6, im großen Hotelsaal.«

»Gut, wer wird denn da sein?«

»Monsieur de Péfaut – Mademoiselle Rose und Marguerite – der Fürst ist auch eingeladen. Dann wird noch ein junger italienischer Dichter dort sein, mit dem Madame de Guivre Hoheit bekannt machen möchte. – Guiseppe Sarracioli.« »Irgend eine abenteuerliche Existenz, wahrscheinlich.«

»Nein, nein, Hoheit, er ist ein sehr talentvoller Dichter.«

»Kennst du ihn?«

»Ich habe über ihn gelesen – in einem Buch über italienische Dichtung.«

»Mir scheint, du hast ziemlich viel überflüssige Zeit, Martine.«

»Wollen Hoheit jetzt nicht frühstücken?«

»Ach ja, ich hab es ganz vergessen.«

Nachlässig ließ sie sich vor dem Tisch nieder. Martine servierte ihr einen Teller von der schäumenden Suppe und Arlette lächelte.

»Wenn wir in meiner Kinderzeit auf dem Lande waren,« sagte sie, »lief ich oft heimlich vom Schloß zur Meierei hinüber und erbettelte mir von der Bäuerin einen Teller Suppe, wie diese hier. Meine Mutter erlaubte nie, daß so etwas auf den Tisch kam, weil sie es nicht vornehm fand. Mein Gott, wie dumm.«

Begierig aß sie ein paar Löffel voll. Martine beobachtete und bediente sie wie eine Rekonvaleszentin bei der ersten Mahlzeit. Aber Arlette schob den Teller fort, als er noch beinahe voll war.

»Wollen Hoheit nicht mehr essen?«

»Nein, nimm den Teller weg, mir ekelt davor.«

»Wünschen Hoheit vielleicht Kuchen?«

»Hast du welche holen lassen?« »Ja, weil Hoheit gestern den Wunsch aussprachen.«

»O, das ist recht – bring sie mir rasch.«

Und nun stopfte sie sich mit Süßigkeiten voll, wie eine Halbverhungerte.

Dabei wurde sie wieder ganz lustig und plauderte mit Martine, die mit vollendetem Takt auf alles zu antworten wußte, nie zu unterwürfig und nie zu vertraulich wurde.

»Du sagtest, er wäre Italiener, der Dichter?«

»Ja, Hoheit.«

»Made ist doch ganz toll – wo hat sie den nur wieder her? Und dann führt sie ihn dem Fürsten vor – wenn der irgend welchen Verdacht schöpft, mag der italienische Dichter sich in acht nehmen.«

Wenn die Fürstin ganz ruhig von der Liaison ihres Mannes mit Madame de Guivre sprach und noch mehr, wenn sie, wie vorhin, Rèmis Namen nannte, pflegte Martines sonst so lebhaftes Gesicht einen gewissen starren Ausdruck anzunehmen, kein Muskel bewegte sich, und ihr Blick verlor sich wie abwesend in die Ferne. –

Arlette merkte das wohl, und es machte sie ungeduldig.

»Warum machst du wieder dies Holzgesicht,« sagte sie. »Gott, bist du manchmal unleidlich. Es ist mir unsympathisch, wenn jemand nicht den Mut hat, seine Meinung zu sagen und dabei im stillen alles kritisiert. Bei dir weiß man niemals, was du denkst.«

Sie erregte sich an dem Ton ihrer eignen Stimme und fuhr fort:

»Es ist überhaupt unglaublich unhöflich, wenn ich dir die Ehre erweise, dich fast wie meinesgleichen zu behandeln. – Und das ist eigentlich ganz verkehrt von mir. Ich habe schon manchmal darüber nachgedacht, ob du nicht mit dem Fürsten im Einverständnis bist, um mich auszuspionieren.«

»O, aber Hoheit.« Martines Augen füllten sich mit Tränen, trotzdem sie versuchte, sich zu beherrschen.

»Nein, ich glaube es in Wirklichkeit nicht,« lenkte Arlette ein, »aber du bist manchmal so sonderbar. – Mein Gott, du armes Mädchen –«

Es entstand eine Pause.

»Welches Kostüm werden Hoheit heute anziehen?« fragte dann Martine in sanftem Ton.

»Das blaue von Emery, – hast du den Gürtel geändert?«

»Ja.« –

Martine holte das Kostüm und begann ihre Herrin anzukleiden, die immer noch schmollte und sich über die geringste Kleinigkeit ärgerte. Jeden Augenblick fand sie einen Vorwand, um Martine klar zu machen, daß sie sie schlecht bediente und ihr zu versichern, sie würde viel zu gut behandelt. »Ich möchte wetten, daß du heute wieder auf drei Stunden ausgehen willst?«

»Wenn Hoheit nichts dagegen haben – aber ich werde zur rechten Zeit wieder da sein.« –

»Höre mal, du mußt eigentlich ein nettes Leben führen, und dabei tust du immer, als ob du nicht bis drei zählen könntest. Ich habe noch nie eine Kammerjungfer gehabt, die so oft um Ausgang gebeten hat wie du. – Aber ich gäbe wirklich etwas darum, wenn ich dich einmal mit deinem Schatz beobachten könnte.«

Dieser Gedanke erheiterte Arlette plötzlich wieder, sie lächelte und Martine ebenfalls. Sie war sehr geheimnisvoll in bezug auf ihr Verhältnis, obgleich sie wirklich sehr oft um Erlaubnis zum Ausgehen bat.

»Nein, so ein Mädel wie dich habe ich noch nie in meinem Dienst gehabt,« erklärte die Fürstin. »Manchmal bilde ich mir ein, daß in deinem Leben alle möglichen Dramen spielen, und daß ich eines Tages ganz fabelhafte Sachen entdecken werde.

»Aber ich schwöre, Hoheit,« antwortete Martine in heiterem Ton, »daß es wirklich nichts zu entdecken gibt.«

»Nichts weiter wie den einen guten Freund?«

Martine zögerte einen Moment, dann sagte sie:

»Nein, wirklich nicht.«

In diesem Augenblick wurde an die Tür des Nebenraumes geklopft, der zugleich als Garderobe und als Vorzimmer diente. Der Diener übergab Martine einen Brief an die Fürstin, man wartete auf Antwort, »eine Art Dienstmädchen,« wie der Diener verächtlich bemerkte

»Mach ihn auf und lies mir vor,« sagte Arlette, und Martine gehorchte:

»Hoheit!

Da Ihr edles Herz mir bekannt ist, wage ich es, mich in meiner entsetzlichen Lage an Sie zu wenden. Ich weiß nicht, ob Hoheit sich daran erinnern, mich früher bei Laurent gesehen zu haben. – Ich bin sehr krank gewesen, und man hat mir gekündigt. Meine Ersparnisse sind verbraucht und – – – «

»Wie ist es denn unterschrieben?« fragte die Fürstin.

»Josephine Darras. Und in Klammer: die früher bei Laurent war – –«

»Ja, richtig,« sagte Arlette, »ich erinnere mich an ein Mädchen, das so hieß. Laß ihr fünf Franken geben. Hast du soviel bei dir? Nein? Du hast auch niemals Geld. Was machst du eigentlich damit? Schau in meiner Börse nach.«

»Es ist nur ein Fünfzigfrankenschein drin.«

»Vielleicht können sie in der Küche wechseln. – Oder nein, halt. Gib ihr die fünfzig Franken – dieser Josephine, aber dann soll sie mich in Ruhe lassen. Eil dich, es hat schon zwei geschlagen, ich bin noch nicht angekleidet und muß um ein halb drei zur Anprobe bei Emery sein.« Während sie allein war, ging Arlette im Unterrock ans Fenster und blickte hinaus, sie sah wieder ganz wie ein halbwüchsiges Mädchen aus, das noch in der Entwicklung begriffen ist. An der linken Seite des Hofes hielt ein Zweispänner mit zwei isabellfarbenen Pferden, die ebenso steif und hochmütig aussahen wie der Kutscher und dann bog ein ziemlich elegantes Coupé in den Hof ein und hielt gerade vor dem Fenster.

Martine kam wieder herein.

»Das Coupé ist schon da,« sagte die Fürstin, »laß uns jetzt rasch machen.«

Mit ihrer gewohnten Geschicklichkeit machte Martine sich daran, ihr die Stiefel anzuziehen. Während sie sich niederbeugte und den Stiefelknöpfer mit Perlmuttergriff handhabte, bemerkte Arlette, daß sie unter der Bluse oberhalb des Korsetts irgend einen rechteckigen Gegenstand verborgen trug, es schien ein kleines Buch oder eine Schachtel zu sein.

»Was hast du da?« fragte sie und tippte mit dem Finger darauf.

Martine errötete so heftig, daß ihr sonst etwas trüber Teint fast schön wurde.

»Ein Buch,« stammelte sie.

Die Fürstin brach in lautes Gelächter aus.

»O, aber sicher ein schlimmes Buch – mit Bildern – irgend ein Casanova. O diese Martine mit ihrem feierlichen Gesicht. Ich hab mir schon immer gedacht, daß du deine heimlichen kleinen Laster hättest.«

Martine stand auf, etwas verwirrt, aber sie lächelte und sagte kein Wort. Arlette ließ ihr keine Ruhe.

»Willst du mir das kleine Buch nicht zeigen?«

»Aber Hoheit, es wird Sie ganz sicher nicht interessieren,« sagte das Mädchen und hielt unwillkürlich die Hände vor die Brust.

»Ach was, gleich zeigst du es mir« – Arlettens Gesicht zeigte in diesem Augenblick den unschönen Ausdruck eines Kindes, das Tiere quält – »was sollen die Faxen, gib es her.«

Martine zauderte immer noch, sie war jetzt ganz blaß geworden.

»Gib das Buch her, sofort – sonst entlasse ich dich.«

Martine öffnete ihre Bluse, dabei warf sie Arlette einen so vorwurfsvollen Blick zu, daß diese ganz die Fassung verlor. Sie schämte sich bis in die innerste Seele hinein, und nur, um nicht jetzt noch nachzugeben, nahm sie das kleine, in mattes Leder gebundene Buch, das Martine ihr hinreichte. Dann schlug sie es aufs Geratewohl auf und las:

»Die Liebe ist stark, sie vermag alles – selbst der Tod ist machtlos gegen sie. Die Liebe ist Vertrauen – –«

Sie erkannte diese berühmten Worte nicht wieder und hatte sie doch gewiß in ihrer Kindheit einmal gelesen. – Aber sie hatte ihre Lektüre immer nur sehr oberflächlich betrieben, ob es profane oder religiöse war. Und was ihre Gouvernanten, alle diese Irländerinnen, Schweizerinnen oder Österreicherinnen, die je nach Laune ihrer Mutter rasch wechselten, ihr an religiösen Begriffen beigebracht hatten, das war unter dem Einfluß des Pariser Lebens längst spurlos verwischt.

Sie warf einen Blick auf den Titel: »Die Nachfolge Jesu Christi« – murmelte sie vor sich hin »übersetzt von Lamenais.«

»Und du liest solche Sachen – du?« Sie blickte Martine an und sah, daß ihr langsam große Tränen übers Gesicht liefen und auf die schwarze, halbgeöffnete Bluse niedertropften.

»O du weinst,« sagte Arlette, während sie ihr das Buch zurückgab, »habe ich dir wehgetan?«

Martine wollte »nein« sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie steckte das Buch wieder zu sich und trocknete sich die Augen.

»Martine.«

»Hoheit befehlen.«

»Ich habe dir wehgetan ... du mußt mir nicht böse sein, ich bin heute morgen schlecht und unfreundlich gegen dich. Aber ich bin so nervös. Liebe, kleine Martine, trag es mir nicht nach.«

Sie umarmte Martine zärtlich; von einer seltsamen Bewegung erfaßt, deren letzten Grund keine von ihnen ganz begriff, hielten sie sich eine Zeitlang umschlungen. – Ihre Tränen vermischten sich, und jetzt war es die Fürstin, die laut schluchzte und Martinens Hals mit ihren Tränen benetzte.

»Ich bin ja so unglücklich,« sagte sie leise – »und so einsam – so ganz allein – ich habe keinen Menschen. Kümmere dich nicht um meine Launen und vor allem, verlaß mich nicht.«

Bei diesen Worten sah sie Martine an, und eine tiefe Angst lag in ihrem Blick.

»Nicht wahr, du wirst mich nicht verlassen?«

»Aber nein, gewiß nicht, Hoheit.«

»Auch wenn ich dich quäle?«

Martine schüttelte den Kopf.

»Selbst wenn ich einmal sage, du solltest gehen – sag mir, daß du auch dann nicht gehst.«

»Nein, auch nicht, wenn Hoheit mich fortschicken,« sagte Martine jetzt wieder mit einem Lächeln.

»Du sollst heute zu deinem Freund gehen,« rief die Fürstin, »du kannst gehen, sobald ich fort bin und den ganzen Nachmittag ausbleiben. Ich komme spät zurück, denn ich habe Anprobe bei Emery, dann schaue ich noch einen Augenblick in der Rue d'Athènes vor, wo die kleinen Avigres einen Bazar haben, und dann zum Tee bei Holtz. – Es ist früh genug, wenn du um sechs Uhr wieder hier bist.«

»Danke vielmals, Hoheit.«

»Du mußt deinen Freund sehr lieb haben,« meinte Arlette nachdenklich. »Du opferst ihm deine ganze freie Zeit und gewiß auch dein Geld; ich habe noch nie gesehen, daß du etwas für dich selbst ausgibst. – Wenn er dich dafür nicht sehr lieb hat, taugt er nicht viel. Hat er dich denn wirklich lieb?«

»O ja.«

»Das hast du gut gesagt,« sagte Arlette, die jetzt auch wieder heiter geworden war. »Komm, laß uns etwas eilen – es ist halb drei. Ich werde heute überhaupt nicht mehr fertig.«

Martine kleidete sie nun vollends an. Die Fürstin von Ermingen stellte, als sie endlich ihr Schlafzimmer verließ, gewissermaßen die Verkörperung jenes überraffinierten Luxus dar, wie nur Paris ihn aufzuweisen hat. Sie trug eine Art Schneiderkleid von langhaarigem Stoff, das äußerst einfach und nur mit diskreten Handstickereien geschmückt, aber 900 Franken wert war. Der Hut, eine Toque mit niederfallender Feder, hatte fünfzehn Louisd'or gekostet und wurde höchstens dreimal getragen. Ihre Dessous bestanden aus Seide und zartestem Musselin und waren noch weit kostspieliger wie das Kostüm.

Aber sie war auch verführerisch schön, die natürliche Blume dieser einzigen Stadt der Welt, wo alles: Kunst, Geschichte, Reichtum und Klima, sich verbünden, um die glänzendste, kostspieligste und zarteste aller Luxuspflanzen – das Weib – zur Blüte zu bringen. Und dieses empfindliche Pflänzchen wurde jetzt mit aller Vorsicht aus dem Ankleidekabinett zum Lift und vom Lift ins Coupé gebracht. Ehe sie dem Kutscher eine Adresse angab, warf die Fürstin einen Blick in das kleine Notizbuch, wo Martine das Tagesprogramm für sie zu notieren pflegte. Es waren heute nur drei Punkte: Wohltätigkeitsbazar, rue d'Athènes 19 (für alleinstehende junge Arbeiterinnen). – Um zwei Uhr bei Emery Beige-Kostüm und Crêpe de chine-Bluse anprobieren. – Um halb sechs bei Holtz. – Es war schon halb drei, also Zeit, um zu Emery zu gehen. Aber der Gedanke an die Anprobe kam ihr so anstrengend vor, daß sie dem Kutscher zurief: »rue d'Athènes 19«.

Im Coupé sank sie ganz in sich zusammen, als ob das Ankleiden, das Herunterfahren im Lift und das Einsteigen ihre Kräfte völlig erschöpft hätte. Ein leidender Zug legte sich über ihr hübsches Gesicht und sie preßte die linke Hand auf das Herz, das zum Zerspringen klopfte. Das Coupé fuhr die Champs Elysées entlang, die in vollem Sonnenschein und der Stille dieser ersten Nachmittagsstunden dalagen, und auf die Place de la Concorde zu. Alles schimmerte in herbstlichen Farben, Kastanienblätter wirbelten über das Pflaster hin. Einen Augenblick freute die junge Frau sich an dem immer noch frischen Rasengrün und der blendenden Farbenpracht der Chrysantemen, und die Müdigkeit schien von ihr zu weichen. Aber dann sank sie wieder in ihre trübe Melancholie, in ihr schmerzliches Nachdenken zurück. Zwischen ihren Augen grub sich eine tiefe Falte ein, und sie dachte nach. Wie im Traum murmelte sie dann und wann einige Worte vor sich hin. Als sie an der Madeleine vorüberfuhr, fiel ihr plötzlich ein, wie ihre Gouvernante sie einmal hierhergeführt hatte und sie aufgefordert, mit ihr vor einem Bild des heiligen Antonius zu beten.

Diese Erinnerung machte sie lächeln, und gleich darauf dachte sie an Martine mit ihrem kleinen Buch und den Sätzen aus der Nachfolge Christi.

»Aus dem Mädchen ist nicht klug zu werden. Ich hatte niemals daran gedacht, daß sie fromm sein könnte. Bei dem Leben, das sie führt – fast jeden Tag geht sie drei Stunden lang aus, und ich glaube nicht gerade, um zu beichten. Übrigens fallen allen ihre leidenschaftlichen Augen auf. Made behauptet, sie müßte einen Liebhaber haben, der jünger wie sie ist und sie quält, und dem sie mit Geld aushilft. – Sie gibt ja auch keinen Sou für sich selbst aus. Ihre Toilette macht sie sich aus alten Sachen von mir zurecht, und ich glaube, dreiviertel von dem, was ich ihr gebe, verkauft sie noch. Das arme Mädel!«

Immer wieder tauchten Martines dunkle, leidenschaftliche Augen in dem Chaos von Gedanken auf, das in Arlette auf und nieder wogte. Sie fühlte plötzlich, wie unentbehrlich ihr dieses Mädchen war, von dem sie doch so wenig wußte und deren Moral ihr nicht ganz unanfechtbar erschien. »Im ganzen bedient sie mich glänzend, sie ist nur etwas zu geheimnisvoll. Wenn sie mich nur nicht an den Fürsten verrät.«

Sie dachte daran, wie frühere Dienstboten sie verraten hatten. Arlette hatte von jeher die Neigung gehabt, sich vertraulich mit ihnen zu stellen, aus Schwäche, aus physischer Trägheit, zum Teil wohl auch, weil alle, die sie hätten leiten sollen, sie immer nur sich selbst überließen, ihre Eltern und später ihr Gatte. In alten Zeiten waren die Kindermädchen ihre Vertrauten gewesen, später die Lehrerinnen und dann ihre Zofen, die immer sehr bald in die Geheimnisse ihrer Herrin eingeweiht wurden. Martines Vorgängerin hatte das benutzt, um ihr zu drohen, sie würde ein Telegramm von Rémi, das sie zufällig aufgefangen hatte, an den Fürsten ausliefern. Und Arlette hatte die Depesche mit fünfzig Louisd'or bezahlen müssen.

»Nein,« dachte sie, »einen solchen Streich würde Martine mir niemals spielen, ich glaube doch, sie hat mich sehr lieb.«

Bei dem Gedanken, daß nur ein einziges menschliches Wesen, das ihr noch dazu so fern stand, sie liebte, wurde sie über ihr eignes Schicksal gerührt. Es war ja entsetzlich, in was für einer inneren Einsamkeit sie lebte. Dieses Gefühl lastete seit einiger Zeit schwer auf ihr, wie ein körperliches Leiden. Sie blickte auf die Menge hinaus, die sich in den Straßen drängte, einzeln oder paarweis. »Es sind wohl wenige so allein wie ich,« sagte sie sich – »von jeher hat man mich mir selbst überlassen. Alle diese Leute haben Freunde oder Familie, nur ich habe niemanden. – Meine Mutter ist mir niemals eine Mutter gewesen, mein Mann ist mir kein Gatte – mir bleibt nichts übrig, als um die Freundschaft meines Kammermädchens zu betteln.«

Sie lachte schmerzlich auf, dann machte es sie ungeduldig, daß der Kutscher anhalten mußte, die Omnibusse stauten sich vor ihnen wie eine Barrikade, es schien unmöglich, vorwärts zu kommen, das Pferd scharrte und tänzelte nervös.

»Ah, wie dies Paris mir zuwider ist.« Und sie träumte von irgend einem entlegenen Ort, weit vor der Stadt und fern von allen Menschen, die sie kannte, wo sie sich ganz vergraben konnte, nur mit Martine, die sie bedienen und pflegen würde. »Allem andern entfliehen und auf die Zukunft warten – mit allen ihren Drohungen, Unsicherheiten, meinetwegen auch Katastrophen – an irgend einem stillen Plätzchen, wo niemand etwas davon ahnt, was mir widerfährt.«

»Oder sterben,« dachte sie dann ganz laut, und dann erschrak sie darüber und wich vor dem Gedanken zurück, als hatte sich plötzlich ein schwarzer Abgrund vor ihr geöffnet. Bei dem bloßen Worte: Tod erwachte ihre ganze Lebenslust wieder, und sie wies die geheime Angst von sich, die an ihr nagte, und die sie sich selbst nicht klar machen wollte.

»Nein, nein, es kann nicht sein, es ist unmöglich.« Endlich konnten sie weiterfahren, der Wagen berührte den Bahnhof St. Lazare, rollte über die Place de la trinité und hielt in der Rue d'Athènes vor dem Wohltätigkeitsbazar. Eine ganze Reihe von Wagen stand schon vor der Tür, als Arlette ausstieg. Sie durchschritt den Vorplatz, der mit ziemlich dürftigem Grün geschmückt war und gelangte in die Halle. Hier herrschte das gewöhnliche, banale Arrangement, das bei derartigen Festen üblich ist, blumengeschmückte Verkaufstische, hinter denen die Damen der Gesellschaft alle möglichen Dinge feilhielten – ältere Frauen in strengen Toiletten, die nicht viele Kunden herbeilockten und frische, geputzte, junge Mädchen, die zugunsten des guten Werkes munter flirteten.

Nach kurzem Umschauen näherte Arlette sich einem der Tische, der mit am meisten umlagert war. Hinter demselben standen zwei junge Mädchen, sie sahen sich so ähnlich, daß man sie sofort als Zwillinge erkannte, nur ein Unterschied machte es unmöglich sie zu verwechseln, die eine hatte mattblondes Haar, während das der andern ausgesprochen rot, dabei weit üppiger und natürlich gelockt war. Beide trugen das gleiche, pastellblaue Tuchkostüm, ohne allen Schmuck, aber von tadellosem Schnitt. »O Arlette, wie hübsch, daß Sie, uns besuchen.«

Marguerite d'Avigre, die mit dem mattblonden Haar, hatte sie zuerst entdeckt. Eine ältere Dame und zwei junge Herren, die, ihre Einkäufe in der Hand, am Tisch standen und plauderten, verabschiedeten sich jetzt, nur ein Mann von etwa vierzig Jahren blieb zurück und begrüßte die Fürstin. Er war sehr sorgfältig und elegant gekleidet mit kurzem Jackett, weiten Hosen und weißen Gamaschen über den Lackschuhen. Über seiner breiten Stirn waren die blonden, leicht ergrauten Haare en brosse frisiert, ebenso kurz und eckig war der gleichfarbige Bart geschnitten, unter dem Schnurrbart kam der feingeschnittene, jugendliche Mund mit den schönen Zähnen zum Vorschein. Seine tiefblauen Augen unter den etwas zu dichten Brauen blickten scharf und grade. Die schmale, gebogene Nase machte das Gesicht weniger schön aber äußerst vornehm, während der Teint etwas fleckig und gerötet war.

»Du hier, Jérôme?« sagte Arlette, »du machst also auch in Wohltätigkeit.«

»Ich benutze jede Gelegenheit um mit diesen beiden Kleinen zusammenzukommen,« antwortete Jérôme mit einem Blick auf Rose und Marguerite, die der Fürstin lachend die Hand entgegenstreckten, »sind sie nicht entzückend?«

»Ja, das sind sie wirklich,« pflichtete Arlette ihm bei, »ich glaube, sie nehmen den andern alle Kundschaft weg. Was verkaufen Sie denn eigentlich? Briefpapier?« Ja, und Federhalter, Tintenfässer, Wachsstücke, Löschpapier – lauter nützliche Sachen.«

»Vorwärts, Arlette, entscheiden Sie sich, wählen Sie sich etwas aus – und Sie auch, Monsieur de Péfaut.«

»Da sehen Sie, wie praktisch sie sind,« gab dieser zurück, »statt einem Haufen von überflüssigem Kram, vor dem jeder Käufer zurückschreckt, verkaufen sie einfach nützliche Sachen, die jedermann braucht.«

»Zum Beispiel Briefmarken,« sagte Rose, »nur mache ich Sie aufmerksam, daß sie hier etwas teurer sind. – Aber – fehlt Ihnen etwas, Arlette?«

Arlette war plötzlich blaß geworden und hielt sich an dem Ladentisch fest um nicht hinzufallen. Die andern bemühten sich sofort um sie, sie rückten einen Lehnstuhl herbei, in den sie sich niederließ. Sie preßte das Taschentuch vor den Mund und machte mit der linken Hand ein Zeichen, daß man sich nicht beunruhigen möge. Die anmutigen Gesichter der Zwillingsschwestern beugten sich zu ihr herab, während Monsieur de Péfaut sie mit halb freundschaftlichem, halb ärztlichem Interesse beobachtete.

»Helfen Sie doch, Jérôme, Sie sind ja Arzt, – was fehlt ihr denn?« fragte Rose.

Jérôme zuckte schweigend die Achseln. Arlette ließ beide Arme schlaff herabsinken. Auf ihrem schneeweißen Gesicht perlten jetzt Schweißtropfen. »Mir ist schon besser,« murmelte sie mit erzwungenem Lächeln, – »es ist nichts weiter – nur der Magen.« Und rasch fügte sie hinzu:

»Ich bekomme jetzt fast immer ein paar Stunden nach dem Essen Magenkrämpfe.«

»Auch Übelkeit?« fragte Jérôme.

»O nein – nein – – nur diese Krämpfe. Doktor Legrand sagt, es wäre eine Magenerweiterung. Übrigens ist mir schon wieder ganz wohl. – Es geht immer rasch vorüber.«

Noch ganz verstört richtete sie sich auf und verbarg ihre Gemütsbewegung unter heiteren Worten. Liebenswürdig plaudernd nahm sie Marguerites Arm. Rose beeilte sich ebenfalls, sie zu stützen, Arlette kam ihr so blaß vor, daß sie jeden Augenblick fürchtete, sie wieder umsinken zu sehen.

»Willst du nicht einen Augenblick draußen mit mir herumgehen?« fragte Jérôme und sah sie fest an, »die frische Luft wird dir gut tun?«

»Nein, ich danke dir,« antwortete sie und wich seinem Blick aus, – »siehst du, mir ist schon wieder ganz wohl. Jetzt will ich meine Einkäufe machen – Rose – Marguerite – jede von Ihnen soll mir einen Federhalter geben – da ein Louis für das Stück. Ich bin momentan ganz abgebrannt und kann nicht mehr leisten.«

»Aber im Gegenteil, Sie verwöhnen uns! Da sehen Sie, das ist das Beste, was wir an Federhaltern haben. Sehr glänzend ist es nicht, aber Sie dürfen mir glauben, wir haben keinen Louis dafür gezahlt.«

»Worin besteht eigentlich eure Tätigkeit für die alleinstehenden jungen Arbeiterinnen?« fragte Jérôme, während die beiden Mädchen die Federhalter sorgsam in lange Pappschachteln packten.

Marguerite setzte jetzt einfach und klar auseinander, daß es sich darum handele, den Pariser Arbeiterinnen ein anständiges Obdach und ein gutes Bett zu verschaffen. Das Heim ist in der Rue de l'Université, sie werden unter der Bedingung aufgenommen, daß sie ein anständiges Leben führen. Natürlich ist auch eine Kapelle im Hause, da die meisten katholisch sind. Aber für die Aufnahme kommt es nicht in Betracht, welcher Religion sie angehören, es können auch Protestantinnen oder Jüdinnen sein.«

»Und die gar keiner Religion angehören?«

»Die Freidenkerinnen?« sagte Rose, anscheinend ohne über das Wort zu erschrecken, – »natürlich werden sie ebenfalls aufgenommen – oder meinen Sie, man sollte sie auf der Straße lassen?«

»Und alle die Mädchen vertragen sich miteinander?«

»Bis jetzt wenigstens. Es sind sechsundachtzig, und bisher ist noch nicht die geringste Uneinigkeit vorgekommen.«

»Was?« rief Monsieur de Péfaut, »es gibt in Paris ein Haus, wo eine Menge Frauen mit verschiedenen Ansichten beisammen wohnen – und die Katholiken betrachten die Freidenkerinnen nicht als wilde Tiere – und die Freidenkerinnen bekommen nicht hysterische Anfälle, wenn sie das Kruzifix über einem Bette sehen. Ich möchte selber in diesem Hause ein Zimmer nehmen, – – – da,« fügte er hinzu und legte einen hundert Franksschein auf den Tisch – »das ist für Ihr gutes Werk. Geben Sie mir dafür einen Abreißkalender.«

Die Fürstin von Ermingen ließ das Paket mit den Federhaltern in ihren Muff gleiten, küßte die beiden jungen Mädchen und reichte Péfaut die Hand.

»Du weißt doch, daß wir uns nachher noch treffen, Jérôme?«

»Wieso denn?«

»Bei Holtz. – Made hat heute morgen telephoniert, daß sie zu Ehren irgend eines Italieners einen kleinen five o'clock veranstaltet – wie heißt er doch noch?«

»Giuseppe Saraccioli?« sagte Jérôme. »Du sagst einfach irgend ein Italiener, – er ist ein äußerst begabter Dichter – christlicher Richtung übrigens – man hat ihn sogar schon d'Annunzio gegenübergestellt. Dabei ist er ein liebenswürdiger Mensch, ich habe ihn in Florenz bei der Marquise della Venta kennen gelernt.«

»Und verstehst dich gut mit ihm, wo du doch ein abscheulicher Atheist bist?« fragte die Fürstin. »Mir sind Leute, die eine feste, auf Religion gegründete Moraltheorie haben, sympathischer wie die ohne jede Moral,« warf Péfaut ziemlich trocken hin. Dabei hat dieser sogenannte christliche Dichter nichts dagegen, aus heidnischen Lebensquellen zu trinken.«

»Sein Hymnus an die Jungfrau Maria ist sehr schön,« sagte Marguerite.

»Sie haben Saraccioli gelesen?« fragte die Fürstin, »wo nehmen Sie die Zeit her, alles zu lesen?«

Die beiden Mädchen lächelten und wechselten einen Blick. Jérôme antwortete an ihrer Stelle:

»Sie gehören einer Generation an, welche die geistige Kultur nicht so gering schätzt wie die vorhergehende. Sie sind beide sehr tüchtig. – Und das ist sehr viel für junge Damen, die ihre Zeit ebensogut mit Toiletten und leerem Geschwätz hinbringen könnten. – Aber, um auf Saraccioli zurückzukommen – er hat noch eine sehr schätzenswerte Eigenschaft, er sieht nämlich dem Apollo von Canova ähnlich.«

»Sagst du das für mich,« meinte Arlette – »mich läßt seine Schönheit ebenso kalt wie seine Poesie.«

»Aber mich nicht,« sagte Rose lachend.

»Und mich auch nicht,« kam Marguerite ihr zu Hilfe. »Wenn wir unsere Bude hier vor ½ 6 Uhr schließen können, kommen wir auch noch zu Holtz, um den schönen Verfasser des Hymnus an die Jungfrau Maria in der Nähe zu sehen.«

»Die beiden Kleinen sind wirklich vollkommen, was Intelligenz und Wahrheitsliebe anbetrifft,« schloß Péfaut das Gespräch, – »sie lieben alles, was schön ist und haben auch den Mut, es zu sagen.«

Arlette schien plötzlich ganz abwesend und träumte vor sich hin. Wenn sie an diese Zusammenkunft heute nachmittag dachte, tauchte ein Bild in ihrer Erinnerung auf, das Herz wurde ihr schwer, und sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.

»Auf Wiedersehn also,« sagte sie in so müdem Ton, daß die Lebhaftigkeit der andern sofort verstummte, »um halb sechs!«

Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie rasch auf den Ausgang zu, stieg in ihr Coupé und sagte: »Zu Emery, Rue Royale.«

Im Wagen, der langsam dem Boulevard zurollte, überließ sie sich ganz der schmerzlichen Bewegung, die sie eben während des Gesprächs mit Jérôme und den Zwillingen erfaßt hatte. Jenes Bild, das plötzlich vor ihr aufgestiegen war, wollte nicht wieder weichen, – es war Rémi de Lasserade, an den sie dachte. Das ganze Elend dieser verfehlten Liebesgeschichte, in der sie so ehrlich nach ein wenig Wärme und Inhalt für ihre innere Einsamkeit gesucht hatte, überwältigte sie von neuem und erfüllte ihr Herz mit Bitterkeit. »Was hab ich ihm denn getan – was hab ich ihm denn getan,« schluchzte sie, in eine Ecke des Wagens gedrückt.

Und plötzlich kam ein physisches Angstgefühl über sie, jene seltsame Beklemmung, die sie heute schon ein paarmal befallen hatte, sie wurde immer heftiger, einen Augenblick fast unerträglich und ließ dann allmählich wieder nach. Als sie bei Emery ausstieg, hatte sie sich beinahe ganz erholt. Aber während sie die Treppe zum Anprobesalon hinaufstieg, fühlte sie sich so schwach, daß sie sich mehrmals festhalten mußte.

»Es geht heute nicht, es geht nicht,« dachte sie, »es wäre besser, ich führe nach Hause.«

Aber jetzt kam jemand hinter ihr die Treppe herauf, sie wollte nicht in diesem hilflosen Zustande überrascht werden und entschloß sich, die letzten Stufen noch zu überwinden.

»Die Anprobe für die Fürstin von Ermingen,« rief ein hübsches, schwarzgekleidetes Mädchen, als Arlette erschien.

Bei dem Titel »Fürstin« blickten alle übrigen Kunden auf und instinktiv richtete Arlette sich straff empor, während sie durch den Saal ging. Sie war zu sehr Weltdame, um nicht die ärgsten körperlichen Qualen für einen Augenblick, zu unterdrücken, wenn die Form es von ihr verlangte.

Eine halbe Stunde später hatte Arlette immer noch nicht anprobiert, sie war viel später als zur angesetzten Stunde gekommen, und das Fräulein, das sie zu bedienen pflegte, war beschäftigt. Aber sie amüsierte sich inzwischen damit, eine ganze Menge neue Sachen zu bestellen, in einem förmlichen Anfall von Eitelkeit, wie er von Zeit zu Zeit über sie kam und dem sie sich willenlos zu überlassen pflegte, sich geradezu daran berauschte. Sie hatte absolut keine persönlichen Hilfsquellen mehr (ihr ganzes Vermögen bis auf eine sichergestellte Rente von zweitausend Franks war bei dem Bankkrach von Bordeaux verloren gegangen) – sie wurde unaufhörlich von Gläubigern bedrängt, die ihr die unbezahlten Rechnungen von zwei Jahren präsentierten, sie kannte Christians Zorn, wenn die Lieferanten sich an ihn wandten, und doch brachte sie es fertig, in einer halben Stunde dreihundert Louisdor Schulden zu machen, ohne überhaupt nach irgend einem Preis zu fragen.

Endlich erschien das Probierfräulein, Mademoiselle Armande, eine hübsche, schlanke Brünette mit klugen, dunklen Augen, die sich ohne Aufdringlichkeit entschuldigte:

»Ich bedaure unendlich, daß ich Hoheit habe warten lassen, aber ich hatte die Hochzeitstoiletten für Mademoiselle Camory-Laurin anzuprobieren, die nächstens den Duc d'Epinière heiratet.«

Sie warf diesen Namen nachlässig hin, wie jemand, der die sozialen Rangstufen wohl abzuschätzen weiß. Ein magres Ladenmädchen mit Pfropfenzieherlocken brachte jetzt ein wunderbares Kostüm aus spanischen Kreppschals. Die geniale Schneiderin war auf die Idee gekommen, mit Hilfe von Spitzenzwischensätzen unglaublich luxuriöse Abendtoiletten daraus zu gestalten. Arlettens Blick wurde plötzlich wieder lebhaft.

»O, sehr hübsch!« sagte sie. Dann nahm sie den Hut ab und begann sich rasch auszukleiden, fast ohne Hilfe der dienstbereiten Mädchen. Ein großer Spiegel á la Louis XIV. aus Rosenholz mit zierlichen Bronzegewinden gab das reizvoll komische Bild wieder, wie sie so in Höschen und Korsett dastand. Die Freude über das Kostüm hatte ihre Wangen wieder etwas gefärbt. Sie ließ die Achselbänder ihres Hemdes, die aus Valenciennespitzen bestanden, herab und man warf ihr den Rock über. Und nun rief das Probierfräulein ganz entsetzt: »Aber wer hat denn Hoheit heute das Korsett geschnürt?«

Die Fürstin wurde etwas blaß:

»Ich leide seit einiger Zeit an Magenverstimmungen, und meine Zofe darf mich nicht so fest schnüren, aber jetzt können Sie es ruhig um zwei Zentimeter fester anziehen. Sehen Sie« – damit schob sie die Hand zwischen Hemd und Korsett.

»Hoheit haben eine so schöne Taille – Emilie, zieh die Schnüre ein wenig fester an.«

Emilie, das kleine Ladenmädchen mit den Locken, machte die Korsettschnur auf und begann sie fester anzuziehen, wie ihr befohlen wurde. Vielleicht machte sie es etwas zu energisch, denn in demselben Moment stieß die Fürstin einen leisen Schrei aus und schwankte. Die beiden Mädchen fingen sie rasch auf und trugen sie auf eine Chaiselongue.

»Du ungeschicktes Ding,« schalt Mademoiselle Armande halblaut und versetzte der verblüfften Emilie einen tüchtigen Puff – »rasch, hol Riechsalz – was wird die Direktrice sagen – lauf, rasch!«

Arlettens Ohnmacht dauerte ziemlich lange; als sie wieder zu sich kam, schüttelte es sie wie im Fieber. Aber sie beklagte sich nicht, es schien ihr vielmehr peinlich, daß sie solche Unordnung verursachte.

»Ich glaube, mir ist heute nicht wohl genug, um weiter anzuprobieren,« sagte sie, »wissen Sie, liebe Armande, ich werde lieber morgen recht zeitig wiederkommen. Außerdem ist es heute so spät, daß wir nichts mehr sehen können. Danke schön für Ihre liebenswürdige Fürsorge, und auf morgen.«

Die beiden Mädchen waren eifrig bemüht, ihr beim Wiederankleiden zu helfen, sichtlich erleichtert, daß Arlette Emiliens Ungeschicklichkeit mit keinem Wort erwähnte. Dann stieg sie wieder in ihr Coupé:

»Nach Hause.«

Auf den Tee bei Holtz verzichtete sie.

»Ich fühle mich heute zu elend, es geht nicht. Ich möchte nicht in großer Gesellschaft noch einen solchen Anfall bekommen. Bei Emery, das kommt nicht in Betracht; die Mädel werden nichts davon erzählen.«

Die im Wagen angebrachte Uhr war schon über halb sechs. »Jetzt sind sie schon alle da,« dachte Arlette. Sie stellte sich den riesigen Hotelsaal vor, voll von Blumen, Lichtern, eleganten Frauen, den Tisch, an dem Madeleine, Jérôme, der italienische Dichter, die kleinen d'Avigres und Christian saßen. Wie war sie das alles müde, diese ewige leere Geselligkeit, die sie nun schon so viele Jahre mitgemacht hatte, erst unter ihrer Mutter und dann als junges Mädchen unter Madeleines Leitung. Alle die Bekannten kamen ihr jetzt auch so leer und hohl vor, obgleich doch manche geistvolle Menschen darunter waren, wie zum Beispiel der dicke Gampardon. Aber in ihrer jetzigen Gemütsverfassung erschien ihr alles so widerwärtig, das ganze Leben und Treiben, selbst die witzigsten Gespräche. »Die kleinen d'Avigres und Jérôme, die sind noch bei weitem das Beste von der ganzen Bande.« – Aber eigentlich gehörten Rose und Marguerite kaum mit zu ihrem Kreise. Ihre Mutter war Engländerin und hatte sie sehr ernst erzogen. Sie hatten viel gelernt, beschäftigten sich eingehend mit allerlei Wohltätigkeitseinrichtungen und tauchten nur hier und da einmal in der Gesellschaft auf, meist nur, wenn irgendein spezielles Interesse höherer Art sie dazu veranlaßte, so wie heute das Erscheinen des italienischen Dichters. Jérôme ließ sich öfters blicken, es amüsierte ihn anscheinend, dieses Milieu zu studieren, und er war Arlette immer ein treuer Freund geblieben, seit damals, wo sie als Kind die Osterferien bei seiner Mutter zubrachte. Aber im Grunde fürchtete sie sich ein wenig vor ihm, sie fühlte wohl, daß er nicht ganz zufrieden mit ihr war und sie gerne anders gesehen hatte, besonders seit einigen Monaten. Und dieses Gefühl machte ihr seine Gegenwart oft peinlich.

»Mein Gott, ich habe so genug von alledem, von allen diesen Leuten,« murmelte die junge Frau vor sich hin, und wieder kam die Verzweiflung über sie, ihre Hände brannten wie im Fieber – »wenn ich sie nur nicht mehr zu sehen brauchte, nie mehr, nie mehr. Vor allem Madeleine ... die schöne Madeleine mit den melancholischen Augen, meine intime Freundin und die Geliebte meines Mannes.«

Es war nicht zum erstenmal, daß sie sich das Abscheuliche dieser ganzen Situation klar machte, aber vielleicht, daß sie es so klar formulierte.

Aber ihr ganzes Denken war zu oberflächlich, um lange bei einem Punkt zu bleiben, die verschiedenen Bilder kamen und gingen in raschem Wechsel. Sie vergaß Madeleine und stellte sich plötzlich vor, wie Rémi de Lasserade bei Holtz in den Saal trat – sein hübsches Pagengesicht, das braune wellige Haar, seine ausgesuchte Eleganz, die frauenhaft zarten Hände. – Und nun beugte sie sich zum Fenster hinaus: »Jean – zu Holtz – rasch!«

Der Kutscher, an die wechselnden Launen seiner Herrin gewöhnt, wendete sofort um. Arlette war selbst über ihren plötzlichen Entschluß erstaunt und fing schon an, ihn zu bereuen.

»Wenn ich ihn nun bei Holtz treffe – und wenn er mir sagte, daß er mich immer noch liebt...«

Nachgeben – das Leben der vergangenen Monate wieder aufnehmen, das so reich an Schmerzen war, aber auch an schönen Stunden – »o Gott, wenn er wollte, würde ich sicher nicht imstande sein, nein zu sagen. Aber es ist sonderbar, ich möchte wieder anknüpfen und fürchte mich auch wieder davor. Es wäre besser nicht –«

Nein, sie wollte danach streben, Seelenruhe zu finden, Gleichgewicht und moralische Harmonie in sich selbst, um sich von all dieser Qual zu befreien – eitle Träume, wo sie es doch nicht lassen konnte, die verhängnisvolle Begegnung zu suchen, und die fieberhafte Erwartung in ihr sich mit jeder Minute steigerte.

*

Als die Fürstin von Ermingen an dem Perron des Hotels Holtz ausstieg, mischte sich der letzte gelbliche Tagesschein mit dem Lichte der großen dreiarmigen Kandelaber. Es herrschte ein solches Gewühl von Wagen und Automobilen, daß Arlettens Coupé nur langsam bis unter die Halle vordringen konnte. Und es stiegen so viele elegante Herren und Damen aus, daß man hätte glauben sollen, die ganze Pariser Gesellschaft feierte ein großes Fest. Und doch war es nur ein flüchtiger Haltepunkt in dem ganzen Strom des geselligen Treibens, der gerade für eine kurze Zeit Mode geworden war.

Arlette drückte hier einem jungen Mann die Hand, der gerade das Hotel verließ, begrüßte dort eine hübsche blonde Dame, die sich in der Halle in einem Lehnstuhl dehnte und kam schließlich in den langen Saal, wo die five o'clocks abgehalten werden. Sie fühlte sich jetzt beinahe froherregt, und die körperliche Beklemmung war geschwunden.

Eine ziemlich gemischte Gesellschaft erfüllte den Saal mit lautem, geräuschvollem Leben, es waren viele Ausländer darunter, einige neugierige Bourgeois, auch die Demimonde war vertreten, aber nur jene oberste Schicht derselben, die der guten Gesellschaft so nahe steht, daß man ihr hier und da gestattet, die Grenze zu überschreiten. Das Ganze machte den Eindruck eines eleganten Kasinos oder sehr freien Salons, wie überhaupt Paris in den letzten fünfzehn Jahren, seit die Flut der Kosmopoliten es immer mehr überschwemmt.

Wie alle Frauen der besseren Gesellschaft, sah Arlette nur die Gesichter derer, die zu ihren Kreisen gehörten. Sie blieb mitten im Saale stehen, und ließ ihren Blick umherschweifen, – in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritt entdeckte sie Madeleines schimmernden Nacken unter dem schweren, dunklen Haar. Neben ihr saß ein breitschultriger Mann mit üppigem, blondem Haar und Bart. Sie hatte sich vorgebeugt, den Arm auf die Lehne seines Stuhles gelegt, und sprach vertraulich mit ihm, er hörte mit sorgenvollem Ausdruck zu: es war Christian von Ermingen. Beide saßen etwas abseits von dem runden Tisch, auf dem die Teetassen standen. Am Tisch selbst saß ein junger Mann in hellgrauem Jackettanzug und grüner Krawatte, der seinen weichen Filzhut zwischen den Händen drehte und sich mit Jacques de Péfaut unterhielt. Madame d'Ars, eine graziöse, etwas rundliche kleine Frau in pastellblauem Schneiderkleid und bläulicher Federboa, aus der ihr niedliches Grisettengesicht hervorguckte, hatte sich mit dem Maler Apistral isoliert, dessen hohe Gestalt mit dem Henri IV-Typus die Aufmerksamkeit der Damen erregte.

»Rémi ist nicht da,« dachte die Fürstin, denn der einzige, den sie suchte, war nicht unter den Gästen zu entdecken. Etwas kühner wagte sie sich jetzt vorwärts. Christian war der erste, der sie bemerkte und Madeleine aufmerksam machte, und jetzt wurde sie von der ganzen Tafelrunde begrüßt.

»Liebste Arlette – wie bist du heute wieder schön,« rief Madeleine, »ich möchte dir gleich einen Kuß geben, aber unsre Hüte – – ist sie nicht reizend, Christian? – Arlette, ich stelle dir hier unsren Freund Giuseppe Saraccioli vor, den berühmten italienischen Dichter – – die Fürstin von Ermingen.«

Der Apollo von Canova in grauem Anzug beugte sich über die Hand, die Arlette ihm reichte.

»Leider verstehe ich nicht genug Italienisch,« sagte diese, »so habe ich Ihren berühmten Hymnus an die Jungfrau Maria nicht im Original lesen können.«

»O Fürstin,« sagte er, vor Stolz errötend, »aber Sie wissen wirklich, daß dieses kleine Werk von mir ist.«

Der Name seiner Dichtung, von den Lippen einer vornehmen Pariserin nachlässig hingeworfen, bereitete ihm mehr Genuß wie die akademischen Ehren seines Vaterlandes. Madeleine bemerkte das wohl und ärgerte sich im stillen darüber, sie beanspruchte die Huldigungen aller Männer für sich allein. So wandte sie sich ironisch an den Fürsten und sagte ganz laut:

»Seit wann ist denn Ihre Frau so literarisch geworden, Christian?«

Er zuckte lächelnd die Achseln, aber Arlette hatte von alledem nichts bemerkt. Sie saß wie angewurzelt an ihrem Platz, mit weit offenen Augen, und ein kalter Schauer nach dem andern durchrieselte ihren Körper. An dem Stuhle neben Madame de Guivre hatte sie einen Spazierstock stehen sehen – den sie kannte – denn sie selbst hatte ihn Rémi de Lasserade voriges Jahr zu Weihnachten geschenkt.

»Willst du Tee, Liebste?« fragte Madeleine und reichte ihr eine Tasse. – »Aber sprechen Sie doch weiter, Saraccioli – weißt du, er hat eben einen so interessanten Vergleich zwischen den Fresken von Lucca Signorelli und denen in Monte Oliveto aufgestellt.«

Arlette hatte sich niedergelassen, und während der Italiener mit beneidenswerter Beredsamkeit in seinem Vortrag fortfuhr, hatte sie Zeit, ihre Nerven zu beherrschen und sich in dem großen Saal umzublicken. Endlich entdeckte sie Rémi, über einen kleinen Tisch gebeugt, an dem zwei berühmte Schauspielerinnen saßen. Von den Nachbartischen gingen unaufhörlich Blicke zu dieser Gruppe hinüber, verstohlene oder entrüstete von den Frauen und übelwollende von den Männern, alle nahmen lebhaftes Interesse an diesem jungen Mann, dessen Schönheit und Eleganz in Paris schon eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Von den beiden Schauspielerinnen war die eine schon in reiferen Jahren, die andre in jenem undefinierbaren Alter, das die Pariser Höflichkeit noch mit Jugend bezeichnet, beide sahen mit dem Blick der »grandes amoureuses« zu ihm auf und ließen ihre Busen wogen, wie in einer entscheidenden Szene des dritten Aktes. Auch Arlette beobachtete ihn aus der Entfernung, seine schlanke Gestalt, die das enge Jackett knapp umschloß, die graziöse und dabei gebieterische Kopfhaltung und das etwas herablassende Lächeln – sie vergaß alles andre und sah nur noch ihn. Arme Arlette, es war nicht heißes Verlangen, das ihr Blut durchglühte. Selbst zu der Zeit ihrer ehebrecherischen Liebe hatte sie in seinen Umarmungen vor allem nur die Zärtlichkeit genossen und sicher war auch diese Passivität ihrer Sinne schuld daran, daß er ihrer so rasch müde geworden war. Und jetzt wieder, als sie ihn sah, das einzige Wesen, von dem sie jemals Liebe erhofft hatte, dachte sie nur: »Warum stößt er mich von sich – was habe ich ihm getan?« – Aber sie empfand keine Eifersucht auf die beiden Schauspielerinnen, mit denen er flirtete, noch auf die Unbekannte, die sicher jetzt ihren Platz einnahm. Sie sehnte sich nur nach dem Freunde und Gefährten, den sie eine Zeitlang zu besitzen glaubte, dessen leichtsinniges Haupt an ihrer Brust geruht und ihr die Illusion geschenkt hatte, daß sie nicht mehr ganz allein auf der Welt sei. Der Italiener merkte nichts davon, daß Christian mit finstrer Miene ausschließlich mit Madeleine beschäftigt war, während Madeleine verstohlen jede Bewegung Rémis beobachtete, noch daß Madame d'Ars und Apistral sich heimlich die Hände drückten, er redete unermüdlich weiter vom Monte Oliveto, und Jerôme de Péfaut war der einzige, der ihm zuhörte.

»Ich war während meines Aufenthaltes in diesem Kloster gezwungen, wie ein Mönch zu leben, und meine Seele wurde schließlich wie die eines Menschen aus dem vierzehnten Jahrhundert ... Die Gestalten Signorellis und Sodomas wurden mir lebendiger, wie meine Zeitgenossen aus Fleisch und Blut. Da ist jene schöne Courtisane von Sodoma, die einen Heiligen versucht, ich habe sie besessen, und nie habe ich mit einer lebenden Geliebten solche Wonne genossen.«

Und Arlette dachte währenddem: »Wenn ich ihn nur manchmal sehen könnte wie früher, etwas für ihn tun, seine Einkäufe für ihn besorgen, ihm langweilige Gänge abnehmen, ihn manchmal in Gesellschaft treffen und wissen, daß er an mich denkt – ach, es wäre mir ja so gleichgültig, ob er andre Maitressen hat.«

Allmählich war das Stimmengetöse im Saal etwas ruhiger geworden. Es war über halb sieben, die Tische leerten sich, die Hitze war nicht mehr so drückend. Und jetzt kamen Rose und Marguerite d'Avigre.

»Denken Sie nur,« sagte Marguerite zu Madeleine, »wir konnten jetzt erst unsre Bude schließen. Wie gewöhnlich kamen die meisten erst nach fünf Uhr. Aber wir wollten unser Wort halten und sind trotz der späten Stunde noch gekommen. Aber bestellen Sie keinen Tee mehr, es ist nicht der Mühe wert.«

Arlette war froh über die Ablenkung, denn grade jetzt verabschiedete Rémi sich von seinen Damen, und die Unruhe, die durch die Ankunft der Schwestern entstanden war, machte es ihr leichter, die Haltung zu bewahren.

Rémi kam an den Tisch, reichte erst den beiden Zwillingen und dann Arlette die Hand:

»Guten Tag, Hoheit, wie geht es denn?«

Ziemlich sicher antwortete sie:

»O danke, sehr gut, und Ihnen?« während er die übrigen begrüßte, dann Madeleine beiseite zog und ein paar Worte mit ihr wechselte. Es frappierte Arlette, daß Christian die beiden während dieses kurzen Tête-à-têtes mißtrauisch beobachtete. Gleich darauf sah das Ehepaar sich einander gegenüber, rechts von ihnen Rémi und Madeleine, links Jerôme und der Dichter, zu denen Rose und Marguerite sich gesellt hatten.

»Willst du heute abend zu Hause speisen, Christian?« fragte Arlette, nur um irgendetwas zu sagen und den Laut ihrer eignen Stimme zu hören.

Höflich und zerstreut antwortete er:

»Nein, Madeleine hat in der Tour d'Argent ein Diner arrangiert und nachher in den Zirkus. Willst du nicht auch hinkommen?«

»Nein, ich bin etwas angegriffen.«

»Ah,« sagte er und blickte sie fest an. Seine Augen erschienen in diesem Augenblick fast schwarz bei dem Licht der elektrischen Lampen. Arlette hielt seinen Blick gleichgültig aus. Ihr schien jetzt alles so völlig unwesentlich. Man hätte sie auf dem Fleck niederschlagen können, sie schrak selbst vor dem völligen Nichts nicht mehr zurück.

Der Saal wurde immer leerer; schon fingen die Kellner an, die Tische zum Diner zu decken. Madeleine kam plötzlich auf Arlette zu und überschüttete sie mit Liebkosungen.

»Was, du willst nicht mit uns kommen? – das ist ja eine nette Art, Rémis Rückkehr zu feiern. Was bedeuten überhaupt diese Klosterneigungen, denen du seit einiger Zeit huldigst. Langweilst du dich unter uns oder bist du krank?«

»Ich langweile mich gar nicht,« antwortete Arlette mit erzwungenem Lächeln, »mir ist nur nicht recht wohl, offen gesagt, mein Magen ist euren komplizierten Menüs nicht gewachsen.«

»Du kannst essen, was, du willst – man zwingt dir doch nichts auf – – – Herr Saraccioli,« wandte sie sich gebieterisch an den Dichter, den Jerôme und die Zwillingsschwestern ganz mit Beschlag belegt hatten – »sagen Sie der Fürstin, daß sie heute abend mitkommen muß. Dem Verfasser des berühmten Hymnus wird sie nichts abschlagen können.«

»O Fürstin,« sagte der Dichter, ohne die Ironie herauszufühlen, »Sie müssen, müssen kommen ... Sie dürfen unsern Augen nicht den Genuß des eigenartigen Kontrastes entziehen, der zwischen Ihrer und Madame de Guivres Schönheit besteht.«

Dieses allzu direkte Kompliment mißfiel Arlette. Aber sie war zu müde, um zu widersprechen, und um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, sagte sie schließlich:

»Nun also, wenn ich irgend kann, werde ich kommen.«

Die beiden d'Avigres, Jérôme und Saraccioli blieben noch in eifrigem Gespräch sitzen. Madame d'Ars und fast gleichzeitig auch der Maler verabschiedeten sich. Der Fürst von Ermingen, der keinen Tee getrunken hatte, ließ sich jetzt Sherry bringen. Stumm saß er da, während Madeleine, Rémi und sogar Arlette über allerhand gleichgültige Dinge plauderten. Schließlich sammelte sich alles um Jérôme und Saraccioli, die zu disputieren anfingen.

»Also im Grunde,« sagte Péfaut, »repräsentieren Sie in der italienischen Literatur die katholische Reaktion gegen die allgemeine positivistische Tendenz.«

»Es wäre in der Tat mein Traum, der Chateaubriand Italiens zu werden,« erwiderte der Italiener heiter.

Die beiden Schwestern wechselten einen belustigten Blick, während Jérôme einwendete:

»Was mich noch irre macht und was Sie von unsrem Chateaubriand unterscheidet, ist eben, daß – der Hymnus an die Jungfrau Maria und noch einiges andre ausgenommen – Sie vor allem die Sinnenlust besingen und durchaus kein Moralmensch sind.«

»Was Sie Moral nennen, ist mir tatsächlich ganz gleichgültig,« sagte Saraccioli. – »Ich habe den Glauben eines Menschen aus dem vierzehnten Jahrhundert, der sich um alle eure Sittengesetze absolut nicht kümmerte. Übrigens lesen Sie nur einmal die Evangelien, so werden Sie finden, daß Christus gegen Sünder meiner Art immer äußerst milde war.«

Er sagte das nicht ohne Ironie, aber mit einer gewissen Harmlosigkeit.

»Péfaut ist Atheist,« sagte Marguerite d'Avigre. »und wenn jemand an Gott glaubt, hat er, nach seiner Ansicht, kein Recht mehr zu der geringsten Unvollkommenheit. Er selbst ist aber auch wirklich vollkommen.«

»O nein, ich mache gar keinen Anspruch darauf,« antwortete Jérôme. »Aber ich gestehe Ihnen, daß ich die konventionelle Frömmigkeit absolut verachte. Sehen Sie, Herr Saraccioli, bei uns zulande steht es schlimm für den, der seine Meinung ehrlich vertreten will. Freidenker und Klerikale zerreißen sich gegenseitig, aber glauben Sie nur nicht, daß das Überzeugungssache ist. Es dreht sich dabei ausschließlich um armselige politische Interessen oder um das Wohl irgend einer Partei.

»Da hat Jérôme recht,« warf Madeleine ein, »Frankreich ist im Grunde ein völlig ungläubiges Land, sogar die Skeptiker spötteln über ihren eignen Skeptizismus.«

»Aber Jérôme, wenn Sie uns schon verdammen, so belehren Sie uns doch wenigstens über das Wesen Ihrer Morallehre.«

»Mein junger Freund,« erwiderte Péfaut und stand auf, »Sie möchten mich wohl gerne ein wenig zum Narren halten, wenn Sie mich bitten, jetzt einen Vortrag über Moral zu halten, hier bei Holtz, um 6 Uhr abends, und in Gegenwart von schönen Frauen. Da haben Sie sich aber verrechnet.«

»Wenn ich dich nun aber bitte, mir den Hauptinhalt deiner Moral zu sagen« – drang Arlette in ihn.

»Gut, dir will ich es ins Ohr sagen wie ein Geheimnis.«

Sie rückte näher und er flüsterte ihr zu:

»Immer der Wahrheit gehorchen, immer nur die Wahrheit sagen und folglich auch so handeln, daß man sie immer sagen kann.«

Arlette hatte einen Scherz erwartet, nun verstand sie ihn nicht ganz und fand es banal. Péfaut nahm Abschied und ging mit Saraccioli fort, gleich nach ihnen auch Rose und Marguerite. Arlette blieb mit ihrem Mann, Rémi und Madeleine zurück. Rémi rauchte eine Zigarette und der Fürst trank langsam seinen Sherry. Sie war sehr müde und hatte das Gefühl, in einem Labyrinth ohne Aufgang umherzuirren, willenlos, jedem Zufall überlassen.

Es schlug ein halb sieben, ringsumher waren die Tische zum Diner gedeckt, und alle möglichen Gäste kamen um zu speisen. Trotz ihrer Mattigkeit bemerkte Arlette schließlich, daß der Fürst Madeleine nicht mit Rémi allein fortlassen wollte. »Also Rémi und Madeleine,« dachte sie – sie fühlte keine Eifersucht, aber sie kannte Christians Jähzorn und begann für Rémi zu fürchten. Die beiden Männer beobachteten sich bei aller Höflichkeit mit finstern Blicken, während Madeleine Gleichgültigkeit heuchelte und fast nur mit Arlette sprach. Endlich erhob sie sich, sah Christian an, dessen Augen vom Alkohol glänzten und sagte:

»Schon sieben Uhr. Ich mache mich jetzt aus dem Staub. Wen von euch beiden soll ich mitnehmen? Ich glaube, Rémi hat einen Fiaker vom Klub?«

»Ja,« sagte der junge Mann, und auf einen Wink von Madeleine:

»Ich kann den Fürsten mitnehmen. »Wo gehen Sie hin, Christian?«

»In den Klub, mich umkleiden,« und sein Gesicht hellte sich auf, »also ich komme mit. Besten Dank.«

»Gut, gehen wir.«

Die Fürstin verabschiedete sich von Madeleine und versprach pünktlich zu kommen. Als sie wieder in ihrem Koupee saß, atmete sie auf. Sie wunderte sich selbst, daß sie nicht mehr darunter litt, Rémi so fremd und gleichgültig zu sehen, als ob nie etwas zwischen ihnen gewesen wäre. Und sie fürchte e sich nicht mehr vor ihrer eignen Schwäche: »es ist vorbei – ich bin jetzt wirklich allein.« Ihr schien, als wäre sie auf einer Reise und verließe das Land, wo sie bisher gelebt hatte, um, Gott weiß wo, zu landen. War es nicht seltsam? Sie hatte so sehr gelitten, die Monate, wo er fort war, und jetzt war ihr Inneres wie verwandelt, sie hatte sich heute beinah vor ihm gefürchtet. Bewegt dachte sie daran, wieviel Liebe sie ihm gegeben hatte, und doch überwog die Erinnerung an die ausgestandenen Leiden. Aber auch das war jetzt vorbei, denn sie würde ihm niemals mehr angehören, er wollte ja nichts mehr von ihr wissen. Und auch keinem andern, o Gott nein, keinem andern. Bisher hatte sie halb gehofft und halb gefürchtet, daß ihre Beziehungen sich erneuern würden – von dieser Ungewißheit war sie jetzt befreit, und in einem wohltuenden Gefühl von Stumpfheit und Ermattung schlummerte sie bei dem gleichmäßigen Dahinrollen des Wagens ein.

Aber plötzlich fuhr sie wieder empor – nein, nein, ihre Leiden waren noch nicht zu Ende. Im Gegenteil, die schwerste Tragik lag noch vor ihr. – Seit über einem Jahr hatten sie und Christian nicht mehr als Mann und Frau zusammen gelebt; und wenn es wirklich war, was sie immer noch nicht glauben wollte, trotz aller deutlichen Anzeichen, die sie auch heute wieder so dringend gemahnt hatten ... was dann, um Gotteswillen, was dann? ...

Der Wagen hielt jetzt vor ihrem Hause – eine rasende Empörung gegen die Ungerechtigkeit ihres Schicksals schüttelte sie.

»Nein, es kann nicht sein,« dachte sie, »es wäre ja furchtbar. Es darf nicht sein, ich will es nicht, will es nicht.«


 << zurück weiter >>