Hermione von Preuschen
Yoshiwara - Vom Freudenhaus des Lebens
Hermione von Preuschen

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Zweiter Teil

Shiragiku

Am anderen Tag zog Boris mit Indra in die Weite. Der Abschied von der Pension Vais fiel ihr nur allzu leicht. Sie hatte niemals viel übrig gehabt für Ella, Bella und Konsorten. Eine schrecklichere Madame konnte sie in keiner »Pension« von ganz Asien finden. Nur die Trennung von Margot tat ihr weh. Sie war trotz allem ein gutes, kleines Mädchen. War es denn ihre Schuld, diese »Wassersucht« der Sinne, die all ihre anderen guten und großen Gaben überwuchert hatte und sie zu einem blindwütigen Werkzeug der Natur gestempelt, von Kindheit an? Das war eine Mänade von den Corybanten der Antike und an sich doch so gutherzig und arglos. Nur die Natur lehrte sie alle Tricks ihres Geschlechts. Sie brachte das Paar noch an Bord und weinte viele Tränen. Winkte noch zum Abschied mit dem Spitzentaschentüchlein, das hin und her flatterte wie ein weißer Schmetterling. Kaum vier Monate war es her, da hatte Indras Tüchlein geflattert zu einem Lebewohl für die Mutter. Ach, dieser Schmetterling war lang verflogen, übers Meer, in Nacht und Schande, dachte wohl die Mutter in ihrem engen Sinn. Und hatte sie nicht vielleicht dennoch recht? War alles, was sich Indra immer wieder sagte, nur ein Mäntelchen für ihre eigene böse Lust, die schlechten Instinkte, die der mehr wie dreimonatige Aufenthalt bei solcher Pensionsmutter in ihr geweckt? Wie eine offene Wunde trug Indra das Verstummen ihrer Mutter, da sie doch wieder und wieder zu ihr gefleht hatte in ihrer tiefsten Not.

Auf dem Dampfer gab Brostoczicz Indra für seine Frau aus, und sie ruhte allnächtlich an seinem Herzen. Es war ja alles gleich, sagte sie sich, und Boris war besser als ein anderer. Sie fühlte auch, daß ihre Sinne jählings erwacht waren und nach Sättigung schrien.

Und der große Verführer tat sein Werk, er weihte sie ein in den Astartenkult – und sie wurde seine gelehrige Schülerin.

Nun würde sie ein würdiges Mitglied der berühmten Number nine werden. Boris war im tiefsten entzückt und erschüttert. Er betrachtete dies Weib als sein Opfer, sein Werk und sein Geschöpf und war schon eifersüchtig im Geist auf seine Nachfolger. Nach vierzehn Tagen, am Nachmittag, kamen sie nach Yokohama und fuhren gleich, nach Number nine. – »Ich werde mir natürlich vorbehalten, dir in den nächsten Tagen noch etwas von der Umgebung zeigen zu dürfen, wie in Singapore,« sagte er.

Indra war dies nur allzu erfreulich. Ach Reisen, Reisen, die Welt sehen, alles lernen, Revelationen in sich fühlen und Emotionen. Was kam dem gleich? Nicht einmal die Freuden des Sinnenkults. Sie nannte jetzt schon ganz unwillkürlich »Freuden«, was ihr anfangs nur Abscheulichkeiten waren. – Als beide vor »Number nine« aus ihren Rickshaws stiegen – die Dunkelheit war gerade hereingebrochen – konstatierte Indra eine ziemlich menschenleere Gasse mit niederen Häusern. Number nine war wirklich Number nine in dieser Straße, ein weitläufiges, nicht sehr hohes Haus, gelb angestrichen – mit vielen Holzgalerien. Es sah ziemlich unscheinbar aus. Sie mußten lange pochen, endlich kam eine dunkelgekleidete, unendlich ehrbar aussehende, junge Japanerin mit dunkler Brille. »Das ist die Hausdame,« flüsterte Boris.

»Das Haus ist nicht vor neun Uhr geöffnet, und jetzt ist es sechs Uhr,« sagte sie. Boris antwortete: »Ich weiß, aber ich bringe die neue ›Shiragiku‹. Das japanische Fräulein musterte Indra erstaunt. »Ist sie nicht allzu groß und imposant für uns? Wie soll sie jemals das Mausspiel lernen?« – »Ist auch nicht nötig, daß jeder jedes kann, es lebe die Individualität.« Das japanische Fräulein lächelte, ein gutes, harmloses Lächeln, das ihr sogleich Indras Herz gewann. »Come in, please, bitte, treten Sie ein: Madame, meine Tante, hat mir von der Neuen gesprochen, die erst angelernt und japanisiert werden müsse. Vielleicht sieht sie im Kimono ganz echt aus. Ihre Augen stehen fast japanisch, nur sind sie etwas zu groß. Sie müßte dann vielleicht eine Brille tragen, und wir könnten sie Taubenauge nennen.« – »Alles schon dagewesen,« lächelte Boris, »drüben in Tokio, in Yoshiwara, sitzt schon ein Taubenauge mit großer, schwarzer Brille, laßt ihr nur ihre eigenen Augen, sie sind schön genug!« – Sie waren mittlerweile durch eine große, betäubend nach frischen Blumen duftende Halle, eine breite, mattenbelegte Treppe emporgestiegen. Indra mußte unwillkürlich an die knarrende Hühnerstiege der Madame Vais denken. Eine Galerie lief von hier um das ganze Haus, auf die sich, wie die Zellentüren in einem Kloster, zahlreiche Schiebetüren, sechs auf jeder Seite, also vierundzwanzig im ganzen, öffneten. »Auf diesen beiden Seiten wohnen die Mädchen,« sagte das ehrbare Fräulein. »Und bei der einen wollen wir die meine Shiragiku einquartieren. Dann wird sie sich am schnellsten zur Japanerin umwandeln.«

Sie öffnete nun ein paar Schiebetüren. In jedem der kleinen, mit gelbem Naturholz vertäfelten Japanerstübchen saßen oder standen zwei Mädchen, plaudernd, lachend sich den Ohr, die breite Rückenschleife, zurechtzupfend, oder in einen anderen Kimono schlüpfend. Andere wieder hockten vor dem Spiegel, puderten und schminkten sich, färbten sich die Augenbrauen und die Nägel, steckten sich Blumen ins Haar, wärmten sich an einem bronzenen Räucherbecken, dem Shibachi, knieten vor ihrem Teeservice.

Es waren reizende Momentbilder, die sich da mit dem Auf- und Zurollen der Schiebetüren vor Indras entzückten Augen zeigten. In manchen Stuben sah sie auch auf einer Estrade, in einer Nische der Holzwand, einzelne große Blütenzweige in Bronzedrachenvasen stehen. – »That shall be your room, das ist Ihr Zimmer,« sagte die Brillenmiß zu Indra, die letzte Tür aufschiebend, in der nur ein Mädchen, eine ziemlich Große, Schlanke, vor dem Spiegel stand. »Und wo ist mein Bett?« fragte Indra unwillkürlich. Das Hausfräulein lächelte. Sie deutete aus den mattenbelegten Boden, vor dem am Eingang, wie in allen anderen Stuben, fein ordentlich die Holzpantöffelchen standen. Kein Japaner betritt mit staubigen Schuhen sein Gemach. An der Wand standen zwei winzige »Kopfstützen«, wie es Boris nannte, und lagen ein paar warme Decken. »Man gewöhnt sich an alles,« sagte Fräulein Momidji. (»Das bedeutet Ahorn,« flüsterte Boris.) »Aber es gibt auch Betten im Hause, ich will sie Ihnen zeigen.« Und sie führte die beiden auf die andere Seite der Galerie. »Here are the guestrooms,« hier sind die Gastzimmer. Das waren kleine, weiße, viereckige Stuben, strahlend von Reinlichkeit. In der Mitte ein riesengroßes, schneeweiß bezogenes, französisches Bett, mit Bergen von Kissen, mit gestickten Volants und einer monogrammartigen Riesenneun in der Mitte, mit ein Wappen.

Auf der einen Seite ein marmorner Waschtisch mit großen, blanken, wassergefüllten Kannen, mit Eimern und einem Riesenpack frischer Hand- und Frottiertücher. Auf der weißen, glänzend polierten Marmorplatte des Nachttisches aber stand ein riesiger, frisch und üppig blühender Azaleentopf. Die einzige Farbe in der klösterlichen, keuschen Weiße, wie ein großer, bunter Schönheitsfleck! Die zwölf Stuben waren in allem gleich, nur die Farben der Azaleenstöcke waren verschieden. Alles blitzte vor Sauberkeit. »Number nine ist weltberühmt,« sagte jetzt Miß Momidji. »Es ist alles klar zum Gefecht,« flüsterte Boris. »Sie müssen noch den tearoom und die Bar sehen,« fuhr das bebrillte Fräulein fort, »und den Salon, und unser Prachtstück, die Hall. Sie wird schon beleuchtet sein, jetzt.« – Und sie gingen auf einer schmalen Wendeltreppe hinunter in den Salon, der einem modernen europäischen Hotel Ehre gemacht hätte, mit seinen schönen japanischen Stickereien und Möbeln, und dann, ein behagliches tearoom durchkreuzend, durch eine breite Schiebetür in die Hall. Ein Ausruf des Entzückens drang von Indras Lippen. Der ganze Hintergrund und die Treppenrampen waren bestellt mit tausenden blühender Azaleen- und Kamelientöpfe. Dazwischen blühende Orangenbäumchen, weißer Flieder und Tuberrosen. Es war wie die piece de résistence in einer großen Blumenausstellung. Einfach wundervoll. »You are in Number nine,« sagte die Brillenmiß fast ehrfurchtsvoll. »Täglich werden die Blumen, wenn es nötig ist, erneuert. Das ganze Jahr hindurch ist hier eine flowershow mit den Blüten der Jahreszeit.«

»Warum tragen Sie eigentlich eine Brille,« fragte Boris, »Ihre Augen sind doch japanisch schmal wie die Sinnenschlitze der Göttin der Wollust in Person.«

»Ich war Lehrerin und bin es für ein paar Stunden am Tage noch, und dann – it looks so respektable, es sieht so ehrbar aus. Ich bin es › Number nine‹ geradezu schuldig.« Ihre Stimme hatte wieder jenen ehrfurchtsvollen Klang. – »Now let’s take some ›Sake‹ to welcome you, nun müssen wir noch etwas Sake nehmen, Sie willkommen zu heißen,« sagte sie und wandte sich wieder der Bar zu, dort setzte sie Indra und Boris jedem eine Tasse voll Reisschnaps vor, das Nationalgetränk der Japaner, den »Sake«, im Geschmack wie dünner Marsala! Er schmeckte ganz gut. »Daran und an die japanische Kost wirst du dich schon gewöhnen müssen, Indra.« – »Eigentlich muß er heiß getrunken werden,« sagte das Fräulein, »aber ich habe keine Zeit mehr, ich will nur Shiragiku noch in ihr Zimmer führen, dort soll sie sich nach all den neuen Eindrücken gleich schlafen legen – und morgen als Japanerin aufwachen. Sie hat solch schönen Namen, Shiragiku bedeutet »weiße Chrysantheme«. – »Weiße Chrysantheme,« wiederholte Indra leise.

Aber Boris sprach: »Morgen und übermorgen möcht’ ich ihr noch als Europäerin Yokohama, Kamakura und die ›heilige Insel‹ Enoshima zeigen, wo die Göttin Benten in der Felsenhöhle den Drachen zähmte, indem sie ihn heiratete. Sie begreift dann rascher den japanischen Geist. Und den Fuji muß ich ihr vorstellen, Euern Schutzgeist, den Schneeriesen.« – »Den Fuji-no-yama!« Die Brillenmiß sprach den Namen des japanischen Schönheitsberges fast so ehrfürchtig aus wie »Number nine«. – »Wo ist aber eigentlich Madame?« – »Madame wohnt gar nicht hier, sie wohnt in ihrem Haus in Kamakura und kommt nur zweimal wöchentlich herüber, mit mir abzurechnen und nachzusehen, ob ich nichts vernachlässige.« – »So sind Sie eigentlich die Leiterin des Ganzen,« rief Indra. »Haben Sie da nicht allzuviel auf Ihren Schultern? Sie müssen doch auch mit den Fremden abrechnen.« – »Es ist alles nicht so schwer, wie es scheint, und die Mädchen machen mir’s leicht, sie sind alle gutwillig und sanft. Und ich spreche vier Sprachen.«

– »Und ich sechs!« rief Indra-Shiragiku.

»Da wird es Ihnen nicht schwer werden, die siebente, japanische, zu lernen. Das ist vorläufig das Wichtigste. Und nun kommen Sie hinauf.«

– »Ich komme also morgen früh neun Uhr, Indra, dich abzuholen.« – »Ich werde fertig sein.« Er sah sie mit einem dunklen Blick an. »Möchtest du hier glücklicher werden,« er küßte ihr die Hand. – »Ich hoffe es,« murmelte sie leise. Dann ging sie mit Momidji (Ahorn) hinauf in Shidouttis, so hieß die Schlanke, Gemach. »Ohajo,« sagte diese, »guten Tag« und streckte ihr die Hand hin. – »Deine Pflicht, Shidoutti, im nächsten Monat ist, Shiragiku möglichst zu ›japanisieren‹. Sprich kein Wort englisch mit ihr. Zwei Tage hat sie noch Urlaub, wird nur bei dir schlafen. Dann aber laß sie auch bei dir essen, lehre sie das Teezeremoniell, das Blumenbinden, die Stirnbeuge, so gut oder so schlecht natürlich, als das in vier Wochen möglich ist.« Sie sprach englisch zu Shidoutti, damit Indra-Shiragiku sie verstehen könne. Alle Mädchen von Number nine waren sprachgewandt und verhältnismäßig feingebildet, was Indra später sehr wohltuend empfinden sollte. Jetzt streckte sie sich auf das Polster, Shidoutti zeigte ihr wie und deckte sie zu. Sie schlief bald ein, sie schlief fest bis zum Morgen. Shidoutti machte Tee für beide. Kaum waren sie damit zu Ende, stand Boris schon vor ihnen. Er sah wieder übernächtig aus. »Nun wollen wir deine beiden letzten Freiheitstage gut ausnützen, Indra,« sprach er. Im Haus war noch alles still. Draußen warteten zwei Rickshawmänner. »Heute will ich dir nur Yokohama zeigen, dann speisen wir in einem europäischen Hotel und trinken Tee im Teehaus der hundert Stufen, mit der berühmten Aussicht. Und morgen früh geht’s zum Daibouts von Kamakura und nach der ›heiligen Insel‹, von der aus sich, der Fuji so herrlich präsentiert.« – »Du bist gut,« sagte Indra, »du suchst nur immer, mir Freude zu machen.« – »Ich habe viel gutzumachen,« murmelte er.

Und die Schönheiten, die Merkwürdigkeiten von Yokohama nahmen Indras ganzes Sein gefangen. Sie war glücklich in solchen Momenten und dachte unwillkürlich: »Wenn ich nun jetzt noch als dummes Gänschen in Friedenau säße!« Alles interessierte sie, alles. In Honkong und Shanghai, in Nagasaki und in Kobe hatte der Dampfer auf der Herreise schon je einen halben Tag Aufenthalt gehabt, und Boris hatte ihn nach Kräften für sie ausgenutzt, aber es war doch alles nur im Fluge gewesen. Am meisten entzückten sie die Prunusbäume, es war Mitte März, und sie fingen gerade an zu blühen – die Kirschblüte kam ja erst im April. – Wie sie die Blumen liebte, leidenschaftlich! Und Number nine schien ihr bei weitem erträglicher durch seine ständige »Flowershow«. Auch daß es hier kühl, fast kalt war, tat ihr wohl, nach der Treibhausluft von Singapore. – Straßen auf, Straßen ab, unermüdlich liefen die Rickshawmänner mit ihren blauen Kitteln und den weißblauen Tüchern, sich den Schweiß zu wischen. Sie waren auch bei »Samurai«, dem großen Antiquar, um Indra einen Begriff zu geben von der Pracht des japanischen Kunstgewerbes. Und in Photographieläden, um ihr viele der japanischen Wunder, zum Beispiel Nikko, wenigstens im Bilde, zu zeigen. Indra staunte immer wieder über Boris’ tiefe Bildung, tiefes Verständnis für alle Schönheit der Welt. Wer war er, warum jagte er so rastlos von Ort zu Ort? War er ein Künstler? Ein Lebenskünstler jedenfalls – das wußte sie. Und dann fuhren sie hinaus nach der »Mississippibucht« und machten die Runde auf anderen herrlichen Waldwegen wieder zurück. Endlos streckte sich die Stadt, bergauf, bergab, erst an imposanten Villen in großen Gärten, mit prachtvoll blühenden Kamelienbüschen und Teppichbeeten, vorbei, dann wurden die Häuser immer kleiner und ärmlicher und dann kam Feld, Wiese, Wald, der hundertjährige Kamelienbaum, reizende, idyllische Pensionen mit Terrassengärten. Dann ging’s hinunter ans Meer, nach dem kleinen Fischerdörfchen, mit den moosbedeckten Schilfdächern, auf denen überall die Iris schon zu blühen begannen. Das entzückte Indra vor allem, diese blühenden Irisdächer und dahinter: das Meer. Sie hatte Künstleraugen und trank die Weltenschöne mit vollen Zügen. All ihre Leiden, Kümmernisse und Prüfungen hatte sie vergessen. Boris sah mit Entzücken den beglückten Ausdruck ihrer Augen. »Wenigstens eine Entschädigung,« dachte er. Sie fuhren durch herrlichen Wald zurück und geradeaus in das Grandhotel am Pier zum Lunch. »Das ist bald deine letzte europäische Mahlzeit,« sagte er und ließ sich an einem kleinen Fenstertisch mit ihr nieder. Auch dies Mahl genoß Indra. Sie plauderten lange und angeregt von all den japanischen Wundern und kümmerten sich nicht um die Fremden ringsumher. Bis Indra plötzlich aufblickte und den letzten Blick, den fragenden, verwunderten, zweifelnden eines hochgewachsenen, blonden, jungen Mannes auffing. War das nicht Margots Freund? Schon war er verschwunden. Was mußte er von ihr denken? Nur die Wahrheit. Sie war eben nicht mehr »nur Hausdame«. Den ganzen übrigen Tag blieb sie zerstreut. Auch oben vor der Prachtaussicht, beim Teehaus der hundert Stufen, wo die Geishas so lieb zu ihr und Boris waren. Sie stiegen dann bei Sonnenuntergang die hundert Stufen hinab, schlenderten am Strand entlang, nahmen ihr »Supper«, hier hieß es »Dinner«, in einem anderen großen Hotel, in dessen Halle ein ganzer, blühender Prunusbaum stand, und Japanerinnen servierten, was Indra tausendmal hübscher erschien als die befrackten, internationalen Kellner. Boris führte Indra zurück, als Number nine schon in vollem Betrieb war, und die »Flowershow«, die Blumenausstellung, im Glanz des elektrischen Lichtes in tausend Farben strahlte. Die Haustür stand weit offen, Number nine strahlte die berühmte Nummer grell hinaus im die Nacht, und Scharen von Leuten, Japaner und Fremde, zogen vorüber. Auch die Straße war aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Number nine! Indra durfte stolz sein, solchem berühmten Hause einverleibt zu werden. Das war ein Schritt vorwärts nach der Pension Vais. Shidoutti war nicht in der Kammer, als sie die Schiebetür öffnete. Erst gegen Morgen kam sie herein und bettete das Haupt todmüde auf das harte Kopfpolster.

Pünktlich neun Uhr kam wieder Boris. Da Shidoutti noch schlief, hatte Indra noch keinen Tee genommen, und sie trank ihn mit Boris im europäischen Hotel.

»Das ist nun mein letzter Europatag für lange,« sagte sie sich, »wir wollen ihn ausnützen.« Erst fuhren sie geradewegs zum Daibouts. Unterwegs kamen sie an vielen Hallen vorbei. An der schönsten sagte der Rickshawmann: »that is the house of the proprieter of Number nine. Das ist das Haus der Eigentümerin von Nummer neun«. – Der berühmte riesige Bronzebuddha aus dem elften Jahrhundert, Daibouts genannt, steht in einem echt japanischen Park, mit Bächlein, Brücklein, Steinlaternen und Blütenbäumen, auf einem wundervollen Berghintergrund. Er ist so groß, daß man in sein Haupt hinaufsteigen kann, wie in das Haupt der Münchener Bavaria. Hiervon sahen beide jedoch ab. Indra konnte sich nicht satt sehen an dem Ausdruck seligen Friedens in den Zügen des Daibouts. Auch auf seinen Zügen lag ein Lächeln, aber es war nicht geheimnisvoll aufreizend wie das Lächeln der Monna Lisa – es war ein Lächeln völligster Weltentsagung. Indra fiel ein Gedicht ein, das ihr einst tiefen Eindruck gemacht hatte.

Buddha starrt, schwarz und schweigend und groß,

der rinnenden Nacht in den samtenen Schoß.

Dahinter die Abendgluten

am Himmel zitternd verbluten.

So hat er gestarrt vom ersten Tag

in tausende sehnender Herzen Schlag,

so hat er gestarrt und geschwiegen,

wenn zum Himmel die Wünsche stiegen.

Und er starrt noch immer, die Dschungelnacht

wächst höher und höher in grüner Pracht;

und flüsternd die Bäume sich neigen –

sie kennen des Buddha Schweigen.

Sie wissen, nur eines frommt dem Sinn:

nichts träumen, nichts wünschen, am Boden hin

wunschlos und traumlos schwanken,

flüchtig wie Blumenranken.

Einen Tag dem Buddha die Stirn umblühn,

und dann vermodern und dann verglühn.

Nirwana, das große Traumesnichts,

unersättlich verschlingend den Born des Lichts.

Den Urwald durchraunt ein Neigen –

der Buddha lächelt im Schweigen.

»Der Buddha lächelt im Schweigen,« sagte Indra halblaut.

»Ja, er lächelt über die ganze Sansara des Lebens, die doch rings vom Nirwana umschlossen ist,« meinte Boris, »er lächelt über unsere Lust und unsere Not. Ist das Leben schließlich anderes wert, als nur ein Lächeln?«

»Das sagst du,« fragte Indra erstaunt, »du, der Prediger der Sinnenfreuden der Sansara?«

»Das ist nur die andere Seite der Medaille, mein Kind, – weil ich dich liebe, kann ich das ganze verstehen. Ich habe niemals geliebt und gelitten wie um dich.« – Indra schwieg, was sollte sie ihm sagen. Sie starrte nur immer wie verzückt in das Antlitz des Daibouts.

»Wir müssen gehen,« sagte ein Rickshawman; »if you want to see the temples and get the Enoshima in time – wenn Sie die Tempel sehen und doch rechtzeitig nach Enoshima kommen wollen.« Und so stiegen sie wieder ein und fuhren nach den Tempeln. Reizend lagen sie, ganz im Grünen, und waren uralt – ein jeder ein Gedicht. Aber sie mußten eilen, um noch rechtzeitig an den Tram für Enoshima zu kommen. Endlich, nach schöner Fahrt am Meeresstrand, waren sie angelangt. Hier staute sich Kopf an Kopf, meist japanisches Landvolk. Erst gingen sie zur geheimnisvollen Grotte der Benten, die den Drachen durch eine Heirat bezähmen konnte. Sie standen lange in den dunklen Grotten mit den geheimnisvollen Altären. Indra war froh, als sie wieder in die Klippen heraustraten und dann über die Riesenbrücke nach der »heiligen Insel« hinüberwanderten. Der Fudji-no-yama lag vor ihnen, hinter dem violettduftigen Frühlingsmeer, in strahlender Pracht, mit dem leuchtenden, ständigen Hermelin, von seinem charakteristisch-stumpfen Kegelhaupt nach allen Seiten herniederstrahlend und schimmernd. Wie schön, wie unergründlich schön war diese Welt! Und in dieser selben Welt gab es Menschen, die ihr Leben lang ihre Sinne kasteiten, die Sinne, die doch nur geschaffen waren, alle Schönheit des Lebens zu genießen. Es schien ihr Wahnsinn. Sie fühlte sich plötzlichglücklich und so dankbar gegen Boris. – Und dann gingen sie an all den bunten Volksschaubuden, den winkligen Dorfgassen, vorbei, vorbei an stillen Japanerhäusern in herrlich blühenden Kameliengärten, und dann stiegen sie empor auf steilen Wegen, im ewigen Schatten des heiligen Hains. – Von Tempel zu Tempel wanderten sie, und von Teehaus zu Teehaus. Fünfmal schon hatten sie den grünhellen »Tsha« getrunken und auf den roten Bettdecken gesessen, nur, um die jeweilige Aussicht besser zu genießen. Aber hier mußten sie länger weilen, es war zu schön. Die Schirmdächer der Pinien und riesige Cryptomerien standen tiefdunkel gegen das zarte Frühlingsviolett des Meeres, aus dem das Wahrzeichen Japans, der heilige Berg »Fudji«, emporstieg wie ein verklärter Geist. – Es war zum Hinknien, zum Weinen schön. Wie glücklich war Indra, daß sie das schauen durfte. War das nicht alle Opfer und Kämpfe wert? Und die ewige Weltenschöne durchflutete sie wie ein Mysterium. Sie kam sich vor wie eine Priesterin dieser Schönheit. Stundenlang saß sie verzückt in Schweigen. – Boris betrachtete sie von Zeit zu Zeit, wie verwundert. Dann stürzte er sich ihr plötzlich zu Füßen und verbarg aufschluchzend seinen Kopf in ihrem Schoß. – »Was hast du?« – »Ich liebe dich und ich habe dein Leben zerstört. Hätt’ ich dich früher finden dürfen. Nun ist alles, alles zu spät.« – »Ich ging doch freiwillig zu Madame Vais.« – »Ja, aber ich wußte, was deiner dort wartete und hab’ es verschwiegen, denn ich wollte dich besitzen um jeden Preis.« – »Ist das deine ganze Schuld?« fragte Indra leise. Er stöhnte laut, sprang auf und rannte in dem kleinen Teegarten auf und ab. »Komm, du bist aufgeregt,« sagte Indra; »der Abschied liegt dir in den Gliedern. Mir ist fast zumute wie einer Nonne, die ins Kloster muß, ins Kloster zu den heiligen Sünden. Du siehst, ich kann noch scherzen, aber meine Seele ist so erfüllt von der Harmonie und Schönheit dieses Tages, daß sie einen Glanz werfen in meine Seele, von dem ich meine, daß er alles Dunkel der Zukunft überstrahlen müsse. Nun sage mir, wie lange ich in Number nine bleiben soll, und wann du mich nach Yoshiwara in Tokio bringst, dem Freudenhaus des Lebens.« – Er sah sie entgeistert an. »Du denkst schon ans Fortgehen?« – »Damit du mir wieder so ewig Schönes zeigen kannst wie heute, du sollst mich von Station zu Station meines Lebens geleiten.«

– »Wie dein böser Geist,« sprach er leise, doch sie hatte es gehört. – »Wie das Schicksal,« sagte sie, »das mich von Entfaltung zu Entfaltung führt. Ich fühle es. Tage wie der heutige, und Lebenserfahrungen, wie ich sie jetzt gemacht, die reifen und entfalten eine Menschenseele früher als die Engen des häuslichen Alltags.« Die Sonne sank jetzt tiefer, und bald war sie verschwunden, und nur der grüne Blitz, mit dem sie sank, und der purpurne Horizont zeugten noch von ihrer einstigen Pracht. Auf der anderen Seite der Wasser stieg der Mond empor, groß, purpurn. »Wie in Tandjong Priok, weißt du noch, Indra, als ich dir die Ylang-Ylang-Blüten übers Haar streute.«

– »Wie lange ist das her!« sagte Indra sinnend. »Aber nun gib mir deine Adresse, damit ich dich rufen kann, wenn ich dich brauche.« – »Ich muß jetzt nach Europa fahren,« sprach Boris ausweichend, »aber übers Jahr komme ich wieder hierher. Und wenn du dann eine echte Japanerin geworben bist in allem, wenn du für Yoshiwara reif bist, dann bring’ ich dich nach Tokio. – Nun aber laß uns gehen.« Sie gingen im Mondlicht den Berg hinab, durch das Dorf mit all seinen jetzt geschlossenen Buden, über die Brücke nach dem Tram und erreichten gerade noch den letzten Wagen. Von Kamakura fuhren sie nach Yokohama zurück. Vor der Tür hielt Boris lange Indras Hand. »Der Himmel sei dir gnädig,« sprach er zögernd. – »Du sprichst vom Himmel,« lachte sie. »Sag lieber: Sansara und Nirwana mögen dich segnen.« – »Sansara und Nirwana mögen dich segnen,« sagte er tonlos, und bald war er in der Menge verschwunden.

Und Indra begab sich in Shidouttis Schule. Sie hieß eigentlich Urne (Pflaume), wurde aber seit ihrer Kindheit, nach ihrer Puppe, Shidoutti genannt.

Nach einem Monat wußte Indra ein paar japanische Brocken, konnte Tee machen und kredenzen, mit der Stirn zum Gruß den Boden berühren, und ward mit ihrer japanischen Frisur und den ein klein wenig japanisch stehenden, allerdings großen Augen, denen die schräg geführten Augenbrauen nachhelfen mußten, in einem hellgrünen, reich mit goldenen Drachen bestickten Kimono und orangefarbenen breiten Obi, die Miß Momidji ihr gestiftet, eine frappierend schöne, sehr auffallende Japanerin, wirklich eine »weiße Chrysantheme«. Heut’ sollte sie zum erstenmal hinunter in den Salon kommen und ihr Glück versuchen.

Sie saß neben Shidoutti im Liegestuhl und rauchte eine Zigarette. Neben ihr stand das bronzene Kohlenbecken, das Shibachi. Wenngleich es schon April war und die Kirschblüte in vollem Flor, abends wurde es noch immer empfindlich kalt. – Ein Herr kam herein, groß, schlank, blond. Indra erkannte ihn auf den ersten Blick; er trat vor und machte eine Verbeugung vor ihr. Indra ward dunkelrot. »Is not your name Shiragiku?« fragte er. »Ich sah unten in der Hall Ihre Photographie und möchte Sie näher kennen lernen.« – »Und warum gerade mich?« fragte Indra. – »You remind me of a girl, I am fond of, and I think of her, when I look at you. Sie erinnern mich an ein Mädchen, das ich liebe, und ich gedenke ihrer, wenn ich Sie anblicke.« – »That is not very flattering for me, – wenig schmeichelhaft für mich,« sagte Shiragiku. Er sah sie nur immer an. »Könnten wir nicht in Ihr Zimmer gehen, ›weiße Chrysantheme?‹« – »In mein Zimmer?« dachte Indra bitter. Shidoutti machte ihr ein Zeichen, mit ihm hinauszugehen. Sie erhob sich langsam, wie zögernd, wie im Traum. Wohin ging sie mit ihm, den sie liebte, vom ersten Blick, wohin ging sie – zu ihrer Hochzeitsnacht? Und dann wollte sie sterben. Sie ging ihm langsam voraus, langsam, Stufe für Stufe, die mattenbelegte Treppe hinauf, in eins der hellerleuchteten Zimmer, mit dem großen Blumentopf auf dem Nachttisch. Heute war’s ein blühendes Kirschenbäumchen. Er sah sie nur immer an. »Du bist schön, Shiragiku, und dein Name paßt für dich; aber die andere ist noch schöner als du. Ich will in deinen Armen die andere lieben.« Und er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. – »Die andere ist ich,« sagte Shiragiku langsam. Und sie las in den Tiefen seiner Augen alle zukünftigen Entzückungen ihrer eigenen Seele. – »Kann man durch die Sinne die Seele finden?« fragte sie. Er horchte hoch auf. – »I want your soul, – ich will Ihre Seele,« sagte sie. Da stürzte er sich über sie und küßte sie, daß ihr die Sinne schwanden. »I want your soul,« sagte sie immer wieder. – »Do you not feel it,« antwortete er, »here it is here.« (»Fühlst du sie nicht, hier ist sie, hier.«) Und er preßte sie ans Herz. – »Ich hab’ dich geliebt vom ersten Moment,« sprach Indra. – »Bist du’s denn wirklich? Du bist doch Shiragiku.« – »Ich bin Indra, die vor Madame Vais’ Anforderungen in das Kleid der Shiragiku geflohen ist.« – »Ich will dich herausziehen aus dem Pfuhl, komm mit mir, du bist entsühnt durch unsere Liebe.« Doch sie schüttelte den Kopf. »Wenn du mich nicht liebst als Shiragiku, mit all meinen Sünden, gegenwärtigen und zukünftigen, so ist es für mich nicht die rechte Liebe, und du kannst mich nicht erlösen.« – Er meinte: »Du bist wie eine Heilige im Kot.« – »Wenn ich eine Heilige bin, so ist es kein Kot, so sind es die Rosen des Lebens, die mich umblühen. Schon Buddha nannte uns ›Lotosblumen im Schlamm‹. Wenn du das einsehen wirst, dann wirst du mich nicht ›erlösen‹ wollen, sondern dann wirst du dein Leben mit mir leben wollen. Bis dahin bleibe ich Shiragiku.« – »Morgen fährt mein Schiff nach England zurück, ich kann erst übers Jahr wiederkommen.« – »So muß ich solange Shiragiku bleiben,« sprach sie leise. – Darauf er: »Du, die ich gesucht mein Leben lang, und die ich gefühlt vom ersten Blick, komm mit mir, du sollst mein Weib sein, ich will dich hüten und hegen wie das Kleinod meines Lebens.« – Indra antwortete: »Geliebter, ich bin durch mein Leben, meine Erfahrungen über die Ehe hinausgewachsen. Wenn deine Liebe nicht größer und freier ist, wenn sie noch der Ehesessel bedarf, um Treue zu halten, dann ist es nicht die rechte Liebe, und du mußt ihr entsagen. Meines Geliebten muß ich sicher sein können, ohne alle Fessel, weil er seiner eigensten Natur nach gar nichts anderes kann, als mich lieben bis zum Tode.« – »Wenn ich nun aber übers Jahr zu deinem Standpunkt bekehrt bin und dich noch ebenso liebe wie jetzt, Shiragiku-Indra, und komme hierher und ich finde dich nicht mehr, was dann?« – »Dann mußt du mich suchen, ich bleibe deiner Seele treu, auch wenn mein Körper anderen Göttern dienen muß. Du mußt mich suchen, bis du wirklich zu mir gefunden hast. Wenn du mich aber nicht findest, dann warst du niemals meiner Seele wert.« Sie sah wie verzückt aus in diesem Augenblick, und er küßte sie, wie er niemals vorher ein Weib geküßt hatte. Und die Natur, die große Meisterin, die zwei vollkommene, zusammengehörende Seelen in zwei vollkommenen Körpern geschaffen, die ließ diese Seelen in diesen Körpern in nie vorhergefühlten Mysterien des Entzückens sich vermählen. Als der Morgen graute, lagen sie noch eng umschlungen. »Ich muß nun gehen,« sagte Shiragiku, »übers Jahr sehen wir uns wieder.« Sie löste sich von ihm und verschwand. – »Bleib hier!« rief er und streckte die Arme nach ihr. – Shiragiku aber schlich hinüber in ihre und Shidouttis Kammer und bettete ihr glückliches Haupt auf das harte japanische Kopfpolster.

Abend für Abend ging Shiragiku nach dem Salon. Die »weiße Chrysantheme« erregte Entzückungen, aber sie war wie eine schöne Leiche, sie selber blieb ungerührt, ihre asbestene Seele blieb unbefleckt vom Kot, der sich zu ihr heranwälzte, an ihren Marmorgliedern emporspritzte. Sie dachte an Guy, den Seefahrer, und ob er sich zu ihrer Lebensauffassung durchringen würde. Und sie blieb glücklich und strahlend im Erinnern an die Hochzeitsnacht ihrer Seelen. So vergingen Monate; der heiße japanische Sommer kam und der leuchtend japanische Herbst mit seiner rotgelben Ahorn- und Chrysanthemenpracht. Sie merkte sie nur an der Veränderung in der Flowershow im Treppenhaus und auf den Marmornachttischchen. Wie viele Männer sie besessen, sie wußte es nicht, es berührte sie nicht, ihr Körper war tot, seit Guy gegangen; Boris hätte ihn vielleicht wieder zum Bewußtsein gebracht, aber auch er war fern. Er schrieb niemals ein Wort von all seinen rätselhaften »Transaktionen«, von denen er ihr am ersten Tage ihrer Bekanntschaft – und dann niemals wieder, – erzählt. – Shiragiku, die weiße Chrysantheme, plauderte schon ganz nett japanisch, ihr großes Sprachtalent kam ihr auch hierbei zu Hilfe. Sie hatte eine herzliche Freundschaft zu Shidoutti und Miß Momidji gefaßt. Und auch die anderen Mädchen waren gutherzig und ohne Intrigen. Sie hatten alle eine kindliche Freude an Shiragikus Fortschritten im Japanertum. Miß Momidji brachte ihr viel englische und französische Bücher über Japan und begann sie in japanischer Schrift und japanischem Druck zu unterrichten. Mit den ihr angeborenen starken Lehrtalenten brachte sie ihre begabte Schülerin bald vorwärts. Shiragiku hatte ihr früheres Leben begraben. Nur die Erinnerung an die Mutter, an die sie in ihrer großen Not sich hilfeflehend umsonst gewandt hatte, brannte wie eine offene Wunde in ihrer Brust. Die würde die Zeit nie heilen.

An Boris dachte sie selten oder nie. Er würde schon wieder vor ihr stehen eines Tages wie der dunkle Wanderer, wenn das Schicksal ihr wieder eine neue Lebensphase vorbereitet hatte. Mit Guy aber lebte sie täglich. Er schrieb oft, aber sie antwortete nie, was sie ihm vorausgesagt; ohne ihr Zutun mußte er sich zu ihrer Lebensauffassung bekehren, wenn anders sie Wert haben sollte. Lebenswert und Lebensdauer. – Eines Abends, im Januar, es lag ausnahmsweise Schnee auf allen Höhen und auf den Gassen von Yokohama, und der Fudji war bis zum Fuß in seinen Hermelinwintermantel gehüllt, stand Boris plötzlich vor ihr. Er erkannte sie kaum. »I am Shiragiku!« rief sie lachend. – »So schön, so schön,« murmelte er und sah sie verzehrend an. Er sah sehr elend aus und um Jahre gealtert. »Wie von Erynnien verfolgt,« dachte Indra. Es kam gerade ein »Kunde« für sie, und sie ging gleichgültigen Schrittes mit ihm hinaus. – »Das hast du aus ihr gemacht!« schrie es in Boris. »Ihre Seele wird man einst von dir fordern.« Ach, er wußte ja nicht, daß ihre Seele, unberührt von allem Schmutz, in goldener Wolke wandelte, von der Liebe geküßt. – Er sah nur die äußere Shiragiku, die gewandte Shiragiku von Number nine. Nach einiger Zeit kam sie wieder, blaß, wohlgepflegt, ohne jede Spur von Aufregung, die echte »weiße Chrysantheme«. – »Und nun erzähle mir, Boris.« – »Ich will dich nach Tokio bringen, nach Yoshiwara, Indra.« – »Shiragiku,« verbesserte sie lächelnd. – »Du bist reif dafür.« Er verschwieg ihr, daß sein böses Gewissen ihm zuflüsterte, sein trübes Geheimnis sei auch in Number nine noch gefährdet. Ganz sicher vor Entdeckung sei es erst in Yoshiwara.

»Yoshiwara,« sagte sie sinnend, »das Freudenhaus des Lebens. – Wie schwer hält es doch uns Menschen, sich zu dieser Ansicht vom »Freudenhaus« durchzuringen.

Von Kindheit an predigt man uns, die Welt sei nur ein Jammertal, und wir seien einzig dazu da, unser Fleisch und all seine bösen Lüste zu kreuzigen. Die nur solange ›böse Lüste‹ sind, als sie nicht staatlich konzessioniert sind.« – »Ich sehe, du bist eine gelehrige Schülerin,« sagte er matt.« – »Bist du krank, Boris?« fragte sie erstaunt. –

»Nein, aber die Sehnsucht nach dir verzehrt mich und die Reue, daß ich es zuließ, daß du in die Pension Vais gekommen, die Reue, daß ich dich nicht, dich allen Versuchungen entreißend, zu meiner Frau gemacht.« – »Meinst du, ich wäre da tugendreiner geblieben?« fragte sie spöttisch. »Boris, Boris, ich kenne dich nicht wieder, du verleugnest all deine Theorien. Du vergißt, daß ich schon lange, der Pension Vais entwachsen, in Number nine die Kulturen von Orient und Okzident zu vermählen suche. Bin ich denn schon reif für das große Freudenhaus in Yoshiwara?« – »Ich weiß nicht, ich weiß nur, daß ich Angst um dich habe, und ich habe schon mit Madame gesprochen, morgen können wir gehen.« – »Wenn ich will,« entgegnete Indra. Sie dachte an Guy, der übers Jahr sie hier suchen wollte. Aber, wenn er sie wirklich liebte, war ihm dann die kleine Prüfung nicht heilsam, würde er sie nicht leicht finden in dem großen Freudenhaus von Yoshiwara? Vielleicht käme er da gerade zur Kirschblüte, in der schönsten Zeit des Jahres. – »Ich gehe mit dir,« sagte sie dann, »aber du mußt mir einen Urlaub auswirken und vorher mit mir nach Nikko fahren.«

Und am anderen Tage hieß es wieder Abschied nehmen. Auch Shidoutti und Momidji weinten. »Sajanara,« riefen sie, »auf Wiedersehen«, und ließen ihre Tüchlein an der Bahn flattern – sie waren nur von Seidenpapier, nach japanischer Sitte. Die Japaner sind nicht so schmutzig wie die Europäer, wie sie gern zu sagen pflegen. Die offene Wunde in Shiragiku begann zu schmerzen. Wo hatte sie doch auch so ein weißes Tüchlein flattern und von Nacht und Dunkel und Tod verschlingen sehen wie einen weißen Schmetterling?

Diesmal aber blieb sie in der japanischen Tracht. Sie zog nur einen dunklen, dickwattierten, rotgefütterten Kimono über ihren leichtseidenen, reich gestickten, den sie sich, wie einst Margot, von den Prozenten der Number nine angeschafft hatte. Und Boris fuhr nun mit einer Frau, die aussah wie eine königlich auftretende Geisha, hinauf nach Nikko. Es war noch kalt oben, und es lag dichter Schnee, die wunderbaren, schwarz und goldenen und rotlackierten Tempel leuchteten nur um so farbiger aus dem Dunkelgrün der Cryptomerien. Wieder fühlte sie sich glücklich und im innersten Leben wachsend, als sie nun endlich an all diesen Orten wandelte, die ihre Seele so heiß ersehnt hatte. Sie sah die alten Tempeltänze von einer einstigen Geisha tanzen, in weiß und roter, altjapanischer, schleppender Tracht aus dem elften Jahrhundert. Sie hörte die alte, traditionelle Musik wie Klänge aus einer anderen Welt. Sie stieg empor im Cryptomerienhain, zum Grabmal des Shogun, und sie entzückte sich über die Katze und den Affen des Jingoro. Was sie aber am meisten interessierte, das war die Schatzkammer im »Hondo«, im Heiligsten, für deren Besuch die frommen Tempelhüter von Globetrottern so fabelhafte Eintrittspreise nahmen. Natürlich erwarteten sie von einem Herrn, der mit einer eingeborenen Geisha reiste, nur freiwillige Gaben.

Indra strahlte, als sie in all diesen Schäden schwelgte, sie konnte sich kaum davon trennen. Als aber am Abend Boris nach dem Dinner in ihrem Zimmer sich ihr nähern wollte, versagte sie sich ihm. »Wozu, Lieber, ich könnte nichts mehr empfinden, und dafür bist du mir zu gut.« – Allem Bitten und Flehen gegenüber blieb sie unerbittlich.

Brostoczicz fühlte, dies Weib, das er so freventlich und grausam aus der ihm vorgeschriebenen Bahn geschleudert und in so dunkle, pfadlose Labyrinthe des Lebens gestürzt, das hatte auch im Dunkeln seinen Weg gefunden und war über ihn hinausgewachsen. Sie fuhren bei der Abreise mit der Rickshaw bis Imachi, um die berühmte Cryptomerienallee zu genießen, der ja kein Winter etwas anhaben kann. Freilich blies der Wind eisig. Boris schlug vor, bis man Tokio gesehen, noch mit ihm ins Hotel zu kommen, ehe sie ihr Freudenkloster bezöge. Indra war damit einverstanden. Und nun wählte er das Hotel Tokio auf dem Monogama, mit der männlichen und der weiblichen Steintreppe, die hinaufführten, und mit der wunderbaren Fernsicht auf Stadt und Fudji. Doch der Fudji-no-yama lag verschleiert, die Stadt im Nebel, und all die Bäume, unter deren Blütenschnee Tempel und Teehäuser im Frühling fast begraben sind, starrten nackt und kahl in die grauen Lüfte. Eine unendliche Traurigkeit überfiel Boris. Was hatte er im Leben erreicht mit all seinen Kniffen und Schurkenstreichen? Die einzige Frauenseele, der einzige Frauenkörper, um die er sich wahrhaft bemüht, waren ihm entglitten. So fest glaubte er sie in Händen zu halten! Wie Schemen waren sie ihm entglitten, Körper und Seele. Und nur die eine furchtbare Wahrheit blieb – er hatte sie aus ihrer Bahn geschleudert, mit verbrecherischer Hand, zu welchem Ende? Noch niemals vorher hatte Brostoczicz Gewissensbisse gefühlt, wie viele arglose Opfer auch der seit Jahren vergebens von der Polizei gesuchte, verbrecherische Mädchenhändler zusammen mit seiner Mätresse, Madame Toussaint, schon eingefangen. Hier fühlte er sich zum erstenmal besiegt und zum vollen Bewußtsein seiner Schlechtigkeit gebracht. Es schien ihm, als ob die Sonne niemals mehr über ihm leuchten würde, als ob er für Zeit und Ewigkeit verloren wäre. Indra vermißte in ihm den brillanten, geistvollen Causeur von einst, wenn auch der tadellose Weltmann niemals etwas zu wünschen übrig ließ. Sie schob es auf das dunkle, unfreundliche Winterwetter. Und sie sehnte sich nach Sonne, Frühling, Kirschblüten. Warum hatte sie Boris’ Drängen nachgegeben, jetzt schon mit ihm nach Tokio zu kommen? Es hatte jedenfalls besser in seine Reisepläne gepaßt. Warum hatte sie ihn nicht doch bestimmt, bis zum Frühling zu warten, wie es anfangs vereinbart war? Und wenn nun Guy sie nicht fand? Er hatte schon so lange nicht geschrieben, sie kannte seine jetzige Adresse gar nicht. Eine furchtbare Angst schnürte ihr plötzlich die Seele zusammen. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre? Auch ihr erschien diese Reise nicht so leuchtend wie die Tage in Yokohama. Dennoch zeigte ihr Brostoczicz alles und jedes. Den von ihrem Hotel so nahe gelegenen Shibapark, in dem die wunderbaren Shogungrabmäler sie an die herrlichen Kunstwerke droben in Nikko erinnerten. Und die Gräber der siebenundvierzig Roni. Und die noch bei weitem schöneren und überhaupt stimmungsvollsten Tokugawagräber im Uennopark, überall mit dem Tokugawawappen. Dort in ihren geschützten geschützten Gärten blühten schon die mannshohen, weißen Kamelienbüsche, ein herrlicher Anblick. Und der Asakusatempel und das Museum! Indra hatte bald alles gesehen, bis auf ihre künftige Heimat, das Yoshiwaraviertel. Aber sie hatte manches darüber gelesen, und Boris hatte ihr viel davon erzählt. Die von Yoshiwara hatten einen ganzen großen Stadtteil für sich, einen Tempel, einen Park für ihre Spaziergänge, ein Krankenhaus und endlose Straßen, ein wahres Labyrinth von bei Tage ziemlich nüchtern aussehenden kleinen Häusern, in denen allen unten ganz gleich der große »Showroom«, die Frauenausstellung, allabendlich von acht bis zwölf oder ein Uhr stattfindet. Bei Tage ist’s wie lauter leere Bühnen. Indra dachte sich nicht viel bei diesem öffentlichen Markt, wenn sie’s aber dachte, schien es ihr abscheulich. Aber sie hatte nicht mit dem Geist des Ostens gerechnet, der aus diesem ganzen abscheulichen Fleischmarkt, wie er es in Europa unweigerlich geworden wäre, ein liebenswürdiges, behagliches Meeting, gewissermaßen einen riesengroßen rout der ganzen Bevölkerung gestaltete, in dem die Gitterstäbe keinen Käfig, sondern nur einen Schutz für zarte Frauen bedeuteten.

Eines Abends, den letzten Abend vor ihrem Eintritt, führte Brostoczicz Indra als Zuschauerin an Yoshiwara vorüber, und da ward es ihr zum ersten Male völlig bewußt, wie riesengroß der Unterschied der Lebensauffassung von Orient und Okzident ist. Was sie immer gehört und gedacht, und was ihr Boris immerzu gepredigt, hier sah sie es in die Tat umgesetzt. Die bevorzugte und geachtete, gewissermaßen beneidete Stellung der Courtisanen im Osten. Sie sah sie allseitig und zwar von Männern und Frauen so umschwärmt, wie man etwa in Europa berühmte Schauspielerinnen umschwärmt. Sie gaben ja auch allabendlich ein fürstliches Schauspiel, das Schauspiel der Lebensschönheit. Einen höheren Triumph haben Kunst, Frauenschönheit und Kunstgewerbe wohl niemals gefeiert wie in den allnächtlichen routs von Yoshiwara, dem »Freudenhaus«. – »Jede kleinste Stadt von Japan besitzt ein solches Yoshiwara,« erzählte Boris, »ein Freudenviertel, ein Schönheitsviertel, nach dem am Abend die ganze Bevölkerung hinauszieht (ausgenommen Studenten und Gymnasiasten, die das nur an einem großen Fest, im November, tun dürfen). Alt und jung, groß und klein zieht hinaus, einfach um diese Frauen, diese Liebesgöttinnen zu begrüßen, ihnen die Hand zu schütteln, mit ihnen zu plaudern. Es treten hierbei gar keine lüsternen Gedanken an sie heran, es sind geachtete, gefeierte, schöne, junge Frau aus der Gesellschaft, die man begrüßt, denen man durch ein Gitter (in Europa wär’s ein Gitter wie für wilde Tiere) die Hände schüttelt, mit ihnen eine Zigarette austauscht. – Indra sah es mit freudigem Staunen. Das war wirklich noch besser als in Number nine, dem doch noch etwas, wenn auch unmerklich, von okzidentalem Odium anhaftete. Hier in Yoshiwara war es ein geachteter und beliebter Beruf wie jeder andere, – die allermeisten der Mädchen waren von ihren Eltern aus Geldnot (und fast gar nicht aus eigenem Sinnendrang) dahin gebracht, die für jedes Mädchen etwa zwei- bis fünfhundert Yen erhielten, und die Mädchen selber waren verpflichtet, diese Summe abzuarbeiten. Nach dieser Zeit konnten sie gehen, kehrten aber oft noch mit einer hübschen Aussteuer, die sie sich ehrlich verdient und erworben hatten, in ihre Heimat zurück und machten dort oft gute Partien. Die Männer rissen sich sogar manchmal um sie, die aus Leben und Liebe doch ganz anderes zu machen wußten, als die dummen, zu Hause gebliebenen Landgänschen.

In den ganz feinen Häusern hingen auch Preislisten und Photographien der Mädchen mit ihren noms de guerre in Schaukästen wie in Number nine. – Indra konnte sich nicht satt sehen an allem. Straßen auf, Straßen ab, ein Bild immer schöner als das andere. Ein wundervoller, reichgeschnitzter und echt vergoldeter Hintergrund wie in den chinesischen Kaufläden. – Rosengewinde, auf denen Pfauen und Kraniche, Reiher und Störche saßen. Und vor diesem wundervollen, leuchtend altgoldenen Hintergrund (Indra dachte unwillkürlich an die weißgoldenen, blechartigen Schauerrahmen im Salon der Madame Vais) saßen und hockten auf leuchtend rotem Teppich in jedem Hause etwa fünfzehn bis zwanzig Frauen in altjapanischer Tracht. Neben sich die bronzenen und messingnen Shibachi, die Räucherkohlenbecken, vor ihnen stand das Teegeschirr und lagen Purpurkissen. Das künstlerischste vom ganzen aber war, daß in jedem Haus die Mädchen die gleiche Tracht trugen. – »Das ist hier dein Haus,« flüsterte Boris und zeigte auf eine der reichsten und kostbarsten Ausstellungen. »Das wird dir stehen, Indra.« Die Mädchen hinter diesem vergitterten Raum trugen alle blaßblaue, schleppende Kimonos mit gestickten Silberdrachen und orangerote Obis. Das hochgesteckte Haar ganz bespickt mit silbernen und goldenen Pfeilen. Ein paar Mädchen streckten jetzt freundlich Indra die Hand entgegen. »Ohajo, guten Tag, wie geht’s.« Es machte Indra Freude, daß sie das verstand. Sie wurde nun nach ihrem Namen gefragt, und als sie sagte »Shiragiku«, drehten sich alle nach rückwärts. Dort hingen die Photographien in einem Rahmen. Sie konnte sie nicht erkennen. Indra ging mit Brostoczicz weiter. Sie konnte sich nicht satt sehen an dieser Pracht, sie berauschte sich förmlich an aller Schönheit. Über dem Eingangstor zur Freudenstadt stand eine weibliche Statue, die eine Laterne hielt. – »Wie eine Madonna,« dachte Indra. In vielen Straßen standen Kirschbäume, kahl und dürr natürlich jetzt im Winter. Wie berauschend schön aber mußte das zur Kirschblüte sein. Viele Stunden wanderten sie so zu Fuß dicht an den Gittern, ihre Rickshaws fuhren leer nebenher. Indra beobachtete, daß selbst die Touristen, von dem allgemeinen Achtungstaumel angesteckt, ehrfurchtsvoller mit den Mädchen scherzten, auch die höheren Töchter, unter den Augen der Eltern, und alte Jungfern deutscher, englischer und französischer Provenienz mit diesen »Künstlerinnen« shakehands machten.

Und anderen Tags brachte Brostoczicz Shiragiku in ihr »Haus«. Da sah sie obenan bei den Photographien die ihre – Shiragiku (genannt tausendjähriger Lenz) sechzig Yen. »Das habe ich durchgesetzt,« flüsterte Boris, »so verbrauchst du dich nicht vor der Zeit und stehst gesellschaftlich höher.« Da spielte diesmal ein Lächeln um Indras Lippen, auch wie das Lächeln der Monna Lisa.

Dann wurden sie zum Manager geführt. Das war ein klug aussehender Japaner von etwa vierzig Jahren. – »You are Shiragiku,« sagte er, »well, your fotos don’t lie and you merit your price. Ihre Photographien lügen nicht, und Sie sind Ihres Preises wert.« Dann führte er sie in ein Einzelgemach mit Matten, Decken und Kopfpolster, sogar ein buntseidener, dick wattierter »Futon«, ein Unterbrett, war diesmal dabei. Auch wieder die obligate, kostbare Bronzedrachenvase. »For the flowers of the season« (»für die Blumen der Jahreszeit«). Dann ließ er sie allein. Ihr Koffer war schon angekommen – aber sie würde nur die Kimonos des Hauses tragen können, blaßblaue, mit silbernen Drachen und orangeroten Obis. Eine Japanerin kam, sie zu frisieren, die Haartracht von Yoshiwara war viel ausgiebiger, kühner und höher als die von Number nine. Doch mit Indra-Shiragikus üppigem Haar gelang sie aufs beste. Mit zehn oder zwölf schimmernden Pfeilen ward sie dann geschmückt. Es war die alte Hoffrisur aus dem zwölften Jahrhundert, wie Indra sie im Museum an den Wachsfiguren gesehen. Sie stand ihr ausgezeichnet. Sie streckte sich zum Ruhen und hatte schon so viel gelernt von japanischen Sitten, daß sie den Kopf auf das Kopfpolster legte, ohne die Frisur zu ruinieren.

Acht Tage und länger mußte bei manchen Frauen solche japanische Kunstfrisur aushalten, und die Hauptsache war, wenn sie schliefen, mußte sie in Ordnung sein. Auch zum Schlafen schmückt und schminkt sich jede Japanerin, die ja selten einen Schlafraum für sich allein besitzt und immer die Pflicht hat, »schön« zu sein. Dann kam ein Boy mit vielen Lackbrettchen und stellte alles, mit dem heißen Sake, auf den Fußboden vor sie hin. In Number nine hatten sich die Mädchen selbst kochen müssen. Hier brachte man ihnen das fertige Dinner – sie war wirklich in aufsteigender Linie. Den rohen, geschabten Fisch, der wie Kaviar schmeckte, ließ sie sich munden, und all die vielen anderen japanischen Leckerbissen. Und die starke Bouillon und die Eier. Sie konnte auch schon mit den Stäbchen umgehen und brauchte sie ziemlich geschickt.

Nachdem sie gegessen, Sake und Tee getrunken und eine Weile geruht hatte, kam ein Mädchen und brachte ihr die »Uniform« des Hauses. Der blaßblaue Drachenkimono stand ihr großartig, er kam ihr aber etwas reicher gestickt vor als die der übrigen. Sie fing an, zu begreifen, daß sie zur Showgirl des Hauses herangezüchtet werden sollte. Sie ließ es sich gerne gefallen. Alles das verdankte sie ja Boris’ Fürsorge.

»Do you want to see the guestrooms?«

»Wollen Sie die Gastzimmer sehen?« fragte jetzt eine Neueintretende. Sie nickte – mußte sie doch das Feld ihrer künftigen Tätigkeit inspizieren. Alles sauber und nett, aber weit japanischer als in Number nine, und keine Blumentöpfe der Saison auf den Nachttischen mit Marmorplatten. Nun – »sechzig Yen«, da würde sie nicht mehr als ein bis zweimal pro Nacht zu arbeiten brauchen. Wie ein Gefühl des Behagens überkam es sie, da konnte sie hier in Ruhe auf Guys Kommen warten.

Wenn er aber nicht kam? Die offene Wunde in ihrer Seele schmerzte stärker – dann war sie wieder ganz allein, dann hatte sie niemand als Boris, Boris, den rätselhaften. Es war Nacht geworden, man brachte eine Lampe und Tee. Sie machte sich nun fertig, mit Schminken und Pudern, kunstvoll, wie sie’s von Shidoutti gelernt. Nach einer Weile ging sie hinunter. Es saßen schon ein paar Mädchen im Käfig, wie sie es für sich nannte. Bei ihrem Eintritt standen sie aber alle auf und reichten ihr auf englische Art die Hand, gaben ihr Feuer zur Zigarette und waren in jeder Weise um sie bemüht. Sie hockte sich japanisch am Boden nieder und ward bald der stolze Mittelpunkt einer entzückenden Gruppe. Draußen begann jetzt das Publikum zu defilieren und über ihre Schönheit sich zu unterhalten. Gar viele ausgestreckte Hände mußte sie ergreifen und schütteln.

Da sah sie Brostoczicz’ gramverzerrtes Antlitz an das Gitter gepreßt. »Das habe ich aus dir gemacht,« flüsterte er. »Never mind,« sprach sie heiter und winkte ihm tröstend zu. Der Manager trat jetzt in den »Käfig« wie ein Tierbändiger unter seine Bestien. Er schlug Feuerstein und Zunder über Indras Haupt, ein Feuerregen sprühte über sie hin. Dann schlug er auch Feuer über alle anderen Mädchen, aber die Funken kamen weit spärlicher geflogen. »Je mehr Funken, je mehr Gold und Liebe,« sagte eine der Courtisanen. Boris hörte es und stöhnte. – »Die moderne Danaë.« – »Aber Boris, ich erkenne dich nicht wieder,« sagte Indra und trat ans Gitter. – »Willst du mir nicht wenigstens Lebewohl sagen?« – »Wann sehe ich dich wieder? Wohin führst du mich von hier?« – »Ich werde dich niemals mehr sehen, ich werde dich niemals mehr führen – ich gehe den Weg, von dem es keine Rückkehr gibt.« – Ehrlich erschrocken sah sie ihm ins Gesicht. »Soll ich auch noch den letzten Freund verlieren?« Er griff nach ihrer Hand, küßte sie heiß und inbrünstig und verschwand im Dunkel. – –

Und wieder gingen die Tage ihren Gang, ein jeder mehr dem Frühling entgegen. Shiragiku galt als eine der Schönsten in Yoshiwara. Eine der Eigenartigsten war sie jedenfalls, und manch reicher Globetrotter gönnte sich sechzig Yen für eine Liebesnacht mit der schönen Japanerin, der »weißen Chrysantheme«, genannt »tausendjähriger Lenz«, deren Glieder wie Marmor waren, die so wenig sprach und so rätselhaft lächelte.

Und dann kam der Lenz, erst mit seinen schimmernden Prunusblüten. In allen japanischen Häusern standen weißrosa Blütenzweige. Auch in Shiragikus Kammer, sie sah sie oft mit verzehrenden Augen an. »Nun muß er bald kommen und mich aus dem Freudenhaus von Yoshiwara zum Freudenfest des Lebens holen.« – Dann blühten die Kirschbäume in der Allee von Mukojima und in den Gassen von Yoshiwara, und im Kaiserpalast feierte man das Sakurafest. Aber in Yoshiwara wehte der Blütenschnee durch die Gitter herein in die goldenen Frauenkäfige und umspülte wie Wellenschaum die Füße der Courtisanen. Fremde Kriegsschiffe liefen täglich in den Hafen, aber von Guy, kam keine Kunde. Täglich wurde Indra sehnsüchtiger und – hoffnungsloser. Aber der Manager war stolz auf sie, sie war der Erfolg der Saison. Man pflegte in den anderen Häusern schon zu sagen: »So schön wie Shiragiku.« Und die Frau, die so gelobt worden war, wußte sich nicht zu lassen vor Stolz.

Der Blütenschnee war längst verweht, und die Tage wurden länger und heißer. Rosen, Jasmin und Oleander blühten in betäubend duftender Pracht. – Shiragikus Drachenvase war gefüllt mit weißem Oleander. Sie selber aber wurde täglich müder. Sie mußte immer an Tennysons Gedicht denken.

She only said, my life is dreary,

he will not come, she said,

she said I am aweary, aweary –

o God, that I were dead!

(Sie spricht, wie ist mein Leben trostlos –

er kommt nicht mehr – sie sagt –

sie spricht, ich bin so müd und glücklos –

o wär ich tot, sie klagt.)

Wieder saßen die Mädchen in Drachenmontur neben dem Konkurrenzhaus, dessen Mädchen in Feuerrot und Gold einhergehen. Es kommen nicht mehr viele Fremde. Aber heute ist eine englische Dame vorübergegangen, die stand lange wie gebannt und blickte auf Shiragiku. »Do you speak english,« fragte sie schüchtern; »Yes, whatever you want. Ja, was immer Sie wollen,« ertönte es von Indras Lippen.

»Warum bist du hier?« fragte die Frau.

– »Warum sollt ich nicht hier sein,« antwortete Indra, »das ist ein Beruf, so ehrlich wie ein anderer.« – »Aber vielleicht weniger beglückend.«

– »Und welcher wäre beglückender?« – »Der meine.« – »Und wer sind Sie?« – »Ich bin Lehrerin am Hindukollege der Annie Besant in Benares.«

»Die hat mich schon lange interessiert,« sagte Indra. »Was sie lehrt, das scheint mir die einzige Religion, die eine Zukunft hat, allen verständlich, ein Volapük, ein Esperanto der Religionen.«

Die Fremde starrte wie entgeistert. »Wer bist du?« – »Eine, die über sich und das Leben nachgedacht hat, eine, die stolz ist auf dies Leben, seine Schönheit und seine Tiefen. Eine, die enttäuscht ist von diesem Leben, – eine, die müde ist noch in ihrem Lebensmittag –, eine, die sterben müßte, weil sie unglücklich ist und doch leben möchte, der Menschheit zu dienen.« – »Willst du mit mir kommen?« – »Wie kann ich, ich bin hier verpflichtet.« – »Und wenn ich dich frei mache?« – »So will ich Ihnen die Hände küssen und mit Ihnen ziehen und Ihre Lehren lehren und meinen ganzen Sinnenkult vergessen.« – –

Die Fremde ging weiter. »Du hörst morgen von mir!« Shiragiku lag schlaflos in der heißen Julinacht. Die Sterne flimmerten in ihre Kammer. Anderen Tags kam der Manager zu ihr. »Es ist eine Dame dagewesen, die dich loskaufen will von deiner nächstjährigen Verpflichtung, willst du mit ihr gehen?« – Er nannte sie jetzt du wie die andern. – »Ich will.« – »Dann will ich dir deine Prozente auszahlen, und du bist von morgen an frei.« Nun war also heute die letzte Nacht vor ihrer Abreise. Wie schnell war doch alles gekommen. Es war zwei Uhr, und das »Nachtlose Schloß«, wie die Japaner Yoshiwara nennen, war zur Ruhe gegangen. Seine Arbeit war getan. Indra aber konnte nicht schlafen. Sie lehnte auf der Veranda und hörte die vorüberziehenden Shinaisänger ihre melancholischen Liebeslieder singen wie alle Nacht. Und sie hörte verhaltenes Schluchzen von irgendwo nebenan. Das war wohl die kleine Otome (»Jungfrau«), die Heimweh hatte nach Eltern und Geliebten. – Auch sie hatte Heimweh nach Guy, würde er sie finden in Benares? Sie wollte doch lieber schwach sein und dem Manager ihre Adresse hinterlassen. Näher kamen die Shinaisänger, Otome warf ihnen Geld zu, und sie wiederholten ihr tragisches Liebeslied unter den jetzt dunklen Fenstern des »Nachtlosen Schlosses«. Dann kamen die Nachtwächter und schlugen die Eichenklöppel, die Hiashigi, aneinander. Dies charakteristische Geräusch der japanischen Nächte – wann würde sie es jemals wieder hören? Würde Guy sie wirklich in Benares finden? Oder hatte er sie vergessen? Oder war er tot? Sie wußte jetzt plötzlich nicht, sollte sie sich freuen oder trauern, daß Mrs. Higgins sie von Yoshiwara erlöst hatte! Sie war schlaflos bis zum Morgen. Immer wieder dachte sie: »Kann er mich auch finden?«

Mrs. Higgins kam schon ganz früh zu ihr in ihre Kammer; sie war Annie Besants rechte Hand und eine Menschenfischerin; sie war stolz auf ihren Fang und fürchtete, daß er ihr noch im letzten Moment wieder entwischen könne.

Nun zog Indra also wieder weiter, doch kein Boris war da, ihr das Geleit zu geben. Beim Abschied von Yoshiwara hatte sie gemischte Gefühle trotz aller dort genossenen Triumphe. Als sie aber am frühen Nachmittag mit Mrs. Higgins nach dem Dampfer wanderte, stand Boris plötzlich in ihrem Weg. – »Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich sterbe, du sollst mir verzeihen, ich habe dich belogen und betrogen.«

Sie sah ihn an: »Ich verzeih’ dir alles, um all dessen, was ich durch dich geworden; lebe wohl!« – Er sah ihr nach mit schwimmenden Augen. Auch sie sah sich nochmals um. »Ach, Boris, sei gut, bring’ mich auch noch nach dieser neuen Station meines Leben,« bat sie. »Mrs. Higgins wird es schon zugeben, wenn ich ihr sage, daß du mein Freund bist.« – So zog denn Boris nochmals mit ihr, den langen, endlosen Seeweg um Japan herum, durch die Formosabai, durch die Südsee, um die Halbinsel Malakka, in den Golf von Bengalen, nach Kalkutta, und dann mit der Eisenbahn nach Benares. In Yoshiwara war sie wirklich so »schwach« gewesen, ihren künftigen Aufenthalt zu verraten. Es war ja unnötig, aber sie wollte doch nicht alle Brücken, alle Möglichkeiten abschneiden.

Und nun also war sie in Benares, und ehe sie sich ins Hindukollege begab, hatte der Freund seine Pflicht zu tun, ihr die Wunder von Benares zu zeigen. Er tat es mit einer fanatischen Gier, er wußte, »es war das letzte, was er ihr Liebes antun konnte vor seinem Tode, denn er wollte sterben. – Das Leben hatte jeden Reiz für ihn verloren, seit er nicht nur an seinem Glück vorübergegangen, seit er es mutwillig selber zerstört hatte. Aber vorher hatte er noch seine Pflichten zu erfüllen; er hatte Indra in die indischen Mysterien einzuweihen. Mrs. Higgins hatte ihr für acht Tage Urlaub gegeben, nun zogen sie beide aus nach allem Schönen, wie einst in Ceylon, in Singapore, in Yokohama, in Nikko, in Tokio. Der »Wanderer« erfüllte zum letzten Male seine Pflicht als Schicksalsweiser.


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