Rudolf Presber
Theater
Rudolf Presber

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Eine Vorstellung mit Hindernissen

(Erlebt im »Sehr kleinen Theater« um 1919)

Gespielt wird »Faust« von Goethe. Der Vorhang geht auf zum »Vorspiel im Himmel.« Der Herr – natürlich der Herr Direktor – sitzt auf den Wolken. Die drei Erzengel treten vor.

Raphael
Die Sonne tönt in alter Weise
In Brudersphären Wettgesang . . .

Ein Parkettbesucher im grauen Sakko Ich bedaure unterbrechen zu müssen: sprechen Sie die Verse nach der ersten Cottaschen Ausgabe? Oder nach der Ausgabe, die herausgegeben ist im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen?

Ein Parkettbesucher im Smoking Ich bitte, uns nicht aus der Stimmung zu reißen! Was wollen Sie denn überhaupt?

Der Parkettbesucher im grauen Sakko Ich will bloß Antwort.

Der Herr (natürlich der auf den Wolken): Jetzt geben Sie schon Ruhe da unten! Wir rezitieren nach der großen Sophien-Ausgabe.

Der Parkettbesucher im grauen Sakko Das ist eben nicht möglich. Ich bitte den Herrn dort in der dritten Reihe zu stenographieren! Ist nicht möglich, denn in der Sophien-Ausgabe steht: »Die Sonne tönt nach alter Weise« – nicht: – in alter Weise.« Sie rezitieren nach einem Himburgschen Nachdruck aus dem Jahre 1820. Ich bin Vertreter der Erben Himburg . . .

Ein Jurist im Parkett Ich bitte zu beachten: Himburg hat selbst unberechtigt nachgedruckt. Wenn er nun Druckfehler nachdruckt, so erwirbt er sich dadurch noch lange nicht das Recht an der Ausschlachtung dieser Druckfehler durch Rezitation und szenische Darstellung im Sinne des Paragraph 950 des Bürgerlichen Gesetzbuchs: Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache, sofern nicht der Wert der Verarbeitung oder der Umbildung erheblich geringer ist, als der Wert des Stoffes. Als Verarbeitung gilt auch das Schreiben, Zeichnen, Malen, Drucken, Gravieren oder eine ähnliche Bearbeitung der Oberfläche. Mit dem Erwerbe des Eigentums an der neuen Sache erlöschen die an dem Stoffe bestehenden Rechte.

Der Parkettbesucher im grauen Sakko Die Erben Himburg, als deren Vertreter ich mir diesen Parkettplatz gekauft habe – ich werde übrigens auf Rückzahlung des Eintrittsgeldes klagen, da die Vorstellung nicht in der versprochenen Form stattfindet und ich den Verkauf eines Billettes als rechtsgültigen Abschluß eines Vertrages betrachte – die Erben Himburg bestreiten, daß die Umbildung »in alter Weise« statt »nach alter Weise« erheblich geringer ist.

Der langhaarige Goethe-Philologe (Stehplatz hinten). Das ist eine Gemeinheit, so was zu sagen! In der letzten Goethe-Gesellschaft hat Erich Schmidt nachgewiesen . . .

Der süddeutsche Athlet und Preisboxer (der sich einen Parkettsitz gekauft hat, weil er den Titel »Faust« für die Faust statt für den Faust gehalten hat). Also, i bitt jetzt recht schön um a Ruh. I bin hierher gekommen, um was z' lerne, und nit um Ihne Ihre närr'sche Diskurs anz'höre!

(mit diesen Worten faßt er den Parkettbesucher im grauen Sakko am Hosenbund, balanciert ihn, stemmt ihn dreimal gegen den Kronleuchter und schmeißt ihn oben in die Proszeniumsloge.)

Stimme aus dem Publikum Bravo! Weiter! weiter!

Der Oberregisseur (vortretend). Verehrte Anwesende! Durch diesen unliebsamen Zwischenfall hat leider der Darsteller des Erzengels Raphael einen schweren Nervenchok erlitten, der eben von dem Theaterarzt mit Kognak behandelt wird. Da aber zu befürchten ist, daß sich der Erzengel Raphael nicht so schnell erholt, so hat der Restaurateur des Foyers, Herr Knorpelmeier, der in seiner Jugend als Zimmerkellner in Posen dem dramatischen Verein »Melpomene« angehört hat, die Freundlichkeit, die Rolle des Raphael zu übernehmen. Kerr Knorpelmeier wird aber, da er das Stück nicht kennt, die Rolle ablesen müssen und ist außerdem etwas in der Stimmentfaltung behindert, da ihm vorgestern die Mandeln herausgeschnitten wurden. Ich bitte also um gütige Nachsicht.

Stimme aus dem Publikum Bravo – bravo!

Herr Knorpelmeier (tritt aus der linken Seitenkulisse vor, nachdem er rasch seinen Cheviotsakko gegen den Frack des Regisseurs umgewechselt, der ihm auch nicht paßt. Er verbeugt sich und beginnt zu lesen).

Stimme aus dem Parkett Lauter – lauter!

Herr Knorpelmeier Also meine Herren – es ist doch überhaupt eine Gefälligkeit von mir – ich bitt' mir's aus!

Der süddeutsche Athlet Ruhe jetzt, Herrgottsakrament – das von der Sunnen hamm mer jetzt schon dreimal gehört. Weiter im Text da vorn!

Herr Knorpelmeier
Die Sonne tönt in alter Weise . . .

Ein Oberlehrer in der dritten Reihe Ich bitte den Herrn da vorn richtig zu lesen. Das muß doch ein Irrtum sein. Die Sonne »tönt« doch nicht . . .

Der süddeutsche Athlet Himmel Sakra! ob mer jetzt los kumma von der Sonnen oder net? I schmeiß jeden naus, der jetzt noch einmal –

Herr Knorpelmeier
Die Sonne tönt in alter Weise
In Brudersphären Wettgesang . . .

Der überwachende Kommissar Nach den unerquicklichen Prozessen, die wir in den letzten Wochen in Moabit wieder erlebt, kann ich hier Diskussionen über »Brudersphären« – selbst wenn sie angeblich im Himmel stattfinden – nicht zulassen.

Dr. Magnus Rehfeld (erste, sichtbarste Reihe, Eckplatz). Ich möchte ein Wort zu dem Verbot des Herrn Kommissars bemerken. Es liegt im Interesse der Homosexuellen, daß kein Zweifel darüber aufkommt, daß auch Goethe, wie in diesen gewiß absichtlich an den Anfang der Tragödie gestellten Zeilen bewiesen wird . . .

Der Herr mit dem Sopran (dritte Reihe, neben dem Athleten) Ich muß darin meinem verehrten Gönner Dr. Magnus Rehfeld Recht geben: die langen und vertraulichen Gespräche mit Eckermann . . .

Ein Student aus Frankfurt (zu Besuch bei seiner Tante). Rindviech!

Mehrere Stimmen, vorwiegend Damen Bravo – bravo! Frau von Stein – Lotte – Friederike – Bravo!

Eine alte Dame Lassen Sie mich hinaus.

Herr Knorpelmeier
Und ihre vorgeschriebene Reise
Vollendet sie mit Donnergang.

Ein Rechtsanwalt in der dritten Reihe Ehe weiter gespielt wird, muß ich eine Erklärung abgeben . . .

Der süddeutsche Athlet Sie, wenn's was abzugeben hoben, nachha schaun's, daß S' an die Garderoben kommen!

Der Herr mit dem Sopran Darf ich Ihnen einen Kuß geben, wenn der Zuschauerraum dunkler wird?

Der Rechtsanwalt in der dritten Reihe Es ist der Familie Hiob in der Rosenthaler-Straße gelungen, ein Exemplar der hier gespielten Komödie in ihren Besitz zu bringen. Die Familie Hiob legt Wert darauf, festzustellen, daß dieser sogenannte »Prolog im Himmel« ein literarisches Plagiat ist, an dem von ihrem Ahnherrn, dem Herrgott und dem Satan handelnden Buch Hiob Kapitel 1, Vers 6-12. Die Familie Hiob . . .

Herr Knorpelmeier
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke . . .

Der Rechtsanwalt in der dritten Parkettreihe – in deren Namen ich hier stehe –

Herr Knorpelmeier
Da Keiner sie ergründen mag.

Der Rechtsanwalt in der dritten Parkettreihe – hat selbst einen sehr begabten Sohn, der sich die Stoffe aus der eigenen Familiengeschichte nicht wegnehmen lassen will für –

Herr Knorpelmeier
Die unbegreiflich hohen Werke –

Der Herr in der dritten Parkettreihe Sämtliche Mitglieder der Familie Hiob in der Rosenthaler-Straße –

Herr Knorpelmeier
Sind herrlich, wie am ersten Tag.

Der süddeutsche Athlet Ja, also Herr Nachbar, i bitt, spielt jetzt der damische Herr da im Parkett mit oder nit mit? Da soll doch gleich der Deixel –! Millionendonnerwetter, wann kommt jetzt die Geschichte mit der Faust, für die i fünf Mark gezahlt hab'! Also – jetzt, i geh nach Haus – machen's Platz, Sie Quetschenmännche.

Der Herr mit dem Sopran Wenn Sie gestatten, geh' ich mit Ihnen.

Der Regisseur Ehe wir weiterspielen, muß ich im Namen der Direktion die Mitteilung machen, daß die Darstellerin des Gretchens leider von Weinkrämpfen befallen ist. Ist vielleicht eine Dame im Zuschauerraum, die geneigt wäre, die kleine Partie zu übernehmen? . . . Niemand? Dann muß die Vorstellung leider abgesagt werden. Denn auch der Faust ist nicht gekommen. Und außer den beiden Meerkatzen für die Szene in der Hexenküche sind keine Akteurs erschienen.

 


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