Rudolf Presber
Theater
Rudolf Presber

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Frühlings-Erwachen

Ohne Erlaubnis Frank Wedekinds fürs Puppentheater eingerichtet

1. Szene.

In der Neunten.

Der Lehrer Wir kommen jetzt – Fritz bohr' nicht in der Nase! – kommen jetzt zu den Säugetieren. Die Säugetiere haben warmes Blut und gebären lebendige Junge. Der Mensch ist auch nur ein Säugetier. Er hat also warmes Blut und gebiert lebendige Junge.

Das Karlchen Det machen Se man alleene, Herr Lehrer.

Das Fritzchen und das Mäxchen Ha, ha, ha. Er weiß es noch nicht – er weiß es noch nicht!

Der Lehrer Allerdings, es ist erstaunlich, das Karlchen ist jetzt doch schon sieben Jahre und sollte das noch nicht wissen?

Das Mäxchen Ach, wissen Se, Herr Lehrer, Vater sagt immer: »In sexuellen Dingen heucheln wir alle.«

Der Lehrer Dein Vater, Mäxchen, ist ein sehr verständiger Mann. Ich wünschte, Karlchens Vater wäre auch so verständig. Was ist dein Vater?

Das Karlchen Ja, meine Mutter sagt, sie weiß nicht recht, wie er heißt.

Der Lehrer So . . . Hm . . . Ja! Dann ist ihm ja freilich kein Vorwurf zu machen. Das heißt, es wäre vielleicht danach seine Pflicht gewesen . . .

Das Fritzchen Ach, heucheln wir doch nicht, Herr Lehrer! Mutter sagt immer: »Wenn se sich nachher drücken können, denn . . .«

Der Lehrer Deine Mutter ist offenbar eine sehr kluge Frau, die das Leben mit offenen Augen ansieht.

Das Fritzchen Na, das nu weniger, Sie wäscht Leichen.

(Es schellt zur Pause.)

Der Lehrer Wir müssen für diesmal hier stehen bleiben. Ich hoffe, ihr werdet die Pause dazu benutzen, das Karlchen aufzuklären.

Das Fritzchen und das Mäxchen Na, ob! Und nicht zu knapp, Herr Lehrer.

2. Szene.

Ein Winkel im Schulhof.

Die Babett' (Die Köchin des Direktors geht mit einer Tasse Kaffee für ihren Herrn über den Schulhof.)

Das Fritzchen Sie, pst, Babett'! He!

Die Babett' Was ist denn?

Das Mäxchen Könnten Sie nicht mal ein bißchen mit in die Turnhalle kommen?

Die Babett' Wozu denn?

Das Fritzchen Wir erklären nämlich eben dem Karlchen was. Sie wer'n schon wissen! Aber der Idiot versteht nix.

Das Mäxchen Ja, und da denken wir, wenn Sie erklären helfen, begreift er's vielleicht.

Die Babett' Ach so – als wie . . . Ihr Luders, ich werd' euch . . .! Das heißt, wenn der Alte seinen Kaffee hat, komm' ich ein bißchen.

3. Szene.

Bei Piefkes.

Die Tante Also jetzt will ich euch das Märchen von Schneewittchen fertig erzählen. Also ihr wißt doch, wer das Schneewittchen war?

Das Paulachen Es war der Königin ihr außereheliches Kind.

Die Tante Aber um Gottes willen, nein. Vielmehr ihr Stieftöchterchen war das Schneewittchen.

Das Emmichen Ach, das wird in den Märchen immer so gedeichselt.

Das Tonichen Ja, das ist zu dumm. Da ist immer von sieben Zwergen die Rede. Die gibt's doch gar nicht. Meine Mutter meint, das waren Siebenmonatskinder, die im Wachstum zurückgeblieben sind.

Das Paulachen Aber natürlich, darauf deutet doch schon die Zahl sieben.

Das Emmichen Und zurückgeblieben sind sie, weil ihre Mutter sich zuviel geschnürt hat.

Das Tonichen Oder der Vater war Alkoholiker.

Die Tante Aber, wenn ich euch doch sage, das Schneewittchen . . .

Das Emmichen Ach hör' schon auf, Tante. Du bist noch alte Schule. Bei uns zieht das wirklich nicht mehr.

Das Paulachen Nein, wirklich, das zieht nicht mehr. Gott, wir verstehn's ja schließlich, daß ein spätes Mädchen das andere unterstützt, wenn ihr was passiert . . . Aber gleich zu lügen, daß sie einen vergifteten Apfel gegessen hat . . .

Das Tonichen Die Äpfel kennen wir!

Das Emmichen Die haben schon im Paradies an dem berühmten Baume gehangen.

Das Paulachen Und übrigens, Tante – tu' doch nicht so! Wenn du nicht so häßlich wärst, möchtest du auch schon 'mal von den Äpfeln essen. Unter uns Mädchen brauchen wir uns doch nichts vorzumachen.

4. Szene.

In der Anatomie.

Fritzchen, Mäxchen und Paulachen steigen durch das offene Fenster und ziehen das Karlchen hinter sich her.
Auf dem ersten Tisch liegt die Leiche der Babett'. Neben ihr steht etwas in Spiritus.

Das Fritzchen Du, Mäxchen, halt' das Karlchen schon am Kragen fest, sonst entwischt er uns doch noch, eh' er alles begriffen hat.

Das Karlchen Aber ich will gar nicht alles begreifen! Es war viel schöner, als ich gar nichts wußte. Das ist alles so unappetitlich.

Das Mäxchen Ist das Essen etwa nicht unappetitlich! Du ißt Tierleichen, die schon ein paar Tage irgendwo gehangen haben. Und du trinkst Wasser dazu, in das vielleicht, als es noch im Gebirge lief, sechs alte Bauern ihre Schweißfüße gestellt haben.

Das Karlchen Pfui Teufel, du bist ein Ferkel!

Das Mäxchen Du machst mich stolz. Denn siehst du, will einer etwas Schönes sagen, dann hört kein Mensch mehr hin. Wenn einer aber etwas Unappetitliches sagt, dann . . .

Das Karlchen O Gottogottogottogott – da liegt ja – da liegt ja die Babett' – ganz kalt und weiß . . . Ist sie tot – ja? O Gottogottogottogott, an was ist denn die arme Babett' gestorben. Doch nicht . . .?

Das Fritzchen Nein. Aber sie wird dirs gleich selbst sagen. Siehst du, sie setzt sich schon auf.

Das Karlchen Ich will fort – ich fürcht' mich . . .

Das Paulachen Ja, siehst du, da unten, die im Parkett, die möchten am liebsten auch fort. Aber sie haben zwanzig Mark für einen Sessel bezahlt. Und was der Deutsche bezahlt, das genießt er.

Das Mäxchen Karlchen, nimm' mal der toten Babett' das weiße Tuch ab, mit dem ihr das Kinn gebunden ist, damit sie sprechen kann.

Die tote Babett' Danke. Jetzt geht's. Der Anatomiediener ist ein roher Kerl, er hat mir den ganzen Kiefer verrenkt. Aber so ist das Leben. Roh und dumm.

Das Paulachen Gelt, und deshalb bist du freiwillig gegangen?

Die tote Babett' Das erzählt bloß der Direktor, der Lump. Hätt' ich ihm bloß nicht so viel Kaffee gebracht! Dann wär' alles anders gekommen.

Das Karlchen Ich versteh' nicht – – Wie kann die arme Babett' an dem Kaffee gestorben sein, den der Direktor getrunken hat?

Die tote Babett' Unsereins stirbt immer an etwas, was die andern tun. Ich zum Beispiel bin an einer weißen Frau gestorben. Siehst du, hier – (Sie nimmt das Spiritus-Präparat und hält es gegen das Mondlicht).

Das Mäxchen Du, Fritzchen, jetzt geh'n wir. Das kennen wir doch schon alles, was die da erzählt. Ich weiß eine Kneipe, die noch auf ist, in der fesche Polinnen bedienen – was?

Das Fritzchen Ja, lassen wir die beiden hier mit der Babett' allein, das Karlchen und das Paulachen, die wissen all' so was noch nicht . . .

(Das Fritzchen und das Mäxchen steigen aus dem Fenster.)

5. Szene

Hinter den Kulissen.

Der Direktor Das ist ja nun allens sehr schön und sehr schauerlich, aber – ein Theaterstück ist es doch eigentlich nicht.

Der Dichter Ja, sind Sie denn so altmodisch, daß Sie »Theaterstücke« in Ihrem Theater spielen wollen.

Der Direktor Ich dachte allerdings zuweilen . . .

Der Dichter Gott ja, wenn Sie gewöhnliche Preise nehmen, da können Sie ja die alten Schmarren spielen. Aber ich bitte Sie, Ihr Publikum und für zwei Goldstücke – nee, Lieber, da wollen die Leute doch was anderes. Lassen Sie mal ein lateinisches Übungsbuch mit verteilten Rollen sprechen und nach jedem Relativsatz den Vorhang fallen. Seh'n Sie, so was wirkt. Oder eine Broschüre über Mutterschutz mit Musik hinter der Szene und lebenden Bildern. Oder mein Drama.

Der Direktor Gewiß, gewiß, es ist herrlich. Bloß – es hat so gar keinen rechten Zusammenhang.

Der Dichter Herr! . . . Na, ich will nicht grob werden. Was hat denn in der Welt überhaupt einen Zusammenhang? Hängen Sie mit Ihrer Frau Mutter noch zusammen? Nein. Sonst wären Sie kein Theaterdirektor. Hängen Sie noch mit Ihrer Vergangenheit zusammen? Nein. Hänge ich mit den Leuten vor dem Vorhang zusammen? Nein, denn wo könnt' ich sonst den Mut hernehmen, sie zu bluffen!

Der Direktor Nun ja. Aber ein Kunstwerk muß doch einen Abschluß haben.

Der Dichter Freilich. Wie eine Wurst. Ein Kunstwerk ist überhaupt eine Wurst. Wenn Füllsel genug drin ist – zugebunden und ein Schlupp daran! Und auch sonst. Mir ist's heute schon Wurst. Und in fünfzig Jahren ist's der ganzen Welt – Wurst.

Der Direktor Sie haben Recht, wie immer. Ich bitte also um den Schlupp.

Der Dichter Ich denke mir das etwa so – –

6. Szene.

Im Klassenzimmer der »Neunten«, das Sonnabends mittag zum Nachsitzen benutzt wird. Es ist Sonnabend mittag.

Mäxchen Mach' doch schon das dumme Buch zu und schwatzen wir ein bißchen! Was ist's denn für ein Schmöker?

Fritzchen Casanovas Abenteuer. Aus Karlchens Nachlaß. Der Bengel hat zuletzt 'ne ganz feine Bibliothek gehabt. Viel Budapester Sachen und so. Aber der Casanova ist faul. Kein rechter Genießer! Alles so pedantisch. Wenn's einer schon aufschreibt – das ist die Höhe!

Mäxchen Mir ist immer noch nicht recht klar, warum das Karlchen eigentlich in seines Vaters Rasiermesser gefallen ist?

Fritzchen Aus gekränktem Ehrgeiz. Wie er aufs Standesamt kam, anzumelden – das mit Paula, du weißt – da hat ihm der Beamte gesagt, der Vater müsse selbst die Anzeige machen.

Mäxchen Und das –

Fritzchen Ja. Das hat ihn so gekränkt. Da ist er nach Hause und – ratsch. Er war immer ein bißchen komisch.

Mäxchen Und das Paulachen?

Fritzchen Die singt jetzt »Mutter-Lieder« zur Gitarre in einem Berliner Kabarett. Ganz netter Verdienst. Ein Onkel von Karlchen zahlt die Toiletten. Später, wenn die Sensation nicht mehr zieht, will sie entweder in Schönheit sterben oder ein Pensionat im Westen aufmachen. Annonciert hat se schon.

Mäxchen Ach du, ich habe einen Einfall. (An der Türe) Herr Sauerwein – Herr Sau–er–wein!

Der Pedell Sauerwein Was wollt ihr denn, ihr Arrestanten?

Mäxchen Ach geh'n Sie schon hinüber ins Café, Herr Sauerwein, bitte, und holen Sie uns zwei Absynth.

Der Pedell Sauerwein Absynth – Jetzt? – Wozu denn? – Und ich als Beamter?!

Mäxchen Na, dann holen Se schon drei Absynth, Herr Sauerwein. Wir müssen unsere Konfirmationssprüche noch memorieren. Und die Konfirmationssprüche bleiben uns nur im Kopf, wenn wir Absynth dazu trinken.

Der Pedell Sauerwein Na, wenn Sie die Konfirmationssprüche lernen müssen . . . Also drei Absynth . . .

(Während der Pedell Sauerwein die drei Absynth holt, fällt der Vorhang.)

Regie-Bemerkung: Er kann auch vorher fallen.

 


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