Paula von Preradović
Königslegende
Paula von Preradović

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Der Guslar

Als der älteste Sohn des Slavatz neunzehn Jahre zählte und seine Brüder Andreas und Urra gleichfalls schon kühne, schöne junge Burschen waren, die dem Vater beim Fischen halfen und denen Mutter und Großmutter niemals genug zum Essen vorsetzen konnten, legte eines Mittags im Frühling ein kroatisches Boot im Hafen an. Die Leute waren vom Sturm nach Westen abgetrieben worden, sie kamen abgemattet vom Kampf mit dem Wetter an Land und baten um Unterkunft, denn das Boot war beschädigt und sie mußten es ausbessern, ehe sie die Rückfahrt antraten. Slavatz wies ihnen das Gelaß rechts vom Flur des großen Hauses an, in dem zu seiner Zeit Tomaso sich mit seinen Gästen zu unterreden pflegte; in der großen Küchenstube erhielten sie reichliches Essen, damit sie sich von ihrer schreckensvollen Fahrt erholen konnten. Diese Fischer hatten einen blinden Greis namens Assor bei sich; sein Gesicht war bartlos aber lange weiße Locken fielen auf sein schafwollenes Wams nieder, und wo er ging und stand, hielt er eine Gusla an sich gedrückt, an deren einziger Roßhaarsaite er manchmal wie in Gedanken zupfte. Er schien zu fürchten, jemand könnte ihm sein Instrument fortnehmen. Es sprach sich schnell herum, daß bei den fremden Fischern ein Guslar sei, und Slavatz fragte die Leute, 109 ob der Sänger wohl willens sein würde, am Abend vor ihm und seinen Söhnen sowie vor einigen der Inselleute, die das Kroatische verstanden, zu singen.

»Sicherlich wird er singen«, sagte der Fischer, dem das Boot gehörte, »aber du mußt ihn belohnen. Da er blind ist, hat er sich das Singen zum Beruf genommen. Er weiß viele Lieder und trägt sie schön vor. Als wir auf Issa gelandet waren, hat er in der Herberge gesungen; alle waren zufrieden und haben ihm gedankt und der Herbergsvater hat ihm Schuhe aus Wildleder geschenkt.«

»Auch ich werde ihn belohnen, denn ich will, daß meine Söhne auch einmal einen kroatischen Sänger zu hören bekommen«, sagte Slavatz, befahl den Leuten im Haus, für den Abend ein festliches Essen vorzubereiten und legte einen neuen Mantel aus Schafwolle zurecht, den er dem Sänger schenken wollte.

Gegen Abend hörte der Wind auf und die Luft war sehr mild. Da fragte Slavatz die Schiffsleute, ob sie auf dem Altan neben dem Haus essen und dem Sänger zuhören wollten. Dort würde es angenehm zu sitzen sein. Aber sie sagten, sie hätten all die Tage her so viel mit Wind und Luft und Meeresfeuchte zu kämpfen gehabt, daß sie lieber in der Stube sitzen wollten. So ließ Slavatz sie in der großen Küchenstube bewirten, und als sie gegessen und getrunken hatten, kamen die Männer aus den beiden Weilern, die zuhören wollten, und setzten sich auf die Steinbank, die an der Küchenmauer entlang lief. Slavatz hatte auch die Mönche verständigt und Vater Hieronymus, der nun ein alter Mann war, kam gegangen, denn er war gerne dabei, wenn das kleine Volk, dessen Hirte er war, sich an 110 etwas Ungewohntem erfreuen konnte. Für den Sänger, für Slavatz und seine Söhne und für den Mönch wurden hölzerne Bänke mit Lehnen in die Mitte der Küchenstube gestellt.

Für Lucia hätte es sich nicht geziemt, in der Männerversammlung dem Männergesang zuzuhören, sie sagte aber dem Slavatz, daß sie für ihr Leben gern dabei sein wollte, da antwortete er ihr, sie solle sich in die Ecke zum Herd setzen und die Weinkrüge neu füllen, wenn sie leer würden. Auf diese Weise würde es für sie als Wirtin nicht unziemlich sein, dem Vortrag beizuwohnen.

Als alle versammelt waren und der Sänger die Saite der Gusla neu gespannt hatte, fragte er den Slavatz, was er singen solle. Kürzlich habe er ein serbisches Lied über die Heiligen Nikolaus und Nedjelja gehört, dieses sei sehr schön; oder er könne das ganz neue Lied von den kroatischen Königen singen.

»Von welchen Königen?«, fragte Slavatz.

»Nun, von unseren letzten Königen, von ihrem Wirken und von ihrem Tod«, antwortete Assor.

»Singe es!«, sagte Slavatz und suchte sein Erzittern zu verbergen.

»Ja, von den Königen!«, riefen die Söhne des Slavatz, die nicht wußten, daß sie Königssöhne waren, und alle setzten sich zurecht. Slavatz saß dem Sänger gegenüber. Er war jetzt mehrere Jahre über Fünfzig und sein früher pechschwarzer Bart war eisengrau, doch wohlgepflegt, da Lucia darauf hielt, ihn stets rechtzeitig zu beschneiden. Auch trug er ordentliche und würdige Kleider, die er sich in Apulien eingetauscht hatte und seine kühngesichtigen, großgewachsenen 111 Söhne waren gleichfalls schön gewandet. Nur Maurus, der elfjährige Jüngste, war in hausgewobene, ungefärbte Schafwolle gekleidet.

»Also fange jetzt an!«, sagte Slavatz, und Assor, der Sänger, hob sein blindes Gesicht, zupfte die Saite der Gusla und begann mit einer hellen und starken Stimme, die klang und trug und keines Greises Stimme schien, zu singen.

Slavatz meinte, das Herz stehe ihm still, denn was er Assor singen und sagen hörte, war seine eigene Geschichte.

»Mit dem Heere zog der König Slavatz,
Zog vom breiten Tale der Narenta,
Zog durchs hohe grüne Waldgebirge,
Stellte hin sich auf der weiten Ebne.«

Und er erzählte den Lauf der Schlacht so, wie er gewesen war und wie Slavatz ihn innerlich tausendmal neu erlebt hatte: Wie die Kroaten in drei Gliedern vorwärtsgestürmt waren, die Normannen sie aber doch in die Zange genommen, besiegt und in die Flucht gejagt hätten. König Slavatz aber, so sang der Alte, sei getötet vom Pferde gesunken und auf dem Schlachtfeld liegen geblieben. Zur Strafe, weil er ein Ketzer gewesen, habe niemand ihn beerdigt, und zwei Amseln hätten ihm die Augen ausgehackt.

Der Alte hielt einen Augenblick inne und trank einen Schluck Wein aus seinem Krug; die Söhne des Slavatz scharrten mit den Füßen, klatschten in die Hände und riefen: »Dem Ketzer ist recht geschehen!« Vater Hieronymus aber, der neben Slavatz saß, und Lucia aus ihrem Winkel beim Herd, warfen trauernde Blicke auf Slavatz, der sich jedoch steil aufrecht hielt 112 und nicht weinte, wie er vor Zeiten im Kloster zu Split geweint hatte, als Stjepan ihm von der Wahl des Dimitrije Zvonimir erzählt hatte.

Als Assor, der Sänger, getrunken hatte, strich er wieder die Saite der Gusla mit dem kurzen Bogen und begann aufs neue. Er sang nun ein Lied zu Ehren des Königs Dimitrije Zvonimir, der dem Ketzerkönig Slavatz nachgefolgt war; er berichtete, wie edel und weise er gewesen und wie das Land unter seiner Herrschaft an Reichtum und Wohlfahrt zugenommen hätte. Dann aber wurde seine Stimme dunkel und traurig.

»Lieber Gott des übergroßen Jammers«, sang er, und erzählte, wie Dimitrije Zvonimir bei den fünf Kirchen nahe von Knin einen Sabor abgehalten habe, bei dem er Briefe des Kaisers von Byzanz und des Papstes von Rom verlesen habe, die das kroatische Volk aufgefordert hatten, sich dem gegen die Sarazenen ziehenden Kreuzheer anzuschließen. Bei den Kroaten aber war es bis dahin unerhört gewesen, daß ihre Krieger in fernen Ländern zu fremdem Nutzen ihr Blut vergießen sollten, und es habe die Männer ein großer Zorn gepackt. Der König, der mitten auf freiem Feld, auf einer Art von Thron sitzend, seine Botschaft verlesen hatte, sei allsogleich von seinen wütenden Untertanen umdrängt gewesen, die ihm die Krone vom Haupt und die kostbaren Kleider vom Leib gerissen und ihn mit vielen Dolchstichen getötet hätten.

»Lieber Gott des übergroßen Jammers«, sang der Guslar abermals und schilderte, wie erbärmlich der König dagelegen sei und wie seine Getreuen seinen Leib heimlich weggebracht hätten, um ihn zu bestatten. 113

Wieder setzte Assor, der Sänger, den Weinkrug an die Lippen, er packte den Zipfel seines Wamses, um sich die Stirne damit zu trocknen, auf der in vielen Perlen der Schweiß stand. Denn er war tief betrübt über die Kunde seines eigenen Liedes.

Slavatz saß starr da und hielt sich mit den Händen an der Bank fest, darauf er saß, damit er nicht umsinke, denn die Mär vom gewaltsamen Tod Dimitrije Zvonimirs bewegte ihn sehr, doch vermochte er kaum, sie zu glauben.

Der Sänger aber fuhr fort und begann einen neuen Abschnitt seines Liedes.

»In der Kirche fromm Mönch Stjepan kniete,
Königserbe einst, doch eingeschlossen
In das Kloster, da der Ketzer Slavatz
Aus dem Kačić-Stamme König wurde,
Ohne Recht, doch mit Gewalt gewählet.
Kamen hohe Boten in das Kloster,
Riefen vom Gebete fort den Stjepan,
Ihm verkündend: König sollst du werden,
Denn es fiel im Kampfe König Slavatz,
Denn es ward bei Knin der fromme König
Dimitrije Zvonimir ermordet.
Also bist du, Stjepan, nun der Erbe.«

Assor berichtete weiter, indem er die Gusla strich und seiner Stimme den schönsten Klang gab, daß Stjepan zwar betrübt gewesen sei, das Kloster zu verlassen, aber doch dem Ruf des Volkes, das ihn auf den Thron forderte, nicht habe widerstehen wollen, zu Biograd na Moru gekrönt worden sei und in großer Weisheit und Gerechtigkeit, alle Gegensätze versöhnend, regiert habe. Doch kurz nur sei seines 114 Herrschens Zeit gewesen, und bald habe das Fieber den guten König hinweggerafft. Jedes Kind und jeder Greis, jeder Mönch und jeder Krieger im Lande hätten ihn betrauert, ja, Himmel und Erde, Meer und Küste, Feuer und Luft hätten bei seinem Tod geweint und geklagt, denn König Stjepan sei das letzte Reis aus Trpimirs ruhmreichem Geschlecht gewesen.

Slavatz hielt seine Hände zwischen den Knien gefaltet und beugte den Kopf tief herab. Dabei erinnerte er sich an Stjepans Abschiedsworte: »Trage dein Los in Geduld«, und an den tiefen Klang seiner zuchtvollen, ruhigen Stimme, und fast freute er sich, daß sein Nebenbuhler, in dem er einen so starken und so gebändigten Willen gefühlt hatte, nun doch noch eine Weile die Krone getragen hatte.

Er redete den Guslar an und fragte: »Hat Stjepan Erben hinterlassen?« Assor aber hob die Hand zum Zeichen, daß sein Lied noch nicht zu Ende sei, und fuhr fort zu singen.

Einmal noch sei ein kroatischer König gekrönt worden, und wie der Ketzerkönig Slavatz sei er aus dem Stamme Kačić gewesen, dem wilden Stamm aus der Narenta. Als Slavatz das hörte, begann er schnell und leise zu keuchen und wollte aufspringen, denn er meinte, er würde nun hören, daß sein erstgeborener Sohn Michael König geworden sei. Vater Hieronymus legte die Hand auf seinen Arm und drückte ihn wieder auf die Bank nieder, während Assors Stimme zum Ton der Gusla berichtete, Peter Svačić, der Neffe des Ketzerkönigs, sei von den Stämmen gewählt worden. In eine böse Zeit sei er geraten, in eine Zeit, da der Doge von Venedig, der Kaiser von Byzanz, der 115 römische Papst und die Normannen sich um die Oberhoheit in Dalmatien gestritten und die Kreuzfahrer das Land durchzogen hätten. Der schlimmste Feind aber seien die Ungarn gewesen, die Jelena die Schöne, Witwe des zu Knin Ermordeten, selbst eine Ungarin, ins Land gezogen habe. Das Volk habe gehofft, durch einen volksgesinnten König dem Vordringen dieser Fremden Einhalt tun zu können, darum habe man wieder einen Kačić gewählt. Denn ein mächtiger und wilder Stamm seien die Kačić. Die Meere beherrschten sie, und schwer sei es, ihrem Zorn zu widerstehen. Die Ungarn aber seien gekommen, tückisch wie eine Windsbraut, die plötzlich einherfährt, wenn keiner sie erwartet, und zu Gvozd am Fuß des hohen Waldgebirges sei die Schlacht geschlagen worden, die letzte Schlacht. Peter Svačić aus dem Kačić-Stamme, der letzte kroatische König, sei dort von den falschen Feinden besiegt und getötet worden.

»Lieber Gott, des übergroßen Jammers,
In der Waldschlucht liegen tausend Tote
Stumm im Blute, tausend und noch einer,
Peter, König aus dem Stamme Kačić,
Peter, letzter König der Kroaten.«

Assor, der Guslar, legte die Gusla neben sich auf die Bank, er tat einen langen Schluck aus dem Weinkruge und deckte dann die rechte Hand über seine blinden Augen, die ihn zu schmerzen schienen.

Die erwachsenen Männer saßen still da, überdachten, was sie gehört hatten und lobten den Sänger. Die großen Söhne des Slavatz aber, deren Heimat die Insel war und denen Kroatien und Apulien gleich fremd oder gleich vertraut schienen, Länder jenseits 116 des Meeres, sie erhoben mit glühenden Wangen ein aufgeregtes Geschrei, sie hätten in der Gvozder Schlacht dabei sein müssen, dann hätte der verfluchte Ungar niemals den tapferen König besiegen können.

Slavatz ging in ein Nebengelaß und holte den weissen, schafwollenen Mantel, den er Assor zugedacht hatte; er legte ihn dem Blinden um die Schulter und dankte ihm, und dieser wieder sagte ihm Dank, befühlte die warme und dichte Wolle und wog den Mantel in den Händen. Dabei fragte Slavatz ihn leise, so daß die anderen Männer in der Stube es nicht hören konnten, wie es nun in Kroatien mit dem Glauben bestellt sei und ob die Liturgie kroatisch oder griechisch gefeiert würde.

»Lateinisch«, sagte der Sänger. »Der alte Streit ist aus. Papst und Kaiser haben sich versöhnt und gegen die Sarazenen verbündet.« Mehr sagte er nicht, er schien müde und im übrigen ein unwissender alter Mann zu sein, der seine Lieder von anderen gehört und abgelernt hatte. Trotzdem hielt Slavatz sich in seiner Nähe und fragte ihn, ob er sich für die Wahrheit alles dessen verbürgen könne, was er gesungen habe. Der Besitzer des Bootes hatte die Frage gehört. »Alles ist, wie er es gesungen hat. Wir haben es miterlebt und ich kann es bezeugen. Nach Slavatz, dem Ketzer, kam Dimitrije Zvonimir, den sie beim Sabor ermordet haben. Dann haben sie Stjepan aus dem Kloster geholt, aber er ist bald gestorben und der Letzte war Peter Svačić, der im Vorjahr in der Schlacht getötet worden ist. Jetzt soll der ungarische Koloman König von Kroatien werden.« 117

»Schmach! Schmach!«, murmelte Slavatz und schüttelte trübe den Kopf. Nach einer Weile fragte er dann beiläufig, ob man es so sicher wisse, daß König Slavatz damals getötet worden sei. Der Sänger war gekränkt, daß jemand die Wahrheit seines Liedes anzweifelte und schwieg verdrossen, der Fischer aber sagte:

»Nie mehr hat man von ihm gehört. Ganz sicher ist er auf dem Schlachtfeld geblieben, wie später dann sein Neffe, der Svačić. Die Kačić sind kühne Leute, aber als Könige haben sie kein Glück gehabt. Zu Seeräubern taugen sie besser!« Der Mann fand diesen Ausspruch überaus spaßhaft, er lachte dröhnend und wiederholte ihn zu den übrigen Männern in der Stube. Es erhob sich ein allgemeines Lachen und Durcheinanderreden, die Inselmänner waren erregt vom Wein und von den vielen Neuigkeiten, die sie gehört hatten, und die fremden Fischer fanden es nach den Mühen und Gefahren der stürmischen Fahrt behaglich, bei den freundlichen Leuten im Warmen und Trockenen zu sitzen.

Endlich waren alle müde vom Zuhören, Trinken und Reden, und einer nach dem anderen verließ die Stube; Lucia und ihr jüngster Knabe waren längst nach Hause gegangen, Slavatz wies die älteren Söhne an, der Mutter zu folgen, er werde bald nachkommen. Er wartete, bis die Inselmänner das Haus verlassen und die Fremden ihr Gelaß bezogen hatten, schloß die Küchenstube ab und trat ins Freie.

Da sah er, daß Vater Hieronymus draußen stand und auf ihn zu warten schien. Das Meer brandete laut gegen den Hafen und in der Entfernung hörte man die 118 Schritte der Männer, die zu ihren Häusern gingen. Slavatz hatte seine Abneigung gegen den Mönch allmählich aufgegeben, da er in den vielen Jahren trotz des Mißtrauens, mit dem er ihn betrachtete, weder Herrschsucht noch Frömmelei an ihm hatte entdecken können und ihn immer nur in Güte und Festigkeit sein Amt hatte erfüllen sehen. Die schwarze, bärtige Gestalt stand dicht an der Hausmauer, und Slavatz hörte die alte brüchige Stimme sprechen:

»Mir ist leid gewesen, Herr Peter, daß Ihr heute wohl viele Bitternis habt erfahren müssen. Ich hätte schwerlich an Eurer Stelle dem Sänger gegenübersitzen und all das anhören mögen, das Euch so nahe anging.«

»Immer noch ist Wissen besser als Nichtwissen«, antwortete Slavatz, »und besser als eitle Hoffnung ist Verzicht.«

»Wenn Ihr so zu sprechen vermögt, dann ist das Leid, das Ihr gelitten habt, nicht umsonst gewesen. Und, Herr Peter, sagt mir noch dies: es will mir scheinen, als hättet Ihr Euren Haß gegen das Lateinische begraben. Ist es nicht so?«

Slavatz zauderte, ehe er antwortete. »Vater Hieronymus«, sagte er dann widerstrebend, »vor Jahren hat mir jemand gesagt, daß die Kroaten festwurzeln sollten in ihrer Heimaterde, aber schauen nach Westen, weil so auch unsere Berge und Inseln tun. Damals habe ich dem Mann, der so redete, nicht geglaubt. Vielleicht glaube ich ihm heute.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er nochmals sehr leise: »Vielleicht.«

Der Mönch stand auf seinen Stock gestützt und suchte durch die Finsternis das Angesicht des Slavatz. 119

»Lieben sollen wir und nicht hassen«, sagte er dann, und es war eine leise und frohe Rührung in seiner Stimme. »Lieben und nicht hassen, mein Bruder.« Damit wandte er sich und begann das Binnensteiglein zu seiner Zelle hinanzugehen.

Slavatz ergriff seinen Stab und schlug den Pfad längs der Strandklippen ein, den er in den lang verwichenen Jahren so oft verzweifelnd, hoffend und harrend entlang gehinkt war. Alles, was er in der Stube gehört hatte, erregte ihn so sehr, daß er lieber allein unter freiem Himmel als daheim in dem dumpfen Schlafgemach sein wollte. Das locker geschichtete Mäuerchen stand noch, wo er einst die junge, kichernde Lucia nach der Bedeutung des Kapellenbildes gefragt hatte. Er setzte sich darauf und wunderte sich über die viele Zeit, die seither vergangen war, die alle seine alten Hoffnungen vernichtet und doch ihn selbst nicht getötet hatte; die ein neues, einfaches, entsagungsvolles Leben für ihn heraufgeführt hatte, so wie die fortschreitende Nacht die Sternbilder des Abends ins Meer sinken und neue am Himmel heraufziehen läßt, die aber alle nicht so hell und hoffnungsreich leuchten können wie der Abendstern, der funkelnde Himmelserstling.

In dieser Nacht sah man nicht viele Sterne, denn der Mond, der im Aufnehmen war, stand hoch am Himmel und wurde nur mitunter von ziehenden Wolken bedeckt. Das Meer schlug heftig an den Strand; nach dem Sturm der letzten Tage war es die tote See, die da so lärmte.

Slavatz atmete schnell und tief. Seine Brust schien zu seicht und zu schmal für das Übermaß des Schweren 120 und Schicksalsvollen, das er aus dem Mund des Sängers gehört hatte. Er konnte es nicht fassen, was alles sich in seiner Heimat zugetragen hatte, während er hier auf dem kleinen, fernen Eiland, ein ausgeschalteter, vergessener, totgesagter Mann, als ein armer Fischer gelebt und einer Fischerstochter gesunde, wilde Söhne gezeugt hatte, die, ahnungslos ihrer großen Herkunft, wieder einfache Fischer werden würden. Er vermochte nicht, sich klar darüber zu werden, was ihn am meisten erschüttert hatte: daß das Lied seinen eigenen Tod erzählt oder daß es die Ermordung Dimitrije Zvonimirs, Stjepans, des Mönches, endliche Thronerhöhung oder die Krönung eines Sprossen aus seinem eigenen Haus zum letzten König gekündet hatte.

Während der Mond und die Wolken über ihn hinzogen, meinte er jählings die Gestalten der Könige, die das Lied des Sängers in der rauchigen Stube beschworen hatte, riesig über den Nachthimmel hinwandern zu sehen, sich selbst aber sah er mitwandern, ein Toter unter Toten. Und in dieser Stunde erst erkannte er wirklich, daß das Wort der Vila wahr gewesen war: »König zuvor, König nicht mehr. Und: Im Westen wirst du leben in Fesseln, wirst Netze auswerfen und Fische fangen.«

Die Männer, die still und gewaltig über den Himmel hinwanderten, trugen Kronen, Stjepan aber war nicht königlich gewandet, sondern hatte seine Hände in den Ärmeln der Mönchskutte stecken. Er sah fest und stetig vor sich hin und nun fühlte Slavatz, daß es ihn mehr schmerzte als alles übrige, zu wissen, daß Stjepan tot war. Und indes er am Strand saß und die Wellen ganz nahe an das Gestein schlugen und über das Geröll 121 hinplätscherten, meinte er tief in seinem Herzen zu wissen, daß, was Stjepan in seiner festen und leisen Art für recht erklärt hatte, wahrer und richtiger gewesen war als sein eigener leidenschaftlicher Kampf.

Was würde dem Land nun von den neuen, den ungarischen Königen kommen? Dem armen Land, das blau und holdselig zwischen Osten und Westen lag und um dessen Besitz bis ans Ende der Welt die Mächte der Erde streiten würden? Er seufzte. Er wollte es nicht mehr wissen. Es war nicht mehr seine Sache. Wohin führte die trügerische Größe dieser Welt? Er hatte sein verborgenes und geringes Los von Gott hingenommen und wollte es in Demut bis ans Ende tragen.

Slavatz bettete das bärtige Gesicht in beide Hände und stützte die Ellenbogen auf die Kniee. Gott! Der Große! Wo war Er? Wie weit war er von Ihm fortgegangen, wie sehr hatte er sich Sein gewaltiges Angesicht vom Ehrgeiz dieser Erde und vom menschlichen Streit der Riten und Bekenntnisse verstellen lassen. Plötzlich glaubte er zu verstehen, warum er auf die arme und abgelegene Insel geführt worden war. Hierher war er gesandt worden, um aller Eitelkeit in Wahrheit abzudanken, um unter der gewaltigen Himmelsglocke und beim nie schweigenden Rauschen des Meeres immer tiefer in das Wesen dessen einzudringen, den er beim Lärmen der Geschäfte und in der Verzweiflung seiner Ausgestoßenheit fast vergessen hatte. Sein Herz brannte in einer jugendlichen, unruhigen Glut. Ich bin nur ein alter und abgetaner Mann, sagte er sich, und doch hat Gott mich gerufen. Er hat mir die gewaltige, unfaßbare 122 Ehre Seines Rufes zuteil werden lassen. Gibt es ein größeres Glück! Gott! Gott! Ich liebe Dich! Ich will Dich suchen, auf Dich zuwandern, in Dich eindringen, so elend ich auch bin. Ich danke Dir dafür, daß ich Dich lieben darf. Nie mehr, so lange ich lebe, will ich Deine glühende, gewaltige Hand loslassen, nie das Auge von Deiner allmächtigen Braue abwenden.

Er atmete tief und selig und hob das Angesicht aus seinen Händen. Da er in den Himmel blickte, sah er die wandernden Riesengestalten nicht mehr. Der Mond war im Niedergehen und schwamm wie ein rötlicher Kahn über dem Meer.

Slavatz stand auf, denn er hatte sich überlegt, daß er am nächsten Morgen einen großen Fischfang unternehmen wollte. Das Wetter würde günstig sein. Er strich sich über die Augen und wanderte zum Hafen zurück. Als er in die Stube kam, die er mit Lucia und dem Knaben Maurus teilte, sah er, daß beide fest schliefen und er legte sich leise neben sie.

 

Ende.

 


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