Paula von Preradović
Königslegende
Paula von Preradović

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Die Vila

Nach einer schweren Nacht, in deren tiefsten und schwärzesten Stunden die Leiber der gefallenen Normannen innerhalb des Fackelkranzes begraben worden waren, während Wölfe das Lager umheult hatten, bis die Dämmerung sie verscheuchte, erhob sich ein blauer und klarer Tag. Die Reiterei verfolgte den Weg durch das Hochtal, das nach kurzer Zeit zur rechten Hand hin abbog und, den Gebirgskamm durchbrechend, an den steilabfallenden Westhang und ins Angesicht des in schwindelnder Tiefe blauenden Meeres führte. Ein Wandel der Welt hatte sich vollzogen, so jäh und eindringlich, daß sogar der stumpf und gramvoll dahinreitende Slavatz seiner gewahr wurde. Es gab hier keine Fichten mehr, kein Dunkel, keine Feuchtigkeit. In einer Wildnis von weißgrauen Steinblöcken wuchs niedriges, stachliges Wacholderbuschwerk, zwischen dessen gebogenem Gezweig da und dort hohe blaue Disteln sich durchzwängten. Wo die Erde nicht von Geröll bedeckt war, stand kurzes, verbranntes Gras und rosa Thymian, der an manchen Stellen wie ein rührender, herb duftender Teppich den Boden bedeckte. Die Sonne stand schon hoch und der Himmel wölbte sich wie die Innenseite einer kobaltenen Riesenkugel über den Reitern, während in schwindelnder Tiefe und Ferne blaßblau das 36 Meer dalag, von noch blässeren Inseln grau gefleckt.

Seit Slavatz am Vorabend ohnmächtig hatte mitansehen müssen, wie der rotblonde, jünglingshafte Svein, sein Augentrost während der bitteren Tage des Rittes, Petar Junak, den einzigen Menschen, der sich ihm seit dem Beginn des Unglücks treu und als Freund erwiesen, mit rascher Grausamkeit hingestreckt hatte, so daß ihm durch einen einzigen Schwertstreich alles geraubt worden war, was ihm in seinem Gram Hoffnung und Helligkeit gewährte, war Sveins Anblick ihm noch verhaßter als selbst der des schwarzen Golub. Er wünschte überhaupt nichts mehr zu sehen und hätte am liebsten auch die Augen geschlossen gehalten, so wie er seit dem Tage der verlorenen Schlacht die Lippen aufeinandergepreßt hatte, damit kein Wort zwischen den Zähnen durchschlüpfen könne.

Nun aber atmete er tief und der Anblick des endlos daliegenden Meeres ergriff sein schmerzversteinertes Herz wie eine mächtige himmlische Hand, deren Druck zwar gleichfalls schmerzte, jedoch auf reine und hohe Weise, die wieder aus dem Schmerz hinauszugeleiten schien. Trotz seinen Fesseln fühlte er sich angesichts der zauberhaften Weite freier und getroster. Er sah mit Begier in die flimmernde Tiefe und suchte die Landschaft zu enträtseln. So hatte er also richtig vermutet und das Gebirge, das seine Schergen so mühsam mit ihm erstiegen hatten, war tatsächlich eine hohe, dem Meer vorgetürmte Mauer gewesen. Der Abhang ging nicht senkrecht, aber steil bergab, unten schien ein schmaler Küstenstreif dem Meere vorgelagert zu sein. Wo aber befand er sich? Wie 37 hießen die Inseln, die so blaß, fern und klein zu seinen Füßen schimmerten, daß man einzig ihren Umriß, aber weder Haus noch Baum oder Schafweide auf ihnen erkennen konnte? Vergeblich spähte er nach dem langen Rücken der Halbinsel, die das Mündungsbecken der Narenta begrenzt. Wo war sein Heimatfluß? Wo war die hohe Feste Klis und wo war Spalato? Weit, weit nach Norden mußte er geraten sein, wie er es schon während des langen Rittes gefürchtet hatte, und seine Hoffnung, an der Küste, an die man ihn ja zweifellos bringen wollte, auf Angehörige seines Stammes zu stoßen, schwand dahin, wie ihm in den letzten Wochen alles Wünschbare dahingeschwunden war.

Als man das Hochtal verlassen hatte und in die helle Freiheit des Westhangs hinausgetreten war, hatten die Reiter ihre Maultiere angehalten, wohl um sich gleich Slavatz über die Gegend, in der sie sich befanden, klarzuwerden. Golub wies den normannischen Führern mit ausgestrecktem Finger diesen und jenen Punkt in der Tiefe, er nannte Namen, jedoch seiner Gewohnheit nach so leise, daß Slavatz sie nicht verstehen konnte. Endlich kehrte er sich befehlerisch an die Reiterschar und gebot eine Rast. Die Krieger stiegen von ihren Maultieren, die sich mit Eifer und Geduld sogleich daranmachten, geräuschvoll das verbrannte Gras abzufressen.

Auch Slavatz wurde ein Ruheplatz zugewiesen. Er wurde vom Maultier gehoben, nachdem man ihn entfesselt hatte, und es wurde ihm bedeutet, daß er sich in einer kleinen, von Felsblöcken umgebenen Grasmulde lagern möge. Wohl war er von seinen Wächtern umringt, wohl hörte er sie in nächster Nähe reden, an der 38 kleinen, friedlichen Stelle aber fand er sich allein, und die Höhe der Felsbrocken wie die Dichte des Wacholders ersparte ihm zu dieser Mittagsstunde den Anblick der Verhaßten. Obgleich die Tag- und Nachtgleiche überschritten sein mußte, webte hier am Kamm des Gebirges sommerliche Wärme. Es rührte sich kein Wind und auch das Meer in der Tiefe schien unbewegt und seidenglatt.

Slavatz humpelte auf einen niederen Steinblock am Rand der kleinen Mulde zu und ließ sich darauf nieder. Ein höherer Fels diente ihm als Rückenlehne. So saß er und trotz seinem Unglück zog ein fast freudiger Friede in sein Herz. Er war Zeit seines Lebens niemals in die Höhen des wilden Gebirges gekommen, wo nur Wolfsjäger, Schafhirten und Räuber ihren rauhen Geschäften nachgingen, und er hatte nicht geahnt, wie beglückend die Fernsicht, wie rein die Luft, wie hell und klar das Licht in solcher Höhe war. Die Sonne ließ aus Thymian und Wacholder einen starken und überaus herben Duft aufsteigen; hoch über dem Berg kreiste langsam ein großer Raubvogel und schraubte sich in ruhigen Kehren immer höher in die Bläue.

Die meisten der Reiter schienen in Schlaf gesunken zu sein; zwei, denen die Bewachung des Königs während dieser Rast im besonderen oblag, schliefen zwar nicht, verhielten sich aber ruhig, nur zuweilen gelangweilt über die Felsmauer herüberblickend.

Die Weite des Himmels und des Meeres, die heiße Sonne, der würzige Geruch, die durch den Gesang unzähliger Zykaden noch vertiefte Stille und die, wenn auch nur scheinbare Einsamkeit ergriffen Slavatz' Herz, das nach den Ereignissen der Nacht noch wunder 39 war als bisher, auf eine seltsam milde und eindringliche Weise. Er sah über die Grasmulde, die Felsblöcke und das niedere, stachlige Gesträuch hin und wünschte, niemals von diesem schönen Ort weichen zu müssen. Da fühlte er fast mehr als er es sah und sah es dennoch mit seinen Augen, die eben gewünscht hatten, auf dieser Welt nichts mehr sehen zu müssen, wie sich zwischen den entfernteren Felsen und Büschen eine aufrechte und kräftige jugendliche Frauengestalt heranbewegte und rasch auf ihn zukam. Sie war gebräunt von Angesicht und dichtes, langes helles Haar wehte hinter ihr her, denn sie lief auf bloßen, rosigen Füßen mehr als sie ging, oder schien vielmehr zu schweben. Ja, sie schwebte, Slavatz sah es jetzt deutlich, ihre wohlgeformten Füße mit den geraden, unverkrümmten Zehen berührten Gras und Steine nicht, und das helle Gewand, das weißgolden flimmerte, umflog wie von einem Wind gebläht die jungfräuliche Gestalt mit den breiten Schultern und sanften, runden Brüsten. Unter hochgeschwungenen Brauenbogen sahen große, strahlende Augen Slavatz an; niemals hatten Augen von solcher Schönheit und Tiefe ihn angeblickt; Jelenas Augen, die ihm als der Inbegriff des Herrlichen gedäucht hatten, verblaßten neben der unirdischen Hoheit dieses Blickes. Das Mädchen hielt einige Schritte von Slavatz am jenseitigen Rand der Mulde an und lehnte sich mit einer Anmut, wie Slavatz ihresgleichen nie erblickt zu haben glaubte, an einen Felsen, so daß es war, als sei sie ein jenem Stein entsprossener Rosenstrauch.

Der Himmel wölbte sich blauer, der Thymian duftete stärker, der große Raubvogel kreiste tiefer und näher 40 und vom fernversunkenen Meer schien ein Rauschen heraufzukommen, als das Mädchen die rechte Hand, die einen dünnen Haselzweig hielt, gegen Slavatz ausstreckte und ihn anredete:

»Slavatz aus dem Stamme Kačić, König zuvor, König nicht mehr, kennst du mich, Slavatz?«

»Wie sollte ich dich kennen?« sagte Slavatz leise, damit die Wächter ihn nicht hören konnten. Diese aber rührten sich nicht und schienen des Mädchens nicht gewahr geworden zu sein. »Wie soll ich dich kennen, habe ich dich doch nie gesehen.«

»Sahst du mich nie, Slavatz? Ich aber habe dich gesehen und war dir viele Male nahe. Kennst du mich nicht?«

Das Mädchen sah Slavatz mit tiefer und inbrünstiger Frage an, es schürzte die Lippen, es hob die Brauen, die Vogelschwingen glichen, ein wenig, es streckte die Hand mit dem Zweig noch weiter vor, und Slavatz meinte, das Herz müsse ihm vor Bangen und Verlangen zerspringen. Plötzlich durchfuhr es ihn, daß er wußte oder ahnte, wer die Herrliche war.

»Bist du die Vila, die mir zugesellt ist? Bist du die mir Verschwisterte? Vila, wie ist dein Name? Und wo warst du mir nah?«

»Immer wenn du königlich und heldisch verfuhrst. Da du auf euren Schiffen die Narenta hinuntersegeltest, da man dich krönte, da dein Knabe geboren wurde. Da war ich dir nahe, aber du sahst mich nicht.«

»Warum sah ich dich nicht?«

»Weil du jung warst und den Schmerz nicht kanntest. Mich sieht nur, wer geprüft und schmerzerfahren ist.«

»Warst du auch in der Schlacht an meiner Seite?« 41

»In der Schlacht floh ich dich, denn du warst der Unterlegene.«

»Warum hast du mir nicht geholfen? Warum hast du das Unglück nicht abgewendet?«

»Wir Vilen stärken und vermehren das Glück der Glücklichen. Unglück abzuwenden sind wir nicht gesandt.«

»So kommst du auch jetzt nicht, um mich zu befreien?« fragte Slavatz.

»Nicht dich zu befreien komme ich, Slavatz aus dem Stamme Kačić, König zuvor, König nicht mehr.« Die Vila wiegte sich ein wenig hin und her, sie sah Slavatz groß und stetig an und ließ den Haselzweig durch die Luft sausen wie ein Schwert.

»Wozu also bist du gekommen? Wozu hast du dich mir gezeigt?«

»Gekommen bin ich, hergeflogen von der fernen Narenta, hergelaufen auf dem Grat des Velebit, damit ich dich noch einmal sehe, damit auch du mich sähest, eh ich auf immer von dir weiche.«

Noch blauer schien der Himmel, noch heißer die Sonne; schneller sangen die Zykaden, stärker roch der Thymian und lauter rauschte das Meer aus der tiefen Tiefe herauf. Die Augen der Vila hingen brennend und unbarmherzig am Gesicht des Kačićsohnes.

»So steht mein Tod bevor?« fragte Slavatz.

»Noch nicht. Noch lange nicht.« Die Vila sah eine Eidechse im Gras, die hob sie mit ihrer braunen Hand auf und setzte sie sich auf die Brust, so daß das Tier in den Falten ihres Gewandes saß wie eine Spange und sich dort wohlbehagte. 42 »So werde ich noch lange leben? Aber werde ich nie mehr König sein?« wagte Slavatz zu fragen.

»Nie mehr König, Slavatz aus dem Stamme Kačić, nie mehr wirst du König sein.«

»Und doch noch lange leben? Leben als was? Leben als Knecht?«

»Lange leben in Fesseln. Der du den Aufgang geliebt hast, nach Untergang wirst du segeln. Im Westen wirst du leben in Fesseln, wirst Netze auswerfen und Fische fangen.«

Slavatz erhob sich mühselig von seinem steinernen Sitz. Er wollte auf die Vila zugehen, sie sah ihn mit ihren Sternenaugen an, sie schien zu lachen und ihn zu verspotten. Dann nahm sie sich die Eidechse von der Brust und setzte sie ins Gras, fuhr nochmals mit der Haselgerte durch die Luft, lehnte sich mit der Linken an den Fels, wie um sich abzustoßen, und schwebte auf, immer noch die Augen groß lächelnd auf Slavatz. Er ächzte und breitete die Hände, das Mädchen aber schwebte, dann schien es, daß es weiter fort wieder zur Erde niedergegangen war und nun schnell rückwärts schreitend, die Augen immer noch hergewandt, zwischen den Felsen und Wacholderbüschen verschwand.

»Im Westen wirst du leben in Fesseln, wirst Netze auswerfen und Fische fangen.« Diese letzten Worte, die die Vila gesprochen hatte, dröhnten in Slavatz nach wie grimmige Gerichtsposaunen. Er starrte den Berggrat entlang gegen Süden, ob er das schöne, grausame Wesen noch erblicken könne, aber es war schon entschwunden. Der Himmel schien blässer geworden, das Meer schwieg, die Zykaden sangen leise und traurig. 43 Der Raubvogel aber kreiste langsam und nahe, und vor Slavatz' Füßen saß die Eidechse furchtlos auf einem Stein.

Indessen rührten sich die Wachen, die Reiter erhoben sich und Golub rief mit seiner scharfen, zornvollen Stimme, daß der Bergabritt nun zu beginnen habe. Die ersten Maultiere schritten bereits behutsam den Saumpfad hinab, Slavatz wurde an sein Tier gefesselt, und von Wächtern dicht umgeben begann er, hoffnungsloser denn je, auf steil abschüssigem Weg dem in dunstiger Ferne blassenden Meer zuzureiten. 44

 


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