Edgar Allan Poe
Seltsame Geschichten
Edgar Allan Poe

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Ligeia

Ich kann mich bei meiner Seele wirklich heute nicht mehr erinnern, wann oder wo ich eigentlich Ligeia zum erstenmal kennen gelernt habe. Lange Jahre sind seitdem verflossen, und mein Gedächtnis ist schwach geworden von vielem Leiden. Vielleicht entsinne ich mich aber aller dieser Einzelheiten auch nur deshalb nicht mehr so genau, weil das Wesen meiner Geliebten, ihr seltenes Wissen, ihre eigenartige und doch so ruhig-keusche Schönheit, der erregende und bezaubernde Wohlklang ihrer leisen, musikalischen Stimme sich so langsam und allmählich in mein Herz schlichen, daß ich das alles gar nicht bemerkte. Immerhin glaube ich, daß ich sie zuerst und ziemlich häufig in einer großen, alten, verfallenden Stadt am Rhein traf. Sie hat mir auch von ihrer Familie erzählt, die zweifellos sehr alt war. Ach, meine Ligeia! Während ich mich eifriger als je in seltsame Studien vertiefe, um die ganze Welt und ihre Eindrücke zu vergessen, ist es dieses Wort allein – das Wort Ligeia – das vor mein inneres Auge das Bild derjenigen bringt, die jetzt nicht mehr lebt. Und nun, da ich dieses niederschreibe, blitzt in mir die Erinnerung auf, daß ich niemals ihren väterlichen Namen gekannt habe, obgleich sie meine Freundin und Verlobte war, meine Studiengefährtin und später meine Frau. Hatte sie mir im Scherz verboten, sie danach zu fragen, oder betrachtete ich es als Prüfstein meiner Liebe, das nicht wissen zu wollen? Oder war es auch nur eine Laune von mir gewesen, die wilde Romantik meiner leidenschaftlichen Anbetung und Vergötterung? Alles dessen erinnere ich mich nur noch undeutlich – wie sollte ich da noch etwas von den Ursachen und Begleitumständen wissen? Und in der Tat, wenn je der Geist, der sich Romantik nennt – wenn je die bleiche schattenbeschwingte Astarte der heidnischen Ägypter über unheilvollen Ehen geherrscht hat, dann herrschte sie über der meinigen.

Und doch gibt es etwas mir Teures, das ich nie vergesse. Das ist die Gestalt Ligeias. Sie war groß, etwas schlank und in ihren späteren Tagen sogar abgemagert. Es würde vergebens sein, wenn man die Majestät, das stille Behagen ihres Wesens, die unbegreifliche Leichtigkeit und Spannkraft ihres Schrittes schildern wollte. Sie kam und ging wie ein Schatten. Wenn sie in mein abgelegenes Studierzimmer kam, dann merkte ich das nur an der lieben Musik ihrer leisen, süßen Stimme, wenn sie ihre weiße Hand auf meine Schulter legte. An Schönheit der Gesichtszüge stand ihr keine andere Frau gleich. Sie glich dem strahlenden Traum eines Opiumrausches, einer erhabenen, himmlischen Vision von phantastischer Göttlichkeit, als sie sich je in die Phantasien der schlafenden Töchter von Delos gesenkt haben. Doch waren ihre Züge nicht von jener regelmäßigen Form, zu deren Anbetung uns die Bildwerke der Heiden fälschlich verleitet haben. »Es gibt keine auserlesene Schönheit«, sagt Bacon, Lord Verulam, an einer Stelle, wo er über alle Arten und Formen der Schönheit spricht, »ohne etwas Ungewöhnliches in den Formverhältnissen.« Aber wenn auch den Zügen Ligeias vielleicht die klassische Regelmäßigkeit fehlte, und wenn ich sah, daß ihre Lieblichkeit zwar wirklich auserlesen, aber von manchem Ungewöhnlichen durchzogen war, so strengte ich mich doch vergebens an, herauszufinden, worin nun eigentlich diese Ungewöhnlichkeit im einzelnen bestand. Ich betrachtete die Rundung der hohen, bleichen Stirn – sie war fehlerlos, wenn man dieses kalte Wort bei einer so erhabenen Göttlichkeit anwenden darf! Ich sah ihre Haut, die das reinste Elfenbein übertraf, den gebietenden Umfang und das sanfte Vorspringen der oberen Schläfenpartien und dann das rabenschwarze, glänzende, üppige Haar mit den natürlichen Locken. Ich blickte auf die zarten Linien der Nase, die ich nur auf orientalischen Bildern in ähnlicher Vollkommenheit gefunden habe. Welch ein freier Geist sprach aus der kühnen, ganz leicht gebogenen Form und aus den harmonisch geschwungenen Nüstern! Ich betrachtete ihren süßen Mund, der wirklich einen ganzen Himmel in sich trug, die herrliche Biegung der zarten oberen Lippe, die üppige, weiche Ruhe der unteren, die spielenden Grübchen, das lebhafte Rot, die glänzenden Zähne, in denen sich alles Licht ihres ernsten, ruhigen und doch unendlich strahlenden Lächelns widerspiegelte. Ich studierte die Form ihres Kinns und fand hier alles Zarte, Weiche und Gotterfüllte der griechischen Statuen wieder. Und schließlich blickte ich in Ligeias Augen.

Augen haben keine Vorbilder in der Kunst der Antike, und vielleicht lag in den Augen meiner Geliebten das Geheimnis, auf das Lord Verulam anspielt. Sie waren wohl viel größer als sonst die Augen bei uns sind. Sie waren auch strahlender als die strahlendsten Gazellenaugen der Töchter aus dem Tale Nourjahad. Doch fiel mir dies nur dann bei Ligeia auf, wenn sie besonders erregt war. In solchen Augenblicken wurde ihre Schönheit – vielleicht erschien mir das in meiner glühenden Phantasie auch nur so – wahrhaft überirdisch. Die Pupillen leuchteten in einem tiefglänzenden Schwarz, und hoch darüber hingen die langen, jettfarbenen Augenwimpern. Die in der Form etwas unregelmäßigen Brauen hatten dieselbe Farbe. Das Ungewöhnliche aber, was ich in den Augen fand, lag nicht in der Form, in der Farbe oder in dem Leuchten – es lag vielmehr nur im Ausdruck. Und doch, wie nichtssagend ist auch dieses Wort, hinter dem wir nur unsere Unkenntnis alles Seelischen verbergen. Der Ausdruck in Ligeias Augen! Wieviele Stunden habe ich darüber nachgesonnen! Wie habe ich einmal eine ganze Sommernacht gekämpft, um dahinter zu kommen! Welch ein tiefer Abgrund lag doch in den Pupillen meiner Geliebten? Was bedeutete er? Eine wahre Leidenschaft ergriff mich, ihn zu deuten. O, solche Augen! Solche großen, leuchtenden himmlischen Pupillen! Sie wurden mir die Zwillingssterne der Leda, und ich wurde ihr inbrünstiger astronomischer Forscher.

Ich habe von dem Wissen Ligeias gesprochen. Es war unendlich tief, wie ich es nie bei einer Frau gefunden habe. Sie beherrschte geläufig die klassischen Sprachen, und was die modernen europäischen anging, so habe ich, soweit meine Kenntnis ging, nirgendswo darin bei ihr einen Mangel entdecken können. Gab es überhaupt irgendein Gebiet auch der schwierigsten Wissenschaften, in dem sie nicht zu Hause war? Wie seltsam, wie schauerlich ist es eigentlich, daß mir gerade diese Seite in der Statur meiner Frau erst in der jetzigen Zeit zum Bewußtsein gekommen ist! Ich sagte, ihr Wissen war so groß, wie ich es nie bei einer Frau gefunden habe, aber wo hat je ein Mann all die weiten Gebiete moralischer, physischer und mathematischer Wissenschaft so wie sie durchschritten? Damals sah ich noch nicht, wie ich es jetzt tue, wie riesenhaft und erstaunlich Ligeias Kenntnisse waren, aber ich war mir doch bewußt, mit welchem kindlichen Vertrauen ich mich ihrer überlegenen Leitung überließ, die mich sicher durch die chaotische Welt metaphysischer Studien führte, denen ich mich in den ersten Jahren unserer Ehe hingab.

Wie scharf aber war mein Schmerz, als ich nach einigen Jahren merkte, daß alle Hoffnungen, die ich auf unsere gemeinsamen Studien gebaut hatte, sich anschickten, davonzufliegen. Ohne Ligeia war ich nur ein im Dunkeln tastendes Kind. Ihre Gegenwart, ihr Vorlesen allein erhellte mir so manches Geheimnis des Übersinnlichen, in das wir vertieft waren. Ohne den strahlenden Glanz ihrer Augen wurden die goldfunkelnden Buchstaben stumpf wie trübes Blei. Und die Augen Ligeias strahlten jetzt seltener und seltener über den Seiten, die ich durchforschte, Ligeia wurde krank. Ihre Augen nahmen eine andere, allzu fiebrige Glut an, ihre bleichen Finger bekamen den durchsichtigen, wächsernen Schimmer des Grabes, und die blauen Adern an der hohen Stirn pulsierten heftig bei der kleinsten Erregung. Ich sah, daß sie sterben mußte, und kämpfte im Geiste verzweifelt mit dem grimmigen Engel des Todes. Doch die Kämpfe dieser Frau waren zu meinem Staunen noch leidenschaftlicher und heftiger als meine eigenen. Vieles in ihrer ernsten Natur hatte mich zu dem Glauben geführt, daß für sie einmal der Tod keinen Schrecken haben werde, jetzt aber stritt sie mit einer Schärfe um ihr Leben, wie ich es nicht beschreiben kann. Ich verzehrte mich in angstvoller Qual bei diesem traurigen Schauspiel. Wie gern hätte ich sie getröstet, sie beruhigt, wäre nicht bei diesem ungeheuren wilden Verlangen nach Leben – nach Leben und nur nach Leben – alles Trösten und vernünftige Reden weiter nichts als äußerste Torheit gewesen. Aber erst im letzten Augenblick, unter den wahnsinnigsten Zuckungen ihres starken Geistes, verlor sie die äußerliche Gefaßtheit ihres Wesens. Zwar ihre Stimme wurde noch sanfter, noch leiser, aber ich verstand nur zu gut den milden Sinn ihrer ruhig gesprochenen Worte. Fassungslos lauschte ich einer Melodie, die Schlimmeres als den Tod enthielt – Gedanken und Phantasien, wie sie nie ein Mensch vorher empfunden hat.

Daß sie mich liebte, daran hätte ich nie gezweifelt, und auch nicht, daß Liebe bei einer Natur wie der ihren keine gewöhnliche Leidenschaft sein konnte. Aber erst bei ihrem Sterben begriff ich die Stärke ihrer Zuneigung. Durch lange Stunden hielt sie meine Hand fest in der ihrigen und öffnete mir ihr überströmendes Herz, dessen mehr als leidenschaftliches Lieben in Anbetung überging. Wodurch hatte ich es verdient, mit solchen Bekenntnissen gesegnet zu werden? Wodurch hatte ich es verdient, den Fluch der Erinnerung daran tragen zu müssen? Aber es ist mir unerträglich, dabei zu verweilen. Jedenfalls begriff ich jetzt, daß nur in Ligeias unendlicher Hingabe an die von mir so wenig verdiente Liebe der Grund zu ihrem wilden, unerschütterlichen Verlangen nach weiterem Leben lag. Und dieses wilde Verlangen – die mächtige Gewalt dieses Verlangens, zu leben, einfach zu leben – kann ich mit keinen Worten, mit keinem Ausdruck der Sprache schildern.

»O Gott«, schrie sie in der Nacht ihres Todes, indem sie aus ihrem Bett sprang und mit zitternden Bewegungen ihre Arme zum Himmel streckte – »o Gott! o himmlischer Vater! Soll denn alles dieses unabwendbar sein? Soll es nicht möglich sein, den Eroberer Tod einmal zu überwinden? Sind wir nicht Teile und Stücke deiner Gottheit? Wer, wer kennt die Geheimnisse des Willens in seiner vollen Stärke? Der Mensch beugt sich nicht vor den Engeln, noch selbst vor der Macht des Todes, wenn er es nicht aus Kraftlosigkeit seines schwachen Willens tut.«

Dann ließ sie wie erschöpft von ihrer Erregung ihre weißen Arme sinken und legte sich feierlich ernst auf ihr Todesbett. Und als sie ihre letzten Seufzer aushauchte, da kam zugleich ein leises Flüstern über ihre Lippen. Ich neigte mein Ohr über sie und verstand noch einmal deutlich die vorhin geäußerten Worte: »Der Mensch beugt sich nicht vor den Engeln, noch selbst vor der Macht des Todes, wenn er es nicht aus Kraftlosigkeit seines schwachen Willens tut.«

Sie starb, und ich, den die Trauer bis tief in den Staub beugte, ertrug nicht länger die einsame Öde meines Hauses in der düsteren, verfallenden Stadt am Rhein. Mir fehlte es nicht an dem, was die Welt Wohlstand nennt, denn Ligeia hatte mir mehr, viel mehr vermacht, als sonst die meisten Menschen zu besitzen pflegen. Nach einigen Monaten müden und zwecklosen Umherschweifens kaufte ich in einer der wildesten und wenigst besuchten Gegenden Englands, an einem Ort, den ich nicht nennen will, einen alten Landsitz und ließ ihn neu ausstatten. Die düstere, strenge Würde des Gebäudes, die verwahrloste Umgebung, die vielen blutigen, geschichtlichen Erinnerungen, die sich an den Landsitz knüpften, paßten so recht zu dem Gefühl äußerster Verlassenheit, das mich in diese abgelegene und einsame Gegend getrieben hatte. Obgleich an dem äußeren Anblick des verfallenen Baues wenig geändert werden konnte, begann ich mit kindischer Launenhaftigkeit und vielleicht auch in der schwachen Hoffnung, dadurch mein Leid zu mildern, das Innere in einer mehr als königlichen Pracht auszustatten. Ich hatte schon als Knabe für alle Überschwenglichkeiten Sinn gehabt und überließ mich ihnen jetzt in vollem Maße. Ach ja, es sprach viel von beginnendem Wahnsinn aus den prächtigen, phantastischen Wandvorhängen, aus dem feierlichen Schnitzwerk Ägyptens, aus den zackigen Gesimsen und Möbelstücken, aus den Irrenhausmustern der goldgestickten Teppiche. Ich war ein hoffnungsloser Sklave der Opiumleidenschaft geworden, die allem meinem Tun und Handeln die Farbe ihrer Träume gab. Aber ich will mich mit diesen Tollheiten nicht weiter aufhalten. Ich möchte nur von dem einen, ewig verfluchten Zimmer reden, in das ich in einem Augenblick halben Wahnsinns die blondhaarige und blauäugige Lady Rowena Trevanion von Tremaine als Braut und Nachfolgerin der unvergessenen Ligeia heimführte.

Es gibt keinen einzelnen Teil des Aufbaues und der Ausstattung dieses Brautgemachs, der jetzt nicht deutlich vor mir steht. Wo war das Gewissen der vornehmen Familie meiner Braut, als sie aus Durst nach Gold einer geliebten Tochter gestattete, eine solche Schwelle zu überschreiten? Das Zimmer lag in dem hohen Turm des befestigten Landsitzes, es war achteckig in der Form und von außerordentlicher Größe. Die ganze südliche Seite des Achtecks nahm ein einziges Fenster ein, eine riesenhafte Scheibe von venezianischem Glas, das in bleifarbenem Ton gehalten war, so daß Sonne und Mond, wenn sie hineinschienen, einen geisterhaften Glanz auf alle Gegenstände warfen. Über dem oberen Teil des mächtigen Fensters hing das Netzwerk eines alten Weinstocks, der sich draußen an dem Turm emporrankte. Die dunkelfarbene Eichendecke war hochgewölbt und kunstvoll mit grotesken Verzierungen halb gotischen und halb druidischen Stils bedeckt. Vom höchsten Punkt dieses melancholischen Gewölbes hing an einer einzelnen, langgliedrigen goldenen Kette ein gewaltiger, wie ein Weihrauchgefäß gebildeter Leuchter von dem gleichen Metall. Er hatte ein sarazenisches Muster mit so vielen Durchbrechungen, daß in ununterbrochener Folge halbfarbige Lichtstrahlen wie lebende Schlangen heraus- und hereinströmten.

Einige Ottomanen und Kandelaber orientalischer Art waren in verschiedenen Abständen aufgestellt, auch befand sich dort das Brautbett, nach einem indischen Modell aus schwerem Ebenholz gemacht und mit einem leichentuchähnlichen Baldachin darüber. In jeder Ecke des Zimmers stand aufgerichtet ein riesenhafter Sarkophag aus schwarzem Granit, die aus den Königsgräbern von Luxor stammten und mit unzerstörbaren Inschriften bedeckt waren. Aber das Phantastischste von allem lag in der Art, wie das Zimmer ausgeschlagen war. An den unnatürlich hohen Wänden hingen von der Decke bis zum Boden in schweren Falten dicke Wandteppiche herab aus einem Material, das auch zur Bekleidung des Bodens diente und ebenso den Überwurf der Ottomanen und des Bettes und die Seitenvorhänge der Fenster bildete. Es bestand aus kostbarstem Goldgewebe und war überall in unregelmäßigen Abständen mit fußgroßen phantastischen Figuren von matter schwarzer Farbe bestickt. Diese Figuren zeigten in endloser Folge geisterhafte Gestalten, wie sie der Aberglaube der Normannen und die bösen Träume der Mönche ausgebrütet haben. Der gespensterhafte Eindruck wurde noch stark erhöht durch künstlich zugeführte Windströmungen hinter den Wandteppichen, die diesen ein grausiges und unbehagliches Leben gaben.

In solchen Zimmern und einem solchen Brautgemach verbrachte ich mit der Lady von Tremaine ohne große Störung die ungesegneten Stunden des ersten Monats unserer Ehe. Daß meine Frau sich vor den heftigen Ausbrüchen meines Temperaments fürchtete, daß sie mir auswich und mich wenig liebte, das bemerkte ich zwar bald, aber es war mir nur recht. Denn ich verabscheue sie mit einem mehr teuflischen als menschlichen Haß. Alle meine Gedanken wandten sich mit unendlicher Trauer nach Ligeia zurück, der Geliebten, Erhabenen, Schönen, Begrabenen. Ich schwelgte in den Erinnerungen an ihre Reinheit, ihre Weisheit, ihre hohe, himmlische Natur, ihre leidenschaftliche, anbetende Liebe. Jetzt erst brannte mein Geist in noch verzehrenderer Glut, als es ihre gewesen war. In der Erregtheit meiner Opiumträume (denn ich lebte jetzt ganz im Banne dieses Giftes) rief ich laut ihren Namen durch die Stille der Nacht oder am Tage durch verlassene Bergschluchten, als könnte ich mit meinem wilden Verlangen, mit meiner tiefen Leidenschaft und meiner brennenden Sehnsucht die Verstorbene wieder auf die Erde zurückrufen.

Im Anfang des zweiten Monats meiner Ehe wurde Lady Rowena von einer plötzlichen Krankheit ergriffen und konnte sich nur langsam wieder erholen. Das sie verzehrende Fieber bereitete ihr schwere Nächte, und in dem verwirrten Zustand des Halbschlummers sprach sie von Tönen und Bewegungen im Turmzimmer und in seiner Umgebung. Ich schrieb ihre Äußerungen ihrer kranken Phantasie und zum Teil auch dem gespenstigen Einfluß des Zimmers selber zu, bis sie sich schließlich erholte und dann gesundete. Aber schon nach kurzer Zeit warf sie ein zweiter und viel heftigerer Anfall wieder aufs Bett, und von da ab erholte sich ihre schon früher schwächliche Natur nie wieder ganz. Ihr Zustand bekam bald einen beunruhigenden Charakter, besonders wegen der häufigen Rückfälle. Auch wußten die Ärzte weder was ihr fehlte, noch konnten sie ihr trotz aller Bemühungen helfen. Mit dem Fortschreiten ihrer Krankheit, die jetzt schon zu tief in ihrem Organismus Wurzel gefaßt hatte, als daß ihr menschliche Kunst noch wirklich hätte helfen können, bemerkte ich ein gleichzeitiges Fortschreiten ihrer nervösen Erregbarkeit und eine durch die harmlosesten Kleinigkeiten hervorgebrachte Furcht. Sie sprach auch wieder, und diesmal häufiger und hartnäckiger von Tönen, von leisen Tönen, und von unerklärlichen Bewegungen hinter den Vorhängen, auf die sie schon früher angespielt hatte.

Eines Abends zu Beginn des Septembers wies sie nachdrücklicher als sonst auf diese unheimlichen Dinge hin. Sie war gerade aus einem unruhigen Schlummer erwacht, und ich hatte inzwischen in einem Gefühl, das zwischen Mitleid und Grauen schwankte, ihre verfallene Gestalt betrachtet. Ich saß neben ihrem Ebenholzbett auf einer der indischen Ottomanen. Sie hob sich etwas empor und sprach in ernstem, leisem Flüstern von Tönen, die sie in dem Augenblick hörte, und die ich nicht hören konnte, und von Bewegungen, die sie sah, die ich aber nicht bemerken konnte. Gerade jetzt sauste der Wind stürmisch hinter den Wandvorhängen, und ich wollte ihr zeigen (obgleich ich es selbst nicht völlig glaubte), daß diese fast unhörbaren Seufzer, die leisen Bewegungen der Gestalten an der Wand nur durch das natürliche Rauschen des Windes hervorgerufen seien. Aber eine tödliche Blässe, die jetzt ihr Gesicht überzog, zeigte mir, daß alle meine Versuche, sie zu beruhigen, nutzlos waren. Sie schien ohnmächtig zu werden, und niemand von der Dienerschaft war in der Nähe. Mir fiel ein, daß eine Karaffe leichten Weins, den die Ärzte ihr verordnet hatten, in der Nähe stand, und beeilte mich, sie zu holen. Aber als ich unter das Licht des Weihrauchgefäßes trat, erregten zwei unheimliche Dinge meine Aufmerksamkeit. Ich empfand, daß ich einen fühlbaren, wenn auch nicht sichtbaren Gegenstand mit meinem Körper gestreift hatte, und dann sah ich auf dem goldenen Teppich gerade mitten in dem glänzenden Lichtkreis, den der Leuchter warf, einen Schatten – einen schwachen, kaum sichtbaren Schatten von der Form eines Engels –, der so dünn war, als ob ein Geist einen Schatten geworfen hätte. Aber ich hatte eine unmäßige Dosis Opium genossen, und in meiner Erregung machte ich mir nur wenig aus diesen Dingen, auch sprach ich kein Wort davon zu Rowena. Als ich den Wein gefunden hatte, trat ich wieder an das Bett und goß einen Pokal voll ein, den ich der halb bewußtlosen Lady an die Lippen hielt. Sie erholte sich ein klein wenig und nahm dann den Pokal selbst in die Hand, während ich mich auf die nächste Ottomane hinsinken ließ und Rowena betrachtete. In diesem Augenblick hörte ich deutlich einen Schritt auf dem Teppich und nahe an dem Bett, und eine Sekunde später, als Rowena den Wein an ihre Lippen hob, sah ich, oder träumte vielleicht es zu sehen, daß aus einer unsichtbaren Quelle in der Luft des Zimmers drei oder vier Tropfen einer leuchtenden, blutroten Flüssigkeit in den Pokal fielen. Wenn ich dies sah – Rowena sah es nicht. Sie trank den Wein ohne Bedenken, und ich hütete mich, ihr von Dingen zu sprechen, die doch nur Einbildungen meiner lebhaften Phantasie gewesen sein mußten, und die nur durch die Angst der Lady, das Opium und die späte Stunde so deutlich erschienen waren.

Aber ich darf es mir nicht verheimlichen, daß genau von dem Augenblick an, da die blutroten Tropfen in den Becher gefallen waren, der Zustand meiner Frau sich schnell verschlimmerte, so daß drei Tage später die Hände ihrer Dienerinnen sie zur Bestattung einkleideten, und ich in der vierten Nacht allein mit dem in Leichentüchern eingehüllten Körper in demselben phantastischen Zimmer saß, das sie einst als Braut empfangen hatte. Wahnsinnige Gestalten des Opiumrauschs flogen schattengleich vor mir auf. Mit unruhigem Blick starrte ich auf die Sarkophage in den Ecken des Raumes, auf die zuckenden Figuren in der Wandbekleidung und auf die sich schlängelnden Lichter in dem Weihrauchkessel. Dann erinnerte ich mich der Begebenheit jener Nacht, da ich den seltsamen Schatten auf dem Boden gesehen hatte. Aber als ich hinschaute und keine Spur davon bemerkte, atmete ich wieder freier und wagte es, meine Blicke nach der bleichen, bewegungslosen Gestalt auf dem Bett zu lenken. Tausend Erinnerungen an Ligeia strömten dabei auf mich ein, und in mein Herz drang mit der stürmischen Gewalt einer Flut das ganze unaussprechliche Weh, mit dem ich Ligeia einst auf dem Totenbett gesehen hatte. Die Nacht ging weiter, und noch immer starrte ich mit schmerzlichen Gedanken an die einzig und über alles Geliebte auf den Leichnam Rowenas.

Es war vielleicht um Mitternacht, vielleicht auch früher oder später, denn ich achtete nicht auf die Zeit, als ein leises und zartes, aber deutlich hörbares Seufzen mich aus meinen Träumen emporschreckte. Ich fühlte, daß es von dem Ebenholzbett, von dem Totenbett gekommen war. Ich lauschte in einem Wahnsinn abergläubischer Angst, aber der Laut wiederholte sich nicht wieder. Mit angespanntem Blick versuchte ich irgendeine Veränderung in der Lage des Leichnams zu entdecken, aber es war nicht das Geringste zu bemerken. Und doch konnte es keine Täuschung gewesen sein. Ich hatte den Laut, so schwach er auch war, wirklich gehört, und bis in meine innerste Seele hinein war ich dadurch wach geworden. Entschlossen und zähe hielt ich meine Aufmerksamkeit auf den Leichnam gerichtet, aber viele Minuten verstrichen, ehe etwas geschah, was ein Licht auf das Geheimnis warf. Schließlich überzeugte ich mich jedoch, daß ein leichter, ein ganz schwacher und kaum bemerkbarer Hauch von Farbe auf den Wangen und an den eingesunkenen, feinen Adern der Augenlider sichtbar geworden war. Mit unendlicher Angst und mit einem Grauen, das in menschlicher Sprache überhaupt nicht auszudrücken ist, fühlte ich, wie mein Herz zu schlagen aufhörte, und wie meine Glieder, während ich da saß, langsam erstarrten. Aber eine Art Pflichtbewußtsein brachte mich endlich wieder zu mir. Ich konnte nicht länger daran zweifeln, daß wir mit unseren Vorbereitungen zur Bestattung uns übereilt hatten, daß Rowena noch lebte. Es war notwendig, daß sofort etwas geschah. Doch der Turm lag ganz entfernt von dem Teil des Gebäudes, wo die Dienerschaft schlief. Niemand davon befand sich in der Nähe, und ich konnte sie nicht herbeirufen, ohne das Zimmer auf viele Minuten zu verlassen, was ich nicht zu tun wagte. So begann ich denn allein meine Bemühungen, das noch zögernde Leben zurückzurufen. Aber in kurzer Zeit überzeugte ich mich, daß ein Rückfall eingetreten war. Das Rot auf den Augenlidern und Wangen verschwand und wich einer Blässe, die noch weißer war als Marmor. Die Lippen schrumpften noch mehr zusammen als früher und erstarrten in dem gespenstigen Ausdruck des Todes. Eine widerliche feuchte Kälte überzog die Oberfläche des Körpers, und die ganze Unbeweglichkeit der Muskeln war wieder da. Schaudernd ließ ich mich auf den Diwan zurücksinken, von dem ich so entsetzt aufgesprungen war, und gab mich wieder den leidenschaftlichen Träumen von Ligeia hin.

So verstrich eine Stunde, als ich zum zweiten Male ein leises Geräusch in der Gegend des Bettes hörte. In einem Übermaß von Angst lauschte ich. Und wieder kam das Geräusch, es war ein Seufzer. Als ich zur Leiche hineilte, sah ich – sah ich deutlich – ein Zittern auf den Lippen. Eine Minute später erschlafften sie und zeigten eine Reihe perlenweißer Zahne. Erstaunen versuchte jetzt Herr über das tiefe Grauen zu werden, das mich bisher allein erfüllt hatte. Ich fühlte, wie es mir dunkel vor den Augen wurde, wie sich mein Denken verwirrte, und nur mit äußerster Anstrengung gelang es mir, mich soweit zu stählen, daß ich mich auf meine Pflicht besann. Ein Hauch von Farbe war jetzt auf Stirn, Wangen und Hals sichtbar geworden, eine fühlbare Wärme durchzog den ganzen Körper, und selbst einen leisen Herzschlag konnte ich wahrnehmen. Die Lady lebte, und ich gab mich mit verdoppeltem Eifer daran, sie völlig zu erwecken. Ich rieb und badete die Schläfen und die Hände, ich tat alles, wozu mir Erfahrung und meine nicht geringen medizinischen Studien rieten. Aber vergebens. Plötzlich verschwand die Farbe, der Pulsschlag setzte aus, die Lippen nahmen wieder den Ausdruck des Todes an, und einen Augenblick später zeigte der ganze Körper die eisige Kälte, die Leichenfarbe, die strenge Erstarrung und die eingesunkenen Züge, kurz alle abstoßenden Einzelheiten eines Toten, der schon seit Tagen im Grab gelegen hat.

Und wieder versank ich in meine Visionen von Ligeia – und wieder (noch jetzt, da ich das schreibe, ergreift mich ein Schauder) – wieder kam an mein Ohr aus der Gegend des Ebenholzbettes das leise Seufzen. Aber warum soll ich alle Einzelheiten dieser schrecklichen Nacht beschreiben? Warum soll ich berichten, wie sich immer wieder bis zur Stunde des Tagesgrauens dieses entsetzliche Drama des zum Leben Erwachens wiederholte? Wie dann jedesmal ein um so stärkeres Zurücksinken in den Tod folgte? Wie jede Phase von einer wahnsinnigen Veränderung im Aussehen des Körpers begleitet war? Nein, ich will mich beeilen, zum Ende zu kommen.

Der größere Teil der entsetzlichen Nacht war vorüber, und sie, die vorher Totgewesene, erbebte wieder einmal, und diesmal stärker als zuvor, um sich aus ihrer Erstarrung zu erheben. Ich hatte lange aufgehört, mich abzumühen oder mich auch nur zu rühren, ich blieb steif auf der Ottomane sitzen, hilflos einem Wirbel von wilden Gefühlen preisgegeben, unter denen das äußerste Grauen vielleicht das am wenigsten schreckliche und aufreibende war. Der Körper, wiederhole ich, erbebte, und diesmal stärker als zuvor. Die Farbe des Lebens strömte mit ungewöhnlicher Kraft in das Gesicht, die Glieder erwachten aus ihrer Erstarrung, und nur die Augenlider waren schwer herabgedrückt, und die Grabtücher gaben der ganzen Gestalt das Aussehen einer Leiche. Sonst aber hätte ich mir einbilden können, Lady Rowena habe gänzlich die Fesseln des Todes abgestreift. Aber wenn mir noch ein leiser Zweifel geblieben war, so verschwand er sofort, als sie sich vom Bett erhob und mit leisen, schwankenden Schritten und geschlossenen Augen, wie von einem Traum befangen, körperlich und fühlbar in die Mitte des Zimmers trat.

Ich zitterte nicht – ich bewegte mich nicht –, denn ein Gewirr von unsagbaren Phantasien durchströmte mich, als ich das Gesicht, die Größe und die Bewegungen dieser Figur sah, und lähmte mich, als sei ich zu Stein geworden. Immerzu starrte ich auf die Erscheinung. Meine Gedanken befanden sich in wahnsinniger Verwirrung, in einem nicht zu beschwichtigenden Aufruhr. Konnte das wirklich die lebende Rowena sein, die da vor mir stand? Konnte es überhaupt Rowena sein – die blondhaarige, blauäugige Lady Rowena Trewanion von Tremaine? Aber warum, warum zweifelte ich daran? Ja, dieser Mund und die jetzt geröteten Wangen und das Kinn mit dem Grübchen – es hätte das Gesicht der lebenden Lady von Tremaine sein können – aber war sie denn größer geworden seit ihrer Krankheit? Welch ein unaussprechlicher Wahnsinn flüsterte mir gerade diesen Gedanken ein? Mit einem Sprung hatte ich ihre Füße erreicht. Indem sie vor meiner Berührung zurückwich, ließ sie von ihrem Kopf die geisterhaften Tücher fallen, die ihn einhüllten, und nun strömten in das funkelnde Licht, das das Zimmer erfüllte, schwere Massen eines langen, aufgelösten Haares. Dieses Haar war schwärzer als die Schwingen der Mitternacht! Und dann öffnete die Figur, die vor mir stand, langsam ihre Augen. »Jetzt endlich«, schrie ich mit lauter Stimme, »kann ich nicht länger im Zweifel sein. Dies sind die großen, schwarzen und strahlenden Augen meiner verlorenen Liebe – sind die Augen der Lady – der Lady Ligeia!«

 


 


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