Edgar Allan Poe
Seltsame Geschichten
Edgar Allan Poe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der Tiefe des Maelstroms

Endlich hatten wir den Gipfel der höchsten Felsspitze erreicht. Einige Minuten lang schien der alte Mann zu erschöpft zu sein, um sprechen zu können.

»Es ist noch nicht lange her«, sagte er schließlich, »da hätte ich Sie hier noch ebensogut führen können wie der jüngste meiner Söhne. Aber vor ungefähr drei Jahren da begegnete mir etwas, was noch nie einem sterblichen Menschen begegnet ist, wenigstens keinem, der es überlebt hat, um davon erzählen zu können, und die sechs Stunden Todesangst, die ich damals durchmachen mußte, haben mich an Leib und Seele gebrochen. Sie halten mich sicherlich für einen sehr alten Mann, aber ich bin es nicht. In weniger als einem Tag sind meine kohlschwarzen Haare weiß geworden, sind meine Muskeln erschlafft und meine Nerven zerrüttet, so daß ich bei der kleinsten Anstrengung zittere und mich vor einem Schatten fürchte. Wissen Sie, daß ich kaum diese kleine Felsspitze hinabblicken kann, ohne schwindlig zu werden?«

Die kleine Felsspitze, über deren Abhang er sich so weit hinübergeworfen hatte, daß das größere Gewicht seines Körpers in freier Luft schwebte, und ihn nur die angepreßten Ellenbogen auf dem schlüpfrigen Fels vor dem Absturz schützten – diese kleine Felsspitze erhob sich in einer glatten, schwarzglänzenden Fläche einige fünfzehn- oder sechszehnhundert Fuß aus der unter uns liegenden Welt von Klippen empor. Nichts hätte mich dazu gebracht, näher als ein halbes Dutzend Meter an den Rand heranzukommen. Im Gegenteil, die gefahrvolle Lage meines Gefährten erregte mich so sehr, daß ich mich in ganzer Länge zu Boden warf und mich an dem in der Nähe befindlichen Gesträuch festhielt. Ich wagte nicht einmal zum Himmel emporzublicken, denn ich kämpfte vergebens gegen die Vorstellung an, bei einem solchen wilden Sturm seien selbst die Grundfesten des Felsens in Gefahr, erschüttert zu werden. Es dauerte eine ganze Zeit, bis meine Vernunft mir so viel Mut eingeflößt hatte, daß ich mich hinsetzte und in die Ferne schaute.

»Sie müssen diese Ängstlichkeit überwinden«, sagte der Führer, »denn ich habe Sie hierher gebracht, weil Sie von hier aus am besten den Schauplatz der von mir erwähnten Geschichte überblicken können, und weil ich Ihnen hier, wo Sie alles vor Augen haben, das Ganze erzählen will.

Wir befinden uns jetzt«, fuhr er dann in seiner ihm eigenen, umständlichen Art fort, »dicht an der norwegischen Küste unter dem achtundsechzigsten Breitengrad in der großen Provinz Nordland, in dem wüsten Bezirk der Lofoten. Der Berg, auf dessen Gipfel wir sitzen, heißt Helseggen, der Bewölkte. Nun erheben Sie sich einmal etwas höher – halten Sie sich an dem Gestrüpp fest, wenn Sie sich schwindlig fühlen – und blicken Sie über den Nebelgürtel unter uns auf die See hinaus.«

Schwindlig blickte ich auf und sah einen weiten Ausschnitt des Ozeans, dessen Wasser so tintenschwarz war, daß mir unwillkürlich der Bericht des nubischen Geographen über das Mare Tenebrarum einfiel. Ein noch traurigeres und öderes Panorama kann sich eine menschliche Phantasie nicht vorstellen. Zur Rechten und zur Linken erstreckten sich, so weit der Blick reichen konnte, wie gewaltige Mauerwälle Linien von häßlich schwarzen und steilen Klippen, deren öder Charakter noch durch die Brandung verstärkt wurde, die weiß und gespensterhaft schäumend, heulend und schreiend immer wieder dagegen anschlug. Gerade gegenüber dem vorspringenden Berg, auf dessen Gipfel wir uns befanden, lag etwa fünf oder sechs Meilen entfernt im Meer eine kleine, blaßfarbige Insel, die man eigentlich nur an der Wildnis der sie umschäumenden Brandung erkannte. Zwei Meilen näher am Land erhob sich eine andere, noch kleinere, die ganz aus unfruchtbarem Fels bestand und in unregelmäßigen Abständen von Gruppen dunkler Klippen umgeben war.

Zwischen der entfernter liegenden Insel und der Küste bot das Meer einen ganz ungewöhnlichen Anblick. Obgleich in diesem Augenblick ein so starker Sturm landeinwärts wehte, daß draußen auf hoher See eine dagegen ankämpfende Brigg fast fortwährend unter Wasser tauchte, war hier drinnen von stürmischem Wetter nichts zu merken, und nur ganz kleine, wilde Sturzwellen spritzten zornig auf, ohne eine bestimmte Richtung zu zeigen. Schaum aber sah man nur in unmittelbarer Nachbarschaft der Felsen.

»Die Insel da draußen«, fuhr der alte Mann fort, »nennen die Norweger Värö, die in der Mitte Mosken. Die nordwärts gelegene ist die Insel Ambaaren. Dort sind Islesen, Hotholm, Keildholm, Suaven und Buckholm, und weiter hinaus, zwischen Mosken und Värö, befinden sich Otterholm, Flimen, Sandflesen und Stockholm. So heißen die Inseln, aber warum man ihnen überhaupt Namen gegeben hat, das verstehen wohl weder Sie noch ich. Hören Sie jetzt etwas? Sehen Sie eine Veränderung im Wasser?«

Wir befanden uns seit etwa zehn Minuten auf dem Gipfel des Helseggen. Während des Aufstiegs, der von dem Innern des Landes aus stattfand, hatten wir vom Meere überhaupt nichts sehen können. Jetzt aber vernahm ich ein lautes und langsam anschwellendes Tosen, das wie das Brüllen einer Büffelherde auf einer amerikanischen Prärie klang, und im gleichen Augenblick verwandelte sich plötzlich die stoßende Bewegung der Wellen in einen Sturm, der rasend nach Osten wehte. Noch während meines Hinstarrens gewann der Sturm eine ungeheure Wucht, die mit jeder Sekunde zunahm. In fünf Minuten war die ganze See bis Värö hin in einem wütenden Aufruhr, der sich am stärksten zwischen Mosken und der Küste austobte. Die Oberfläche des Wassers war in tausend miteinander kämpfende Kanäle zerrissen. Sie schwoll an und kochte und zischte, sie bildete unzählige, riesige Wirbel und bewegte sich dabei mit einer Geschwindigkeit nach Osten, wie man sie nur bei einem abschüssigen Wasserfall sieht.

Wenige Minuten später trat in dem Bild eine neue, radikale Veränderung ein. Die Fläche des Wassers wurde etwas ruhiger, und die Wirbel verschwanden einer nach dem andern, während gewaltige Schaumstreifen sichtbar wurden. Die Streifen dehnten sich immer mehr aus, verbanden sich miteinander und schienen allmählich die Form eines großen Trichters anzunehmen. Plötzlich – ganz plötzlich – hatten sie einen Kreis von ungefähr einer Meile im Durchmesser um einen deutlich sichtbaren Strudel gebildet. Der Rand dieses gewaltigen Strudels war von einem breiten Gürtel leuchtenden Schaums umgeben, im Innern aber gähnte ein tiefer Abgrund, der von einer glatten und schwarzglänzenden Wasserwand gebildet wurde. Dieselbe senkte sich in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad und jagte mit leichten Hebungen und Senkungen in betäubender Geschwindigkeit im Kreise herum, wobei sie ein kreischendes, brüllendes Tosen ausstieß, wie es kaum der gewaltige Niagarafall zum Himmel sendet.

Der Berg erbebte bis in seinen Grund hinein, und die Felsen zitterten. Ich warf mich aufs Gesicht und klammerte mich ganz erschüttert an den spärlichen Graswuchs.

»Dies kann unmöglich etwas anderes sein«, sagte ich endlich zu dem alten Mann, »als der gewaltige Strudel des Maelstroms.«

»So wird er manchmal genannt«, erwiderte er. »Wir Norweger aber nennen ihn den Mosköstrom nach der vor uns liegenden Insel Mosken.«

»Sie haben den Strudel nun gut betrachten können«, fuhr der Alte nach einer Weile fort, »und wenn Sie jetzt um diesen Felsen herumkriechen, so daß Sie ihn im Rücken haben und gegen das Brausen etwas geschützt sind, dann will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, aus der Sie ersehen können, daß ich den Mosköstrom gründlich kenne.«

Ich tat, wie er mir sagte, und als ich mich gesetzt hatte, begann er seine Erzählung.

»Ich und meine beiden Brüder, wir besaßen einst eine als Schoner aufgetakelte Schmack von ungefähr siebzig Tonnen Gewicht, mit der wir an den Inseln hinter Mosken nahe bei Värö zu fischen pflegten. Gerade in den heftigsten Strudeln ist zu gewissen Zeiten der beste Fischfang, wenn man nur den Mut hat, dorthin zu gehen. Aber von all den Küstenleuten an den Lofoten waren wir drei doch die einzigen, die regelmäßig nach diesen Inseln hinausfuhren. Die gewöhnlichen Fangplätze liegen vielmehr südlich, und man kann dort zu jeder Stunde ohne große Gefahr fischen, deshalb werden sie auch allgemein vorgezogen. Aber hier zwischen den Klippen finden sich an ausgesuchten Stellen nicht nur die feinsten Arten, sondern auch so reichliche Mengen, daß wir manchmal an einem einzigen Tag mehr fingen als die etwas furchtsameren Fischer in einer Woche. Es war aber auch wirklich ein verzweifeltes Wagnis – statt zu arbeiten, setzten wir unser Leben aufs Spiel, und der Mut ersetzte uns das Kapital.

In einer Bucht, etwa fünf Meilen nördlich von hier, hielten wir gewöhnlich unsere Schmack und pflegten bei schönem Wetter die fünfzehn Minuten dauernde Stillwasserzeit zu benutzen, um den Hauptkanal des Mosköstroms an einer vom Strudel entfernt liegenden Stelle zu kreuzen und irgendwo vor Otterholm oder Sandflesen, wo die Brandung etwas stiller ist als anderswo, vor Anker zu gehen. Bei der Rückkehr paßten wir eine gleiche Zwischenzeit in der Wasserbewegung ab. Niemals aber wagten wir unsere Fahrt ohne einen stetigen Seitenwind, den wir sicher für die Hin- und Rückfahrt benutzen konnten, und haben uns dabei selten in unserer Berechnung geirrt. Zweimal im Verlauf von sechs Jahren waren wir wegen tödlicher Windstille, die hier übrigens sehr selten eintritt, gezwungen, eine ganze Nacht vor Anker zu liegen. Und einmal mußten wir fast eine Woche draußen liegen bleiben, wobei wir fast verhungerten, weil kurz nach unserm Eintreffen ein Sturm ausbrach, der die Rückfahrt über die Stromrinne zu gefährlich machte. Bei dieser Gelegenheit wären wir übrigens trotz aller unserer Gegenbemühungen auf die hohe See hinausgetrieben worden (denn die Strudel warfen uns so wild herum, daß wir den Anker lösen mußten), hätte uns nicht eine nach dem Land zugehende Strömung gefaßt, die uns nach Flimen trieb, wo wir glücklich landen konnten. Ich könnte Ihnen nicht den zwanzigsten Teil von all den Schwierigkeiten erzählen, die wir in unseren Fischgründen hatten, denn es war ein böser Fleck selbst bei schönem Wetter, aber es gelang uns doch noch stets, den gefährlichen Mosköstrom ohne Unfall zu durchfahren, obgleich mir manchmal das Herz im Leibe stille stand, wenn wir eine Minute zu früh oder zu spät in die Stillwasserpause hineingerieten. Manchmal war der Wind schwächer, als wir bei der Ausfahrt gedacht hatten, und wir kamen zu langsam vorwärts, so daß wir kaum mit der Strömung fertig werden konnten. Mein ältester Bruder hatte einen achtzehnjährigen Sohn und ich ebenfalls zwei kräftige Burschen. Diese hätten uns beim Steuern und dann beim Fischen von großem Nutzen sein können, aber wenn wir auch selbst unser Leben aufs Spiel stellten, so hatten wir doch nicht das Herz, die jungen Menschen der Gefahr auszusetzen – denn alles in allem, es war wirklich und wahrhaftig eine schreckliche Gefahr.

Es werden jetzt in einigen Tagen drei Jahre, da geschah das, was ich Ihnen nunmehr erzählen will. Es war am 10. Juli 18 . ., ein Tag, den man in dieser Gegend nie vergessen wird, weil damals der schrecklichste Sturm geherrscht hat, der je vom Himmel gekommen ist. Und doch hatte den ganzen Morgen durch und bis spät in den Nachmittag hinein ein sanfter und gleichmäßiger Südwestwind geweht, während die Sonne so hell schien, daß der erfahrenste Seemann unter uns nicht das, was nachher geschah, voraussehen konnte.

Wir drei – meine zwei Brüder und ich – waren gegen zwei Uhr nachmittags nach den Inseln hinübergefahren und hatten bald fast die ganze Schmack mit schönen Fischen gefüllt, die an dem Tage in größeren Mengen kamen, als wir es je erlebt hatten. Es war genau sieben auf meiner Uhr, als wir den Anker aufzogen und zurückkehrten, um die schlimmste Stelle des Stromes bei Stillwasser, das um acht Uhr eintreten mußte, zu überschreiten.

Ein frischer Wind wehte von der Steuerbordseite, und wir kamen schnell vorwärts, ohne an irgendeine Gefahr zu denken, denn es lag wirklich nicht das geringste Anzeichen einer solchen vor. Plötzlich warf uns ein Wind von Helseggen her zurück. Dies war etwas ganz Ungewohntes – etwas, was wir nie vorher erlebt hatten – und ich begann, eine gewisse Unruhe zu fühlen, ohne eigentlich zu wissen, warum. Wir legten unser Boot an den Wind, konnten aber wegen der Wirbel nicht weiterkommen, und ich wollte schon vorschlagen, zum Ankerplatz zurückzukehren, als wir zufällig nach rückwärts blickten und eine merkwürdige, kupferfarbene Wolke sahen, die mit einer höchst erstaunlichen Geschwindigkeit herankam.

Inzwischen war der Wind, der uns zurückgeworfen hatte, verschwunden, und wir trieben hilflos umher. Aber dieser Zustand dauerte nur einen Augenblick, so daß wir keine Zeit fanden, darüber nachzudenken. In weniger als einer Minute hatte uns der Sturm erfaßt – in zwei Minuten war der Himmel vollständig mit Wolken überzogen – und dann wurde, während uns Wolken von Gischt überströmten, alles so finster, daß wir uns kaum noch gegenseitig auf der Schmack erkennen konnten. Es wäre Wahnsinn, einen Sturm wie diesen beschreiben zu wollen. Die ältesten Seeleute Norwegens haben einen gleichen noch nie erlebt. Zwar hatten wir alle Segel noch rechtzeitig gelöst, aber trotzdem brachen beim ersten Stoß unsere beiden Masten, als seien sie abgesägt worden. Mit dem Großmast ging mein jüngster Bruder, der sich daran angebunden hatte, über Bord.

Unser Boot glitt leicht wie eine Feder über das Wasser. Es hatte ein vollkommen glattes Deck mit einer einzigen kleinen Luke nahe dem Bug, und diese Luke pflegten wir vor jedem Kreuzen des Stroms zu schließen, um uns gegen etwaige Sturzwellen zu sichern. Ohne diesen Umstand wären wir sofort untergegangen, denn eine Zeitlang bedeckten uns die Wellen ganz und gar. Auf welche Weise mein ältester Bruder mit dem Leben davonkam, kann ich nicht sagen, denn ich hatte keine Gelegenheit, danach hinzuschauen. Was mich anging, so warf ich mich, als ich das Docksegel herabgelassen hatte, flach aufs Verdeck, preßte meine Füße gegen den niedrigen Bugrand und klammerte mich mit den Händen an den Ringbolzen in der Nähe des Hauptmastes. Es war dies offenbar das beste, was ich tun konnte, aber ich handelte rein instinktiv, da ich viel zu verwirrt war, um denken zu können.

Wir befanden uns, wie ich schon sagte, eine Zeitlang unter Wasser, ich hielt währenddessen den Atem an und klammerte mich an den Ringbolzen. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, erhob ich mich, ohne meine Hände loszulassen, auf die Knie und bekam so meinen Kopf frei. Gleich darauf schüttelte sich unser Boot, wie es ein Hund tut, der aus dem Wasser kommt, und machte sich dadurch etwas von den Wellen frei. Ich versuchte jetzt, Herr über die Verwirrung zu werden, die mich ergriffen hatte, und zum Nachdenken über das, was geschehen mußte, zu kommen, als mich jemand am Arm ergriff. Es war mein älterer Bruder, und mein Herz schlug vor Freude, denn ich hatte ihn schon verloren gegeben. Doch im nächsten Augenblick verwandelte sich alle diese Freude in Entsetzen, denn er näherte seinen Mund meinem Ohr und schrie laut das Wort: Mosköstrom!

Kein Mensch kann sich vorstellen, was ich in diesem Augenblick empfand. Ich zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, als hätte mich der heftigste Fieberanfall gefaßt. Ich verstand nur zu gut durch dieses einzige Wort, was er mir damit sagen wollte. Mit dem Wind, der uns jetzt trieb, waren wir dem Strom verfallen, und nichts konnte uns retten!

Sie begreifen, daß wir uns beim Kreuzen des Stromkanals selbst im schönsten Wetter weit von der eigentlichen Wirbelstelle entfernt hielten, und daß wir stets sorgfältig auf die Stillwasserzeit achteten. Jetzt aber trieben wir – und dazu noch in einem solchen Sturm – direkt auf den Abgrund zu. Sicherlich, dachte ich, erreichen wir ihn gerade während der Wasserstille – wenigstens ist eine kleine Hoffnung da – aber schon im nächsten Augenblick verfluchte ich mich selbst, weil ich ein so großer Narr war, überhaupt noch auf etwas zu hoffen. Ich wußte zu genau, daß wir verloren waren, und daß hier auch das größte Kriegsschiff untergegangen wäre. Inzwischen hatte sich die erste Wut des Sturmes gelegt, oder vielleicht fühlten wir ihn nicht mehr so wie vorher, als er hinter uns herjagte. Jedenfalls aber schwoll die See, die bis jetzt durch den Wind flach niedergedrückt wurde, nunmehr zu hohen Bergen an. Auch der Anblick des Himmels hatte sich merkwürdig verändert. Bis zum fernsten Horizont war ringsumher alles pechschwarze Nacht, aber gerade über uns entstand plötzlich in den Wolken eine kreisrunde Öffnung, durch die der klare Himmel schien. Er war so klar, wie ich ihn nie gesehen habe, von einem tiefen, leuchtenden Blau, durch das der volle Mond mit einem ungewohnten Glanze herabschien. Er beleuchtete alles um uns herum mit größter Deutlichkeit – aber, o Gott, auf was für eine Szene warf er sein Licht!

Ich versuchte nun, ein oder zweimal zu meinem Bruder zu sprechen, aber auf unbegreifliche Weise hatte sich das Heulen so verstärkt, daß er auch nicht ein einziges Wort hören konnte, obgleich ich mit lautester Stimme schrie. Gleich darauf schüttelte er mit seinem Kopfe, und mit einem Gesicht, so bleich wie der Tod, winkte er mir, als wollte er sagen: Lausche!

Anfangs verstand ich nicht, was er meinte, aber bald durchfuhr mich ein entsetzlicher Gedanke. Ich zog meine Uhr aus der Tasche, sie ging nicht. Aber als ich beim Schein des Mondes darauf blickte, brach ich in Tränen aus und warf sie ins Meer. Sie war um sieben Uhr stehen geblieben! Die Zeit des Stillwassers war vorbei, und der Strom raste in voller Wut.

Wenn ein gutgebautes Schiff richtig und nicht zu schwer beladen ist, dann sieht es bei einem starken Sturm aus, als ob die Wellen darunterher glitten – das Schiff reitet auf den Wellen. Nun, bisher waren wir ganz schön geritten, aber mit einem Male erfaßte uns eine gewaltige Woge und trug uns hoch mit sich empor, so hoch, als sollte es in die Wolken gehen. Nie hätte ich geglaubt, daß eine Woge sich so hoch erheben könnte. Und dann glitten wir wieder mit einem Schwung in die Tiefe, daß ich davon elend und schwindlig wurde, als sei ich im Traume von einem riesenhohen Berge herabgestürzt. Aber während wir oben schwebten, hatte ich einen schnellen Blick um mich geworfen – und dieser eine Blick besagte alles. In einem Moment wurde mir unsere ganze Lage klar. Gerade vor uns, nur eine Viertelmeile entfernt, lag der Wirbel des Mosköstroms – aber er glich ebensowenig dem gewöhnlichen Mosköstrom, wie der Wirbel, den Sie jetzt sehen, einem Mühlbach. Hätte ich nicht gewußt, wo wir waren und was uns erwartete, ich würde den Platz überhaupt nicht erkannt haben. So aber schloß ich meine Augen vor Entsetzen. Wie im Krampf preßten sich meine Augenlider zusammen.

Es kann nicht mehr als zwei Minuten später gewesen sein, da fühlten wir plötzlich, wie die Wellen sich unter uns senkten, und wir wurden in Schaum eingehüllt. Das Boot machte eine scharfe Halbwendung nach Backbord und schoß blitzgeschwind in der neuen Richtung davon. In demselben Augenblick ertrank das heulende Tosen des Wassers vollständig in einer Art schrillem Kreischen, als ob viele tausend Dampfschiffe zu gleicher Zeit ihre Ventile geöffnet hätten. Wir befanden uns jetzt in dem Schaumgürtel, der immer den Wirbel umgibt, und ich glaubte natürlich, daß wir im nächsten Augenblick hinabstürzen würden in den Abgrund, in den ich wegen der ungeheuren Geschwindigkeit, mit der wir uns jetzt bewegten, nur undeutlich hineinsehen konnte. Aber das Schiff schien überhaupt nicht im Wasser zu sinken, sondern wie eine Wasserblase über die Oberfläche der Brandung hinwegzugleiten. Steuerbordseits befand sich der Wirbel, backbordseits die See, die sich wie eine riesige schwankende Wand zwischen uns und den Horizont schob.

Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber jetzt, da wir ganz in der Gewalt des Abgrunds waren, fühlte ich mich gefaßter als vorher, da wir uns ihm näherten. Seit ich überzeugt war, daß es keine Hoffnung mehr gab, verlor ich viel von dem Schrecken, der mich anfangs so entnervt hatte. Ich glaube, es war Verzweiflung, die meinen Mut stärkte.

Es mag wie Prahlerei erscheinen, was ich hier der Wahrheit gemäß erzähle, aber jedenfalls begann ich jetzt darüber nachzudenken, welch eine wundervolle Sache es doch sei, in solcher Art zu sterben, und wie töricht es wäre, vor einer so erhabenen Entfaltung göttlicher Macht auf etwas so Hinfälliges zu achten, wie gerade mein Einzelleben. Ich glaube, ich errötete vor Scham, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoß. Nach einer kleinen Weile erfaßte mich eine scharfe Neugierde, mir den Strudel selbst anzusehen. Ich fühlte tatsächlich einen brennenden Wunsch, seine Tiefen zu erforschen, wobei mir mein Schicksal gleichgültig war. Es schmerzte mich höchstens, daß ich meinen Kameraden an der Küste nichts von den Geheimnissen erzählen könnte, die ich entdecken würde. Es waren dies ja eigentlich für einen Menschen in meiner Lage seltsame Phantasien, und ich habe später manchmal gedacht, daß mir das ewige Herumrasen des Bootes in dem Trichter doch den Kopf etwas verwirrt gemacht hat.

Es gab einen anderen Umstand, der mich etwas beruhigte, und das war das Aufhören des Windes, der uns in unserer gegenwärtigen Lage nicht mehr erreichen konnte. Sie haben ja selbst gesehen, daß der Schaumgürtel beträchtlich unter dem Meeresspiegel liegt, und damals türmten sich die Wogen wie hohe schwarze Berge rings um uns her. Wenn Sie nie zur See gefahren sind, dann können Sie sich auch keine Vorstellung davon machen, in welchem Maße Sturm und Gischt auf die Geistesbesinnung wirken. Sie blenden, betäuben, ersticken den Menschen und nehmen ihm jede Fähigkeit zu handeln oder zu überlegen. Aber wir waren jetzt fast ganz von diesen Qualen befreit – es ging uns wie zum Tode Verurteilten, denen man manche Annehmlichkeit zukommen läßt, die man ihnen bis zur Verurteilung versagt.

Wie oft wir in dem Schaumgürtel herumkreisten, läßt sich unmöglich sagen. Fast eine Stunde lang machten wir diese Runde, wobei wir mehr flogen als schwammen und langsam immer mehr in die Mitte des Streifens gerieten, bis wir an den schrecklichen inneren Rand streiften. Die ganze Zeit über hatte ich den Ringbolzen nicht losgelassen, während mein Bruder, der im Heck des Schiffes lag, sich an einem kleinen leeren Wasserfaß festhielt, das fest angebunden und deshalb der einzige Gegenstand auf dem Verdeck war, der beim Stoß des Sturmes nicht über Bord geschwemmt wurde. Als wir den Rand des Abgrundes erreichten, ließ er das Faß fahren und strebte nach dem Ringbolzen, wobei er in seiner besinnungslosen Angst versuchte, meine Hände davon loszureißen, da wir beide daran nicht Platz hatten. Mit einem tiefen Schmerz bemerkte ich diesen Versuch – obgleich ich wußte, daß ihn nur der Wahnsinn dazu trieb, daß ihn die bloße Furcht toll gemacht hatte. Dennoch wollte ich nicht mit ihm um diesen Halt kämpfen, es war ja so gleichgültig, ob einer von uns sich überhaupt noch festhielt. Ich glitt deshalb nach hinten und ergriff das Faß, was mir ohne große Schwierigkeiten gelang. Die Schmack flog ja ganz gleichmäßig dahin und schwankte nur etwas hin und her von dem ungeheuren Schwung des Wirbels. Kaum hatte ich sicher meine neue Lage erreicht, als das Schiff einen wilden Ruck nach Steuerbord machte und wir kopfüber in den Abgrund stürzten. Ich murmelte noch schnell ein Stoßgebet und dachte, alles sei vorüber.

Als ich den schaurigen Schwung des Abstürzens fühlte, klammerte ich mich instinktiv fester an das Faß an und schloß meine Augen. Einige Sekunden lang wagte ich es nicht, sie zu öffnen, denn ich erwartete mein sofortiges Ende und wunderte mich, daß ich noch nicht im Todeskampf mit dem Wasser schwebte. Aber Minute auf Minute verstrich, und ich lebte noch immer. Das Gefühl des Fallens hatte aufgehört, und die Bewegung des Schiffes schien mir fast die gleiche zu sein wie oben im Schaum, nur daß es jetzt mehr auf der Seite lag. Ich faßte schließlich Mut und warf einen Blick auf die Szene.

Nie werde ich die Empfindung des Grauens, des Schreckens und des Staunens vergessen, mit der ich um mich schaute. Das Boot schien wie durch Zauberkraft in halber Höhe an der Innenwand eines Kamins von ungeheurem Durchmesser zu hängen, dessen Wände man für Ebenholz gehalten hätte, wäre nicht die verwirrende Geschwindigkeit gewesen, mit der sie herumrasten und gespensterhaft leuchteten. Denn der Vollmond, der noch immer durch die kreisrunde Öffnung in den Wolken schien, sandte seine Strahlen in einer Flut goldner Glorie an den schwarzen Wänden hinunter bis tief in die fernsten Abgründe des Schlundes.

Im ersten Augenblick war ich zu verwirrt, um genau sehen zu können. Der überwältigende Eindruck einer schrecklichen Erhabenheit war alles, was mir zum Bewußtsein kam. Als ich mich aber etwas erholt hatte, senkte sich mein Blick unwillkürlich nach unten. Ich hatte in dieser Richtung einen freien Ausblick durch die Art, wie die Schmack an der Wand des Kamins hing. Ihr Deck lag nämlich parallel zur Wasserfläche, diese aber senkte sich in einem Winkel von mehr als fünfundvierzig Grad nach unten, so daß wir eigentlich schräg auf der Seite lagen. Ich bemerkte aber trotzdem, daß es mir kaum mehr Schwierigkeit bot, mich mit Händen und Füßen festzuhalten, als wenn das Verdeck wagerecht gelegen hätte. Ich schrieb dies wohl mit Recht der ungeheuren Geschwindigkeit zu, mit der wir herumkreisten.

Die Mondstrahlen schienen die tiefe Schlucht bis zum Boden abzusuchen, aber trotzdem konnte ich nichts deutlich unterscheiden wegen des dichten Nebels, der dort unten alles einhüllte. Ein wundervoller Regenbogen wölbte sich über ihm, wie jene schmale und schwankende Brücke, die nach dem Glauben der Muselmänner der einzige Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit ist. Dieser Nebel oder Schaum wurde ohne Zweifel durch das Reiben der Trichterwände auf dem Boden herbeigeführt, aber das hallende Tosen, das aus diesem Nebel zum Himmel emporstieg, wage ich wirklich nicht zu beschreiben.

Unser erstes Hinabgleiten von dem Schaumgürtel in den Abgrund hatte uns sofort ein großes Stück nach unten gebracht. Dann vollzog sich unser Weitersinken aber sehr viel langsamer. Immerzu flogen wir herum, aber nicht in gleichförmiger Bewegung – sondern in schwindelerregenden Stößen, die uns manchmal nur ein paar hundert Meter weit, manchmal auch fast um den ganzen Kreis herumwarfen. Die Senkung bei jeder Bewegung war langsam, aber deutlich bemerkbar.

Als ich die weite Fläche flüssigen Ebenholzes, die uns trug, überblickte, bemerkte ich, daß unser Boot nicht der einzige Gegenstand im Bereich des Wirbels war. Über uns und unter uns waren Schiffstrümmer, große Massen Bauholz und Baumstämme sichtbar, ebenso auch kleinere Gegenstände, Möbelstücke, zerbrochene Kästen, Fässer und Faßteile. Ich beschrieb Ihnen schon die unnatürliche Wißbegierde, die mich an Stelle meines ursprünglichen Schreckens ergriffen hatte. Sie schien immer größer zu werden, je mehr wir uns unserm entsetzlichen Untergang näherten. Ich begann jetzt mit einem seltsamen Interesse die zahlreichen Gegenstände zu beobachten, die um uns herumschwammen. Ich muß wohl phantasiert haben, denn ich fand einen Genuß darin, über die verschiedenartige Geschwindigkeit nachzugrübeln, mit der die einzelnen Dinge hinabsanken. ›Diese Kiefer‹, so sprach ich einmal zu mir, ›wird sicherlich der nächste Gegenstand sein, der den schrecklichen Sturz macht und verschwindet‹. Und dann war ich enttäuscht, als ich sah, daß ein holländisches Wrack die Kiefer überholte und zuerst hinabging. Schließlich, als ich mich ein paarmal so verrechnet hatte, kam ich auf den Gedanken, bei dem meine Glieder wieder zu zittern und mein Herz heftig zu schlagen begann.

Es war aber keine neue Angst, die mich so erregte, sondern das Aufdämmern einer neuen Hoffnung. Diese Hoffnung bestand zum Teil aus Erinnerungen, zum Teil aus Beobachtungen. Ich dachte an die vielerlei Dinge, die an die Küste der Lofoten angeschwemmt wurden, nachdem sie der Mosköstrom verschluckt und wieder ausgespien hatte. In den meisten Fällen waren die Gegenstände so zerschunden, daß sie nur noch aus Splittern zu bestehen schienen, aber einige wenige waren, dessen erinnerte ich mich deutlich, überhaupt gar nicht zerstört. Nun gab es für diesen Unterschied nur die eine Erklärung, daß die zersplitterten Teile solche waren, die ganz von dem Abgrund des Strudels verschluckt wurden, während die andern so spät in den Trichter gerieten oder aus irgend einem Grunde so langsam sanken, daß sie den Boden überhaupt nicht erreichten, sondern durch die Rückkehr der Flut rechtzeitig wieder emporgetrieben wurden. Ich machte dabei die Beobachtung, daß schwerere Körper schneller sanken als leichtere, und sah nach jeder Umkreisung, wie einzelne Gegenstände, die sich vorher mit uns auf einer Höhe befunden hatten, jetzt immer höher über uns schwebten, als seien sie inzwischen überhaupt nicht gesunken.

Ich überlegte nun nicht länger, was ich tun sollte, sondern beschloß, mich fest an mein Faß zu binden, es von dem Verdeck zu lösen und mich damit ins Wasser zu stürzen. Durch Zeichen erregte ich die Aufmerksamkeit meines Bruders, indem ich auf die an uns vorbeifließenden Fässer wies und alles tat, um ihm meine Absicht verständlich zu machen. Ich glaubte schließlich auch, daß er mich verstanden hätte, aber er schüttelte nur verzweifelt den Kopf und weigerte sich, seinen Halt an dem Ringbolzen aufzugeben. Es war unmöglich, ihn zu erreichen, die Umstände erlaubten auch kein weiteres Zögern mehr. So überließ ich ihn denn mit bitterem Widerstreben seinem Schicksal, band mich mit dem Tau, das ich vom Verdeck löste, an das Faß fest und stürzte mich, ohne noch einen Augenblick zu überlegen, ins Wasser.

Die Folgen waren genau, wie ich es gehofft hatte. Da ich Ihnen ja selbst diese Geschichte erzähle – da Sie sehen, daß ich wirklich entkommen bin und die Art meiner Rettung kennen, so will ich meine Geschichte schnell zu Ende bringen. Es verging vielleicht eine Stunde, nachdem ich die Schmack verlassen hatte, und sie schwebte jetzt tief unter mir. Plötzlich schoß sie drei- oder viermal wild im Kreise herum und stürzte dann mit meinem geliebten Bruder kopfüber und für immer in das Chaos von Schaum hinein. Das Faß, an dem ich mich angebunden hatte, war nicht viel tiefer als noch einmal die halbe Strecke bis zum Boden des Trichters gesunken, als eine große Veränderung im Charakter des Strudels eintrat. Die Seitenwände des riesigen Trichters wurden immer weniger abschüssig, die Geschwindigkeit der kreisenden Bewegung ließ nach. Nach und nach verschwand auch der Schaum und der Regenbogen, bis sich der Boden des Abgrunds langsam zu heben schien. Der Himmel war klar, der Wind hatte nachgelassen, und in glänzendem Licht ging im Westen der Vollmond unter, als ich mich vor den Küsten der Lofoten auf dem Meere schwimmend fand, gerade über der Stelle, wo vorher der Strudel des Mosköstroms gewütet hatte. Es war Stillwasserzeit – doch hoben sich infolge des Sturmes die Wellen noch immer bergehoch. Heftig wurde ich in den Stromkanal gerissen und in wenigen Minuten an der Küste vorbei nach den Fangplätzen der Fischer geführt. Ein Boot nahm mich auf, aber ich war völlig erschöpft und hatte durch die Erinnerung an die überstandene furchtbare Gefahr meine Sprache verloren. Es waren meine alten Kameraden und täglichen Gefährten, die mich an Bord nahmen, aber sie erkannten mich ebensowenig, wie sie einen Wanderer aus dem Land der Toten erkannt hätten. Mein Haar, das am Tage vorher noch rabenschwarz gewesen, war nun so weiß, wie Sie es jetzt sehen. Man behauptet auch, daß der ganze Ausdruck meines Gesichts sich verändert habe. Ich erzählte ihnen meine Geschichte, aber sie glaubten sie nicht. Ich erzähle sie heute Ihnen und kann doch schwerlich erwarten, daß Sie mir mehr Glauben schenken als die Fischer auf den Lofoten.«

 


 


 << zurück weiter >>