Edgar Allan Poe
Seltsame Geschichten
Edgar Allan Poe

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William Wilson

Ich will mich hier William Wilson nennen, und die reinen Blätter, die jetzt vor mir liegen, sollen mit meinem richtigen Namen nicht beschmutzt werden. Dieser ist ja auch viel zu sehr der Gegenstand des Abscheus, des Entsetzens, der Verachtung meiner Mitmenschen geworden. Hat sich nicht bis in die fernsten Winkel des Erdballs der öffentliche Unwille über meine unerhörten Schandtaten verbreitet? O Auswurf des allerniedrigsten Auswurfs! Bist du nicht auf ewig tot für die schöne Welt? Für ihre Freuden und Blüten und ihre goldenen Träume? Und schwebt nicht eine dichte, häßliche, endlose Wolke zwischen deinem Hoffen und dem Himmel?

Ich möchte, selbst wenn ich es könnte, hier heute keinen Bericht über meine letzten, von unaussprechlichem Elend und unverzeihlichen Verbrechen erfüllten Jahre hinschreiben. Diese Zeit – die der letzten Jahre – hat mit einem plötzlichen Anwachsen meiner Verworfenheit begonnen, deren Ursprung zu schildern der einzige Zweck meiner Aufzeichnungen ist. Die meisten Menschen werden gradweise schlechter, von mir aber fiel tatsächlich in einem Augenblick alles Gute wie ein Mantel herab. Von verhältnismäßig schlechter Harmlosigkeit ging ich mit einem Riesenschritt über alle Ungeheuerlichkeiten eines Heliogabal hinaus.

Welch ein Zufall, welch ein Ereignis dieses Böse in mir zum Ausbruch brachte, will ich so gleichmütig wie möglich erzählen. Mein Tod ist nahe, und der Schatten, der ihm vorausfliegt, hat einen besänftigenden Einfluß auf meine Seele ausgeübt. In dem Augenblick, da sich das dunkle Tal mir öffnet, sehne ich mich nach dem Mitgefühl, ich hätte bald gesagt, nach dem Mitleid meiner Mitmenschen. Ich möchte sie gern glauben machen, daß ich gewissermaßen ein Sklave von Umständen war, die mit übermenschlicher Kraft wirkten. Ich möchte, daß sie in der Wüste meiner Irrtümer doch auch die Oase eines bösen Schicksals bemerken. Ich möchte ihnen, wenn sie es erlauben, zu bedenken geben, daß, so groß auch immer Versuchung auf einzelnen Menschen gelastet haben mag, doch niemals ein Mensch so schwer wie ich versucht worden ist, und daß sicherlich keiner einen solchen Fall getan hat. Aus dem gleichen Grunde hat wohl auch niemand so wie ich gelitten. Habe ich denn nicht immer wie im Fieber gelebt? Sterbe ich jetzt nicht in Angst und Grauen als Opfer der wahnsinnigsten Visionen, die sich je unter dem Mond ereignet haben?

Ich stamme aus einem Geschlecht, das zu allen Zeiten durch sein phantastisches und leicht erregbares Temperament aufgefallen ist, und gab schon in frühester Kindheit Beweise, wie sehr ich diesen Familiencharakter geerbt hatte. Je mehr ich heranwuchs, desto stärker prägte es sich aus, so daß meine Freunde manchen Grund zur Beunruhigung hatten und ich mir selbst häufig Schaden zufügte. Ich wurde eigenwillig, überließ mich den wildesten Launen und unbeherrschtesten Leidenschaften. Meine willensschwachen und an ähnlichen Fehlern leidenden Eltern konnten nur wenig zur Unterdrückung meiner schlechten Neigungen tun. Einige schwache und unzulängliche Versuche versagten ganz und bestärkten mich nur im Triumph des Bösen. Von da ab wurde meine Stimme im Hause Gesetz, und in einem Alter, wo die meisten Kinder noch am Gängelband geführt werden, überließ man mich schon meinem eigenen Willen, und ich konnte tun und lassen, was mir behagte.

Meine frühesten Erinnerungen aus meiner Schulzeit knüpfen sich an ein großes, weitschweifiges Gebäude im elisabethanischen Stil, das in einem düster aussehenden englischen Städtchen mit ganz alten Häusern lag und von einer großen Menge riesiger und zerfallener Bäume umgeben war. Wirklich, diese alte, ehrwürdige Stadt bildete einen traumhaft stillen Winkel. Noch jetzt glaube ich die kühle Frische der dunkelschattigen Alleen zu fühlen, den Duft der unzähligen Sträucher einzuatmen und wieder mit unsagbarem Entzücken den tiefen, hohlen Klang der Kirchenglocke zu hören, die nach jeder Stunde mit einem plötzlichen Dröhnen die versonnene Stille unterbrach, in der der gezackte gotische Turm in Schlaf gebettet lag.

Umgeben von den schweren Mauern dieses alten Schulgebäudes verbrachte ich, aber ohne Abneigung und Widerwillen, das dritte Jahrfünft meines Lebens. Das an Einfällen so reiche Gehirn des Kindes braucht nicht viele äußere Eindrücke, um sich zu beschäftigen oder zu unterhalten, und die scheinbar so traurige Eintönigkeit des Schullebens barg für mich tiefere Erregungen, als mir der Luxus meiner reiferen Jugend und die Verbrechen meiner Mannesjahre geboten haben. Trotzdem glaube ich, daß meine erste geistige Entwicklung eine ziemlich ungewöhnliche, ja vielleicht unnatürliche gewesen ist. Gewöhnlich üben die Ereignisse der Kindheit auf das Leben im reiferen Alter doch selten eine bestimmtere Wirkung aus. Alles ist grauer Schatten – ist schwaches, unbestimmtes Erinnern – eine unbestimmte Menge dürftiger Vergnügen und eingebildeter Leiden. Bei mir ist das nicht so. Ich muß als Kind alles das schon mit männlicher Energie empfunden haben, was noch jetzt mit unvergänglichen Linien tief und fest in mein Gedächtnis eingegraben ist.

Und wirklich gaben mir mein Feuer, mein begeistertes Fühlen und das Gebietende meines Wesens einen hervorragenden Platz unter meinen Mitschülern, und nach und nach gewann ich eine gewisse Herrschaft über alle Gleichaltrigen – mit einer einzigen Ausnahme. Diese Ausnahme war ein Schüler, der, obgleich er nicht mit mir verwandt war, doch denselben Vornamen und Familiennamen wie ich trug. Übrigens braucht man das noch nicht für ein besonders merkwürdiges Zusammentreffen zu halten, denn mein Name war trotz meiner sehr vornehmen Abstammung auch unter den niederen Klassen sehr gebräuchlich. Mein Namensvetter nun wagte es allein in meiner Klasse, mit mir zu wetteifern und bei Sport und Spiel mir entgegenzutreten. Er widersprach meinen Worten, unterwarf sich nicht meinem Willen und durchkreuzte bei jeder Gelegenheit meine Pläne.

Nun gibt es nirgendwo auf der Welt einen so grenzenlosen Despotismus wie den, den ein überlegener Geist in der Knabenzeit über seine weniger energischen Spielgefährten ausübt. Wilsons Rebellion war für mich eine Quelle fortwährender Verlegenheit, und das um so mehr, weil ich zwar öffentlich ihm und seinen Anmaßungen in prahlerischem Hohn entgegentrat, innerlich ihn aber fürchtete und wußte, daß die Leichtigkeit, mit der er es mit mir aufnahm, ein Beweis für seine tatsächliche Überlegenheit war. Aber von dieser Überlegenheit oder auch nur Gleichheit hatte niemand außer mir eine Ahnung, denn meine Kameraden waren in dieser Beziehung mit Blindheit geschlagen. In Wirklichkeit zeigte sich auch sein Wettbewerb, sein Widerstand und besonders sein hartnäckiges und zähes Durchkreuzen meines Wollens mehr im geheimen. Von dem Ehrgeiz, der mich antrieb, und der leidenschaftlichen Energie, durch die ich Erfolge gewann, schien er gar nichts in sich zu haben, so daß es aussah, als handle er nur aus einem seltsamen Wunsch, mich zu ärgern, zu verblüffen oder zu quälen. Manchmal aber bemerkte ich mit einem Gefühl des Staunens, der Beschämung und der Wut, wie er in seine Beleidigungen, Kränkungen und Widersprüche einen ganz unangebrachten und mir unangenehmen Ausdruck der Zuneigung hineinmischte. Ich schrieb dieses seltsame Benehmen einer tiefen Selbstverachtung zu, die sich unter einer Miene überlegener Gönnerschaft verbarg.

Vielleicht war es diese letzte Eigenheit seines Benehmens, die in Verbindung mit der Gleichheit unserer Namen und der Tatsache, daß wir am gleichen Tag in die Schule eingetreten waren, in den oberen Klassen des Instituts die Meinung verbreitete, wir seien Brüder. Nun war Wilson, wie ich schon erwähnt habe, auch nicht im entferntesten mit meiner Familie verwandt. Trotzdem hätte man uns sogar für Zwillinge halten können, denn wie ich nach dem Verlassen des Instituts zufällig erfuhr, ist mein Namensvetter merkwürdigerweise genau wie ich am neunzehnten Januar 1809 geboren worden.

Seltsam mag es auch erscheinen, daß ich trotz des fortwährenden Unbehagens, das mir der Wettbewerb Wilsons und sein unerträglicher Trieb, mir zu widerstreiten, verursachte, es doch nicht dazu bringen konnte, ihn wirklich zu hassen. Wir hatten zwar fast jeden Tag einen Streit, bei dem ich stets vor der Öffentlichkeit den Sieg davontrug, er mich aber heimlich irgendwie fühlen ließ, daß er ihn verdient habe, doch kam es infolge meines Stolzes und seiner inneren Würde nie zu einem völligen Abbruch unserer Beziehungen. Auf der anderen Seite gab es soviel Gemeinsames in unserem Wesen, daß sich vielleicht ohne unsere Rivalität zwischen uns eine gewisse Freundschaft entwickelt hätte. Es ist wirklich schwer, meine Gefühle, die ich zu ihm hegte, richtig zu beschreiben. Sie bildeten eine bunte Mischung der widerstrebendsten Dinge. Es war darunter eine verdrießliche Abneigung, die aber nicht zum Haß auswuchs, etwas Achtung und noch mehr Respekt, sehr viel Furcht und eine ganze Welt unbezähmbarer Neugierde. Für den Menschenkenner brauche ich nicht hinzuzufügen, daß Wilson und ich auch ganz unzertrennliche Gefährten waren.

Natürlich führte das unnatürliche Verhältnis, das zwischen uns herrschte, dazu, allen meinen häufigen, teils offenen, teils versteckten Angriffen gegen ihn einen scherzhaften Charakter zu geben. Und so sehr ich ihn dadurch verletzen wollte, zu offener und ernsthafter Feindschaft ging ich doch nicht über. Aber meine Versuche, so witzig ich sie vorbereitet hatte, waren doch selten erfolgreich, denn mein Namensvetter besaß jene selbstverständliche und ruhige Sicherheit, die zwar die Schärfe ihres eigenen Witzes anzuwenden weiß, aber selbst keine verwundbare Stelle hat und darum wenig Grund zum Lachen gibt. Ich fand überhaupt nur einen schwachen Punkt bei ihm, der in einem, vielleicht durch eine chronische Krankheit herbeigeführten körperlichen Mangel lag. Mein Nebenbuhler litt an einer Schwäche der Kehlkopforgane, die ihn hinderte, seine Stimme jemals über ein ganz leises Flüstern zu erheben. Ein anderer Gegner hätte vielleicht gerade diesen Mangel geschont, aber ich war am Ende meines Witzes und verfehlte nicht, so gut ich konnte, aus dieser Flüsterstimme meinen Vorteil zu ziehen.

Wilson zahlte mir meinen Spott auf mannigfaltige Weise heim, besonders gab es eine Sache, mit der er mich maßlos quälte. Wie sein Scharfsinn es eigentlich entdeckt hat, daß etwas so Geringfügiges mich so ärgern konnte, habe ich nie herausgefunden. Als er es aber einmal wußte, verfehlte er nicht, täglich davon Gebrauch zu machen. Ich hatte immer gegen meinen durchaus nicht vornehmen Familiennamen einen Widerwillen gehabt, ebenso auch gegen meinen direkt plebejischen Vornamen. Die Worte waren Gift in meinen Ohren, und als mit mir zusammen ein zweiter William Wilson auf das Institut kam, ärgerte ich mich, daß ein zweiter, ein Fremder meinen Namen trug, und daß ich ihn jetzt doppelt häufig hören mußte.

Aber dieser Verdruß wuchs erst recht, als ich mit jedem Augenblick klarer bemerkte, welch eine starke geistige und körperliche Ähnlichkeit zwischen uns bestand. Ich wußte damals noch nichts von unserer Gleichaltrigkeit, aber ich bemerkte, daß wir von derselben Größe und auch sonst an Statur und Gesichtsausdruck uns gleich waren. Ich ärgerte mich auch über das Gerede in den oberen Klassen, wir beide seien miteinander verwandt. Mit einem Wort, nichts konnte mich mehr verwirren als irgendeine Anspielung auf geistige oder körperliche Ähnlichkeit zwischen uns. Ich suchte diese Verwirrung natürlich sorgfältig zu verbergen, und ich glaube auch nicht, daß außer Wilson selbst irgend jemand auf diese Ähnlichkeit geachtet oder gar darüber gesprochen hat. Daß er sie in jeder Hinsicht und so scharf wie ich kannte, war offenbar; aber daß er meine sorgfältig verheimlichten inneren Gefühle darüber entdeckte, beweist seinen ungewöhnlichen Scharfsinn.

Er machte sich nun ein Vergnügen daraus, mich durch Worte und Handlungen aufs vollkommenste nachzuahmen, und spielte seine Rolle ausgezeichnet. Meine Kleidung zu kopieren war nicht schwer, auch gelang ihm meine Gangart und meine Haltung ohne Schwierigkeit. Aber sogar auch meine Stimme entging ihm nicht trotz seines körperlichen Fehlers. Natürlich konnte er nicht den lauten Ton erreichen, aber die Grundlage war dieselbe, und sein eigenartiges Flüstern wurde das genaue Echo des meinigen.

Wie sehr dieses ganz vollkommene Abbild meines Wesens mich quälte (denn man konnte es nicht eine Karikatur nennen), will ich nicht versuchen zu beschreiben. Mein einziger Trost dabei war, daß offenbar niemand außer mir selbst diese Nachahmung bemerkte, und daß ich nur das Wissen und das seltsame, sarkastische Lächeln meines Namensvetters ertragen mußte. Zufrieden damit, auf mich den beabsichtigten Eindruck gemacht zu haben, schien er innerlich über den Stich, den er mir beigebracht hatte, zu lächeln und machte sich bezeichnenderweise nichts aus dem öffentlichen Beifall, den er mit einem solchen gelungenen Witz sicherlich leicht hätte erzielen können. Daß die Schule wirklich nichts von seiner Absicht merkte, die Ausführung nicht sah und nicht darüber grinste, das bildete lange und angstvolle Monate hindurch ein mir unlösbares Rätsel. Vielleicht war es gerade die Vollendung seiner Nachahmung, die sie als solche verbarg, vielleicht verdankte ich meine Sicherheit auch dem meisterhaften Gesichtsausdruck des Nachahmers, der es verschmähte, einem blöden Publikum den Schlüssel zu geben, und mir allein das Nachdenken und den Ärger über sein witziges Spiel zu kosten gab.

Ich habe schon von der unangenehmen, gönnerhaften Miene gesprochen, die er mir gegenüber annahm, und von seinen häufigen, zudringlichen Einmischungen in meine Absichten. Diese Einmischungen nahmen manchmal den Charakter von Ermahnungen an, von Ermahnungen, die nicht offen erteilt, sondern durch Winke und Hindeutungen gegeben wurden. Ich empfing sie mit einem Widerstreben, das immer mehr wuchs, je älter ich wurde. Aber heute, nach so langer Zeit, möchte ich ihm doch die Gerechtigkeit zukommen lassen und anerkennen, daß er sich nicht ein einziges Mal in dem, was er mir riet, geirrt hat, und daß, abgesehen von seinen sonstigen Fähigkeiten, sein moralisches Gefühl weit über meinem eigenen stand. Vielleicht wäre ich heute ein besserer und damit auch ein glücklicherer Mann, hätte ich nicht so oft seinen Rat zurückgewiesen, den er mir in seinem so ernsten und von mir so gehaßten Flüsterton zu geben pflegte.

So aber wehrte ich mich immer hartnäckiger gegen seine abscheuliche Vormundschaft, und von Tag zu Tag kämpfte ich offener gegen das, was ich seine unerträgliche Anmaßung nannte. Wie ich schon sagte, hätten die Gefühle, die ich in den ersten Jahren der Schulzeit für ihn hegte, leicht zur Freundschaft reifen können, in den letzten Monaten aber gingen meine Gefühle, obgleich sein Wesen zweifellos viel zurückhaltender geworden war, in hohem Maße zu offenem Haß über. Bei einer Gelegenheit bemerkte er das, glaube ich, und mied mich von da ab, oder tat wenigstens so, als ob er mich miede.

Um dieselbe Zeit, wenn ich mich recht erinnere, geriet ich mit ihm in einen heftigen Streit, in dessen Verlauf er mehr als sonst aus seiner Zurückhaltung fiel und mit einer Offenheit seines Wesens sprach und handelte, die ihm sonst sehr fremd war. Bei dieser Gelegenheit glaubte ich in dem Ton seiner Sprache, in seinem Gesicht und in seiner ganzen Erscheinung etwas zu entdecken, was mich zuerst erschreckte und dann aufs tiefste interessierte, denn es brachte in mein Bewußtsein verschwommene Bilder aus meiner allerfrühesten Kindheit, wilde, verworrene, sich drängende Erinnerungen an eine Zeit, wo die Erinnerung noch gar nicht geboren ist. Ich kann die Empfindung, die mich überfiel, nicht besser beschreiben, als wenn ich sage, ich hätte nur mit Mühe den Glauben von mir abgeschüttelt, mit diesem Wesen, das da vor mir stand, sei ich schon einmal vor unendlich ferner Zeit bekannt gewesen. Diese Einbildung verschwand aber ebenso schnell wie sie gekommen war, und ich erwähne sie nur, weil ich damals meine letzte Unterredung mit dem seltsamen Namensvetter hatte.

Das riesige alte Haus mit seinen unendlich vielen Unterabteilungen hatte verschiedene große Zimmer, die miteinander in Verbindung standen und den Schülern als Schlafräume dienten. Es gab aber auch, wie das bei einem so planlos errichteten Gebäude natürlich war, viele kleine Ecken und Winkel, die zu kleinen Zimmerchen eingerichtet waren und wenigstens für einzelne noch Schlafgelegenheiten gaben. In einem dieser ganz kleinen Räume wohnte Wilson.

Eines Abends gegen Ende meines fünften Schuljahres und unmittelbar nach dem eben erwähnten Streit, erhob ich mich, als alle andern schliefen, aus dem Bett und schlich mich mit einer Lampe in der Hand aus meinem Schlafzimmer nach dem meines Gegners. Ich hatte schon lange geplant, ihm noch einmal einen dieser boshaften Streiche zu spielen, wie sie mir bisher immer wieder mißglückt waren. Jetzt sollte er mir aber gelingen, und ich wollte ihn den ganzen Haß fühlen lassen, der sich in mir angesammelt hatte. Als ich das Zimmerchen erreicht hatte, trat ich geräuschlos hinein, indem ich die abgeblendete Lampe draußen ließ. Ich näherte mich einen Schritt und lauschte auf seine ruhigen Atemzüge. Als ich mich überzeugt hatte, daß er schlief, kehrte ich zurück, nahm die Lampe und trat von neuem an das Bett. Dichte Vorhänge hingen davor, die ich zur Ausführung meines Planes langsam und ruhig zurückzog. Als aber nun das helle Licht strahlend auf den Schläfer fiel, und ich im gleichen Augenblick auf sein Gesicht sah, durchfuhr meinen ganzen Körper plötzlich eine eisige Erstarrung. Meine Brust bebte, meine Knie zitterten, und ein rätselhaftes, unbeschreibliches Angstgefühl erfaßte meine Seele. Nach Atem ringend senkte ich die Lampe näher an das Gesicht heran. Waren dies – waren dies wirklich die Züge William Wilsons? Ich überzeugte mich, daß es tatsächlich seine Züge waren, und schüttelte mich doch vor Entsetzen über meine Einbildung, sie könnten es doch nicht sein. Was gab es denn in ihnen, was mich bestürzt machte? Ich starrte, während mein Gehirn von einer Flut wirrer Gedanken betäubt war. Nein, so sah er nicht aus, so sah er gewiß nicht aus in der Lebendigkeit seiner wachen Stunden. Der gleiche Name, die gleiche Gestalt, der gleiche Tag der Ankunft in der Schule, und dabei die hartnäckige, sinnlose Nachahmung meines Ganges, meiner Stimme, meiner Gewohnheiten und Bewegungen! Konnte es wirklich im Bereich irdischer Möglichkeit liegen, daß das, was ich jetzt sah, nur die einfache Folge alltäglicher Gewohnheit einer spottlustigen Nachahmung war? Von Grauen ergriffen und mit zuckenden Schultern löschte ich die Lampe und schlich mich still aus dem Zimmer. Ich verließ zur gleichen Stunde die Räume der alten Schule, um nie wieder dorthin zurückzukehren.

Nach Verlauf von einigen Monaten, die ich zu Hause müßig verbracht hatte, befand ich mich als Student in Eton. Trotz der kurzen Zwischenzeit waren die Erinnerungen an die letzten Ereignisse im Schulinstitut schon merklich verblaßt, oder vielmehr, ich sah jetzt alles mit viel skeptischeren Augen an. Ich glaubte nicht mehr an die Wirklichkeit des Erlebten und zog selbst das deutlich Gesehene in Zweifel. Wenn ich überhaupt noch einmal an die Geschichte dachte, dann geschah es nur mit einem Staunen über die menschliche Leichtgläubigkeit und mit einem Lächeln über die lebhafte Einbildungskraft, die ich von meinen Vorfahren geerbt hatte. Auch war das Leben, das ich in Eton führte, nicht geeignet, meine materialistische Auffassung abzuschwächen. Der Strudel gedankenloser Vergnügungen, in den ich mich hier sofort mit aller Rücksichtslosigkeit hineingestürzt hatte, wusch alles Schöne meiner vergangenen Stunden hinweg und verschlang alle tieferen und ernsteren Eindrücke, so daß ich mich nur noch an die Nichtigkeiten meines früheren Lebens erinnerte.

Ich möchte hier nun nicht das elende, schändliche Leben erzählen, bei dem ich mich über alle Gesetze hinwegsetzte und die Wachsamkeit der Universität zu täuschen wußte. Drei tolle Jahre vergingen, in denen ich nichts lernte als lasterhafte Gewohnheiten, aber mich körperlich erstaunlich entwickelte. Einmal lud ich nach einer in niedrigen Ausschweifungen verbrachten Woche eine kleine Gesellschaft der zügellosesten Studenten zu einem geheimen Gelage in meine Zimmer ein. Wir kamen spät abends zusammen, denn unsere Schwelgereien dauerten gewöhnlich bis in den hellen Morgen hinein. Der Wein floß in Strömen, nach andern und vielleicht gefährlicheren Vergnügungen verlangten wir nicht, und im Osten dämmerte schon das Morgengrauen, als wir uns auf dem Höhepunkt unserer wilden Ausschweifung befanden. Sinnlos erregt vom Trinken und Kartenspiel wollte ich gerade einen besonders ruchlosen Toast ausbringen, als plötzlich die Tür halb aufgerissen wurde, und ich draußen die heftige Stimme meines Dieners hörte. Er teilte mir mit, daß jemand offenbar in großer Eile mich zu sprechen wünschte.

In meinem tollen Weinrausch erfreute mich die unerwartete Störung mehr, als sie mich in Erstaunen setzte. Ich taumelte sofort hinaus, und ein paar Schritte brachten mich in die Vorhalle des Gebäudes. In diesem hohen und nicht sehr großen Raum hing keine Lampe, und außer der ganz matten Dämmerung, die durch das halbrunde Fenster kam, war überhaupt kein Licht da. Als ich meinen Fuß über die Schwelle setzte, bemerkte ich einen jungen Mann von meiner Größe, der eine weiße Kasimirmorgenjoppe trug von demselben Schnitt, wie ich sie jetzt anhatte. In dem schwachen Dämmerlicht konnte ich das zwar erkennen, aber sonst seine Gesichtszüge nicht unterscheiden. Bei meinem Eintreten eilte er schnell auf mich zu, ergriff mich mit zudringlicher Eile beim Arm und flüsterte mir die Worte »William Wilson« ins Ohr.

In einem Augenblick wurde ich vollkommen nüchtern.

In dem Benehmen des Fremden und in dem heftigen Zittern seines erhobenen Fingers, den er zwischen das Licht und meine Augen hielt, lag etwas, was mich mit grenzenlosem Erstaunen erfüllte. Aber trotzdem hatte mich nicht gerade dies so heftig erregt. Was mich wie der Schlag einer elektrischen Batterie traf, war die feierlich mahnende Eindringlichkeit dieser leise gezischten Worte, war vor allem der seltsam bekannte Ton, der Charakter dieser wenigen geflüsterten Silben, die tausend verworrene Erinnerungen vergangener Tage in mir aufwühlten. Ehe ich wieder zur Besinnung kommen konnte, war er fortgegangen.

Obgleich dieses Ereignis einen lebhaften Eindruck auf meine wüste Phantasie machte, ging die Besinnung doch schnell vorüber. Zwar überließ ich mich einige Wochen lang ernstem Nachdenken, und die krankhaftesten Vorstellungen quälten mich. Ich versuchte nicht, mich über die Persönlichkeit des Fremden zu täuschen, der sich so hartnäckig in meine Angelegenheiten einmischte und mich mit seinen unverschämten Ermahnungen belästigte. Aber wer und was war denn nun dieser Wilson? – Woher kam er? – Was wollte er eigentlich? Auf keine dieser Fragen konnte ich eine befriedigende Antwort finden; das einzige, was ich auf Erkundigungen erfuhr, war, daß er am Nachmittag desselben Tages, an dem ich aus dem Institut entflohen war, es ebenfalls wegen eines plötzlichen Sterbefalles in seiner Familie verlassen hatte. Doch hörte ich bald auf, überhaupt über diese Dinge nachzudenken, und wurde ganz durch den Plan, nach Oxford überzusiedeln, in Anspruch genommen. Ich ging auch kurz nachher dorthin, wobei mich meine Eltern in ihrer törichten Eitelkeit aufs reichste ausstatteten. Das Geld, das sie mir aussetzten, ermöglichte es mir, mich ganz dem mir schon so unentbehrlichen Luxus zu widmen und an toller Verschwendung mit den reichsten und vornehmsten Erben Englands zu wetteifern. Ich verfiel bei meinen reichen Mitteln nun ganz dem Leben des Lasters, und meine schlechten Anlagen entwickelten sich jetzt erst mit doppelter Kraft, so daß ich die letzten Hemmungen des Anstands in dem Wahnsinn meiner Ausschweifungen verlor. Es wäre sinnlos, dieses Leben in seinen Einzelheiten schildern zu wollen. Es genügt, wenn ich sage, daß ich selbst die ausgelassensten Verschwender hinter mir ließ, daß ich eine Menge neuer Tollheiten erfand und die lange Liste von Ausschweifungen, die damals in der liederlichsten Universität Europas herrschten, beträchtlich zu vergrößern wußte.

Man wird es aber kaum für möglich halten, daß ich gerade hier schließlich so tief unter das Niveau eines anständigen Menschen sinken konnte und Bekanntschaft mit den niedrigsten Falschspielern suchte. Ich hatte bald ihre verächtliche Kunst erlernt und benutzte sie ganz regelmäßig, um mein schon riesengroßes Einkommen noch auf Kosten meiner harmloseren Studienkameraden zu vermehren. Aber gerade das Ungeheuerliche meines Verstoßes, das allem männlichen und ehrenhaften Gefühl Hohn sprach, war auch ohne Zweifel der einzige Grund, warum ich dies Verbrechen so ungestraft begehen konnte. Wer von den liederlichsten meiner Genossen würde nicht lieber dem klaren Augenschein mißtraut als vermutet haben, daß der fröhliche, offene und anständige William Wilson – der großmütigste und freigebigste Student in Oxford –, dessen Torheiten nur die Torheiten übersprudelnder Jugend waren, daß der eines solchen Verbrechens fähig wäre?

Zwei Jahre hatte ich so ohne Mißerfolg verbracht, als zur Universität ein junger Emporkömmling namens Glendinning kam, dem das Gerücht ungeheure, leicht erworbene Reichtümer zusprach. Ich fand bald heraus, daß er nicht sehr intelligent war, und hielt ihn deshalb für ein passendes Objekt meiner Künste. Ich lud ihn öfter zum Spielen ein und ließ ihn anfangs beträchtliche Summen gewinnen, um ihn nachher um so sicherer in meine Falle zu bringen. Zuletzt war mein Plan reif, und ich beschloß ein letztes und entscheidendes Zusammentreffen mit ihm. Ich hatte dafür die Wohnung eines Mitstudenten namens Preston gewählt, der mit uns beiden gleich gut bekannt war und natürlich von meiner Absicht auch nicht das geringste ahnte. Um dem Ganzen einen besseren Anstrich zu geben, hatte ich dafür gesorgt, daß sich etwa acht oder zehn Kameraden zusammenfanden, und daß das Gespräch wie zufällig auf das Kartenspiel kam, so daß es aussah, als habe mein Opfer selbst den Vorschlag gemacht.

Unsere Sitzung hatte sich bis spät in die Nacht ausgedehnt, und ich war endlich soweit, Glendinning als einzigen Gegner vor mir zu haben. Das Spiel war das von mir geliebte Ecarté, und die andern, die sich für unsere Partie interessierten, hatten ihre Karten hingeworfen und sahen uns zu. Der Emporkömmling, den ich in geschickter Weise schon früh am Abend zum starken Trinken verleitet hatte, zeigte jetzt beim Mischen, Austeilen und Spielen eine solche Erregung, daß ich sie nur zum Teil den Folgen des Trinkens zuschreiben konnte. In kurzer Zeit schuldete er mir eine sehr große Summe, und dann geschah das, was ich erwartet hatte. Er trank einen großen Schluck Portwein und schlug mir vor, die schon übertrieben hohen Einsätze zu verdoppeln. Mit gut gespieltem Widerstreben und erst, nachdem mein wiederholtes Ablehnen seines Vorschlages ihn zu ärgerlichen Worten veranlaßt hatte, gab ich schließlich wie gezwungen nach. Der weitere Verlauf bewies, wie fest er sich in meinem Netz verstrickt hatte, denn in weniger als einer Stunde war seine Schuld aufs Vierfache angewachsen. Eine Zeitlang war die durch den Wein verursachte Röte aus seinem Gesicht gewichen, dann aber sah ich zu meinem Staunen, wie mein Gegner in wirklich angsterregender Weise erbleichte. Ich sage zu meinem Erstaunen, denn Glendinning war mir auf meine genauen Erkundigungen hin als unermeßlich reich bezeichnet worden, und wenn auch die von ihm verlorenen Summen an sich sehr beträchtlich waren, so konnten sie doch unmöglich ihn ernstlich in Verlegenheit bringen, noch weniger ihn direkt ruinieren. Nein, das Naheliegendste war doch, daß ihm der vorhin getrunkene Wein zuviel geworden war, und ich wollte schon, mehr um mein Ansehen bei meinen Kameraden zu wahren als aus Rücksicht auf seinen Verlust, ein unbedingtes Abbrechen des Spieles fordern, als ich aus einigen Bemerkungen der Zuschauer und einem verzweifelten Ausruf Glendinnings entnahm, daß ich wirklich seinen vollkommenen Ruin herbeigeführt und ihn zu einem Gegenstand allgemeinen Mitleids gemacht hatte.

Wie ich mich jetzt verhalten sollte, war schwer zu sagen. Die erbarmungslose Lage meines Opfers hatte eine trübe, drückende Stimmung über uns alle geworfen, und eine Weile herrschte tiefstes Schweigen. Meine Wangen brannten, und ich fühlte die zornigen und vorwurfsvollen Blicke, die mir die Anständigeren in der Gesellschaft zuwarfen. Ja, ich will sogar zugeben, daß eine unerträgliche Angst schwer auf mir lastete, als eine unvermutete und ganz außerordentliche Unterbrechung eintrat. Die großen, schweren Doppeltüren des Zimmers wurden plötzlich weit aufgestoßen, und dies geschah mit einer solchen gewaltigen Wucht, daß sämtliche Kerzen im Zimmer wie durch Zauber ausgeblasen wurden. In ihrem erlöschenden Licht konnten wir gerade noch einen Fremden von meiner Größe erkennen, der, dicht in einen Mantel gehüllt, eingetreten war. Dann aber herrschte vollständige Dunkelheit, und wir fühlten nur noch, daß er in unserer Mitte stand. Bevor sich aber einer von uns von dem grenzenlosen Erstaunen über die Heftigkeit seines Eindringens erholt hatte, hörten wir seine Stimme.

»Meine Herren«, sagte er in einem leisen, deutlichen und nie zu vergessenden Flüstern, das mir bis in das Mark der Knochen drang, »meine Herren, ich bitte Sie nicht um Entschuldigung wegen meines Benehmens, denn ich erfülle, indem ich mich so benehme, nur meine Pflicht. Sie kennen ohne Zweifel nicht den wirklichen Charakter der Person, die heute abend im Ecarté eine große Summe von dem Lord Glendinning gewonnen hat. Ich werde Ihnen daher sagen, wie Sie auf schnelle und sichere Weise sich genau darüber informieren können. Bitte, untersuchen Sie ruhig das Innenfutter seines linken Ärmelaufschlags und die verschiedenen kleinen Paketchen, die Sie in den etwas geräumigen Taschen seines gestickten Rocks finden.«

Während seines Sprechens war es totenstill geworden, daß man eine Stecknadel hätte fallen gehört. Mit dem letzten Wort aber verschwand der Fremde ebenso schnell und so plötzlich wie er gekommen war. Kann ich – soll ich meine Empfindungen beschreiben? Muß ich gestehen, daß ich alle Schrecken der Verdammten fühlte? Sicherlich hatte ich wenig Zeit zum Überlegen. Mehrere Hände griffen sofort fest nach mir, und es wurde schnell wieder Licht gemacht. Es folgte dann eine Untersuchung, und im Futter meines Ärmels fand man alle Kartenbilder, die beim Ecarté wertvoll sind, in den Taschen meines Rockes aber eine Anzahl von vollständigen Spielen, die genau den am Tisch benutzten glichen, nur daß die meinigen, wie man das in Spielerkreisen nennt, arrondiert waren. Die Trümpfe waren am schmalen Ende, die niedrigen Karten an der Seite leicht abgerundet. Das Opfer des Falschspielers nimmt wie gewöhnlich beim Abheben in der Länge ab und gibt dem Gegner einen Trumpf. Der Falschspieler macht es umgekehrt: er nimmt breit ab und gibt dem andern eine schlechte Karte, was natürlich im Spiel sehr stark zählt.

Wäre es zu heftigen Ausbrüchen des Unwillens gekommen, so hätte mich das weniger erregt als die schweigende Verachtung, die sarkastische Ruhe, mit der die Entdeckung aufgenommen wurde.

»Mr. Wilson«, sagte unser Wirt, indem er sich bückte, um zu seinen Füßen einen außergewöhnlich kostbaren Pelz aus seltenen Fellen aufzuheben. »Mr. Wilson, dies ist Ihr Eigentum.« (Das Wetter war kalt, deshalb hatte ich den Pelz übergezogen und ihn hier abgelegt.) »Ich denke, es ist überflüssig, daß wir uns hier noch nach weiteren Beweisen für Ihre Fähigkeiten umsehen. Wir haben genug davon. Sie werden hoffentlich die Notwendigkeit einsehen, Oxford – auf alle Fälle aber meine Wohnung – sofort zu verlassen.«

So beschämt und in den Staub gebeugt, wie ich damals war, ich hätte doch auf diese galligen Worte mit einem sofortigen tätlichen Angriff geantwortet, wäre nicht meine ganze Aufmerksamkeit in diesem Augenblick durch eine sehr überraschende Tatsache gefesselt worden. Der Mantel, den ich getragen hatte, war mit ganz seltenem Pelz ausgefüttert. Wie selten, wie ungeheuer kostbar er war, wage ich gar nicht zu sagen. Auch seinen ungewöhnlichen Schnitt hatte ich selbst erfunden, da ich in solchen Dingen bis zur Narrheit anspruchsvoll war. Als mir daher Mr. Preston an der Doppeltür den Pelz überreichte, den er vom Boden aufgehoben hatte, bemerkte ich mit einem Erstaunen, das fast an Schrecken grenzte, daß ich den meinen schon auf dem Arm hängen hatte, und daß der mir überreichte in jeder, auch in der geringfügigsten Kleinigkeit das genaue Abbild davon war. Das seltsame Wesen, das mich so entsetzlich bloßgestellt hatte, war, wie ich mich erinnerte, in einen Mantel gehüllt gewesen, während sonst niemand von der Gesellschaft außer mir selbst einen solchen getragen hatte. Ich spannte alle Geisteskraft an, nahm den Pelz, den mir Preston anbot, und legte ihn unbemerkt über den andern. Dann verließ ich mit einem stolzen Blick der Verachtung das Zimmer und begann am nächsten Morgen vor Tagesanbruch, zitternd vor Angst und Scham, eine fluchtartige Reise von Oxford nach dem Kontinent. Ich floh vergebens. Mein böses Verhängnis folgte mir wie im Triumph und zeigte mir tatsächlich, daß er die Ausübung seiner geheimnisvollen Herrschaft jetzt erst begonnen hatte. Kaum hatte ich in Paris Fuß gefaßt, da erhielt ich einen frischen Beweis von dem abscheulichen Interesse, das Wilson an meinen Plänen nahm. Jahre vergingen, aber nie fand ich Ruhe. Der Elende! – Wie unzeitig und mit welcher gespensterhaften Würde trat er nicht in Rom zwischen mich und meinen Ehrgeiz! Dasselbe geschah in Wien – in Berlin – und in Moskau. Wo hatte ich einmal nicht bittere Ursache, ihm aus tiefstem Herzen zu fluchen? Vor seiner unerklärlichen Tyrannei floh ich schließlich schreckerfüllt wie vor der Pest. Ich floh bis zum Ende der Welt und floh vergebens.

Und wieder und wieder, wenn ich allein mit mir selber war, fragte ich mich: »Wer ist er? – Woher kam er? – Was will er eigentlich?« Aber nie fand ich eine Antwort. Und nun durchforschte ich mit genauester Schärfe die Arten und Formen und den leitenden Charakter seiner unverschämten Überwachung. Aber selbst hieraus war wenig zu entnehmen. Immerhin fiel es mir auf, daß er, so oft er auch meinen Weg gekreuzt hatte, immer nur solche Pläne und Handlungen zu stören pflegte, die, wenn sie ganz zur Ausführung gelangt wären, schlimmes Unheil verursacht hätten. Wahrhaftig, eine armselige Rechtfertigung für ein so gebieterisch angemaßtes Amt! Eine armselige Entschädigung für das hartnäckige, beschimpfende Versagen eines so natürlichen Rechts wie das der Selbstbestimmung!

Mir war ferner aufgefallen, daß mein Quälgeist eine sehr lange Zeit hindurch (während er mit genauester und unerklärlicher Sicherheit seine wunderliche Laune durchführte, mir äußerlich gleichen zu wollen) doch bei der Durchführung all der verschiedenartigen Einmischungen in mein Handeln es fertiggebracht hatte, daß ich niemals die Züge seines Gesichts zu sehen bekam. Mochte nun Wilson sein, wer er wollte, dies war entweder reine Affektiertheit oder Wahnsinn. Konnte er sich wirklich einen Augenblick einbilden, daß ich in dem Ermahner in Eton – in dem Zerstörer meiner Ehre in Oxford – in ihm, der in Rom meinen Ehrgeiz, in Paris meine Rache, in Neapel meine leidenschaftliche Liebe, in Ägypten was er meine Habgier nannte durchkreuzte –, daß ich in diesem meinen Erzfeind und bösen Genius nicht den William Wilson meiner Schuljahre wiedererkannte – den Namensvetter, Mitschüler und Rivalen – den verhaßten und gefürchteten Nebenbuhler im Institut? Unmöglich! – Aber ich will mich beeilen, zur letzten, ereignisreichen Szene des Dramas zu kommen.

Bisher war ich immer seiner gebietenden Herrschaft unterlegen. Die Empfindung tiefen Grauens, mit der ich gewöhnlich das erhabene Wesen, die majestätische Weisheit und die offenbare Allgegenwart und Allmacht Wilsons betrachtete, vermischt mit dem Gefühl wirklicher Angst, das mir gewisse Züge seiner Natur und seines Handelns einflößten, hatten mir bis dahin die Überzeugung meiner unbedingten Schwäche und Hilflosigkeit beigebracht, so daß ich mich, wenn auch mit bitterem Widerstreben, seinem entscheidenden Wollen unterwarf. Aber in der späteren Zeit gab ich mich immer mehr dem Weingenuß hin, der einen erregenden Einfluß auf meinen ererbten Charakter ausübte und in mir immer mehr Wut gegen den mich beaufsichtigenden Zwang erzeugte. Ich begann zu murren – zu schwanken – zu widerstreben. Und es war nur Einbildung, daß ich zu bemerken glaubte, wie beim Anwachsen meiner eigenen Festigkeit mein Quälgeist entsprechend schwächer wurde? Sei dies, wie es wolle, jedenfalls begann in mir eine brennende Hoffnung aufzuglimmen, und schließlich wuchs in meinen geheimen Gedanken ein ernster und verzweifelter Entschluß, mich nicht langer der Sklaverei zu unterwerfen.

Es war in Rom während des Karnevals des Jahres 18 . ., als ich einem Maskenfest im Palast des neapolitanischen Herzogs di Broglio beiwohnte. Ich hatte mich zügelloser als sonst dem Genuß des Weins hingegeben, und jetzt quälte mich die erstickende Atmosphäre der überfüllten Räume in unerträglichem Maße. Außerdem wurde die Ungeduld meiner Stimmung noch durch die Schwierigkeit vermehrt, in der sich drängenden Menge meinen Weg zu finden, da ich begierig nach der jungen, fröhlichen und schönen Frau des alten und schwachsinnigen di Broglio suchte. Mit einem zu leichtfertigen Vertrauen hatte sie mir bei einer früheren Gelegenheit das Geheimnis des Kostüms, das sie tragen würde, verraten, und da ich jetzt einen Schimmer ihrer Person entdeckt hatte, eilte ich, um in ihre Nähe zu gelangen. In diesem Moment legte sich eine leichte Hand auf meine Schulter, und das nie zu vergessende, leise, verruchte Flüstern drang an mein Ohr.

Mit einer wahrhaft wahnsinnigen Wut wandte ich mich sofort nach dem, der mich so angehalten hatte, und ergriff ihn heftig beim Kragen. Er war, wie ich erwarten durfte, in genau dem gleichen Kostüm wie ich. Er trug einen spanischen Mantel von blauem Samt und um die Taille einen roten Gürtel, der einen Stoßdegen hielt. Eine Maske von schwarzer Seide bedeckte das ganze Gesicht.

»Schurke!« schrie ich mit vor Wut keuchender Stimme, während jede Silbe, die ich sprach, nur noch meinen Zorn anzufeuern schien. »Schurke! Betrüger! Verfluchter Schuft! Du sollst mich nicht – du sollst mich nicht zu Tode quälen! Folge mir, oder ich steche dich hier zusammen!« Und ich bahnte mir einen Weg aus dem Ballsaal in ein kleines Vorzimmer, wobei ich ihn unwiderstehlich mit mir riß.

Beim Eintreten stieß ich ihn wütend von mir ab. Er taumelte gegen die Wand, während ich mit einem Fluch die Tür schloß und ihm zu ziehen befahl. Er zauderte, aber nur einen Augenblick, dann zog er mit einem leisen Seufzer seinen Degen und legte sich in die Verteidigung.

Der Kampf war aber nur kurz. Ich raste in tausendfacher, wilder Erregung und fühlte in meinem einzelnen Arm die Kraft und Energie einer ganzen Menge. In wenigen Sekunden zwang ich ihn durch meine bloße Kraft gegen die Wandtäfelung, und jetzt, da er mir verfallen war, stieß ich ihm meinen Degen mit roher Wut immer wieder durch die Brust.

In diesem Augenblick rüttelte jemand an dem Riegel der Tür. Ich eilte hin, um ein Eindringen zu verhindern, und wandte mich gleich darauf wieder zu meinem sterbenden Gegner. Aber welche menschliche Sprache kann auch nur annähernd dieses Erstaunen und dieses Entsetzen beschreiben, das mich bei dem Anblick ergriff, der sich mir darbot? Der kurze Augenblick, da ich mich abwandte, hatte genügt, um eine materielle Veränderung in dem hinteren Teil des Raumes hervorzubringen. Ein großer Spiegel – wenigstens schien es mir anfangs in meiner Verwirrung einer zu sein – stand da, wo vorher keiner gestanden hatte, und als ich im äußersten Schrecken darauf zuschritt, näherte sich mir mein eigenes Bild, aber mit einem ganz bleichen und blutbefleckten Gesicht, und kam mit schwachem, taumelndem Gang zu mir heran.

Es erschien mir dies so, sage ich, denn in Wirklichkeit war es anders. Es war mein Gegner, es war Wilson, der jetzt, mit dem Tode kämpfend, vor mir stand. Seine Maske und sein Mantel lagen, wo er sie zur Erde geworfen hatte. Keinen Faden gab es an seinen Kleidern – keine Linie in den ausgeprägten und eigenartigen Gesichtszügen, die nicht bis zur absoluten Genauigkeit meine eigenen waren!

Es war Wilson. Aber er sprach nicht mehr flüsternd, und man hätte glauben können, ich selbst habe die Worte gesagt, die er äußerte:

»Du hast gesiegt, und ich unterliege. Aber von nun an bist du ebenfalls tot – tot für die Welt, für den Himmel und für die Hoffnung! In mir nur hast du gelebt – und jetzt, da ich sterbe, erkenne in meinem Bilde, das dein eigenes ist, wie tief du dich selbst ermordet hast.«

 


 


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