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Sechs Personen suchen einen Autor

Ein zu verfassendes Theaterstück

Die Personen des zu verfassenden Stückes:

Der Vater
Die Mutter
Die Stieftochter
Der Sohn
Der Junge
Das kleine Mädchen
sprechen nicht
Madama Pace (etwas später, zitiert)

Die Schauspieler der Truppe:

Der Theaterdirektor
Die erste Schauspielerin
Der erste Schauspieler
Die zweite Schauspielerin
Eine junge Schauspielerin
Ein junger Schauspieler
Andere Schauspieler und Schauspielerinnen
Der Theatermeister
Der Inspizient
Der Souffleur
Der Requisiteur
Der Maschinist
Der Sekretär des Direktors
Der Bühnenportier
Mehrere Theaterarbeiter und Diener

Bei Tage, auf einer Schauspielbühne

 

Die Komödie hat weder Akte noch Szenen. Die Vorstellung wird, ohne daß der Vorhang fällt, zum ersten Mal dadurch unterbrochen, daß der Theaterdirektor und das Haupt der Sechs Personen sich zur Zusammenstellung des Szenariums zurückziehen, und die Schauspieler die Bühne verlassen; zum zweiten Mal dadurch, daß der Maschinist aus Versehen den Vorhang heruntergehen läßt.

Die Zuschauer finden bei ihrem Eintritt in das Theater den Vorhang aufgezogen und die Bühne wie am Tag, ohne Kulissen und Hintergrund, fast dunkel und leer, so daß sie von Anfang an den Eindruck eines nicht vorbereiteten Schauspiels erhalten.

Die Kuppel des Souffleurkastens ist abgehoben und auf einer Seite neben ihn gestellt.

Auf seiner anderen Seite im Vordergrund ein kleiner Tisch und Lehnstuhl mit der Rückseite zum Publikum, für den Theaterdirektor.

Zwei andere Tische, ein größerer und ein etwas kleinerer, mit Stühlen daran lehnend, stehen im Vordergrund für den Fall, daß man sie für die Probe brauchen sollte.

Durch die Bühnentür treten allmählich die Schauspieler der Truppe auf, Damen und Herren, bald einer allein, bald mehrere zusammen. Im ganzen acht oder neun, so viel etwa, als für die für heute angesetzte Probe von Pirandellos »Spiel der Parteien« benötigt werden. Einige verschwinden wieder in den Garderoben; andere, unter ihnen der Souffleur mit einer Manuskriptrolle unter dem Arm, bleiben auf der Bühne und warten auf den Direktor. Sie unterhalten sich in kleinen Gruppen, sitzend oder stehend; einer zündet eine Zigarette an, ein anderer durchblättert eine Zeitung, ein dritter wiederholt seine Rolle. Schließlich kommt der Theaterdirektor und setzt sich an den für ihn bestimmten Tisch. Sein Sekretär bringt ihm die Post: Zeitungen, Briefe, Manuskripte, die er öffnet und durchfliegt. Dann steigt der Souffleur in den Kasten hinunter, entzündet eine Lampe zu seiner Rechten und breitet ein Manuskript vor sich aus.

 

Direktor (einen Brief auf den Tisch werfend): He! Man sieht ja nichts mehr. (Sich umsehend, dann zum Inspizienten gewendet:) Bitte, eine Lampe herunterlassen!

Inspizient (aufstehend): Sofort, Herr Direktor. (Er führt den Befehl aus.)

(Kurz danach wird eine Hängelampe heruntergelassen.)

Direktor (in die Hände klatschend): Los, los, angefangen! (Zum Souffleur:) »Spiel der Parteien.« Zweiter Akt. (Sich auf den Lehnstuhl setzend.) Aufgepaßt, meine Herrschaften. Wer ist auf der Bühne? (Die Schauspieler und Schauspielerinnen machen den Vordergrund der Bühne frei und setzen sich zu beiden Seiten hin, mit Ausnahme der drei, die mit der Probe beginnen sollen, und der ersten Schauspielerin, die, ohne auf den Direktor zu achten, ruhig an einem der Tische sitzen bleibt.)

Direktor (zur ersten Schauspielerin): Erlauben Sie, sind Sie auf der Bühne?

Erste Schauspielerin: Ich, nein.

Direktor (ärgerlich): Nun, dann stehen Sie doch auf!

(Erste Schauspielerin steht auf und setzt sich zu den andern Schauspielern, die sich schon zurückgezogen haben.)

Direktor (zum Souffleur): Anfangen! Anfangen!

Souffleur (aus dem Manuskript vorlesend): »Im Hause des Leone Gala. Seltsames Zimmer, gleichzeitig Speisesaal und Arbeitsraum.«

Direktor (zum Theatermeister): Also das rote Zimmer aufbauen lassen!

Theatermeister (sich auf einem Blatt Papier notierend): Das rote. Sehr wohl!

Souffleur (weiterlesend): »Gedeckter Eßtisch und Schreibtisch mit Büchern und Papieren. Büchergestelle und Glasschränke mit reichem Tafelgerät. Im Hintergrund eine Tür, die in Leones Schlafzimmer führt. Links eine Seitentür zur Küche. Hauptauftritt rechts.«

Direktor (aufstehend und anzeigend): Also, gut aufpassen, meine Herrschaften! Von dort wird aufgetreten. Hier herein geht's zur Küche. (Wendet sich zu dem Schauspieler, der die Rolle des Koches Sokrates spielen soll:) Sie werden von dieser Seite auf- und abtreten. (Zum Theatermeister:) Im Hintergrund die einteilige Tür und Vorhänge davor. (Setzt sich wieder hin.)

Theatermeister (notierend): Sehr wohl!

Souffleur (lesend w. o.): »Erste Szene. Leone Gala. Guido Venanzi. Filippo, genannt Sokrates.« (Zum Direktor:) Soll ich auch die Regiebemerkungen lesen?

Direktor: Aber ja doch, ja doch! Hab's Ihnen doch schon hundertmal gesagt!

Souffleur (lesend w. o.): »Beim Aufgehen des Vorhangs steht Leone Gala in weißer Mütze und Küchenschürze und ist im Begriffe, mit einem Holzquirl ein Ei in eine Pfanne zu schlagen. Filippo tut das gleiche, auch er als Koch gekleidet. Guido Venanzi, danebensitzend, sieht zu.«

Erster Schauspieler (zum Direktor): Verzeihen Sie, Herr Direktor, muß ich mir wirklich eine weiße Kochmütze auf den Kopf setzen?

Direktor (über den Einwurf ärgerlich): Scheinbar! Wenn es doch da geschrieben steht! (Zeigt auf das Manuskript.)

Erster Schauspieler: Nein, entschuldigen Sie, das ist lächerlich.

Direktor (wütend aufspringend): »Lächerlich, lächerlich«! Was soll ich dabei tun, wenn aus Frankreich keine einzige gute Komödie mehr kommt und wir gezwungen sind, die Stücke von diesem Pirandello aufzuführen, die kein Mensch verstehen kann, und die er nur schreibt, um Schauspieler, Kritiker und Publikum zu ärgern! (Die Schauspieler lachen; er steht auf, geht auf den ersten Schauspieler zu und schreit ihn an:) Die Kochmütze, ja, Herr! Und Eierschaum geschlagen! Sie glauben wohl, daß Sie nichts weiter zu tun haben werden, als Eierschaum zu schlagen? Da sind Sie schief gewickelt, Herr! Auch die Schalen von den Eiern, die Sie schlagen, wird man an Ihnen erblicken! (Die Schauspieler fangen wieder an zu lachen und machen spöttische Bemerkungen untereinander.) Ruhe! Und hören Sie gefälligst zu, wenn ich etwas erkläre! (Wieder zu dem ersten Schauspieler gewandt:) Ja, Herr, die Schalen: will sagen, die leere Form der Vernunft, ohne den Inhalt des unbewußten Triebes! Sie sind die Vernunft, Ihre Frau der Trieb; in einem Spiel bestimmter Parteien, in dem Ihre Rolle als Marionette Ihrer selbst gedacht ist. Haben Sie verstanden?

Erster Schauspieler (die Achseln zuckend): Ich? Kein Wort!

Direktor (wieder auf seinen Platz zurückkehrend): Ich auch nicht! Nun vorwärts denn, daß uns das Ende löblich sei! (In vertraulichem Ton:) Aber ich empfehle Ihnen, sprechen Sie immer dreiviertel zum Publikum gewandt, denn sonst: dieser Quatsch von einem Text, und Sie, den man nicht verstehen wird, na dann gute Nacht! (Wieder in die Hände klatschend.) Aufgepaßt! Aufgepaßt und angefangen!

Souffleur: Verzeihen Sie, Herr Direktor, würden Sie erlauben, daß ich mich mit dem Souffleurdach bedecke? Es zieht etwas ...

Direktor: Aber ja doch, bitte schön!

(Inzwischen ist der Bühnenportier aufgetreten und nähert sich, die betreßte Mütze in der Hand, auf den Fußspitzen in großem Bogen dem Tisch des Direktors. Währenddessen sind auch die sechs Personen erschienen und haben sich vor der Bühnentür aufgestellt, derart, daß der Portier, als er sie dem Direktor meldet, sie ihm auch zeigen kann. Ihre Erscheinung umgibt ein seltsamer, ganz zarter, kaum wahrnehmbarer Lichtschein, den sie auszustrahlen scheinen: ein leichter Hauch ihrer phantastischen Realität.

Dieser Lichtschein verlöscht, sobald sie mehr in den Vordergrund treten und mit den Schauspielern in Berührung kommen. Es bleibt ihnen aber eine gewisse natürliche, traumhafte Leichtigkeit anhaften, in der sie wie zu schweben scheinen und die doch nichts von der Wesenhaftigkeit ihrer Formen und ihres Ausdrucks mindert.

Derjenige von ihnen, der als der Vater bezeichnet wird, ist ungefähr ein Fünfziger, das Haar an den Schläfen gelichtet, aber nicht kahl, rotblond, einen dichten, gekräuselten Schnurrbart um den noch frischen Mund, den er oft zu unsicherem und etwas leerem Lächeln öffnet. Er ist eher dick, auffallend blaß, namentlich die hohe Stirn; die blauen Augen etwas tief liegend, durchdringend und blitzend. Er trägt helle Hosen und eine dunkle Jacke. Sein Benehmen ist mitunter honigsüß, mitunter ausfallend und hart.

Die Mutter ist wie erdrückt unter unerträglichem Gewicht von Schande und Erniedrigung. Sie ist von dichtem Witwenschleier verhüllt und ganz schwarz gekleidet. Wenn sie den Schleier hochschlägt, sieht man ein wächsernes und abgehärmtes Gesicht. Sie blickt ständig zu Boden.

Die Stieftochter, achtzehnjährig, ist dreist, fast schamlos. Sehr schön, gleichfalls in Trauer, aber mit auffälliger Eleganz gekleidet. Zeigt Verachtung für das schüchterne, bedrückte und fast wesenlose Gebaren des kleinen Bruders, des Jungen. Dieser ist vierzehnjährig, sehr elend und auch schwarz gekleidet. Sehr zärtlich aber ist die Stieftochter gegen das Schwesterchen, das kleine Mädchen, ein Kind von etwa vier Jahren, das ein weißes Kleidchen mit einer schwarzen Seidenschärpe trägt.

Der Sohn, zweiundzwanzigjährig, groß, mit der starren Geste verhaltener Verachtung gegen den Vater und düsterer Gleichgültigkeit gegen die Mutter; er betont, daß er widerwillig hier auf die Bühne gekommen sei.)

Bühnenportier (die Mütze in der Hand): Verzeihung, Herr Direktor.

Direktor (ärgerlich auffahrend): Was ist denn schon wieder los?

Bühnenportier (schüchtern): Es sind da gewisse Herrschaften, die nach Ihnen verlangen.

Direktor (mißmutig): Aber ich probiere jetzt! Und Ihr wißt ganz genau, daß während der Probe niemand hereingelassen werden darf. (Sich nach hinten wendend:) Wer sind Sie, meine Herrschaften? Was wollen Sie?

Vater (vortretend, später von den andern gefolgt, die ein wenig ängstlich sind): Ja, da sind wir! Wir – – kommen auf der Suche nach einem Verfasser!

Direktor (halb erstaunt, halb zornig): Einen Verfasser? Was für einen Verfasser?

Vater: Irgendeinen beliebigen, mein Herr!

Direktor: Hier finden Sie keinen! Wir probieren im Augenblick gar keine neue Komödie.

Stieftochter (mit freudiger Lebhaftigkeit): Um so besser, um so besser, mein Herr! Wir können ja dann Ihre neue Komödie sein!

Einer der Schauspieler (unter lebhaften, Bemerkungen und Lachen der andern): Oh, hört, hört!

Vater (zur Stieftochter): Ja, aber wenn doch kein Verfasser da ist! (Zum Theaterdirektor:) Außer wenn Sie vielleicht Lust hätten ...

Direktor: Die Herrschaften belieben wohl zu scherzen!

Vater: Nein, beileibe nicht, mein Herr! Wir bringen Ihnen im Gegenteil ein sehr trauriges Drama.

Stieftochter: Und wir könnten vielleicht Ihr Glück ausmachen.

Direktor: Bitte, tun Sie mir den Gefallen, jetzt fortzugehen; wir können unsere Zeit hier nicht an Narren verschwenden.

Vater (beleidigt und honigsüß): Oh, mein Herr, Sie wissen selbst ganz gewiß, daß das Leben voll ist von unendlicher Narretei, die schlechthin gar nicht wahrscheinlich zu erscheinen braucht, weil sie ja wahr ist.

Direktor: Zum Kuckuck, was meinen Sie eigentlich damit?

Vater: Ja, mein Herr! Ich meine, das ist die wahre Narrheit: Wahrscheinliches zu schaffen, damit es wahr erscheine! Gestatten Sie mir die Anmerkung, daß, wenn es Narrheit gibt, Narrheit auch der einzige Zweck Ihres Berufes ist!

(Die Schauspieler werden erregt und zornig.)

Direktor (aufstehend und ihn mit Blicken messend): Ah so? Sie meinen, unser Beruf sei ein Beruf für Narren?

Vater: Ja doch! Das für wahr erscheinen zu lassen, was es nicht ist! Ohne daß es nötig ist, mein Herr. Nur zum Spiel ... Ist es nicht Ihre Pflicht, unwirklichen Personen auf der Bühne Wirklichkeit zu geben?

Direktor (rasch, als Wortführer seiner Schauspieler, deren Empörung immer mehr zunimmt): Aber ich bitte Sie, zu glauben, werter Herr, daß der Beruf des Schauspielers ein sehr edler Beruf ist. Wenn uns auch heutzutage die modernen Herren Komödienschreiber lauter dummes Zeug vorschreiben und Drahtpuppen an Stelle von Menschen darzustellen geben, so ist es doch unser Ruhm, – hier auf diesen Brettern – unsterbliche Werke wieder lebendig gemacht zu haben. (Die Schauspieler sind befriedigt und applaudieren ihrem Direktor.)

Vater (ihn ungestüm unterbrechend): Ja eben! ... Lebendig gemacht zu haben! Ausgezeichnet! Lebendiger als die, die alle Tage herumlaufen! Weniger wirklich, vielleicht; aber dafür um so wahrer! Unsere Ansichten decken sich ja völlig!

(Die Schauspieler sehen einander verdutzt an.)

Direktor: Aber wie denn? Wenn Sie doch vorher sagten ...

Vater: Das war nur auf Sie gemünzt, mein Herr, weil Sie uns so anschrien, daß Sie Ihre Zeit nicht an Narren verschwenden könnten. Während Sie doch am allerbesten wissen müssen, daß die Natur sich der menschlichen Phantasie bedient, um das Werk ihrer Schöpfung auf eine höhere Art fortzuführen.

Direktor: Sehr wohl, sehr wohl! Aber was wollen Sie denn daraus schließen?

Vater: Nichts weiter, mein Herr, als Ihnen zeigen, daß man in mancherlei Arten und Formen auf die Welt kommen kann: als Baum oder Felsen, als Wasser oder Schmetterling oder Weib. Und also auch als Bühnenperson!

Direktor (mit ironisch geheucheltem Erstaunen): Ah, und Sie und jene andern Herrschaften wurden als Bühnenpersonen geboren?

Vater: Jawohl, mein Herr! Und sind lebendig, wie Sie uns hier sehen!

(Der Direktor und die Schauspieler schütteln sich vor Lachen.)

Vater (verletzt): Ich bedaure, daß Sie so lachen, denn das Drama ist sehr ernst und traurig, das wir in uns tragen, wie die Herrschaften schon an dieser schwarz gekleideten Dame erkennen können.

Direktor (schließlich die Geduld verlierend und beinahe empört): Aber jetzt los! Gehen Sie, bitte, räumen Sie das Feld hier! (Zum Theatermeister:) Zum Donnerwetter, schaffen Sie die Leute fort!

Theatermeister (es ausführend): Hinaus jetzt, hinaus! (Er drängt sie zum Ausgang.)

Vater (widerstrebend): Aber sehen Sie doch ...

Direktor (schreiend): Kurz und gut, wir müssen jetzt hier arbeiten!

Erster Schauspieler:: Hier treibt man nicht solche Narrenspossen ...

Vater ( entschlossen vortretend): Ihre Ungläubigkeit nimmt mich wunder! Sind denn die Herrschaften vielleicht nicht daran gewöhnt, hier oben die Gestalten lebendig werden zu sehen, eine gegen die andere, die ein Dichter geschaffen hat? Vielleicht stört es Sie, daß da kein Manuskript ist (auf den Souffleurkasten zeigend), in dem man uns niedergeschrieben findet.

Stieftochter (sich dem Direktor nähernd, lächelnd, in schmeichelndem Ton): Glauben Sie, bitte, mein Herr, wir sind wirklich sechs hochinteressante Bühnenpersonen, wenn auch nicht ganz ausgeführte.

Vater (sie beiseite schiebend): Nicht ganz ausgeführte, sehr gut! (Rasch zum Direktor:) In dem Sinne, sehen Sie, daß der Dichter, der uns zeugte, später keine Lust mehr hatte oder auch nicht mehr dazu fähig war, uns tatsächlich in die Welt der Kunst einzuführen. Und das war ein Verbrechen, mein Herr; denn wer das Glück hat, als lebendige Bühnengestalt zur Welt zu kommen, der pfeift auch auf den Tod. Er stirbt nicht mehr; der Mensch muß sterben, der Dichter, der als ihr Schöpfer nur ihr Werkzeug ist; seine Geschöpfe aber sterben nicht mehr! Und um ewig zu leben, braucht man auch gar nicht besonders wunderbare Gaben zu haben. Wer war Sancho Panza denn? Wer war Don Abondio? Niemand weiß es, und doch sind sie ewig, denn sie hatten das Glück, lebendiger Samen der sie waren, eine fruchtbare Muttererde zu finden, eine Phantasie, die sie aufzog und nährte und so zum Ewigen erstehen ließ!

Direktor: All dies ist ganz schön und gut! Aber was wollen Sie denn nur hier?

Vater: Leben wollen wir, mein Herr!

Direktor (ironisch): Für die Ewigkeit?

Vater: Nein, mein Herr, aber wenigstens für einen Augenblick! Und in Ihnen, meine Herrschaften!

Ein Schauspieler: Da schau einer an!

Erste Schauspielerin: In uns wollen Sie leben!

Ein junger Schauspieler (auf die Stieftochter zeigend): Nun, was mich anbelangt, gern, wenn es sich um die da handelt.

Vater: Passen Sie auf: die Komödie muß verfaßt werden; (zum Direktor) aber wenn Sie geneigt sind und Ihre Schauspieler geneigt sind, so können wir sie hier gleich miteinander verfassen!

Direktor (ärgerlich): Ach was, verfassen! Hier wird nicht verfaßt! Hier werden Trauerspiele und Lustspiele aufgeführt, weiter nichts!

Vater: Ja eben! Deswegen sind wir ja gerade bei Ihnen.

Direktor: Und wo ist das Manuskript, bitte?

Vater: Es ist in uns, mein Herr! (Die Schauspieler lachen.) Das Drama ist in uns! Wir sind es! Und wir fiebern vor Ungeduld, es aufzuführen, von innerster Leidenschaft getrieben!

Stieftochter (anzüglich und mit der häßlichen Grazie völliger Schamlosigkeit): Meine Leidenschaft, wenn Sie die kennten, mein Herr! Meine Leidenschaft – für ihn! (Zeigt auf den Vater und tut, als wollte sie ihn umarmen, bricht aber dann in schallendes Gelächter aus.)

Vater (zornig aufbrausend): Du, nimm dich zusammen jetzt! Und bitte, lach nicht so!

Stieftochter: Nicht? Nun, dann bitte erlauben Sie mir; ich bin zwar erst seit zwei Monaten Waise, aber bitte sehen die Herrschaften doch, wie ich singen und tanzen kann. (Stimmt spöttisch das Lied an: »Prends garde a Tchou-Thin Tchou« von Dave Stamper, als Foxtrot eingerichtet von Francis Salabert. Die erste Strophe begleitet sie mit Tanzschritten.)

Les chinois sont un peuple malin,
De Shangaï à Pekin,
Iis ont mis des écriteux par-tout:
Prenez garde à Tchou-Thin-Tchou!<

Schauspieler und Schauspielerinnen (lachen und applaudieren): Gut! Bravo! Ausgezeichnet!

Direktor (wütend): Ruhe! Wir sind doch hier in keinem Café chantant! (Den Vater etwas betroffen beiseite ziehend:) Sagen Sie, die ist wohl verrückt?

Vater: Ach was, verrückt! Schlimmer als verrückt.

Stieftochter (rasch auf den Direktor zulaufend): Schlimmer! Schlimmer! Natürlich, mein Herr, viel schlimmer! Hören Sie: lassen Sie uns bitte gleich unser Drama aufführen, damit Sie sehen, wie ich an einer gewissen Stelle – wenn dies süße Kind hier (nimmt das kleine Mädchen, das bei der Mutter steht, an der Hand und führt es zum Direktor) – sehen Sie, wie schön es ist? (Nimmt es auf den Arm und küßt es.) – Liebling, Liebling! (Setzt es wieder auf die Erde und fährt mit scheinbar ungewollter Rührung fort:) Nun, an der Stelle, wo dies Kind plötzlich vom lieben Herrgott seiner armen Mutter entrissen wird, und wo dieser blöde Kerl da (stößt den Jungen unsanft nach vorn) die größte seiner Dummheiten begeht, der Schafskopf (treibt ihn mit einem Puff wieder zur Mutter zurück), dann werden Sie sehen, wie ich mich aus dem Staube mache! Ja, mein Herr! Aus dem Staube mache ich mich! Aus dem Staube! Und gerade im richtigen Augenblick, glauben Sie mir! Denn nach den Intimitäten, die zwischen mir und ihm – – (zeigt mit einem häßlichen Blinzeln auf den Vater) – konnte ich nicht mehr bei dieser Gesellschaft bleiben; nicht mehr mit ansehen, wie sich die Mutter wegen dieses Flegels da verzehrte (zeigt auf den Sohn). Schauen Sie ihn an, schauen Sie ihn an! Gleichgültig ist er; kalt, weil er der legitime Sohn ist, er! Und er verachtet mich und den da (zeigt auf den Jungen) und dieses Geschöpfchen; denn wir sind ja Bankerts, haben Sie verstanden, Bankerts! (Nähert sich der Mutter und umarmt sie.) Und diese arme Mutter – die unser aller Mutter ist – die will er als die seine nicht anerkennen! Über die Achsel sieht er sie an, er, als wäre sie nur die Mutter von uns drei Bankerts. – Schuft! (Sie sagt dies alles sehr schnell und in äußerster Erregung, zum Schluß immer lauter werdend bis zu dem Wort Bankerts, dann läßt sie die Stimme fallen und spricht das Wort Schuft leise, gleichsam es ausspuckend.)

Mutter (in grenzenloser Angst zum Direktor): Mein Herr, ich flehe Sie an im Namen dieser beiden kleinen Wesen ... (ihr schwinden die Sinne, sie wankt) o mein Gott ...

Vater (zu ihr eilend, um sie zu stützen, zusammen mit den Schauspielern, die erstaunt und erschrocken sind): Um Gottes willen, einen Stuhl, einen Stuhl für diese arme Witwe!

Die Schauspieler (hinzueilend): Aber ist es denn Wirklichkeit?

Wird sie wirklich ohnmächtig?

Direktor: Hierher den Stuhl, schnell!

(Einer der Schauspieler bringt einen Stuhl, die andern bemühen sich um sie. Die Mutter hat sich gesetzt und versucht den Vater daran zu verhindern, ihr den Schleier fortzuziehen.)

Vater: Sehen Sie sie an, mein Herr, sehen Sie sie an!

Mutter: Aber nein, mein Gott, laß doch!

Vater: Laß dich doch ansehen! (Er hebt ihren Schleier hoch.)

Mutter (aufspringend und verzweifelt das Gesicht mit den Händen bedeckend): Ach, mein Herr, ich flehe Sie an, hindern Sie diesen Mann daran, auszuführen, was er vorhat; es ist zu schauerlich für mich!

Direktor (ganz benommen, verwirrt): Ja, ich verstehe nicht mehr, wo wir sind und um was es sich handelt! (Zum Vater:) Diese Dame ist Ihre Frau?

Vater: Ja, Herr, meine Frau!

Direktor: Und wieso ist sie denn Witwe, wenn Sie noch am Leben sind?

(Die Schauspieler entladen ihren ganzen Schreck in ein schallendes Gelächter.)

Vater (verletzt, mit bitterem Ausdruck): Lachen Sie nicht! Lachen Sie nicht so, um Gottes willen! Gerade dies ist ja ihr Drama, mein Herr! Sie hatte einen andern Mann. Einen andern Mann, der auch hier sein müßte.

Mutter (mit einem Aufschrei): Nein, nein!

Stieftochter: Er ist tot zu seinem Glück; seit zwei Monaten, sagte ich schon. Wir tragen noch Trauer um ihn, wie Sie sehen.

Vater: Aber er fehlt hier nicht deswegen, weil er schon tot ist. Er ist nicht hier, weil – sehen Sie sie nur an, mein Herr, Sie werden gleich alles begreifen! – Ihr Drama ist nicht eine Liebestragödie mit zwei Männern; dazu ist sie unfähig. Sie könnte gar nichts empfinden – oder doch nicht mehr als ein bißchen Dankbarkeit – nicht gegen mich, gegen jenen andern! – – Solch eine Frau ist sie nicht; sie ist nur Mutter! – Und ihr Drama – ein starkes Drama, mein Herr, sehr stark! – sind nur diese vier Kinder von den zwei Männern, die sie gehabt hat.

Mutter: Die ich gehabt habe? Du hast den Mut, zu sagen, daß ich sie gehabt habe, als ob ich sie gewollt hätte? Er war es, mein Herr, er hat mir den andern aufgedrängt, mit Gewalt! Er zwang mich, er zwang mich, mit dem andern auf und davon zu gehen.

Stieftochter (ausbrechend, entrüstet): Das ist nicht wahr!

Mutter (bestürzt): Wieso nicht wahr?

Stieftochter: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!

Mutter: Und was kannst du denn davon wissen?

Stieftochter: Das ist nicht wahr! (Zum Direktor:) Glauben Sie nicht daran! Wissen Sie, weshalb sie es sagt? Vor dem da (zeigt auf den Sohn) sagt sie's; denn sie verzehrt sich vor Gram über die Nichtachtung dieses Sohnes. Darum will sie ihm verständlich machen, sie habe ihn als zweijähriges Kind nur deshalb verlassen, weil der (zeigt auf den Vater) sie dazu gezwungen hätte.

Mutter (stark): Er hat mich gezwungen; ich rufe Gott zum Zeugen an! (Zum Direktor:) Fragen Sie ihn doch (auf den Gatten zeigend), ob es nicht wahr ist. Lassen Sie ihn doch reden! Sie (auf die Tochter zeigend) kann nichts davon wissen.

Stieftochter: Ich weiß, daß du mit meinem Vater, so lange er lebte, immer glücklich und zufrieden warst. Leugne es, wenn du kannst!

Mutter: Nein, ich leugne es nicht ...

Stieftochter: Immer war er zärtlich und liebevoll zu dir! (Zu dem kleinen Jungen heftig:) Ist es nicht so? Sag du es! Warum sprichst du nicht, du Schafskopf?

Mutter: Aber laß doch diesen armen Jungen! Warum willst du mich zu einer Undankbaren stempeln, Mädchen, ich will ja deinen Vater gar nicht beleidigen! Ich habe ihm nur geantwortet, daß es nicht meine Schuld war und daß ich es nicht zu meinem Vergnügen tat, wenn ich sein Haus und meinen Sohn verließ.

Vater: Das ist wahr, mein Herr. Ich war schuld daran.

Erster Schauspieler (zu den andern): Aber nein, ist das eine Komödie!

Schauspielerin: Ja, und sie spielen sie; wir sind die Zuschauer.

Junger Schauspieler: Zur Abwechslung einmal ganz angenehm.

Direktor (den es lebhaft zu interessieren beginnt): Hören wir weiter, hören wir weiter!

Sohn (sich dem Direktor nähernd, kalt, leise, ironisch): Ja, hören Sie nur weiter, was jetzt für ein philosophischer Abriß kommt! Jetzt wird er von dem »Dämon des Experimentes« sprechen.

Vater: Du bist ein frecher Idiot! Hundertmal hab' ich es dir schon gesagt! (Zum Direktor:) Er lacht über mich, mein Herr, wegen dieses Ausdrucks, den ich zu meiner Entschuldigung fand.

Sohn (verächtlich): Geschwätz!

Vater: Geschwätz, Geschwätz! Als ob es nicht für alle tröstlich wäre gegenüber einem Leid, das uns verzehrt, ein Wort zu finden, das nichts besagt und mit dem man sich beruhigen kann!

Stieftochter: Vor allem auch seine Gewissensbisse, ja!

Vater: Gewissensbisse, das ist nicht wahr! Die hab' ich nicht nur mit Worten beruhigt,

Stieftochter: Auch mit ein wenig Geld, ja, ja! Mit den hundert Lire, die er bot, um mich zu haben, meine Herrschaften!

(Bewegung des Entsetzens bei den Schauspielern.)

Sohn (verächtlich zur Stiefschwester): Gemein ist das!

Stieftochter: Gemein? Da lagen sie in einem himmelblauen Kuvert, auf einem Mahagonitischchen im Hinterzimmer der Madame Pace. Wissen Sie, mein Herr, das ist eine von denen, die unter der Firma »Robes et Manteaux« uns arme Bürgermädchen zu ganz anderen Zwecken in ihre Ateliers locken.

Sohn: Und mit diesen hundert Lire hat sie sich das Recht erkauft, uns alle zu tyrannisieren; und dabei wollte er ihr sie nur bezahlen; nachher aber – beachten Sie das wohl! – war keine Veranlassung mehr dazu da.

Stieftochter: Ja, aber wir waren ja zusammen dort, dort, weißt du! (Bricht in Lachen aus.)

Mutter (sich empörend): Es ist eine Schande, Mädchen, eine Schande!

Stieftochter: Eine Schande? Meine Rache ist's! Ich vergehe danach, mein Herr, ich vergehe danach, diesen Auftritt noch einmal zu leben. Das Zimmer ... hier der Kleiderschrank; da das kleine Sofa; der Spiegel; ein Wandschirm, und vor dem Fenster das Mahagonitischchen mit den hundert Lire im himmelblauen Kuvert. Ich sehe sie noch! Ich könnte sie greifen! Aber die Herrschaften müßten sich umdrehen: ich bin ja fast nackt! Ich erröte nicht mehr, denn jetzt muß er erröten! (Zeigt auf den Vater.) Aber ich versichere euch, daß er sehr bleich war, sehr bleich in dem Augenblick. (Zum Theaterdirektor:) Glauben Sie mir, mein Herr!

Direktor: Ich verstehe gar nichts mehr!

Vater: Natürlich, bei solch einem Durcheinander! Schaffen Sie Ordnung, mein Herr, und lassen Sie mich sprechen. Hören Sie nicht auf all die Schmutzgeschichten, die diese da Ihnen von mir aufdrängen will, bevor ich Ihnen nicht die nötigen Aufklärungen gegeben habe.

Stieftochter: Hier wird nicht geschwätzt, hier wird nicht geschwätzt.

Vater: Aber ich schwätze doch nicht, ich will es ihm erklären.

Stieftochter: Ah, schön, ja; auf deine Art.

Vater: Ja, hier liegt ja der Kern alles Übels! In den Worten! Wir tragen alle in uns eine Welt von Dingen; ein jeder seine eigene Welt. Und wie können wir uns verstehen, mein Herr, wenn ich in meine Worte den Sinn und Wert der Dinge lege, die in mir sind; der andre aber, der zuhört, kann sie doch nur aufnehmen nach dem Sinn und Wert seiner inneren Welt. Wir glauben uns zu verstehen, aber wir verstehen uns nie! Sehen Sie: all mein Mitleid, mein inniges Mitleid für diese Frau (zeigt auf die Mutter) wurde von ihr nur als harte Grausamkeit verstanden!

Mutter: Hast du mich denn nicht fortgejagt?

Vater: Da hören Sie's! Fortgejagt! Sie meint, ich hätte sie fortgejagt!

Mutter: Du kannst Worte machen, ich kann das nicht. Aber glauben Sie mir, mein Herr, daß, nachdem er mich geheiratet hatte, warum weiß ich nicht, denn ich war ja nur arm und von niedriger Herkunft – –

Vater: Aber eben deswegen, wegen deiner Herkunft habe ich dich geheiratet; die liebte ich in dir, denn ich glaubte ... (Unterbricht sich selbst, als er ihr ablehnendes Verhalten sieht; zuckt mit den Achseln über die Unmöglichkeit, sich mit ihr verständlich zu machen; wendet sich dann rasch zum Direktor:) Sehen Sie? Sie sagt nein. Schrecklich, mein Herr! Wirklich! Schrecklich! Ihre (schlägt sich gegen die Stirn) Stumpfheit, ihre geistige Stumpfheit! Gemüt, ja! Für die Kinder! Aber stumpf, stumpfsinnig, mein Herr! Zum Verzweifeln!

Stieftochter: Und nun lassen Sie ihn einmal erzählen, was für ein Glück für uns seine Klugheit gewesen ist.

Vater: Ja, wer immer das Übel voraussähe, das aus unsern gutgemeinten Handlungen erwachsen kann!

Erste Schauspielerin (ist verärgert darüber, daß der erste Schauspieler mit der Stieftochter zu kokettieren anfängt; nähert sich dem Direktor und fragt ihn): Verzeihen Sie, Herr Direktor, wird die Probe eigentlich fortgesetzt?

Direktor: Ja doch, ja doch; aber lassen Sie mich jetzt erst zuhören.

Der junge Schauspieler: Es ist ein so neuartiger Fall.

Die junge Schauspielerin: Hochinteressant.

Erste Schauspielerin: Wen's interessiert, ja!

(Wirft einen Blick auf den ersten Schauspieler.)

Direktor (zum Vater): Aber jetzt drücken Sie sich bitte klar aus. (Er setzt sich wieder hin.)

Vater: Also sehen Sie, Herr Direktor, es lebte da mit uns ein armer Mensch, mein Untergebner, mein Sekretär, voller Ergebenheit, der sich in allem und jedem mit ihr (zeigt auf die Mutter) verstand! Wohlbemerkt: ohne den Schatten eines bösen Gedankens! Er war bescheiden wie sie, und beide unfähig, das Böse auch nur zu denken, geschweige denn zu tun.

Stieftochter: Dafür hat er für die beiden zusammen das Böse gedacht und getan.

Vater: Das ist nicht wahr! Ich wollte nur ihr Bestes – und auch das meine, das geb' ich zu! Mein Herr, es war so weit gekommen, daß ich zu keinem von beiden mehr ein Wort sagen konnte, ohne daß sie nicht schnell einen Blick des Einverständnisses miteinander austauschten! Gleich suchten sich ihre Augen, wie um über das, was ich gesagt habe, zu beratschlagen. Und das genügte – Sie werden das verstehen –, um mich in einer ständigen Wut zu halten. In einem unerträglichen Zustand von Verbitterung!

Direktor: Erlauben Sie, warum haben Sie Ihren Sekretär nicht fortgejagt?

Vater: Sehr richtig! Ich habe ihn fortgejagt, mein Herr! Aber da irrte die arme Frau ganz verlassen im Haus umher, wie ein herrenloser Hund, den man aus Mitleid aufgelesen hat.

Mutter: Ja, natürlich!

Vater (sich rasch zu ihr wendend, wie um ihr zuvorzukommen): Das Kind, nicht wahr?

Mutter: Er hat mir vorher das Kind von der Brust gerissen, mein Herr!

Vater: Aber nicht aus Grausamkeit! Nur um es gesund und kräftig großzuziehen, in Berührung mit der Erde!

Stieftochter (auf den Sohn zeigend, ironisch): Da sehen Sie ihn sich an!

Vater (rasch): Ach, ist es denn meine Schuld, wenn er sich später so entwickelt hat? Ich habe ihn zu einer Amme aufs Land gegeben, zu einer Bäuerin; denn die Mutter schien mir nicht kräftig genug, wenn sie auch von niederer Herkunft war. Es war derselbe Grund, weswegen ich sie geheiratet hatte. Eine fixe Idee vielleicht; aber warum nicht? Ich hatte immer diesen verdammten Hang zu solider moralischer Gesundheit! (Bei diesem Satz bricht die Stieftochter wieder in schallendes Gelächter aus.) Aber lassen Sie sie doch schweigen, es ist unerträglich!

Direktor: Seien Sie still! Lassen Sie mich doch zuhören, Himmelherrgott!

Vater: Ich hielt es nicht mehr aus an der Seite dieser Frau! (Zeigt auf die Mutter.) Aber nicht so sehr, weil ich ihrer überdrüssig – wirklich überdrüssig! – war, als wegen meiner ständigen Sorge und Angst um sie.

Mutter: Und so schickte er mich fort!

Vater: Gut ausgerüstet mit allem zu jenem Mann, mein Herr – um sie von mir zu befreien.

Mutter: Und um sich selbst zu befreien!

Vater: Ja, auch mich – ich geb' es zu! Es lief übel aus, aber ich tat's in guter Absicht – und mehr für sie als für mich: ich schwöre es! (Kreuzt die Arme über der Brust, wendet sich aber rasch zur Mutter:) Ich habe dich nie aus den Augen gelassen, bis er dich eines Tages ohne mein Wissen plötzlich in ein anderes Land verschleppte; in seiner dummen Eifersucht wegen der reinen und selbstlosen Teilnahme, die ich noch für dich zeigte. Eine unendlich zärtliche Teilnahme fühlte ich für dies neue kleine Völkchen, das sie großzog ... Das kann auch sie Ihnen bezeugen.

Stieftochter: Ja, gewiß doch! Klein war ich, ganz klein. Wissen Sie, so mit Hängezöpfen und Höschen, die ein wenig länger waren als das Kleid – so klein –, da stand er immer vor dem Tor der Schule, wenn ich herauskam; um mich zu sehen, wie ich mich entwickelte ...

Vater: Pfui Teufel, das ist gemein!

Stieftochter: Nein, warum denn?

Vater: Gemein, gemein! (Rasch, aufgeregt zum Direktor in erklärendem Ton:) Mein Haus, Herr Direktor, erschien mir so leer, als sie fortgegangen war (zeigt auf die Mutter). Gelastet hatte sie auf mir wie ein Alpdruck; aber sie belebte es doch. Allein zurückgeblieben, war ich in den Zimmern wie ein verirrter Falter! Der da (zeigt auf den Sohn) wurde außerhalb erzogen, und als er wieder ins Haus zurückkehrte, gehörte er kaum noch zu mir. Zwischen mir und ihm fehlte die Mutter. Einsam wuchs er auf, ohne irgendeine seelische oder geistige Beziehung zu mir. Und da – es ist seltsam, mein Herr, aber es ist so! – fühlte ich mich zuerst aus Neugier, allmählich aber immer zärtlicher hingezogen zu ihrer kleinen Familie, die ja eigentlich mein Werk war. Der Gedanke an sie füllte mir die Leere um mich herum. Es war mir ein Bedürfnis, wirklich ein Bedürfnis, sie glücklich zu wissen, ganz den einfachen Sorgen des Alltags hingegeben, ganz befreit von meinem verwickelten und zerquälten Leben. Und um davon einen täglichen Beweis zu haben, ging ich, ihr Kind am Ausgang der Schule zu sehen.

Stieftochter: Ja, er folgte mir auf der Straße. Er lächelte mir zu, und am Haus angelangt, warf er mir eine Kußhand zu – so! Ich sah ihn mit ganz großen Augen erstaunt an. Ich wußte nicht, wer es war; ich sagt' es der Mutter, und sie verstand sogleich, daß er es war. (Die Mutter macht mit dem Kopf ein bejahendes Zeichen.) Zuerst wollte sie mich ein paar Tage nicht mehr in die Schule schicken. Als ich wieder hinging, sah ich ihn gleich wieder am Ausgang – seltsam! – mit einem großen Paket in der Hand; er näherte sich mir, er streichelte mich, und aus dem Paket zog er einen großen Florentinerstrohhut mit einem Kranz von Mairöschen – für mich!

Direktor: Aber das ist viel zu viel Erzählung, meine Herrschaften!

Sohn (verächtlich): Ja doch, Literatur, Literatur!

Vater: Ach was, Literatur! Das ist Leben, mein Herr! Leidenschaft!

Direktor: Meinetwegen, aber es ist nicht aufzuführen.

Vater: Einverstanden, mein Herr, denn dies alles ist Vorgeschichte. Und ich sage nicht, daß es aufgeführt werden soll. Wie Sie sehen, ist sie (zeigt auf die Stieftochter) ja tatsächlich nicht mehr das kleine Mädchen mit den Hängezöpfen ...

Stieftochter: Und den Höschen, die unter dem Kleid herausschauen!

Vater: Das Drama fängt jetzt erst an, mein Herr! Neu, kompliziert, hochinteressant, glauben Sie es mir!

Stieftochter: Sobald mein Vater gestorben war ...

Vater: Das Elend, mein Herr! Ohne daß ich davon Nachricht bekam, kehrten sie hierher zurück; durch ihre Blödheit kam es (zeigt auf die Mutter). Sie kann ja allerdings kaum schreiben, aber sie hätte mir doch durch die Tochter oder durch den Jungen schreiben lassen können, daß es ihnen schlecht ging!

Mutter: Aber sagen Sie selbst, mein Herr, konnte ich bei ihm all diese Gefühle erraten? ...

Vater: Das ist ja eben dein Unrecht, daß du nie eines meiner Gefühle erraten hast!

Mutter: Nach all den Jahren der Trennung, und nach all dem, was vorgefallen war ...

Vater: War es vielleicht meine Schuld, daß dieser Einfaltspinsel euch so weit verschleppte? (Sich zum Direktor wendend:) Von heute auf morgen, sage ich Ihnen, weil er außerhalb irgendwo eine Stellung gefunden hatte. Ich verlor jede Spur von ihnen. Da nahm natürlich mit den Jahren mein Interesse ab. Das Drama, mein Herr, fängt bei ihrer Rückkunft an. Als ich – Gott sei's geklagt! – verführt durch meine elenden Triebe, die noch nicht schwiegen ... ja Elend, wirklich ein Elend das! Ein einsamer Mann, der sich nicht in niedrige Beziehungen einlassen will. Noch nicht alt genug, um die Frau nicht nötig zu haben, und nicht mehr so jung, um leicht und ohne Beschämung auf die Suche gehen zu können! Ein Elend? Was sage ich! Grauen, Grauen: wenn sich keine mehr in einen verlieben kann – ach, wenn einem das auf einmal klar wird! Man sollte sich umbringen ... bah! Nach außen vor den andern wahrt jeder seine Würde. Und weiß doch jeden Augenblick dabei, was für uneingestehbare Dinge in seinem Innern vorgehen. Da gibt man der Versuchung nach. Um gleich darauf aufzustehen und hastig – fest und schwer wie einen Grabstein – unsere Würde darüber zu decken. Die soll dann die Erinnerung an die Schande vor unsern eigenen Augen verhüllen und begraben. So geht es allen! Es fehlt uns nur der Mut, gewisse Dinge einzugestehen!

Stieftochter: Den Mut aber, sie zu tun – den haben sie alle!

Vater: Alle! Ja, aber heimlich! Und darum braucht's mehr Mut, es auszusprechen; denn es genügt, daß einer ihnen davon spricht, und er wird als schamlos verschrien; während er doch in der Tat nicht anders ist, mein Herr, wie die andern. Besser sogar, viel besser! Denn er scheut sich nicht, mit dem Licht seines Verstandes das Rot der Schande aufzudecken, das Tier im Menschen, der die Augen schließt und von nichts wissen will. Ja, das ist die Frau, wie sie leibt und lebt! Erst sieht sie uns an, herausfordernd, aufreizend; wir umarmen sie. Und gleich schließt sie die Augen. Es ist das Zeichen ihrer Hingebung. Das Zeichen, durch das sie zum Manne spricht: Werde blind, ich bin es auch!

Stieftochter: Und wenn sie sie nicht mehr schließt? Wenn sie nicht mehr das Bedürfnis fühlt, das Rot ihrer Schande vor sich selbst zu verstecken, sondern mit starren und reglosen Blicken die Schande des Mannes ansieht, der seinerseits blind wurde, blind vor Gier! Pfui dann! Pfui über all diese geistigen Konflikte, all diese Philosophie, die das Tier in uns bloßlegt, nur um es zu verteidigen, es zu entschuldigen ... Da kann ich nicht mit, mein Herr. Denn wenn man gezwungen ist, sich das Leben zu vereinfachen – so auf tierische Art – die ganze Last des sogenannten höheren Menschentums von sich zu tun, jedes reine Gefühl, jede höhere Pflicht, jede Scheu und Scham, dann ist nichts widerlicher und verächtlicher als diese Art von Skrupeln: Krokodilstränen!

Direktor: Schreiten wir zur Handlung, meine Herrschaften! Das sind ja alles nur Worte.

Vater: Ja, mein Herr, aber sehen Sie, eine Handlung ist wie ein Sack, den man leer nicht handhaben kann. Man muß sie erst anfüllen, mit allerlei Trieben und Gründen, die sie bewegen. Ich konnte doch nicht wissen, daß sie nach dem Tode jenes Mannes und ihrer Rückkehr hierher zu schneidern anfing, um ihre Kinder ernähren zu können. Und dann gerade bei dieser ... bei dieser Madame Pace Arbeit suchte.

Stieftochter: Eine Schneiderin ersten Ranges, wenn es die Herrschaften vielleicht interessiert. Offiziell bedient sie die feinsten Damen; aber es ist alles darauf eingerichtet, daß diese »feinsten Damen« dann auch wiederum sie bedienen können – ohne jede Gêne.

Mutter: Werden Sie es mir glauben, meine Damen? Mir kam auch nicht im entferntesten der Verdacht, daß dieses Schandweib mir Arbeit gab, nur weil sie es auf meine Tochter abgesehen hatte.

Stieftochter: Arme Mutter! Wissen Sie, mein Herr, was das Frauenzimmer tat, sobald ich ihr ihre (auf die Mutter zeigend) Arbeit brachte? Alles, was die Mutter beim Nähen schlecht gemacht hatte, schrieb sie mir zu Lasten; und dann strich sie langsam davon ab, so daß ich bezahlen mußte – Sie verstehen, auf welche Weise bezahlen mußte! –, während sie glaubte, sich für mich und die Kleine zu opfern, wenn sie die Nächte durch für Madame Pace nähte.

Direktor: Und dort begegneten Sie nun eines Tages ...

Stieftochter (auf den Vater zeigend): Ihm, ihm, ja, mein Herr! Er war ein alter Kunde dort. Sie werden sehen, wie sich der Auftritt spielt! Herrlich!

Vater: Besonders wenn dann die Mutter dazwischen kommt ...

Stieftochter (rasch in gemeinem Ton): Gerade zur rechten Zeit!

Vater (schreiend): Zur rechten Zeit? Nein, nein! Denn ich habe sie ja zum Glück zur rechten Zeit noch selbst erkannt und brachte sie alle nach Hause. Meine Herrschaften, denken Sie sich nun meine und ihre Lage, wie wir uns gegenüberstanden: sie, so wie Sie sie da sehen, und ich, der ich ihr nicht mehr in die Augen blicken konnte.

Stieftochter: Höchst seltsam! Aber hätte man denn, meine Damen, von mir verlangen können, daß ich mich – »nachher!« – wie ein bescheidnes und wohlerzognes junges Fräulein gebärdete? Etwa wegen seines »verdammten Hanges nach einer soliden moralischen Gesundheit«?

Vater: Das Drama besteht für mich ganz einfach darin, mein Herr: in seinem Bewußtsein glaubt jeder ein »Eins« zu sein und dabei ist er doch ein »Vieles«. Gemäß allen Seinsmöglichkeiten, die in uns sind: bald eins mit diesem – bald mit jenem – immer verschieden! Und dabei immer in der Täuschung, einer für alle zu sein, und zwar immer dieser eine, für den wir uns selbst in allen unseren Handlungen halten. Das ist aber nicht wahr! Das ist nicht wahr! Wir merken es erst, wenn wir unversehens durch ein Unglück an irgendeine Handlung festgenagelt werden. Dann spüren wir, meine ich, daß wir nicht mit dieser Handlung identisch sind, nicht ganz in ihr enthalten, und es ein schweres Unglück wäre, uns nur nach ihr beurteilen, unsere ganze Existenz gleichsam an sie festnageln zu wollen, als wäre sie eines und das gleiche mit dieser Handlung. Verstehen Sie jetzt die Heimtücke dieses Mädchens? Sie hat mich einmal überrascht an einem Ort, in einer Situation, in der sie mich nicht hätte sehen dürfen. Und nun will sie meine Realität, wie ich sie niemals für sie hätte annehmen sollen, aus jenem flüchtigen und schmachvollen Moment ableiten! Das scheint mir vor allem absurd, und Sie werden sehen, daß daraus ein großer Reiz des Dramas entstehen wird. Und dann auch die Lage der andern! Zum Beispiel seine ... (Zeigt auf den Sohn.)

Sohn (verächtlich die Achseln zuckend): Aber laß mich doch in Ruhe! Mich geht es doch gar nichts an!

Vater: Wieso geht es dich nichts an?

Sohn: Es geht mich nichts an, und ich will nichts damit zu tun haben; du weißt sehr gut, ich bin nicht dazu geschaffen, hier mit euch zusammen mich zu zeigen.

Stieftochter: Gemeines Volk wir! Nur er ist fein. Aber Sie werden sehen, meine Damen, daß er jedesmal, wenn ich ihn ansehe, um ihn mit meiner Verachtung zu durchbohren, die Augen senkt – denn er weiß, was er mir Schlimmes getan hat.

Sohn (sie kaum ansehend): Ich?

Stieftochter: Du, ja du! Dir verdanke ich, wenn ich auf den Strich gehe. Hast du uns nicht mit diesem Benehmen unser ganzes Zuhause verbittert? Wir waren die Eindringlinge, die in das Reich deiner Legitimität drangen! Mein Herr, ich wollte, Sie hätten einmal einem kleinen Auftritt unter vier Augen zwischen ihm und mir beiwohnen können. Er sagt, ich habe alle tyrannisiert? Aber sehen Sie, er ist schuld, wenn ich so wurde, wie ich bin.

Sohn: Sie haben ja alle so leichtes Spiel gegen mich, mein Herr! Sie haben sich alle gegen mich verschworen. Stellen Sie sich vor: ich sitze eines Tages nichtsahnend zu Hause, da kommt ein junges Fräulein in frecher Aufmachung und verlangt unter eindeutigem Augenzwinkern nach dem Vater; sie hätte ihm etwas Wichtiges zu sagen. Und dann kommt sie wieder, immer mit den gleichen Allüren, dies Kind dort an der Hand; und schließlich sehe ich sie mit dem Vater in dreister Form verhandeln und Geld von ihm verlangen in einem Ton, aus dem man schließen kann, daß er es geben muß, weil er dazu verpflichtet ist ...

Vater: Aber natürlich war ich dazu verpflichtet, es war doch für deine Mutter.

Sohn: Was weiß ich davon. Ich hatte sie nie gesehen, mein Herr, nie von ihr sprechen gehört! Da stand sie eines Tages da, mit der da (zeigt auf die Stieftochter) und dem Jungen und dem kleinen Mädchen und man sagte mir: »Weißt du? Das ist auch deine Mutter!« Und aus ihrem Benehmen (zeigt wieder auf die Stieftochter) verstand ich ganz gut, weswegen sie so plötzlich in unser Haus einbrachen ... Was ich fühle, Herr Direktor, das kann und will ich nicht ausdrücken. Ich könnte es höchstens mir selbst eingestehen und auch das möchte ich nicht. Ich kann also, wie Sie sehen, meinerseits an keiner Handlung teilnehmen. Glauben Sie mir, mein Herr, ich bin eine dramatisch nicht wirklich gewordene Figur. Und ich passe gar nicht in die Gesellschaft von denen da! Sie sollen mich in Ruhe lassen.

Vater: Aber wie denn? Ich verstehe dich nicht! Du bist es doch gerade, der ...

Sohn: Was weißt du, wer ich bin? Wann hast du dich je um mich gekümmert?

Vater: Zugegeben, zugegeben! Aber ist das nicht gerade eine dramatische Situation, wie du dich grausam abschließt gegen mich, gegen deine heimgekehrte Mutter, die dich so als Erwachsenen zum ersten Mal sieht und nicht kennt, obgleich sie weiß, daß du ihr Sohn bist ... (Zeigt dem Direktor die Mutter.) Da sehen Sie: sie weint!

Stieftochter (wütend mit dem Fuße stampfend): Wie eine Blöde!

Vater (auf die Stieftochter zeigend): Und sie kann's nicht aushalten, sehen Sie? (Sich wieder zum Sohn wendend:) Und der da sagt, es ging ihn nichts an, während er doch das treibende Moment der Handlung ist! Dies Kind hier, das sich ängstlich an seine Mutter klammert ... seinetwegen (auf den Sohn zeigend) ist es so verängstigt. Es ist vielleicht in der traurigsten Lage: es fühlt sich fremd und grämt sich darüber, daß es so aus Mitleid aufgenommen wurde ... (vertraulich) es ist ganz wie der Vater! Bescheiden, wortkarg ...

Direktor: ... Und auch nicht grade schön! Sie wissen gar nicht, was für Schwierigkeiten einem Kinder auf der Bühne machen.

Vater: Ja, aber wir sind ihn sehr bald los! Ebenso das kleine Mädchen, das sogar noch vorher verschwindet ...

Direktor: Ausgezeichnet! Und ich versichere Sie, all dies interessiert mich, interessiert mich lebhaft! Ich habe so das Gefühl, als ob hier wirklich der Stoff zu einem schönen Drama ist.

Stieftochter (sich vordrängend): Ja, mit einer Rolle wie ich es bin!

Vater (sie fortschiebend, in höchster Aufregung auf die Entscheidung des Direktors wartend): Sei jetzt still!

Direktor (fortfahrend, ohne auf die Unterbrechung zu achten): Es ist etwas Neues, ja ...

Vater: Etwas ganz Neues, mein Herr!

Direktor: Aber es gehört doch Mut dazu, meine ich, mir das so einfach aufzudrängen ...

Vater: Sie müssen verstehen, mein Herr: wir sind doch für die Bühne geboren ...

Direktor: Haben Sie schon so in Liebhabervorstellungen ...

Vater: Nein, ich sage Ihnen, ich bin für die Bühne geboren, weil ...

Direktor: Ach was, Sie müssen doch schon einmal Theater gespielt haben!

Vater: Aber nein, mein Herr, gerade so viel wie ein jeder Theater spielt in der Rolle, die er sich selbst zuweist oder die die andern ihm im Leben zugewiesen haben. Und dann hab' ich Leidenschaft in mir, sehen Sie, und die wird von selbst, wenn ich mich errege, schon etwas theatralisch ...

Direktor: Ach, lassen wir das, lassen wir das! Sie werden verstehen, werter Herr, daß ohne einen Verfasser ... ich könnte Sie ja an einen verweisen ...

Vater: Aber nein: Sie sollen es sein!

Direktor: Ich? Wie kommen Sie denn darauf?

Vater: Ja doch, Sie! Sie! Warum denn nicht?

Direktor: Weil ich mich noch nie als Dichter versucht habe!

Vater: Können Sie es denn jetzt nicht zum ersten Mal versuchen? Es tun doch so viele, es gehört doch gar nichts dazu! Und Ihre Aufgabe ist dadurch wesentlich erleichtert, daß wir schon alle lebendig vor Ihnen stehen.

Direktor: Aber das genügt doch nicht!

Vater: Wie denn, genügt nicht? Wenn Sie uns unser Drama leben sehen ...

Direktor: Ja, aber es muß doch immer einer da sein, der es schreibt.

Vater: Nein, höchstens einer, der es niederschreibt, was er Szene für Szene als Handlung vor sich sieht. Zunächst genügte ein ganz ganz flüchtiger Entwurf und dann müssen wir probieren!

Direktor: Ja, fast verlockt es mich ... so, so zum Spaß ... man könnte es wirklich einmal probieren.

Vater: Ja, Herr Direktor, Sie werden sehen, was für herrliche Auftritte! Ich kann sie Ihnen gleich alle beschreiben!

Direktor: Es lockt mich, es lockt mich. Probieren wir es! Kommen Sie mit mir hinüber in mein Bureau. (Sich zu den Schauspielern wendend:) Sie sind für den Augenblick frei, aber bitte, bleiben Sie nicht länger aus. So in einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten seien Sie wieder hier! (Zum Vater:) Also los, versuchen wir es. Vielleicht kann wirklich etwas Außerordentliches dabei herauskommen.

Vater: Zweifelsohne! Aber meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn die auch mitkämen? (Zeigt auf die andern Personen.)

Direktor: Ja, lassen Sie sie nur mitkommen! (Will hinausgehen, wendet sich dann noch einmal zu den Schauspielern zurück:) Aber ich bitte darum, pünktlich! In einer Viertelstunde.

(Der Theaterdirektor und die sechs Personen gehen quer über die Bühne und ab. Die Schauspieler bleiben zurück und sehen einander verdutzt an.)

Erster Schauspieler:: Meint er das im Ernst? Was beabsichtigt er eigentlich?

Junger Schauspieler: Das ist ja heller, lichter Wahnsinn!

Dritter Schauspieler: Er will uns so aus dem Stegreif ein Drama spielen lassen?

Junger Schauspieler: Ja, wie die Gaukler!

Erste Schauspielerin: Wenn er glaubt, daß ich mich zu solchen Scherzen hergebe, dann irrt er sich.

Junge Schauspielerin: Na, ich denke auch nicht daran!

Vierter Schauspieler: Ich möchte doch wissen, wer die da eigentlich sind. (Auf die sechs Personen anspielend.)

Dritter Schauspieler: Wer sollen die denn sein? Narren oder Betrüger!

Junger Schauspieler: Wie kann er sich nur mit ihnen abgeben!

Junge Schauspielerin: Eitelkeit! Die Eitelkeit, als Autor aufzutreten.

Erster Schauspieler:: Wirklich unerhört! Wenn das Theater so weit heruntergekommen ist ...

Fünfter Schauspieler: Ich finde es höchst amüsant.

Dritter Schauspieler: Nach all dem müssen wir einmal abwarten, was bei der Sache herauskommt.

(Die Schauspieler verlassen unter solchen Gesprächen die Bühne, zum Teil durch die kleine Tür im Hintergrund, zum Teil in ihren Garderoben verschwindend. Der Vorhang bleibt oben.

Die Vorstellung wird um etwa eine Viertelstunde unterbrochen.)

 

(Klingelzeichen zeigen den Wiederbeginn der Vorstellung an.

Die Stieftochter mit dem Jungen und dem kleinen Mädchen kommt aus dem Zimmer des Direktors, ruft auf der Schwelle nach rückwärts:)

Stieftochter: Ach was! Macht ihr das allein, ich will von diesem Unsinn nichts wissen! (Sich zu dem kleinen Mädchen beugend und mit ihr in den Vordergrund laufend.) Komm mit mir, Röschen! Wir wollen fort! (Der Jüngling folgt ihnen bedrückt, ganz langsam, und in einiger Entfernung. Die Stieftochter bleibt stehen, läßt sich vor dem Kind nieder und nimmt das kleine Gesicht in ihre Hände.) Mein armes Liebchen, ganz ängstlich schaust du aus deinen großen, schönen Augen. Wer weiß, wo du zu sein glaubst! Wir sind auf einer Bühne, verstehst du? (Als beantworte sie eine Frage der Kleinen:) Was eine Bühne ist? Ja, siehst du! Ein Ort, wo man das Spiel spielt, ernsthaft zu tun! – Komödie spielt man da. Und wir werden jetzt Komödie spielen! Im Ernst, weißt du! Du auch ... (Umarmt das Kind, drückt seinen Kopf an ihre Brust und wiegt es hin und her.) Ach, mein Liebling, mein Liebling, eine häßliche Komödie wirst du mitspielen! Was für ein grausiges Ding hat man für dich ausgesucht! Ein Garten ... ein Brunnen ... siehst du: hier könnt es sein! – Wo? – Hier, hier mitten auf der Bühne ... Aber es ist nur ein nachgemachter Brunnen! Das ist ja so dumm, Liebling: hier ist alles nur nachgemacht! Man brauchte sich's eigentlich nur zu denken! Denn steht es da, so ist es doch nur buntes Papier! Papierne Steine, papiernes Wasser, papierne Blumen ... Ach ja, vielleicht würde dir so ein papiernes Brunnenbecken besser gefallen als ein wirkliches, Kind? Um daran spielen zu können, nicht wahr? Aber nein, für die andern wird es nur Spiel sein. Für dich nicht. Du bist ja wirklich, Liebling, und spielst wirklich an einem richtigen Brunnen, einem schönen, großen, grünen Becken, darin sich so viele Bambusrohre spiegeln und schatten, darin so viele kleine Entlein umherhuschen ... Da, eins willst du fangen ... Und da, ach Gott! Die Mutter gab nicht acht auf dich, nur wegen dieses Scheusals von Sohn! Ich selbst hatte den Kopf voll all meiner Teufeleien ... und der da ... (Läßt das Kind los und wendet sich brüsk wie immer zu dem Jungen:) Was stehst du da immer mit deinem Bettelgesicht; deine Schuld ist's auch, wenn das Kind ertrinkt. Weil du immer so herumstehst. Als ob ich nicht für euch alle bezahlt hätte, als ich euch wieder in sein Haus brachte! (Ihn am Arm packend, um ihm die eine Hand aus der Tasche zu ziehen.) Was hast du da? Was versteckst du? Heraus, heraus mit der Hand! (Reißt ihm die Hand heraus, sieht ihm dann in die Tasche und entdeckt die Mündung eines Revolvers.) Ah, wo hast du den her? (Der Junge blickt sie scheu an und antwortet nicht.) Dummkopf du! Statt dich selbst umzubringen, hättest du einen von beiden umbringen sollen. Oder alle beide, Vater und Sohn!

(Der Vater kommt eilig und ganz erhitzt von der Arbeit, aus dem Direktorzimmer; ihm folgt der Direktor.)

Vater: Komm, komm, meine Liebe, komm rasch her! Wir haben alles schön verabredet!

Direktor (gleichfalls erhitzt): Bitte sehr, mein Fräulein; jetzt müssen Sie noch einige Punkte aufklären.

Stieftochter (ihnen in das Direktorzimmer folgend): Ach Gott! Wenn ihr doch schon alles verabredet habt!

( Vater, Direktor und Tochter verschwinden wieder eilig im Direktorzimmer; während der Sohn und dann gleich darauf die Mutter von dort herauskommen.)

Sohn (mit einem Blick auf die drei): Tolles Treiben das! Und daß ich nicht einfach fortlaufen kann!

(Die Mutter versucht ihn anzusehen, senkt dann rasch die Augen, weil er sich von ihr abwendet. Sie setzt sich hin. Der Junge und das kleine Mädchen schmiegen sich an sie. Sie versucht von neuem den Sohn anzusehen und spricht zu ihm in unterwürfigem Ton, in der Hoffnung, ein Gespräch mit ihm anknüpfen zu können.)

Mutter: Ist denn mein Schicksal nicht schlimmer? (Als der Sohn durch seine Haltung ihr deutlich zeigt, daß er nichts von ihr wissen will, ausbrechend:) Ach Gott! Warum ein Schauspiel machen aus all diesem Jammer? Genügt es denn nicht, daß einer das selbst erlebt hat? Was für ein Wahnsinn, es nun auch noch allen andern als Spektakel vorzuspielen!

Sohn (für sich, aber in der Absicht, daß die Mutter es hören soll): Vorspielen! Und warum? Er jammert doch stets darüber, in einer Situation ertappt worden zu sein, die für immer hätte verhüllt bleiben müssen! Und hat er nicht auch mich dazu getrieben, Dinge zu entdecken, die kein Sohn hätte je sehen dürfen? In Vater und Mutter den Mann und das Weib an Stelle des Bildes von Vater und Mutter? Die Mutter in den Armen anderer Männer, der Vater ein Wüstling, und unser Leben, weil es von ihnen stammt, ewige Schande, die versteckt werden muß.

(Die Mutter bedeckt sich das Gesicht mit den Händen. Inzwischen kehren die Schauspieler, der Theatermeister , der Maschinist, der Souffleur und der Inspizient durch die verschiedenen Eingänge auf die Bühne zurück, gleichzeitig der Direktor mit dem Vater und der Stieftochter von rechts aus dem Direktorzimmer.)

Direktor: Los, los, meine Herrschaften! Angefangen! Theatermeister!

Theatermeister: Jawohl, Herr Direktor!

Direktor: Rasch das weiße Zimmer mit Blumenmuster! Nur zwei Seitenwände und Hintergrund mit Tür. Aber bitte sehr schnell!

( Maschinist läuft, um den Befehl auszuführen. Der Direktor bespricht inzwischen mit dem Theatermeister, dem Requisiteur, dem Souffleur und den Schauspielern die Aufstellung der ersten Szene.)

Direktor (zum Requisiteur): Sehen Sie einmal zu, ob sich auf dem Speicher nicht ein Diwan findet.

Requisiteur: Ja, Herr Direktor, da ist der grüne.

Stieftochter: Nein, nein, nicht doch grün! Gelb war er, mit geblümtem Plüsch und sehr groß! Und sehr, sehr bequem.

Requisiteur: Ja, so einer ist nicht da ...

Direktor: Das macht nichts. Stellen Sie nur auf, was da ist.

Stieftochter: Wieso macht das nichts? Das berühmte Lotterbett von Madame Pace!

Direktor: Es ist ja nur für die Probe! Bitte mischen Sie sich da nicht hinein. (Zum Theatermeister:) Und dann sehen Sie, ob ein Glasschränkchen da ist, etwas länglich und niedrig.

Stieftochter: Und das Tischchen! Das Mahagonitischchen für das himmelblaue Kuvert!

Theatermeister (zum Direktor): Ja, da hätten wir das kleine, vergoldete.

Direktor: Gut, nehmen Sie das.

Vater: Einen großen Toilettenspiegel.

Stieftochter: Und den Wandschirm! Bitte sehr um einen Wandschirm; ohne den geht es nicht.

Theatermeister: Seien Sie unbesorgt, Fräulein! Davon haben wir so viele.

Direktor (zur Stieftochter): Und dann einen Kleiderständer, nicht wahr?

Stieftochter: Ja, recht viele bitte!

Direktor (zum Theatermeister): Also sehen Sie zu und lassen Sie bringen, was da ist.

Theatermeister: Jawohl, Herr Direktor, wird gleich besorgt! (Der Theatermeister gleichfalls ab, um die Befehle auszuführen. Während der Direktor sich mit dem Souffleur, den sechs Personen und den Schauspielern weiter bespricht, werden die bezeichneten Möbel von den Theaterdienern gebracht und aufgestellt.)

Direktor (zum Souffleur): Sie gehen inzwischen auf Ihren Platz. Sehen Sie: hier ist das Szenarium, Akt für Akt. (Reicht ihm einige Blatt Papier.) Aber jetzt müssen Sie ein Heldenstück ausführen!

Souffleur: Stenographieren, Herr Direktor?

Direktor (freudig überrascht): Ja, famos! Können Sie stenographieren?

Souffleur: Ein wenig, Herr Direktor.

Direktor: Immer besser, immer besser! (Zu einem Bühnenarbeiter:) Holen Sie einmal rasch Papier aus meinem Zimmer, sehr viel Papier, so viel als Sie finden können!

( Bühnenarbeiter ab, gleich darauf zurück mit einem großen Stoß Papier, den er dem Souffleur reicht.)

Direktor (fortfahrend zum Souffleur): Also Sie folgen Szene für Szene und versuchen in großen Zügen mitzuschreiben, wenigstens die Hauptsachen. (Zu den Schauspielern:) Platz da, Platz da, meine Herrschaften! Gehen Sie jetzt auf diese Seite (zeigt auf seine linke Seite) und passen Sie gut auf.

Erste Schauspielerin: Aber erlauben Sie mal, wir ...

Direktor (ihr ins Wort fallend): ... Seien Sie nur ganz ruhig, Sie brauchen nicht zu improvisieren.

Erster Schauspieler: Was sollen wir dann tun?

Direktor: Gar nichts. Vorläufig nur zusehen und zuhören! Dann wird ein jeder seine Rolle aufgeschrieben bekommen. Jetzt versuchen wir einmal aufs Geratewohl eine Probe. Und zwar werden die da spielen. (Zeigt auf die sechs Personen.)

Vater (höchst verdutzt über das ganze Durcheinander auf der Bühne): Wir? Und was soll das heißen, verzeihen Sie, eine Probe?

Direktor: Eine Probe? Eine Probe für die da. (Zeigt auf die Schauspieler.)

Vater: Aber wenn wir doch selbst die Rollen sind ...

Direktor: Ja meinetwegen, die Rollen. Aber hier, mein lieber Herr, spielen nicht die Rollen Theater, sondern die Schauspieler. Die Rollen stehen dort im Souffleurbuch. (Zeigt auf den Souffleurkasten.) Vorausgesetzt, daß es eins gibt.

Vater: Ja eben! Es gibt ja keins! Aber die Herrschaften haben das Glück, die Rollen hier lebendig vor sich zu sehen.

Direktor: Das ist stark! Sie wollen alles allein machen? Sie wollen selbst vor dem Publikum auftreten?

Vater: Ja natürlich, so wie wir da sind!

Direktor: Na, glauben Sie mir, Sie würden ein trauriges Schauspiel abgeben.

Erster Schauspieler:: Und wozu wären wir dann eigentlich hier?

Direktor: Reden Sie sich nur nicht ein, Sie könnten so einfach Theater spielen! Das ist ja lachhaft ... (Die Schauspieler lachen tatsächlich.) Sehen Sie, da lacht man schon! (Sich an etwas erinnernd:) Da fällt mir ein, wir müssen ja noch die Rollen verteilen. Aber das ist leicht, das ist eigentlich von selbst gegeben. (Zur zweiten Schauspielerin:) Sie, mein Fräulein: die Mutter. (Zum Vater:) Einen Namen brauchte man noch für sie!

Vater: Amalia, Amalia, Herr Direktor!

Direktor: Ja, das ist der Name Ihrer Frau Gemahlin! Wir wollen sie doch aber nicht mit ihrem wirklichen Namen rufen.

Vater: Warum denn nicht? Verzeihen Sie. Wenn sie doch so heißt ... ja allerdings, wenn es die Dame sein soll (zeigt etwas verächtlich auf die zweite Schauspielerin) ... ich sehe diese da (zeigt auf die Mutter) als Amalia, mein Herr! Aber machen Sie nur, meinetwegen ... (wird immer verwirrter) ich kann nichts mehr dazu sagen ... mir ist schon, als hörte ich meine eignen Worte wie gefälscht, wie mit einem fremden Ton.

Direktor: Das lassen Sie nur meine Sorge sein, wir werden schon den richtigen Ton finden! Was den Namen anbelangt, wenn Sie durchaus Amalia wollen, meinetwegen Amalia. Jetzt also an die Verteilung der Rollen: (zu dem jungen Schauspieler) Sie, der Sohn. (Zur ersten Schauspielerin:) Und Sie, gnädiges Fräulein, spielen natürlich die Stieftochter.

Stieftochter (belustigt): Was denn? Die da mich? (Schüttelt sich vor Lachen.)

Direktor (heftig): Was gibt's denn dabei zu lachen!

Erste Schauspielerin (empört): Noch niemand hat sich unterstanden, über mich zu lachen! Ich wünsche respektiert zu werden oder ich gehe.

Stieftochter: Aber nein, entschuldigen Sie! Ich lache ja nicht über Sie.

Direktor (zur Stieftochter): Es ist eine große Ehre für Sie, dargestellt zu werden von ...

Erste Schauspielerin (rasch einfallend, spöttisch): »Von der da«!

Stieftochter: Aber ich meinte Sie doch gar nicht, glauben Sie mir doch! Ich meinte, daß ich mich in Ihnen nicht erkennen kann. Ich weiß nicht, Sie sehen mir ... Sie haben doch wirklich keine Spur von Ähnlichkeit mit mir.

Vater: Ja, das ist es; sehen Sie, mein Herr! Unser Ausdruck ...

Direktor: Ach was, Ihr Ausdruck! Glauben Sie denn, daß Sie Ihren Ausdruck für sich allein gepachtet haben? Ganz und gar nicht!

Vater: Was? Wir hätten nicht unsern eigenen Ausdruck?

Direktor: Nein, gewiß nicht. Ihr Ausdruck wird hier zum Stoff, dem die Schauspieler Form und Gestalt, Ton und Bewegung geben. Die haben schon weit höheren und schwierigeren Stoff zu formen verstanden. Daneben ist der Ihre recht unbedeutend, und wenn er auf der Bühne wirken wird, so wird es wohl hauptsächlich das Verdienst meiner Schauspieler sein.

Vater: Ich wage nicht, Ihnen zu widersprechen, mein Herr, aber glauben Sie mir, es ist eine fast übermenschliche Qual für uns, wie Sie uns da sehen, mit diesem Körper, diesem Gesicht ...

Direktor (ihm das Wort abschneidend, ungeduldig): ... Das macht man eben mit der Maske, werter Herr, was das Gesicht anbelangt!

Vater: Ja, aber die Stimme, die Bewegung ...

Direktor: Genug jetzt! Sie, so wie Sie da sind, können nicht auftreten! Da steht der Schauspieler, der Sie darstellen wird, punktum!

Vater: Ich verstehe, mein Herr! Aber jetzt ahne ich vielleicht auch, weshalb unser Dichter, der uns so wie wir sind lebendig vor sich sah, dann nicht für die Bühne gestalten wollte. Ich will Ihre Schauspieler nicht beleidigen, Gott behüte! Aber zu denken, daß ich mich jetzt dargestellt sehen soll ... von irgendeinem beliebigen ...

Erster Schauspieler (mit Nachdruck): ... Von mir, wenn Sie nichts dagegen haben.

Vater (unterwürfig, süß liebenswürdig): Eine große Ehre für mich, mein Herr (verbeugt sich), aber ich denke, daß wenn der Herr auch seinen ganzen Willen und seine ganze Kunst daran wendet, mich in sich aufzunehmen ... (Er stockt.)

Erster Schauspieler: Reden Sie nur aus!

Vater: Ja, ich meine, wenn er mich darstellt, auch mit einer ganz ähnlichen Maske ... ich meine, auch mit dieser meiner Statur ... (die Schauspieler lachen) ja, er wird doch schwerlich eine Vorstellung von mir geben können, wie ich wirklich bin. Mit Ausnahme des Gesichtes wird er mich doch nur so darstellen können, wie er mich fühlt – wenn er mich überhaupt fühlt – und nicht so wie ich mich innerlich fühle. Und ich meine, daß wer dann später ein Urteil über uns abgeben soll, das doch in Rechnung stellen müßte.

Direktor: Der macht sich jetzt schon Gedanken über das Urteil der Kritik, Herrgott noch einmal! Lassen Sie die nur reden. Wollen jetzt mal erst das Stück zusammenzubringen versuchen! Hoffentlich glückt es. (Damit abbrechend und sich umsehend:) Los jetzt, los jetzt! Ist die Bühne schon eingeteilt? (Zu den Schauspielern und zu den sechs Personen:) Machen Sie einmal Platz da, gehen Sie beiseite! Lassen Sie mir das Feld frei und verlieren wir keine Zeit mehr. (Zur Stieftochter:) Meinen Sie, daß die Szenerie so einigermaßen stimmt?

Stieftochter: Nein, ich finde mich wirklich hier nicht zurecht.

Direktor: Schon wieder! Glauben Sie doch nur nicht, daß wir Ihnen hier aufs Haar genau die Hinterstube von Madame Pace aufbauen können. (Zum Vater:) Sie sagten doch, ein weißes Zimmer mit Blumentapete?

Vater: Ja, Herr Direktor!

Direktor: Na also! Die Möbel könnten auch ungefähr so passen. Stellen Sie dies Tischchen hier ein wenig weiter nach vorn. (Die Bühnenarbeiter tun es. Zum Requisiteur:) Sie besorgen inzwischen einen Umschlag, wenn möglich himmelblau, und geben ihn dem Herrn da (zeigt auf den Vater).

Requisiteur: Briefumschlag?

Direktor und Vater (gleichzeitig): Ja doch, Briefumschlag!

Requisiteur: Sofort! (Ab.)

Direktor: Vorwärts, vorwärts! Zuerst tritt das Fräulein auf. (Erste Schauspielerin tritt vor.) Aber nicht doch, Sie warten bitte! Ich meinte das Fräulein (zeigt auf die Stieftochter). Sie sehen zunächst zu ...

Stieftochter (rasch fortfahrend): ... Wie ich die Szene lebe!

Erste Schauspielerin (beleidigt): Seien Sie unbesorgt, ich werde sie auch leben können, sobald ich mich damit befasse.

Direktor (hält sich verzweifelt den Kopf): Jetzt unterlassen Sie endlich das Geschwätz, meine Damen! Also erster Auftritt: das Fräulein mit der Madama Pace. Zum Teufel! (Bestürzt um sich sehend.) Wo ist eigentlich die Madama Pace?

Vater: Die haben wir nicht bei uns, Herr Direktor.

Direktor: Was ist da zu tun?

Vater: Aber sie ist lebendig, auch sie ist lebendig.

Direktor: Ja, aber wo denn, zum Henker?

Vater: Nun, lassen Sie mich einmal gewähren. (Zu den Schauspielerinnen:) Wenn die Damen die Güte hätten, mir für einen Augenblick Ihre Hüte zu leihen.

Schauspielerinnen (teils überrascht, teils belustigt durcheinandersprechend):

Aber wozu denn?

Weswegen?

Unsere Hüte?

Was hat er gesagt?

Direktor: Was haben Sie denn mit den Hüten der Damen vor? (Die Schauspieler lachen.)

Vater: O gar nichts, nur sie einen Augenblick auf diesen Kleiderständer zu hängen! Und eine Dame müßte auch so freundlich sein, sich den Mantel auszuziehen.

Schauspieler (w. o.):

Da schau einer an!

Nur den Mantel?

Der ist verrückt!

Schauspielerinnen (w. o.):

Aber weshalb denn?

Auch die Mäntel?

Vater: Um sie dort aufzuhängen. Nur einen kleinen Augenblick! Tun Sie mir den Gefallen. Wollen Sie nicht?

Schauspielerinnen (legen die Hüte ab, eine auch den Mantel, unter beständigem Lachen, und hängen sie am Kleiderständer auf):

Nun, warum denn nicht.

Da, hier ist meiner!

Das ist aber wirklich ein Narr!

Müssen wir sie so aufhängen, daß man sie sieht?

Vater: Ja eben, mein Fräulein, so, daß man sie sieht!

Direktor: Darf man wissen, was das eigentlich soll?

Vater: Sehen Sie, Herr Direktor, vielleicht wird Madama Pace, wenn wir ihr so den Auftritt etwas besser vorbereiten, durch die Gegenstände ihres eigenen Geschäftes angezogen! Wer weiß, ob sie nicht plötzlich unter uns steht ... (Fordert die Anwesenden auf, nach der Tür im Hintergrunde zu sehen.) Sehen Sie, da ist sie schon!

(Die Tür im Hintergrund geht auf, Madama Pace erscheint und tritt wenige Schritte vor. Sie ist ein dickes Weib mit rotblond gefärbtem Wuschelkopf, geschminkt und etwas aufgetakelt; trägt ein Kleid von schwarzer Seide, um die Taille eine lange silberne Kette, an der eine Schere hängt. Während die Schauspieler starr vor Staunen sind, läuft die Stieftochter ihr rasch entgegen.)

Stieftochter (auf sie zueilend): Da ist sie ja, da ist sie ja!

Vater (freudestrahlend): Ja sie! Sagte ich's nicht? Da ist sie.

Direktor (sein erstes Erstaunen überwindend, entrüstet): Was sind denn das für Tricks?

Erster Schauspieler (fast gleichzeitig): Ja, wo sind wir denn überhaupt?

Junger Schauspieler (w. o.): Wo kommt denn die mit einem Mal her?

Junge Schauspielerin: Die hatten sie in Reserve.

Erste Schauspielerin (w. o.): Taschenspielerkunststücke!

Vater (den allgemeinen Widerspruch überstimmend): Aber so begreifen Sie doch! Warum wollen Sie denn zugunsten einer ganz vulgären Wirklichkeit dieses Wunder einer höheren Wirklichkeit zerstören, das durch die Kraft der Szene selbst heraufgezaubert und angezogen wurde und – verzeihen Sie mir – mehr Daseinsberechtigung hat als Sie, weil es von höherer Wahrheit ist. Welche von Ihnen, meine Damen, wird später Madama Pace darstellen können? Madama Pace ist die da! Und Sie werden mir doch zugestehen, daß die Schauspielerin, die sie wiedergeben wird, nie so wahr sein kann wie die dort, die es leibhaftig ist! Sehen Sie nur, meine Tochter hat sie erkannt und ist gleich auf sie losgestürzt! Nun schauen Sie sich nur die Szene an!

(Die Szene zwischen der Stieftochter und Madama Pace hat schon während des Widerspruchs der Schauspieler und der Antwort des Vaters begonnen. Sie spielt sich in ganz leisem Flüsterton ab und so natürlich, wie es auf einer Bühne kaum möglich wäre. Als die Schauspieler zuzusehen beginnen, hat Madama Pace die Stieftochter mit einer Hand am Kinn gefaßt und tuschelt mit ihr in völlig unverständlicher Weise. Die Schauspieler hören zunächst gespannt zu, sind aber gleich darauf enttäuscht, weil sie nichts verstehen können.)

Direktor: Nun und?

Erster Schauspieler: Was sagt sie denn?

Erste Schauspielerin: Man versteht ja kein Wort.

Junger Schauspieler: Lauter, lauter!

Stieftochter (wendet sich von Madama Pace ab, die auf ganz eigenartige Weise lächelt, und begegnet den Einwürfen der Schauspieler): Lauter, ja! Weshalb lauter? So etwas kann man sich doch nicht laut sagen! Zu seiner Schmach (zeigt auf den Vater) könnt' ich es laut sagen, um mich zu rächen! Aber bei Madama ist das ganz etwas anderes, meine Herrschaften! Da steht ja Zuchthaus darauf.

Direktor: Vorzüglich! Ist das so eine! Aber hier müssen Sie sich verständlich machen, meine Teure! Wir verstehen schon nichts hier auf der Bühne! Was soll da erst werden, wenn da unten Publikum sitzt! Sie müssen die Szene spielen. Und im übrigen können Sie ruhig miteinander laut sprechen, denn wir werden ja gar nicht hier sitzen und zuhören wie jetzt. Denken Sie sich nur, Sie wären beide allein im Zimmer hinter dem Laden und niemand hörte Ihnen zu.

(Die Stieftochter schüttelt mit vielsagendem Lächeln mehrmals leicht verneinend den Kopf.)

Direktor: Warum denn nicht?

Stieftochter (geheimnisvoll flüsternd): Es ist einer da, der uns zuhört, mein Herr, wenn sie (zeigt auf Madama Pace) laut spricht.

Direktor (erschrocken): Wird vielleicht noch jemand heraufgezaubert?

Vater: Nein, nein, mein Herr! Auf mich spielt sie an. Dort hinter der Tür, da müßte ich jetzt stehen und warten. Und Madame müßte davon wissen. Also gestatten Sie! Ich gehe! Damit ich dann gleich bereit bin. (Will hinausgehen.)

Direktor: Aber nein, so warten Sie doch! Hier müssen Sie doch die Forderungen des Theaters berücksichtigen. Bevor Sie zum Auftritt an der Reihe sind ....

Stieftochter (ihn unterbrechend): Ja doch, sofort soll er auftreten! Ich sage Ihnen ja, ich vergehe danach, diese Szene zu leben, lebendig zu leben! Wenn er nur gleich bereit ist, ich bin es ganz gewiß!

Direktor (schreiend): Aber zuerst muß doch die Szene zwischen Ihnen und der da (auf Madama Pace zeigend) ganz klar herauskommen. Verstehen Sie denn nicht?

Stieftochter: Mein Gott, Herr Direktor, sie sagte mir nur das, was Sie schon wissen: daß die Arbeit der Mutter wieder schlecht gewesen ist; daß der Stoff nicht mehr zu brauchen sei; und daß ich wieder herhalten müßte, wenn sie uns noch weiter in unserem Elend unterstützen sollte.

Madama Pace (sich nach vorn bewegend) mit der Miene großer Wichtigkeit): Eh tscha, Senior! Weil ick nix will aproveciarme ... nix will avantaciarme ...

Direktor (erschrocken): Was? Was? Was? Was redet denn die für eine Sprache?

(Alle Schauspieler schütteln sich wieder vor Lachen.)

Stieftochter (gleichfalls lachend): Ja, die spricht immer so ein Kauderwelsch, halb Spanisch, halb Deutsch!

Madama Pace: Ah, is nix schöne crianza, wenn lachen über mir, ick mick sfuerzo de hablar in deutsche Sprak, Senior.

Direktor: Aber ja doch, sprechen Sie nur weiter so! Das ist äußerst wirkungsvoll. Man könnte sich gar nichts Besseres ausdenken, als den etwas rohen Vorgang auf diese komische Weise zu unterbrechen. Sprechen Sie nur so! Ganz ausgezeichnet!

Stieftochter: Ausgezeichnet! Nicht wahr? In einer solchen Sprache solche Anträge zu hören: das ist sicherer Erfolg! Das ist wie eine Groteske, mein Herr! Man muß doch lachen, wenn man hört, daß ein »alte Senior« da ist, der möchte sich »amüsieren mit mick« – ist's nicht so, Madame?

Madama Pace: Proveto tscha! Proveto tscha! Is schönn for dik. Wenn auch nix is dein Gusto, prudencia, Kind, Vorteil!

Mutter (stürzt sich auf sie, während die Schauspieler, die sie nicht beachtet hatten, höchst erschrocken sind und sie festzuhalten versuchen): Hexe! Hexe! Mörderin! Mein Kind!

Stieftochter (läuft hinzu, um die Mutter festzuhalten): Nein! Nein, Mutter! Nein! Um Gottes willen!

Vater (auch auf sie zueilend, gleichzeitig): Sei doch ruhig, sei doch ruhig! Setz dich doch!

Mutter: Dann schafft sie mir erst aus den Augen!

Stieftochter (zum Theaterdirektor, der auch herbeigeeilt ist): Es ist ganz unmöglich, daß die Mutter hierbleibt!

Vater (gleichfalls zum Theaterdirektor): Sie können nicht zusammenbleiben! Und zwar deswegen, sehen Sie: Als wir kamen, da war sie nicht mit uns. Bleiben sie jetzt zusammen, so wird die ganze Handlung vorweggenommen.

Direktor: Das schadet ja gar nichts! Das ist ja alles nur wie ein erster Entwurf! Und es ist alles nützlich, weil ich so, wenn auch ein bißchen durcheinander, verschiedene Elemente der Handlung sammeln kann. (Sich an die Mutter wendend und sie wieder zu ihrem Stuhl führend:) Gnädige Frau, bitte haben Sie die Güte, wieder Platz zu nehmen.

Stieftochter (sich von neuem zur Madame Pace wendend): Also, nun zu! Madame!

Madama Pace (beleidigt): Ah no, ick dank schönn! Ick aqui nix maken mit deine Mutter presente!

Stieftochter: Ach nur zu, lassen Sie doch diesen »alte Senior« herein, daß er sich »amüsiert mit mick«. (Sich zu den andern umwendend, in befehlendem Ton:) Kurz und gut, diese Szene muß gespielt werden! Unbedingt! (Zu Madama Pace:) Gehen Sie nur jetzt fort!

Madama Pace: Ah, ick geh schon, ick geh schon – seguramente ... (Wütend ab.)

Stieftochter (zum Vater): Und Sie treten jetzt auf. Sie brauchen nicht erst hinten herum zu gehen. Kommen Sie nur hierher. Tun Sie, als ob Sie dort hereingekommen wären! So: ich stehe hier und blicke zu Boden – ganz schüchtern! – Und Sie, verstellen Sie ein wenig die Stimme und sprechen Sie wie einer, der frisch hereingetreten ist: »Guten Tag, mein Fräulein«.

Direktor: Da schau an! Sind Sie eigentlich hier der Direktor oder ich? (Zum Vater, der ihn fragend und erstaunt ansieht:) Aber machen Sie's nur so: Gehen Sie dort herum, ohne abzugehen, und kommen dann wieder nach vorn.

(Der Vater führt es aus, sehr ängstlich und befangen. Er ist ganz bleich, scheint schon völlig erfüllt von der Wirklichkeit seiner Rolle. Er kommt mit verlegenem Lächeln nach vorn, als könnte er sich noch gar nicht an das Schicksal gewöhnen, das ihm bevorsteht. Die Schauspieler lauschen mit Spannung der folgenden Szene.)

Direktor (zum Souffleur, leise, rasch): Und Sie, aufgepaßt, aufgepaßt und mitgeschrieben!

(Der Auftritt.)

Vater (an sie herantretend, mit verstellter Stimme): Guten Tag, mein Fräulein ...

Stieftochter (zu Boden blickend, mit verhaltenem Widerwillen): Guten Tag!

Vater (sieht ihr vorsichtig unter den Hut, der ihr Gesicht fast ganz verdeckt; bemerkt, daß sie sehr jung ist; spricht gleichsam zu sich selbst, teils voll Mitleid, teils in Furcht, ein gefährliches Abenteuer zu wagen): Ah ... aber ich denke, es wird nicht das erstemal sein – nicht wahr? – daß Sie hierherkommen.

Stieftochter (wie oben): Nein, mein Herr.

Vater: Sie waren also schon einmal hier? (Die Stieftochter nickt bejahend.) Mehr als einmal? (Wartet ein wenig auf ihre Antwort; blickt ihr wieder unter den Hut; lächelt; sagt dann:) Nun also, dann Mut ... Dann dürfen Sie nicht mehr so sein ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen dies Hütchen abnehme?

Stieftochter (kommt ihm rasch zuvor, ihren Widerwillen kaum zurückhaltend): Nein, mein Herr. Ich nehme ihn mir schon allein ab! (Tut es mit krampfhafter Hast.)

(Die Mutter folgt dem Auftritt in fieberhafter Erregung; sie sitzt mit dem Sohn und den beiden kleinen Kindern an ihrer Seite den Schauspielern gegenüber auf der anderen Seite der Bühne. Sie begleitet die Worte und das Spiel der beiden mit dem wechselnden Ausdruck des Schmerzes, der Verachtung, der Angst und des Grauens. Bald verbirgt sie ihr Gesicht; bald seufzt sie tief.)

Mutter: O mein Gott! O mein Gott!

Vater (fortfahrend, galant): So geben Sie ihn mir; ich lege ihn fort. (Nimmt ihr den Hut aus der Hand.) Aber auf einem so schönen, süßen Köpfchen wie dem Ihren, mein Fräulein, möchte ich eigentlich ein feineres Hütchen sehen. Wollen Sie mir nicht helfen, hier unter den Hüten der Madame einen für Sie auszusuchen? Nein?

Junge Schauspielerin (unterbrechend): Heda! Achtung! Das da sind unsere Hüte.

Direktor (rasch, wütend): Ruhig doch, zum Donnerwetter! Lassen Sie die dummen Witze! – Dies ist ja die Szene, die wir brauchen! (Sich zur Stieftochter wendend:) Bitte, weiterspielen, mein Fräulein!

Stieftochter (weiterspielend): Nein, ich danke, mein Herr.

Vater: Aber! Sagen Sie doch nicht nein! Geben Sie mir doch keinen Korb! Das würde ich sehr übelnehmen. Es sind doch sehr schöne da! Sehen Sie doch: Und auch Madame würde sich sehr freuen. Der liegt doch daran; darum stellt sie doch hier ihre Sachen aus.

Stieftochter: Nein, nein, mein Herr! Sehen Sie: ich könnte ihn nicht einmal tragen.

Vater: Vielleicht weil man sich zu Hause darüber Gedanken machen würde, wenn Sie mit einem neuen Hütchen heimkämen? Ah! nicht doch. Wissen Sie nicht, wie man das macht? Was man dann zu Hause erzählt?

Stieftochter (in äußerster Erregung): Ach, nicht deswegen, mein Herr! Aber ich könnte ihn nicht tragen, denn ich bin doch in ... Sie sehen es doch; Sie hätten es doch schon selbst merken können! (Zeigt auf ihre schwarze Kleidung.)

Vater: In Trauer, ja, verzeihen Sie, das ist wahr; ich sehe es. Ich bitte Sie um Entschuldigung. Glauben Sie mir, es tut mir wirklich furchtbar leid.

Stieftochter (als täte sie sich Gewalt an, ihren Ekel und ihre Verachtung zu überwinden): Nicht doch, mein Herr, es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich bin es, die Ihnen danken muß. Denken Sie nicht mehr an das, was ich gesagt habe. Und ich will ... Sie werden mich verstehen! ... (Zwingt sich zu lächeln und fährt fort:) Ich muß es geradezu vergessen, daß ich diese Trauerkleider trage.

Direktor (sie unterbrechend, zum Souffleur): Halt, einen Augenblick. Diese letzte Stelle fortlassen, nicht mitschreiben! (Zum Vater und zur Stieftochter gewandt:) Ausgezeichnet! Ganz ausgezeichnet! (Dann zum Vater allein:) Hier können Sie dann so fortfahren, wie wir es verabredet haben. (Zu den Schauspielern:) Ganz entzückender kleiner Auftritt, wie er ihr den Hut anbietet, meinen Sie nicht?

Stieftochter: Ja, aber jetzt wird es erst wirklich gut. Warum fahren wir nicht fort?

Direktor: Ein Augenblickchen Geduld! (Zu den Schauspielern gewandt:) Natürlich muß die Szene eine Spur leichter gespielt werden.

Erster Schauspieler:: Etwas feiner, ja.

Erste Schauspielerin: Ja doch, das ist ganz einfach. (Zum ersten Schauspieler:) Wollen wir sie gleich probieren, ja?

Erster Schauspieler:: Meinetwegen! Also, ich gehe dort herum und trete dann durch die Tür ein. (Geht hinaus und stellt sich bereit, durch die Tür des Hintergrundes hereinzukommen.)

Direktor (zur ersten Schauspielerin): Also, nehmen Sie jetzt an, die Szene zwischen Madama Pace und Ihnen sei gerade zu Ende – die werde ich dann schon zu Papier bringen. Sie stellen sich also ... Nein, wo gehen Sie denn hin?

Erste Schauspielerin: Warten Sie, ich setze mir nur den Hut auf. (Tut es, indem sie ihren Hut von dem Kleiderständer holt.)

Direktor: Ah ja, gut. Also Sie stellen sich hierher mit gesenktem Kopf.

Stieftochter (sich lustig machend): Aber sie hat ja gar keine Trauerkleider an.

Erste Schauspielerin: Ich werde schon Trauerkleider haben und viel passendere als Sie.

Direktor (zur Stieftochter): Jetzt seien Sie still, bitte, und sehen Sie zu. Da werden Sie nur lernen können. (In die Hände klatschend.) Anfangen! Anfangen! Der Auftritt!

(Die Tür im Hintergrund öffnet sich und der erste Schauspieler tritt auf mit den gewandten und etwas frivolen Manieren eines alten Roués. Die Szene ist, von den Schauspielern ausgeführt, vom ersten Augenblick an etwas ganz anderes, ohne doch wie eine Parodie zu wirken; sie scheint gleichsam ins Schöne übertragen zu sein. Die Stieftochter und der Vater erkennen sich natürlich in dem Schauspieler und der Schauspielerin nicht wieder, und als sie ihre eignen Worte in deren Munde hören, äußern sie mit Gesten, Lächeln oder offenem Widerspruch die Verwunderung und den Schmerz, die sie dabei empfinden.)

Erster Schauspieler:: Guten Tag, mein Fräulein.

Vater (sich nicht zurückhalten könnend): Aber nein doch!

Stieftochter (bricht in Gelächter aus, als sie den ersten Schauspieler hereintreten sieht).

Direktor (sich wütend umwendend): Geben Sie doch Ruhe! Und Sie hören endlich mit Ihrem Gelache auf! So kommen wir nicht vorwärts.

Stieftochter: Entschuldigen Sie, aber dies Lachen ist natürlich, es muß so sein. Sehen Sie, dies Fräulein steht da und rührt sich nicht. Aber wäre sie ich, so würde sie bestimmt, wenn ihr jemand auf so komische Art und in so komischem Ton Guten Tag sagte, losgeplatzt sein, grad wie ich jetzt losplatze!

Vater: Diese Art, dieser Ton ...

Direktor: Ach was, Art, Ton! Gehen Sie jetzt beiseite und lassen Sie uns probieren.

Erster Schauspieler:: Es ist der Ton eines alten Wüstlings, der in ein zweideutiges Haus tritt.

Direktor: Aber beachten Sie sie doch gar nicht. Fangen Sie nun noch einmal an, es war sehr gut! (In Erwartung, daß wieder angefangen wird:) Also ...

Erster Schauspieler:: »Guten Tag, mein Fräulein.«

Erste Schauspielerin: »Guten Tag.«

Erster Schauspieler (das Spiel des Vaters nachahmend, blickt ihr unter den Hut und drückt mit wohlberechnetem Mienenspiel zuerst Wohlgefallen, dann Furcht aus): »Ah ... aber ich denke, es wird nicht das erstemal sein, fürwahr ...«

Vater (eindringlich verbessernd): Nicht »fürwahr« – »nicht wahr«, »nicht wahr«!

Direktor: Er sagt »nicht wahr« – eine Frage!

Erster Schauspieler (auf den Souffleur weisend): Ich habe verstanden »fürwahr«.

Direktor: Aber ja doch, es ist ja ein und dasselbe: »nicht wahr« oder »fürwahr«! Fahren Sie nur fort – doch vielleicht etwas weniger karikiert ... sehen Sie, etwa so ... (Spielt die Rolle vor.) »Guten Tag, mein Fräulein ...«

Erste Schauspielerin: »Guten Tag.«

Direktor: »Ah, aber ich sage ...« (Wendet sich zu dem ersten Schauspieler, um ihm zu zeigen, auf welche Art er der ersten Schauspielerin unter den Hut zu sehen hat:) Überraschung ... Angst und Wohlgefallen ... (Dann wieder zur ersten Schauspielerin gewandt:) »Es wird nicht das erstemal sein, nicht wahr? daß Sie hierherkommen ...« (Wieder zum ersten Schauspieler gewandt:) Verstehen Sie, wie ich es meine? (Zur ersten Schauspielerin:) Und Sie antworten: »Nein, mein Herr.«

Erster Schauspieler: »Sie waren also schon einmal hier? Mehr als einmal?«

Direktor: Aber nein, warten Sie! Erst lassen Sie sie bejahend nicken. »Sie waren also schon einmal hier?« (Die erste Schauspielerin hebt ein wenig den Kopf, die Augen wie vor Ekel halb geschlossen, und senkt ihn dann zweimal ganz langsam.)

Stieftochter (kann nicht mehr an sich halten): Du lieber Gott! ( Hält sich rasch die Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken.)

Direktor (sich zu ihr wendend): Was ist denn?

Stieftochter (rasch): Nichts, nichts!

Direktor (zum ersten Schauspieler): Jetzt Sie, weiter!

Erster Schauspieler: »Mehr als einmal? Nun also, dann dürfen Sie nicht mehr so sein ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen dieses Hütchen abnehme?« (Den letzten Satz spricht er in solchem Ton und von solchen Gesten begleitet, daß die Stieftochter, die sich immer noch mit der Hand den Mund zuhält, nun nicht mehr an sich halten kann und rettungslos in ein schallendes Gelächter ausbricht.)

Erste Schauspielerin (empört, auf ihren Platz zurückgehend): Ach, ich stehe doch nicht hier, um mich von der da zum Narren halten zu lassen.

Erster Schauspieler: Ich auch nicht, Schluß damit!

Direktor (zur Stieftochter, schreiend): Geben Sie doch endlich Ruhe!

Stieftochter: Ja, entschuldigen Sie ... entschuldigen Sie ...

Direktor: Sie sind ganz unmanierlich! Wissen Sie das? Eine ganz unerzogne Person!

Vater (sucht zu vermitteln): Ja, Herr Direktor, das ist ja wahr; aber verzeihen Sie ihr ...

Direktor: Ach was, verzeihen, es ist eine Unverschämtheit.

Vater: Ja, Herr Direktor, aber glauben Sie, es macht einen so komischen Eindruck.

Direktor: Komisch? Wieso komisch, wo komisch, warum komisch?

Vater: Aber nein, mein Herr, ich habe die allergrößte Bewunderung für Ihre Schauspieler, für den Herrn dort und für das Fräulein, aber es ist eben das – sie sind nicht wir –

Direktor: Natürlich! Das ist klar. Sie können nicht Sie sein, wenn sie doch die Schauspieler sind!

Vater: Ja eben, die Schauspieler! Sie spielen – beide übrigens ganz vorzüglich – unsere Rollen. Aber glauben Sie mir, uns erscheint es als etwas ganz anderes, was das Gleiche sein sollte und eben doch nicht ist!

Direktor: Wieso nicht das Gleiche? Und was ist es dann also?

Vater: Ja, es ist ein Ding ... das gleichsam Ihre Angelegenheit wird und nicht mehr die unsere ist.

Direktor: Aber das versteht sich doch von selber! Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.

Vater: Ja, ich verstehe, ich verstehe, aber –

Direktor: Jetzt also genug davon! (Sich zu den Schauspielern wendend:) Wir werden später also doch besser wieder allein probieren, wie üblich. Diese Proben in Gegenwart der Autoren habe ich immer verwünscht. Die sind nie zufrieden! (Zum Vater und zur Stieftochter:) Also vorwärts, jetzt fangen Sie wieder an. Wollen sehen, ob Sie jetzt endlich zu lachen aufhören.

Stieftochter: Nein, ich lache nicht mehr, ich lache nicht mehr! Jetzt kommt ja die schönste Stelle für mich!

Direktor: Also: Ihr letzter Satz war: »Denken Sie bitte nicht mehr an das, was ich gesagt habe. Und ich will ... Sie werden mich verstehen!« – (Zum Vater gewandt:) Daran müssen Sie direkt anknüpfen: »Ich verstehe, ja ich verstehe ...« Und dann fragen Sie sogleich –

Stieftochter (unterbrechend): Wie denn? Was denn fragen?

Direktor: ... Nach dem Grunde ihrer Trauer!

Stieftochter: Aber nein, mein Herr. Sehen Sie: als ich zu ihm sagte, ich müßte es vergessen, daß ich so schwarz gekleidet sei – wissen Sie, was er mir da antwortete? »Ah, sehr schön! Dann wollen wir's ganz, ganz rasch ausziehen, dieses Kleidchen!«

Direktor: Schön, sehr schön! Aber da würde das ganze Publikum hochgehen!

Stieftochter: Aber es war doch so!

Direktor: »War doch so!« Bleiben Sie mir doch damit fort! Hier sind wir im Theater. Wahrheit ist gut, aber bis zu einem gewissen Grade!

Stieftochter: Und was wollen Sie an ihre Stelle setzen, wenn ich fragen darf?

Direktor: Das werden Sie schon sehen. Lassen Sie mich nur machen!

Stieftochter: Nein, mein Herr. Aus meinem ganzen Elend, aus all den Grausamkeiten und Gemeinheiten, die mich »so« machten, zu »einer solchen« machten, wollen Sie vielleicht ein sentimental-romantisches Rührstückchen zusammensetzen? Er fragt, weshalb ich in Trauer bin, und ich antworte weinend, vor zwei Monaten sei mein Papa gestorben! Nein, werter Herr! Er muß zu mir sprechen, so wie er's tat: »Dann wollen wir doch ganz, ganz rasch dies Kleidchen ausziehen!« Und ich mit meiner Trauer im Herzen, mit meiner kaum zwei Monate alten Trauer, ging dort hin – sehen Sie? – dort hinter den Wandschirm, und mit diesen meinen Fingern, die vor Scham und Ekel bebten, hab' ich mir erst das Mieder aufgeschnürt, dann das Kleid ...

Direktor (sich an den Kopf fassend): Um Gottes willen, was reden Sie da?

Stieftochter (in höchster Erregung schreiend): Die Wahrheit! Die Wahrheit, Herr!

Direktor: Aber ja doch, ich leugne nicht, daß es die Wahrheit ist, und verstehe Ihr ganzes Grauen, Fräulein; aber Sie sollten auch verstehen, daß all dies auf der Bühne nicht möglich ist!

Stieftochter: Nicht möglich? Nun, dann danke ich schön! Dann spiele ich nicht mit! Ich nicht! Ihr beide habt euch drüben verabredet über das, was möglich ist auf der Bühne. Ich danke schön! Jetzt sehe ich klar. Er will gleich mit der Darstellung (spöttisch) seiner Geistesblitze beginnen. Aber ich will mein Drama spielen, mein eigenstes Drama!

Direktor (aufs höchste verärgert): Ach immer Ihr Drama! Es handelt sich ja gar nicht um Ihres allein. Es ist doch auch das Drama der andern. Es ist doch auch seines (zeigt auf den Vater), auch das der Mutter! Das geht nicht, daß eine Bühnenperson sich so in den Vordergrund drängt und alle andern überschreit: Man muß sie gegeneinander im Gleichgewicht halten und das darstellen, was darstellbar ist! Das weiß ich auch ganz gut, daß in jedem einzelnen ein ganzes Leben steckt, das er gern von sich geben möchte. Aber da liegt ja gerade die Schwierigkeit: Nur so viel davon geben als möglich und nötig ist, und doch aus diesem Wenigen das Ganze erkennen lassen! Ja, das wäre bequem, wenn jede Person in einem schönen Monolog oder in einer langen Rede alle ihre Nöte vor dem Publikum auskramen könnte! (In gutmütigem und beschwichtigendem Ton:) Nein, Sie müssen sich mäßigen, mein Fräulein. Und glauben Sie mir, es ist in Ihrem eigensten Interesse; denn diese ganze Raserei, dieser ganze übertriebene Ekel kann auch sehr schlechten Eindruck machen, nachdem Sie selbst doch eben bekannt haben, daß Sie, bevor er kam, schon mit anderen bei Madame Pace zusammengewesen sind, und mehr als einmal!

Stieftochter (zu Boden sehend, mit unsicherer Stimme): Das ist wahr! Aber glauben Sie mir, alle diese andern sind nur er, in meinen Augen nur er.

Direktor (nicht verstehend): Wieso die andern? Was wollen Sie damit sagen?

Stieftochter: Daß für den, der in Schuld geraten ist, mein Herr, immer der die Verantwortung trägt, der ihn zuerst in diese Schuld stieß. Und das war er, noch bevor ich zur Welt kam. Schauen Sie ihn an; und Sie werden sehen, daß es wahr ist.

Direktor: Sehr wohl! Und meinen Sie, die Last der Reue ist leicht für ihn? Geben Sie ihm Gelegenheit, sie uns zu zeigen.

Stieftochter: Aber wie denn? sage ich, wie kann er sie uns denn zeigen, diese ganze »vornehme« Reue, diese »sittlichen« Skrupeln, wenn Sie ihm die Scham ersparen wollen, dies zu zeigen, wie er sich eines Tages in den Armen jenes kleinen Mädchens wiederfand! – Eben war sie Weib geworden und schon eine Dirne, und er selbst hat ihr das frische Trauerkleid ausgezogen – dem kleinen Mädchen, dem er so oft am Ausgang der Schule aufgelauert hatte! (Das Letzte spricht sie mit vor Erregung fast versagender Stimme.)

(Die Mutter wird bei ihren Worten von unwiderstehlicher Angst befallen, die sich zuerst in halberstickten Ausrufen äußert, dann in lautes, haltloses Schluchzen ausbricht. Alle Anwesenden sind erschüttert. Lange Pause.)

Stieftochter (fährt, sobald die Mutter sich etwas beruhigt hat, mit düsterer Entschlossenheit fort): Wir sind jetzt ja noch unter uns, noch ohne Publikum. Morgen können Sie meinetwegen ein Schauspiel nach Ihrem Belieben aus uns zurechtmachen. Aber wollen Sie unser Drama heute sehen, so wie es wirklich gewesen ist?

Direktor: Ja, das möchte ich ja gerade, um dann soviel als möglich daraus entnehmen zu können.

Stieftochter: Gut, dann lassen Sie erst die Mutter fortgehen.

Mutter (sich aufrichtend mit einem Schrei): Nein, nein! Erlauben Sie's nicht, mein Herr! Erlauben Sie's nicht!

Direktor: Aber es ist ja nur, um es zu sehen, gnädige Frau!

Mutter: Ich kann nicht! Kann nicht!

Direktor: Aber wenn doch schon alles in der Vergangenheit geschehen ist. Verzeihen Sie, ich verstehe Sie nicht!

Mutter: Nein, jetzt geschieht es, immer geschieht es! Mein Jammer ist nicht gespielt, mein Herr. Ich bin immer hier und lebendig, in jedem Augenblick meines Jammers, der sich immer erneuert, mir immer greifbar und lebendig bleibt! Hier diese beiden Kinder ... Haben Sie sie sprechen gehört? Sie können nicht mehr sprechen, mein Herr, sie stehen nur noch da, an mich geklammert, um mir all den Jammer greifbar und lebendig vor Augen zu halten; aber sie selbst leben eigentlich nicht mehr, für sich leben sie nicht mehr! Und die da (zeigt auf die Stieftochter), mein Herr, ist geflohen, ist von mir fort und ganz und gar zugrunde gegangen! Wenn ich sie jetzt hier sehe, so ist es auch nur darum, immer und immer den Jammer zu wiederholen, immer greifbar und lebendig, den Jammer, den ich um sie erduldet habe.

Vater: Das ist das Moment des Ewigen! Wie ich es Ihnen sagte, mein Herr! Sie (zeigt auf die Stieftochter) ist dazu hier, mich auf ewig festzunageln an meine Schande, an jenen einzigen, flüchtigen, schmachvollen Augenblick meines Lebens. Sie muß es tun. Und Sie, Herr Direktor, können es mir auch nicht ersparen.

Direktor: Aber ja, ich sage ja nicht, daß ich ihn nicht darstellen will. Er bildet ja den Kern des ganzen ersten Aktes bis zu dem Augenblick, wo sie Sie überrascht. (Zeigt auf die Mutter.)

Vater: Ja, ganz recht, denn das ist meine Verurteilung. Unsere ganze Leidenschaft muß in diesem ihrem Schrei gipfeln. (Zeigt auch auf die Mutter.)

Stieftochter: Er gellt mir noch in den Ohren! Er hat mich wahnsinnig gemacht, dieser Schrei – Sie können mich darstellen lassen, wie Sie wollen, mein Herr, das ist mir gleichgültig. Meinetwegen auch in Kleidern, wenn ich nur die Arme – wenigstens die Arme – nackt habe. Denn sehen Sie, wie ich so dastand (lehnt sich an den Vater und legt den Kopf gegen seine Brust), den Kopf so angelehnt und die Arme um seinen Hals geschlungen, da sah ich hier an meinem nackten Arm eine kleine Ader schlagen, und da war's, als ob nur diese eine lebende Ader mir all diesen Schauder verursachte, und ich blinzelte ihm zu – so! so! – und verbarg meinen Kopf an seiner Brust! (Sich zur Mutter wendend:) Jetzt schreie, Mutter! Jetzt schreie! (Sie verbirgt den Kopf an der Brust des Vaters, zieht die Schultern hoch, wie um sich gegen den Schrei zu schützen, und fährt fort mit vor Jammer fast erstickter Stimme:) Schreie, so wie du damals geschrieen hast!

Mutter (vorstürzend, um sie zu trennen): Nein! Kind, mein Kind! (Nachdem sie sie von ihm losgerissen hat:) Du Tier, du Tier! Das ist mein Kind! Siehst du nicht, daß sie mein Kind ist!

Direktor (bei dem Schrei bis an die Rampe zurücktretend, während die Schauspieler alle bestürzt sind): Sehr gut, wirklich sehr gut! Und danach Vorhang, Vorhang!

Vater (zu ihm laufend, heftig erregt): So war es, ja – so ist es wirklich gewesen, Herr Direktor.

Direktor (bewundernd und überzeugt): Ja, so und nicht anders! Und deswegen jetzt den Vorhang, den Vorhang!

(Auf die wiederholten Rufe des Direktors läßt der Maschinist den Vorhang herunter. Der Direktor und der Vater bleiben auf der Rampe außerhalb des Vorhangs.)

Direktor (nach oben sehend, die Arme ausstreckend): Solch ein Vieh! Ich sage »Vorhang« und meine damit nur, daß der Akt hier schließen muß. Und der läßt den Vorhang wirklich herunter! (Zum Vater, indem er den Vorhang etwas lüftet, um wieder auf die Bühne zu gehen:) Ja, ja, sehr gut, ausgezeichnet! Das macht sicher Wirkung. So muß der Akt schließen. Ich garantiere für diesen ersten Akt!

(Geht mit dem Vater wieder hinter den Vorhang.)

(Beim Aufgehen des Vorhangs sieht man Maschinisten und Bühnenarbeiter die Szenerie des ersten Aktes forträumen und statt dessen im Hintergrunde mehrere Bäume aufstellen, dazwischen eine Art Brunnenbecken. Auf der rechten Seite sitzt wieder die Mutter mit den beiden Kleinen. Neben ihr der Sohn, aber etwas abseits, verärgert und sich schämend. Im Vordergrund der Vater und die Stieftochter. Auf der linken Seite der Bühne die Schauspieler, in ungefähr derselben Gruppierung wie vor dem Fallen des Vorhangs. Nur der Direktor steht in der Mitte der Bühne, eine Hand am Mund, in nachdenklicher Haltung.)

Direktor (nach einer kurzen Pause den Kopf schüttelnd): Nun also! Wir kommen zum zweiten Akt! Überlassen Sie alles mir, so wie wir es vorher verabredet haben. Dann wird es schon gehen!

Stieftochter: Unser Eintritt in sein Haus (zeigt auf den Vater), dem da zum Trotz (zeigt auf den Sohn)!

Direktor (ungeduldig): Ja, schön, aber lassen Sie mich nur machen!

Stieftochter: Wenn es nur ganz deutlich wird, daß es ihm zum Trotz geschieht.

Mutter (von ihrem Platz aus, den Kopf schüttelnd): Ein schönes Glück ist aus all dem geworden ...

Stieftochter (sich rasch zu ihr umwendend): Das ist ja ganz gleichgültig! Je größer unser Elend, um so bitterer seine Reue!

Direktor (ungeduldig): Ja doch, das habe ich ja verstanden! Und besonders zu Anfang soll er sich damit quälen. Verlassen Sie sich darauf!

Mutter (flehentlich): Aber machen Sie bitte auch verständlich, mein Herr, daß ich auf alle Weise versucht habe ...

Stieftochter (verächtlich ihr das Wort abschneidend): ... Zu vermitteln und zu versöhnen, ja doch. (Zum Direktor:) Tun Sie ihr nur den Gefallen, denn es war ja auch so! Je flehentlicher sie sich in seine Liebe einzuschmeicheln versucht, um so mehr hält er sich fern von ihr – »ab–seits«! Seltsames Vergnügen!

Direktor: Wollen wir nun mit diesem zweiten Akt anfangen oder nicht?

Stieftochter: Ja, ich schweige schon! Aber sehen Sie: den Aufzug ganz und gar im Garten spielen zu lassen, wie Sie wollen, das ist doch nicht möglich.

Direktor: Warum nicht möglich?

Stieftochter: Weil er (zeigt wieder auf den Sohn) sich immer in sein Zimmer einschloß! Und dann spielt sich auch die Rolle dieses armen Kindes im Hause ab. Es irrt doch immer in den Stuben hin und her, wie ich schon erzählte.

Direktor: Nun ja, aber andrerseits müssen Sie verstehen, daß wir nicht drei- oder viermal bei offenem Vorhang Verwandlungen machen können oder kleine Schildchen aushängen, die die Szene bezeichnen.

Erster Schauspieler: Das tat man früher einmal ...

Direktor: Ja, als das Publikum noch so naiv war wie dies kleine Kind.

Erste Schauspielerin: Und die Täuschung, der Schein beliebter als jetzt.

Vater (zusammenfahrend): Der Schein? Ich flehe Sie an, sprechen Sie nicht von Schein! Gebrauchen Sie nicht dies Wort; es ist für uns so schrecklich grausam!

Direktor (erstaunt): Warum denn? Sagen Sie mir doch weswegen!

Vater: Ja grausam! Grausam! Sie sollten es verstehen!

Direktor: Aber wie sollten wir denn sonst sagen? Die scheinbare Wirklichkeit, die hier vor den Zuschauern erstehen soll –

Erster Schauspieler:: Durch unsere Darstellungskunst –

Direktor: Der Schein einer Wirklichkeit!

Vater: Ich verstehe Sie, mein Herr, aber Sie können mich vielleicht nicht verstehen! Denn für Sie und Ihre Schauspieler handelt es sich wohl nur – verzeihen Sie – um Ihr Spiel!

Erste Schauspielerin (entrüstet unterbrechend): Was denn – Spiel! Wir sind doch keine kleinen Kinder. Hier wird ernsthaft gearbeitet.

Vater: Das leugne ich ja gar nicht. Ich meine ja nur das Spiel Ihrer Kunst, das – wie der Herr sagt – eine scheinbare Wirklichkeit möglichst vollständig darstellt.

Direktor: Ja, sehr richtig.

Vater: Wenn Sie aber nun bedenken, daß wir, wie wir hier sind, gar keine andere Wirklichkeit besitzen als diesen Schein!

Direktor (sieht erstaunt die gleichfalls verdutzt dreinschauenden Schauspieler an): Was soll denn das bedeuten?

Vater (sieht sie eine Weile an, sagt dann mit mattem Lächeln): Ja, meine Herrn! Welche andere denn? Was für Sie ein Schein ist, den Sie erschaffen wollen, ist für uns unsere einzige Wirklichkeit. (Kurze Pause – nähert sich dem Direktor um einen Schritt und fährt fort:) Aber im übrigen nicht nur für uns. Merken Sie gut auf (sieht ihm in die Augen): Können Sie mir sagen, wer Sie sind?

Direktor (überrascht): Wieso: wer ich bin? – Ich bin ich!

Vater: Und wenn ich Ihnen nun antworte: Das ist nicht wahr! Sie sind ja ich!

Direktor: Dann würde ich Ihnen antworten: Sie sind ein Narr! (Die Schauspieler lachen.)

Vater: Sie haben recht, wenn Sie lachen, meine Herrschaften, denn hier wird ja gespielt. (Zum Direktor:) Und Sie können mir erwidern, daß es nur ein Spiel ist, wenn dieser Herr da (zeigt auf den ersten Schauspieler), der doch »er« ist, auf einmal »ich« sein soll, der ich doch meinerseits ein ganz anderer bin. Sehen Sie, jetzt habe ich Sie in der Schlinge! (Die Schauspieler lachen wieder.)

Direktor (ärgerlich): Aber das haben Sie alles doch schon ein paarmal gesagt.

Vater: Ja, und darauf wollte ich auch gar nicht hinaus. Ich will Sie im Gegenteil auffordern, mit mir einen Schritt weiter zu tun, über die Grenzen dieses Spieles hinaus, (zur ersten Schauspielerin, ihrem Einwurf zuvorkommend) – Spiel der Kunst! meinetwegen der Kunst! – das Sie hier mit Ihren Schauspielern zu vollführen pflegen. Und deswegen frage ich Sie von neuem und ganz ernsthaft: Mein Herr, wer sind Sie?

Direktor (wendet sich in höchstem Erstaunen und zugleich etwas gereizt zu den Schauspielern): Da schaut euch doch diese Dreistigkeit an! Einer, der sich als Bühnenperson ausgibt, kommt zu mir und fragt mich, wer ich bin!

Vater (mit Würde, aber ohne übertriebenes Selbstgefühl): Eine Bühnenperson, mein Herr, darf immer einen Menschen fragen, wer er ist. Denn eine Bühnenperson hat immer ihr Leben, durch ihre eigensten Charakterzüge vorgezeichnet, und ist darum immer ein »Jemand«. Während ein Mensch – ich spreche jetzt nicht von Ihnen – ich meine ein Mensch so im allgemeinen, auch ein »Niemand« sein kann.

Direktor: Ja, aber Sie fragen mich, wer ich bin! Mich, den Theaterdirektor, Ihren Vorgesetzten! Was bezwecken Sie damit?

Vater (gedämpft, mit demütiger Verbindlichkeit): Ich möchte nur wissen, mein Herr, ob Sie wirklich so wie Sie jetzt sind, sich so sehen, wie Sie zum Beispiel Ihre eigene Vergangenheit sehen, mit allen Ihren Täuschungen und Illusionen, mit allem, was Ihnen damals wirklich erschien! Nun wohl, mein Herr, wenn Sie jetzt an diese Täuschungen denken, die Sie jetzt durchschauen, an all diese Dinge, die Ihnen jetzt nicht mehr als das »erscheinen«, was Sie Ihnen damals »waren«, fühlen Sie da nicht diesen Boden – ich meine damit nicht im besonderen die Bretter dieser Bühne – fühlen Sie nicht den Boden unter Ihren Füßen wanken, wenn Sie denken, daß dieses »Ich«, das Sie heute zu sein glauben, – daß all Ihre Wirklichkeit von heute dazu bestimmt ist, Ihnen morgen schon als Schein und Täuschung gegenüberzutreten?

Direktor (verständnislos, von der Fülle dieser Argumente etwas benommen): Na ja – und? Was wollen Sie denn daraus schließen?

Vater: Ach, gar nichts, mein Herr. Ich will Ihnen nur zeigen, daß wenn wir (zeigt auf sich und die andern Personen) außer dem Schein keine andere Wirklichkeit besitzen, auch Sie Ihrer Wirklichkeit mißtrauen müssen, die sie heute zu atmen und zu berühren glauben, denn sie ist dazu bestimmt – gerade wie die von gestern – Ihnen morgen schon als Schein sich zu enthüllen.

Direktor (entschließt sich, es von der komischen Seite zu nehmen): Famos! Und Sie wollen damit sagen, daß Sie in dieser Komödie, die Sie vor uns aufführen, wahrer und wirklicher sind als ich.

Vater (mit höchstem Ernst): Das ist außer allem Zweifel, mein Herr!

Direktor: Ah so?

Vater: Und ich glaubte, das hätten Sie schon von allem Anfang an verstanden.

Direktor: Sie wirklicher als ich?

Vater: Wenn doch Ihre Wirklichkeit sich von heute auf morgen verändern kann ...

Direktor: Aber natürlich kann sie sich verändern. Sie verändert sich beständig, wie die aller anderen!

Vater (ausbrechend): Aber die unsere nicht, mein Herr! Sehen Sie? Da ist der Unterschied! Die verändert sich nicht; sie kann sich nicht verändern, denn sie ist festgenagelt – so – für alle Ewigkeit – unwandelbare Wirklichkeit! Das ist das Furchtbare, mein Herr, und Sie sollten erschaudern, wenn Sie in unserer Nähe sind!

Direktor (wie Schutz suchend vor einem Gedanken, der plötzlich vor ihm auftaucht): Ich möchte aber doch wissen, hat es je eine Bühnenperson gegeben, die so aus ihrer Rolle herausgesprungen wäre wie Sie, um sich selbst zu proklamieren, zu erklären, gleichsam ihrem Autor vorzuschlagen ... Können Sie mir das sagen? Ich habe das noch nicht erlebt!

Vater: Sie haben es nicht erlebt, mein Herr, weil der Dichter gewöhnlich die Arbeit seines Schaffens geheim hält. Wenn die Personen lebendig, wirklich lebendig vor ihn treten, so tut der Dichter nichts anderes als gespannt zu lauschen, was für Worte, Gebärden und Handlungen sie ihm eben »vorschlagen«, wie Sie sagten! Und er muß ihnen ihren Willen tun. Weh' ihm, wenn er's nicht tut! Die erschaffne Gestalt löst sich von ihm, wird unabhängig, geht auf Abenteuer, an die er nie gedacht hat, und nimmt Bedeutungen an, die er ihr nie, auch nur im Traum, hat geben wollen!

Direktor: Ja doch, das weiß ich ja!

Vater: Also was wundern Sie sich dann so über uns? Denken Sie sich eine Gestalt, der das Unglück widerfuhr, von dem ich Ihnen sprach: ihr eigner Dichter, aus dessen Phantasie sie lebendig entstand, will ihr das Leben absprechen! Nun sagen Sie mir, ob solch eine Gestalt, lebend und doch nicht lebend, nicht das Recht hat, das zu tun, was wir jetzt mit Ihnen tun, nachdem wir lange, so lange vergeblich versucht haben, ihn selbst zu überreden. Glauben Sie mir, wir haben ihm arg zugesetzt, bald ich, bald sie (zeigt auf die Stieftochter), bald jene arme Mutter.

Stieftochter: Ja, auch ich, gerade ich, mein Herr, wollte ihn versuchen! So oft! In der Stille seines Schreibzimmers, zur Zeit der Dämmerung, wenn er in seinem Sessel lehnend sich noch nicht entschließen konnte, die Lampe anzuzünden und die Schatten das Zimmer überfluten ließ. Da mit diesen Schatten drängten wir uns an ihn ... (Als sähe sie sich plötzlich wieder dort im Arbeitszimmer und würde durch die Gegenwart der Schauspieler gestört:) – Fort ihr alle! Laßt uns doch mit ihm allein! – Die Mutter da mit dem Sohn – ich und das arme Kindlein, – der Junge immer abseits – und dann ich mit ihm (weist auf den Vater) und dann wieder ich allein, ich ganz allein ... mit den Schatten auf und nieder schwebend (richtet sich auf und schüttelt sich, als ob die Erscheinung ihrer selbst, aus den Schatten hell und lebendig auftauchend, sie umklammern wollte) – Ah, mein Leben, mein ganzes Leben! Was für Szenen, was für herrliche Szenen schlugen wir ihm da vor! – Ich, ich vor allen habe ihn versucht!

Vater: Ja, aber vielleicht war es auch deine Schuld, eben weil du ihn zu sehr bedrängt hast, weil du zu unbändig gewesen bist.

Stieftochter: Ach was, er selbst wollte mich doch so haben! (Tritt nahe an den Direktor heran und sagt leise und vertraulich zu ihm:) Ich glaube viel eher, mein Herr, es war, weil ihn die moderne Theaterspielerei verstimmt und verletzt, wie sie das Publikum jetzt verlangt und sehen will ...

Direktor: Nun aber vorwärts, Himmelherrgott noch einmal! Und lassen Sie mich endlich eine richtige Handlung sehen, meine Herrschaften!

Stieftochter: Ja, erlauben Sie, ist unser Eintritt in sein Haus (zeigt auf den Vater) noch nicht genug Handlung? Sie sagten doch selbst, Sie könnten nicht alle fünf Minuten die Szene wechseln!

Direktor: Ja eben, das ist es. Den Stoff so anordnen, daß er in eine gleichzeitige Handlung zusammengedrängt wird. Und nicht so, wie Sie es vorschlagen: zum Beispiel zuerst den kleinen Bruder zu zeigen, der wie ein Schatten durch die Zimmer schleicht und sich hinter allen Türen versteckt, um ein Vorhaben auszuführen, nach dem er sich – wie sagten Sie doch da? –

Stieftochter: Zersaugt, mein Herr, sich ganz und gar zersaugt!

Direktor: Komisches Wort! Das habe ich auch noch nie gehört! Aber meinetwegen! Und »es wuchsen nur seine Augen – –«, war es nicht so?

Stieftochter: Ja, mein Herr, sehen Sie doch hin.

Direktor: Gut, gut! Und gleichzeitig wollen Sie dann das kleine Mädchen auftreten lassen, die im Garten spielt ... den einen im Haus, den andern im Garten, zur selben Zeit, nicht wahr?

Stieftochter: Ja, sorglos in der Sonne, mein Herr! Das ist meine einzige Freude, ihre Heiterkeit und ihr Jubel in dem Garten da. Wenn ich sie aus dem Elend und dem Gestank der furchtbaren Kammer herausgebracht hatte, wo wir alle vier zusammen schliefen – ich mit ihr in einem Bett! – denken Sie sich, ich mit meinem armen besudelten Leib neben dem Kind, das mich ganz, ganz fest mit seinen liebevollen, unschuldigen Ärmchen umklammerte. Und im Garten, sobald es mich sah, sprang es auf mich zu und faßte mich bei der Hand. Die großen Blumen mochte es nicht, aber überall suchte es nach den ganz »klitzerkleinen« und wollte sie mir alle zeigen, und das war dann ein Jubel, ein Jubel!

Direktor: Nun gut! Also meinetwegen den Garten! Nehmen wir den Garten und machen wir ihn zum Schauplatz der verschiednen Auftritte. (Ruft einen Bühnenarbeiter:) He, holen Sie ganz rasch ein paar Bäume und einen Brunnentrog. (Dreht sich zum Hintergrund.) Ah, ist ja schon alles da, ausgezeichnet! (Zur Stieftochter:) Das ist nur provisorisch, um eine Idee zu geben. Der kleine Junge muß eben, anstatt sich hinter den Zimmertüren zu verstecken, hier im Garten umherirren und sich hinter den Bäumen verstecken. Aber schwierig wird es sein, ein kleines Mädchen zu finden, das die Szene mit den Blumen machen kann. (Sich zu dem Jungen wendend:) Komm! Komm einmal her! Wir wollen es versuchen. (Da der Junge sich nicht bewegt.) Vorwärts doch! (Der Junge tritt ganz steif und verängstigt einen Schritt näher.) Na, das wird auch eine schwierige Sache mit dem Jungen. Wie er nur dasteht! Mein Gott, er müßte doch ein Wort herausbringen können ... (Faßt ihn an der Schulter und führt ihn nach hinten zu den Bäumen.) Komm, komm, wir wollen mal sehen! Verstecke dich einmal hier. So! Und dann steck' einmal den Kopf hervor, als wolltest du ausgucken ... (Tritt zurück, um die Wirkung zu sehen; der Junge führt alles sogleich mit fast unwahrscheinlicher Natürlichkeit aus.) Ah, ausgezeichnet! Ausgezeichnet! (Sich zur Stieftochter wendend:) Wie wäre es, wenn das kleine Mädchen ihn dabei überraschte, zu ihm hinliefe und ihm wenigstens ein paar Worte entlockte?

Stieftochter: Nein, glauben Sie nicht, daß er spricht, solange der da hier ist. (Zeigt auf den Sohn.) Den müßte man erst fortschicken.

Sohn (aufspringend): Aber sofort! Höchst willkommen! Ich verlange ja gar nichts Besseres!

Direktor (rasch, ihn aufhaltend): Nein! Wohin? Warten Sie!

(Die Mutter steht auf, erschrocken bei dem Gedanken, er könnte wirklich fortgehen, und streckt, ohne sich von der Stelle zu bewegen, instinktiv die Arme aus, wie um ihn aufzuhalten.)

Sohn (zum Direktor, der ihn festhält): Ich habe doch wirklich hier gar nichts zu tun! Lassen Sie mich doch gehen, ich bitte Sie! Lassen Sie mich doch gehen!

Direktor Was heißt das, Sie haben nichts zu tun hier?

Stieftochter (spöttisch): Halten Sie ihn doch nicht zurück. Er geht ja gar nicht.

Vater: Er muß doch die furchtbare Szene mit der Mutter im Garten darstellen.

Sohn (rasch und schroff abweisend): Gar nichts stelle ich dar. Ich habe es von Anfang an erklärt. (Zum Direktor:) Bitte, lassen Sie mich fortgehen!

Stieftochter (dazu eilend, zum Direktor): Erlauben Sie, mein Herr? (Den Arm des Direktors, mit dem dieser den Sohn festhält, herunternehmend.) Lassen Sie ihn doch! (Dann zum Sohn:) Bitte, geh' doch fort! (Der Sohn bleibt stehen und sieht ihr voll Verachtung ins Gesicht. Sie lacht und sagt:) Er kann nicht, sehen Sie? Er kann nicht, mein Herr! Es zwingt ihn, hierzubleiben, wie angekettet, unlöslich! Aber wenn ich, die ich später fliehe, sobald das, was geschehen muß, geschah – nur aus Haß gegen ihn fliehe, nur um ihn nicht mehr zu sehen – sehen Sie, wenn ich noch da bin und seine Nähe ertrage, wie könnte er da fortgehen? Er muß ja bleiben mit seinem schönen Vater zusammen und mit der Mutter, die alle ihre Kinder verliert außer ihm ... (Sich zur Mutter wendend:) Also, Mutter! Jetzt bist du an der Reihe ... (Wendet sich zum Direktor und zeigt auf sie:) – Sehen Sie, sie war aufgestanden, um ihn zurückzuhalten ... (Der Mutter mit der Hand winkend:) Komm doch her! (Dann zum Direktor gewandt:) Denken Sie sich, wie schwer sie's übers Herz bringen muß, hier vor den Schauspielern ihre Gefühle zu entblößen; aber das Verlangen nach ihm ist so übermächtig in ihr – sehen Sie! – daß sie sogar bereit ist, ihre Szene zu leben.

(Die Mutter nähert sich tatsächlich langsam der Gruppe, und sobald die Stieftochter die letzten Worte gesprochen hat, hebt sie die Arme, wie um anzudeuten, daß sie einverstanden ist.)

Sohn (rasch): Ja, aber ich nicht, ich nicht! Wenn ich nicht fort kann, dann bleibe ich eben da. Aber ich wiederhole es, darstellen werde ich nichts!

Vater (zum Direktor, vor Wut bebend): Sie können ihn dazu zwingen!

Sohn: Niemand kann mich zwingen.

Vater: Ich werde dich schon zwingen.

Stieftochter: Aber so warte doch, warte doch! Zuerst das Kind zum Brunnen! (Sie nimmt das kleine Mädchen bei der Hand und führt es zum Brunnen.)

Direktor: Sehr gut! Ja, gleichzeitig! (Die zweite Schauspielerin und der junge Schauspieler sondern sich von den andern etwas ab. Die Schauspielerin stellt sich aufmerksam der Mutter gegenüber, um sie zu beobachten. Der junge Schauspieler macht einen großen Bogen von der linken Seite der Bühne auf die rechte, stellt sich rechts neben den Sohn und beachtet jede seiner Bewegungen.)

Sohn (zum Direktor): Ach was, gleichzeitig! Es ist ja nicht wahr, mein Herr. Es gab ja niemals einen Auftritt zwischen ihr und mir. (Auf die Mutter zeigend:) Fragen Sie sie doch selbst, wie es war.

Mutter: Doch, es ist wahr, mein Herr. Ich war in sein Zimmer gekommen ...

Sohn: In mein Zimmer! Hören Sie? Nicht in den Garten!

Direktor: Aber das ist doch ganz gleichgültig. Man muß die Handlung eben anpassen, sagte ich Ihnen ja schon!

Sohn (bemerkt den jungen Schauspieler): Was wollen Sie denn eigentlich?

Junger Schauspieler: Gar nichts. Ich beobachte Sie nur.

Sohn (sich auf die andere Seite wendend zur zweiten Schauspielerin): Ah und die da? Die soll wohl ihre Rolle spielen? (Zeigt auf die Mutter.)

Direktor: Ja eben. Und Sie sollten dankbar dafür sein, daß sie so viel Sorgfalt darauf verwenden.

Sohn: Ah so! Ich danke sehr. Aber haben Sie denn noch nicht begriffen, daß Sie diese Komödie gar nicht darstellen können? Wir stecken doch nicht in Ihnen drin, und Ihre Schauspieler können uns doch nur von außen betrachten. Meinen Sie, man könnte ständig vor einem Spiegel leben, der einem nicht den eigenen Ausdruck, sondern eine unkenntliche Grimasse unserer selbst wiedergibt?

Vater: Das ist richtig! Das ist richtig! Lassen Sie sich überzeugen.

Direktor (zum jungen Schauspieler und zu der zweiten Schauspielerin): Gut also! Lassen Sie es. Gehen Sie auf Ihren Platz.

Sohn: Es ist zwecklos. Ich gebe mich nicht dazu her.

Direktor: Seien Sie jetzt still und lassen Sie mich Ihre Mutter hören! (Zur Mutter:) Nun also? Sie waren hereingekommen ...

Mutter: Ja, mein Herr. In sein Zimmer, denn ich konnte mich nicht mehr halten. Ich mußte mir die ganze beklemmende Angst vom Herzen schaffen. Aber kaum sah er mich hereinkommen –

Sohn: Kein Auftritt! Ich ging fort, ging aus dem Hause. Denn ich für mein Teil habe noch nie einen Auftritt gemacht; haben Sie mich verstanden?

Mutter: Das ist richtig! So ist er.

Direktor: Aber jetzt müssen wir diesen Auftritt zwischen Ihnen und ihr spielen! Das ist unerläßlich!

Mutter: Ich für mein Teil bin dabei! Wenn Sie mir nur die Möglichkeit verschaffen, einen Augenblick mit ihm zu sprechen; ihm all das sagen zu können, was mich so bedrückt.

Vater (auf den Sohn losgehend, sehr heftig): Du wirst es tun! Für deine Mutter! Für deine Mutter!

Sohn (entschlossener denn je): Ich tue nichts!

Vater (ihn an der Brust packend und ihn schüttelnd): Himmelherrgott! Wirst du gehorchen? Hörst du nicht, wer zu dir spricht? Hast du denn kein Sohnesherz im Leibe?

Sohn (ihn seinerseits anpackend): Nein! Nein! Nun höre endlich damit auf!

(Allgemeine Aufregung. Die Mutter versucht sich zwischen die beiden zu stürzen, um sie zu trennen.)

Mutter (wie oben): Um Gotteshimmelswillen!

Vater (ohne ihn loszulassen): Du mußt gehorchen! Du mußt gehorchen!

Sohn (schreit, fast heulend vor Wut): Bist du denn ganz wahnsinnig geworden? (Sie lassen einander los.) Schämst du dich denn nicht, ihre und unsere Schmach vor allen Menschen auszukramen! Dazu gebe ich mich nicht her! Ich nicht! Ich verkörpere den Willen dessen, der sich nicht auf die Bühne bringen lassen will!

Direktor: Aber Sie sind doch auch hierhergekommen!

Sohn (auf den Vater zeigend): Er, nicht ich!

Direktor: Aber sind Sie denn nicht auch hier?

Sohn: Er wollte es und hat uns alle mitgeschleppt. Und jetzt gibt er sich dazu her, mit Ihnen gemeinsam nicht nur das darstellen zu wollen, was wirklich passiert ist, nein – nicht genug damit! – auch das, was sich niemals ereignet hat!

Direktor: Aber sagen Sie mir wenigstens, was sich ereignet hat! Sagen Sie's mir! Sie haben schweigend Ihr Zimmer verlassen? Kein Wort gesprochen?

Sohn: Kein Wort. Eben um keinen Auftritt zu machen!

Direktor: Nun und dann? Was haben Sie dann gemacht?

Sohn: Nichts ... Wie ich quer durch den Garten ging ... (Stockt mit finsterem Blick.)

Direktor (ihn von Wort zu Wort vorwärts drängend): Nun also? Wie Sie durch den Garten gingen?

Sohn (verzweifelt): Aber warum wollen Sie mich denn das sagen lassen, Herr Direktor? Es ist schauerlich!

(Die Mutter blickt, am ganzen Leibe zitternd, mit unterdrücktem Schluchzen zum Brunnen hinüber.)

Direktor (bemerkt diesen Blick und beginnt zu verstehen. Leise zum Sohn): Das Kind?

Sohn: Ja, im Brunnen dort ...

Vater (zeigt mitleidig auf die Mutter): Und sie ging hinter ihm her, mein Herr.

Direktor (ängstlich zum Sohn): Und dann? Sie?

Sohn: Ich lief dazu. Ich stürzte, um es wieder herauszuholen ... Aber plötzlich hielt ich inne, denn hinter jenen Bäumen sah ich etwas, das mir das Blut stocken machte: Der Junge, der Junge stand da mit ganz irren Augen und starrte in den Brunnen auf das ertrunkne Schwesterchen. (Die Stieftochter steht gebückt in der Nähe des Brunnens, um das Kind zu verbergen, sie schluchzt.) Ich schlich mich heran und da ...

(Hinter den Bäumen, wo der Junge sich versteckt hatte, kracht der Schuß eines Revolvers.)

Mutter (stößt einen durchdringenden Schrei aus und stürzt mit den meisten der Schauspieler hinzu. Es herrscht allgemeine Verwirrung): Kind! Mein Kind! (Alle schreien und rennen durcheinander.) Zu Hilfe! Zu Hilfe!

Direktor (versucht sich in dem Durcheinander Platz zu schaffen, während der Junge aufgehoben und fortgetragen wird): Aber hat er sich verletzt? Hat er sich wirklich verletzt?

Einige Schauspieler: Ja, wirklich! Wirklich! Er ist tot! Er ist tot!

Andere Schauspieler: Nein, das ist nur Spiel! Glaubt doch nicht daran! Es ist nur Spiel!

Vater (am lautesten schreiend): Nein, kein Spiel! Es ist Wirklichkeit! Es ist Wahrheit, meine Herrn! (Auch er läuft verzweifelt hinzu.)

Direktor: Spiel! Wirklichkeit! Schert euch allesamt zum Teufel! So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert! Und einen ganzen Tag hab' ich daran verschwendet!

Vorhang.


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