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Zum Geleit.

Ich schrieb die »Sechs Personen auf der Suche nach dem Dichter«, um mich von einem Alpdruck zu entlasten.

Im Dienste meiner Kunst steht, wie ich schon andern Ortes sagte, seit vielen Jahren – und doch, als wär's seit gestern – eine gewandte Dienerin. Jung ist sie, aber kein Neuling mehr, sondern voll Fachkenntnis, ein wenig stolz und eine Spötterin, und sie heißt Phantasie. Fällt es ihr gerade ein, sich schwarz zu kleiden, so wird sie es gewiß auf die bizarrste Weise tun. Und man glaube ja nicht, daß sie alles immer mit Ernst und Folgerichtigkeit betreibt. Sieh dal Schon hat sie eine Hand in der Tasche, holt die Schellenmütze und setzt sie sich auf den Kopf, rot wie einen Hahnenkamm, und fort ist sie. Heute hier, morgen dort. Es macht ihr Spaß, mir Leute ins Haus zu schleppen, aus denen ich Novellen, Romane und Komödien machen soll; viel unzufriednes Volk, Männer, Frauen und Kinder, die sich in seltsames Geschick verstrickt haben und keinen Ausweg mehr daraus finden: in ihren Plänen sind sie gestört, in ihren Hoffnungen getäuscht worden, und es ist oft ein schwierig Ding, mit ihnen umzugehen.

Nun hatte also diese meine kleine Dienerin Phantasie vor einigen Jahren den bösen Einfall, die ganz verwünschte Laune, mir eine ganze Familie ins Haus zu bringen, die sie Gott weiß wo aufgetrieben hatte. Und aus der, meinte sie, hätte ich den Stoff für einen herrlichen Roman schöpfen können.

Vor mir stand ein Mann in den Fünfzigern, in schwarzem Rock und hellen Hosen, mit düsterer Miene und gepeinigten scheuen Blicken; eine arme Frau in Witwenkleidern, an der einen Hand ein vierjähriges Mägdlein, an der anderen einen Jungen von vielleicht zehn Jahren. Neben ihnen ein dreistes und zudringliches junges Mädchen, auch sie in Schwarz aber auf zweideutige und schamlose Art gekleidet, und sie war ganz bebend von Haß und Verachtung gegen den Alten und gegen einen jungen Menschen von etwa zwanzig, der sich seinerseits wieder abseits hielt und in sich verschlossen, als ob er die andern alle tief verachtete. Mit einem Wort, es waren jene sechs Gestalten, die jetzt zu Anfang der Komödie auf der Bühne erscheinen. Und nun fingen sie an, mir von ihrem traurigen Geschick zu erzählen, bald der eine, bald der andere, bald einer den andern überschreiend; jeder gellte mir seine eigensten Gründe ins Ohr, warf mir seine unsinnigen Leidenschaften ins Gesicht, etwa so, wie es in der Komödie dem armen Theaterdirektor widerfährt.

Welcher Dichter kann sagen, wie und weshalb eine Gestalt in seiner Phantasie geboren wird? Das Mysterium der künstlerischen Zeugung ist das Mysterium der schaffenden Natur selber.

Eine Frau, die liebt, kann wünschen, Mutter zu werden. Aber der Wunsch allein, auch der innigste, genügt nicht. Eines Tages ist sie es und weiß selbst nicht genau seit wann. So geht es dem Künstler, der selbst so viele Keime des Lebens in sich sammelt und doch nicht weiß, wann und weshalb eben einer dieser Keime in seine Phantasie eindringt, um in einer Lebensschicht, die höher ist als der ständig wechselnde Alltag, lebendige Kreatur zu werden.

Das eine kann ich sagen, daß ich, ohne daß ich sie suchte, jene sechs Gestalten leibhaft vor mir gesehen habe; so leibhaft, daß ich sie berühren konnte, daß ich ihren Atem gehen hörte, und da standen sie und warteten, ein jeder mit seiner geheimen Qual und miteinander verbunden durch die Entwicklung des gemeinsamen Schicksals, warteten, daß ich ihnen die Welt der Kunst aufschlösse, daß ich aus ihren Leibern, aus ihren Leidenschaften und aus ihrem Schicksal einen Roman, ein Drama oder zum mindesten eine Erzählung zusammensetzte.

Zum Leben Geborene wollten sie am Leben bleiben. Nun hat es mir, wie man wissen soll, niemals genügt, die Gestalt eines Mannes oder einer Frau, auch die seltsamste, nur um ihrer selbst willen darzustellen; eine frohe oder traurige Begebenheit zu erzählen, nur aus Lust am Erzählen; eine Landschaft zu beschreiben, nur aus Lust am Beschreiben.

Es gibt gar viele Dichter, die es so halten, und wenige, die etwas anderes suchen. Man könnte sie als Dichter von mehr historischer Einstellung bezeichnen.

Andere aber gibt es, die außer dieser Lust am Erzählen ein tieferes geistiges Bedürfnis spüren, das ihnen vorschreibt, nur solche Gestalten, Begebenheiten oder Landschaften zu schildern, die ein besonderer Sinn des Lebens erfüllt und die dadurch zur allgemeinen Wertung reif werden. Und dies sind die Dichter von mehr philosophischer Einstellung.

Ich selbst, zu meinem Unglück, bin zu den letzteren zu rechnen.

Die symbolische Kunst jedoch ist mir verhaßt. In ihr verliert die Darstellung jede Eigenbewegung, um zur Maschine, zur Allegorie zu werden. Sie ist vergebene Mühe; denn die Tatsache allein, daß man einer Darstellung allegorische Bedeutung gibt, läßt klar erkennen, daß sie in das Reich der Fabel gehört und für sich selbst weder phantastische noch tatsächliche Wahrhaftigkeit beanspruchen kann, daß sie nur als Beispiel für irgendeinen Sittenspruch erfunden wurde. Eben dies geistige Bedürfnis läßt sich höchstens in der Sphäre überlegener Ironie – wie z. B. bei Ariost – durch allegorischen Symbolismus befriedigen; denn er geht vom Gedanken aus und versucht ihn als Bild darzustellen. Jenes hingegen sucht im Bilde selbst, das lebendig und ganz in sich frei bleiben muß, den höheren Sinn.

Nun, so sehr ich ihn suchte, diesen höheren Sinn konnte ich in den sechs Gestalten nicht entdecken. Und so hielt ich es nicht für der Mühe wert, ihnen Leben zu geben.

Ich dachte bei mir: »Du hast deine Leser schon mit so vielen Hunderten von Novellen geödet; wozu willst du ihnen noch dies antun und das Geschick dieser sechs armen Geschöpfe ihnen auftischen?«

So dachte ich und hielt sie mir fern. Oder versuchte es wenigstens.

Aber man gibt nicht umsonst einer Gestalt Leben. Kreaturen meines Geistes, lebten diese sechs schon ihr eigenes Leben und nicht mehr das meine, ein Leben, das ich ihnen nicht mehr zu verwehren imstande war. Und es geschah, daß, während ich sie beständig aus meinem Geiste zu verdrängen suchte, sie selbst, losgelöst aus dem Rahmen der Erzählung, wie ein Wunder frei aus den Seiten des Buches aufsteigend, ihr eigenes Leben fortlebten. Zu bestimmten Stunden des Tages traten sie in die Stille meines Arbeitszimmers, bald der eine, bald der andere, bald zwei zugleich, kamen und versuchten mich, ob ich nicht diese oder jene Szene ausführen wollte, flüsterten mir zu, wie wirksam sie sei, wie ein solches gleichsam unlösbares Begebnis fesseln müßte und dergleichen mehr.

Für einen Augenblick ließ ich mich überrumpeln. Und jedesmal genügte diese meine Schwäche, daß sie daraus ein neues Stück Leben schöpften, ein wenig mehr Wirklichkeit und also auch Gewalt über mich. So wurde es mir allmählich immer schwerer, mich von ihnen frei zu machen, ihnen immer leichter, mich in Versuchung zu bringen. Ich war schließlich ganz von ihnen wie besessen, bis sich mir plötzlich, blitzartig beleuchtet, der Ausweg zeigte.

Und weshalb – so fragte ich mich – schildere ich nicht diesen ganz neuartigen Fall, wie ein Dichter sich sperrt, einige seiner Gestalten, Kinder seiner eigenen Phantasie, lebendig zu machen, und wie diese Gestalten, die schon vom Leben geatmet haben, sich nicht mehr darein finden, aus der Welt der Kunst ausgeschlossen zu bleiben? Sie haben sich schon von mir abgetrennt, leben auf eigene Faust, haben schon Stimme und Bewegung, sind also schon von selbst, mit mir um ihr Leben ringend, dramatische Personen geworden, Personen, die eigenen Gang und Sprache haben. Schon betrachten sie sich selbst als solche. Schon lernten sie sich vor mir verteidigen; so werden sie sich auch gegen andere verteidigen können. Lassen wir sie also den Weg gehen, auf dem die dramatischen Personen zum Leben gelangen, den Weg auf eine Bühne. Und sehen wir zu, was daraus werden wird.

So tat ich. Und natürlich kam, was kommen mußte! ein Gemisch aus Tragischem und Komischem, aus Phantastischem und Realistischem, eine humoristische Situation, höchst verwickelt und zum mindesten neuartig. Ein Drama, das durch sich, durch seine Personen, wie sie atmen, sprechen, sich bewegen, wie sie es tragen und erleiden, um jeden Preis dargestellt werden möchte. Und andererseits die Komödie des verunglückten Versuches, die Verwirklichung auf der Bühne zu improvisieren. Zuerst die Überraschung der armen Schauspieler einer Truppe, die ein Lustspiel auf einer leeren Bühne proben. Ihre Überraschung und Ungläubigkeit, als plötzlich die sechs Personen vor ihnen auftauchen und verkünden, daß sie auf der Suche nach einem Dichter sind. Dann, sogleich, bei der Ohnmacht der schwarz verschleierten Mutter, ihr instinktives Interesse an dem Drama, das sie hinter ihr und den anderen seltsamen Familienmitgliedern zu sehen glauben, einem düstern und vieldeutigen Spiel, das gleichsam, ohne daß jemand daran dachte, auf die leere und unvorbereitete Bühne hereinbricht. Und nun wächst von Minute zu Minute die Teilnahme beim Hervortreten der widerstreitenden Leidenschaften, bald des Vaters, bald der Stieftochter, bald des Sohnes, bald der armen Mutter; Leidenschaften, die miteinander wetteifern und in tragischer Wut einander zerfleischen.

Und da ist auch das Gemeinsame, das ich vorher vergeblich bei den sechs Personen gesucht hatte. Nun, da sie selbst die Bühne betreten haben, finden sie es in sich beim Entbrennen dieses verzweifelten Kampfes, den jeder gegen den andern kämpft und alle gemeinsam gegen den Theaterdirektor und die Schauspieler, die sie nicht verstehen.

Unwillkürlich, unbewußt im Feuer der höchsten Erregung spricht ein jeder, um sich gegen die Anklagen des anderen zu verteidigen, seine lebendige Leidenschaft und seine Qualen heraus, die schon jahrelang in meinen Gedanken arbeiteten: unheilbares Mißverstehen und einander Betrügen, das aus der leeren Abstraktheit der Worte entspringt; die Zersplitterung eines jeden nach allen Möglichkeiten, die in ihm bestehen, und endlich die tragische Verstrickung zwischen dem ständig sich bewegenden Leben und der unwandelbar starren Form.

Zwei vor allem von den sechs Personen, der Vater und die Stieftochter, sprechen von der schrecklichen und unerbittlichen Starrheit dieser ihrer Form, in der sie beide für immer ihr Wesen ausgedrückt sehen, das bei ihm Züchtigung, bei ihr Rache bedeutet. Sie verteidigen es gegen die darstellerischen Fehler und die verständnislose Geschmeidigkeit der Schauspieler und versuchen es, dem Theaterdirektor aufzudrängen, der es umändern und den sogenannten Bedürfnissen des Theaters anpassen möchte. Nicht alle sechs Personen stehen scheinbar auf derselben Entwicklungsstufe; aber nicht weil sie etwa Haupt- oder Nebenpersonen sind – welcher Unterschied ja zur notwendigen Struktur eines jeden Dramas und jeder Erzählung gehört – und auch nicht, weil sie nicht alle für ihre Zwecke schon vollständig geformt wurden. Sie stehen wohl alle sechs in der gleichen Zone künstlerischer Verwirklichung und auf demselben Grund und Boden, der das Phantastische der Komödie ausmacht. Aber der Vater, die Stieftochter und auch der Sohn sind wesenhaft als Geist, die Mutter als Natur, der Knabe als Gegenwart, als Geste und Blick. Und das kleine Mädchen ganz wesenlos und fließend. Diese Tatsache erzeugt zwischen den einzelnen Gestalten eine neuartige Perspektive. Unbewußt trachtete ich danach, einigen von ihnen mehr Wesenheit zu geben, anderen weniger; und andere nur ganz leicht anzudeuten als Urbestandteile einer noch ungeformten Erzählung oder Darstellung. Die Lebendigsten, die am vollständigsten Ausgebildeten sind der Vater und die Stieftochter; sie treten natürlich führend hervor und schleppen das gleichsam tote Gewicht der anderen mit sich: den widerstrebenden Sohn, die Mutter wie ein Opfer und die beiden kleinen Geschöpfe, die außer ihrer äußerlichen Erscheinung fast noch keine Körperlichkeit besitzen.

Und so begab es sich, daß sie alle auf derjenigen Entwicklungsstufe sich uns zeigen mußten, die sie in der Phantasie des Dichters in dem Augenblick erlangt hatten, als er sich von ihnen befreien und sie fortjagen wollte.

Denke ich heute darüber nach, wie ich diese Notwendigkeit erkannt habe, wie ich unbewußt die Art der Lösung fand, so deucht es mich ein Wunder. Mir scheint, das Spiel wurde in einer plötzlichen Erleuchtung der Phantasie empfangen, in einem Augenblick, als alle Elemente des Geistes in wunderbarer Weise einander entsprachen und aufeinander eingeschaltet waren. Darum sollen auch die Gründe, die ich nun zu seiner Erklärung bringe, nicht etwa als vorgefaßte Absichten verstanden werden, mit denen ich an die Arbeit gegangen wäre und die ich nun verteidigen müßte, sondern mehr als eine Entdeckung, die mir selbst dabei nach und nach kam, mit der ich begonnen, die ich aber sicher in dem kurzen Umlauf eines irdischen Lebens niemals werde vollenden können.

Ich habe sechs Personen darstellen wollen, die einen Verfasser suchen. Die Darstellung des Dramas mißglückt eben darum, weil der Verfasser fehlt, den sie suchen. Und statt dessen stellt sich die Komödie dieses vergeblichen Versuches dar mit der ganzen Tragik der Tatsache, daß die sechs Personen von ihrem Autor abgelehnt wurden.

Aber kann man denn eine Person darstellen, indem man sie ablehnt? Offenbar muß man, um sie darzustellen, sie in die Phantasie aufnehmen und auf diese Art ausdrücken. Und so habe ich sie in der Tat aufgenommen und verwirklicht, diese sechs Personen – aber eben als Abgelehnte aufgenommen und verwirklicht.

Nun muß man begreifen, was ich denn in ihnen ablehnte. Gewiß nicht sie selbst, wohl aber ihr Drama, das sie selbst vielleicht ganz besonders interessierte, mich aber aus den oben erwähnten Gründen fast gar nicht.

Und was ist denn eigentlich wohl ihr Drama, das Drama einer Person?

Jedes Phantasma, jedes Geschöpf der Kunst muß, um zu existieren, sein Drama haben, das heißt ein Drama, dessen Hauptfigur es ist und für das es eine Figur bedeutet.

Das Drama ist der Lebensgrund für eine Person, ist ihre vitale Funktion, ist für ihre Existenz notwendig.

Ich habe also diesen Sechs das Leben gegeben, aber ihren Lebensgrund abgelehnt. Ich nahm ihren Organismus, ersetzte aber seine eigentliche Funktion durch eine andere kompliziertere, von der die eigentliche kaum ein Bestandteil bildete. Eine schreckliche und verzweifelte Lage, namentlich für die beiden – den Vater und die Stieftochter –, die am meisten von allen zum Leben drängen und das Bewußtsein haben, Gestalten zu sein, also unbedingt ein Drama brauchen, während sie doch gerade ihr eigenes, das einzige, das sie sich vorstellen können, abgelehnt finden. Eine »unmögliche« Lage, aus der sie um jeden Preis, lebendig oder tot, sich befreien müssen. Es ist richtig, daß ich ihnen als Lebensgrund, als vitale Funktion eben diese unmögliche Lage gab: das Drama, auf der Suche nach einem Dichter zu sein. Aber daß das ihr Lebenszweck sein soll für sie, die schon ein Eigenleben hatten, daß das ihre wahre notwendige Funktion sein soll, die sie zur Existenz berechtigt, das können sie nicht ahnen. Sagte es ihnen jemand, sie würden es nicht glauben. Ist es denn möglich, zu glauben, daß der einzige Grund unseres Lebens eine Marter sei, die uns ungerecht und unerklärbar deucht?

Ich verstehe deshalb nicht, mit welcher Berechtigung mir der Einwurf gemacht wurde, die Gestalt des Vaters stelle nicht das dar, was sie darstellen solle; sie träte aus ihrer Eigenschaft und Stellung als Person heraus und greife in die Rechte des Autors ein. Der Einwurf kommt wohl daher, daß diese Person häufig als eigene Geistesarbeit das ausgibt, was die meinige war. Doch das ist natürlich und hat nichts zu bedeuten. Abgesehen davon, daß die Geistesarbeit in der Gestalt des Vaters aus Gründen entsteht, erlitten und gelebt wird, die nichts zu tun haben mit dem Drama meiner persönlichen Erfahrung, bedenke man, daß dieses beides voneinander zu unterscheiden ist: einerseits die immanente Arbeit meines Denkens, die ich mit vollem Recht in einer Gestalt widerspiegeln kann; andererseits die Tätigkeit meines Geistes, die sich in der Verwirklichung dieser Arbeit darstellt und die eigentlich das Drama der sechs Personen auf der Suche nach dem Dichter bildet. Hätte der Vater an dieser Tätigkeit teilgenommen, hätte er mitgeschaffen an dem Drama der Gestalten, die ohne Dichter sind, dann und nur dann wäre die Behauptung richtig, daß er mitunter der Autor sei und also aus seiner eigenen Rolle herausfalle! Aber der Vater erleidet diese seine Rolle, Person auf der Suche nach dem Dichter zu sein, und schafft sie nicht, er erleidet sie als ein unerklärliches Geschick und als eine Lage, aus der er mit allen seinen Kräften herausstrebt. Er ist also nur eine »Person auf der Suche nach dem Dichter« und nichts weiter; auch wenn er meine geistige Arbeit als die seinige ausgibt. Hätte er teil an der Tätigkeit des Verfassers, so würde sich seine Tragik vollkommen lösen; er sähe sich aufgenommen, wär's auch nur als abgelehnte Person, doch immerhin aufgenommen in die Mutterphantasie eines Dichters und würde nicht mehr verzweifeln, weil er keinen findet, der ihm sein Leben als Person zusammensetzt. Das heißt, er würde mit tausend Freuden den Lebenszweck, den ihm der Dichter gibt, annehmen und seinen eigenen unbedenklich über Bord werfen. Er würde den Theaterdirektor und die Schauspieler zum Teufel jagen, die jetzt hingegen seine einzige Zuflucht sind.

Einer andern Person, der Mutter, liegt ihrerseits gar nichts daran, Leben zu haben, Leben als Selbstzweck verstanden. Sie hat nicht den geringsten Zweifel, daß sie lebendig ist. Es ist ihr auch nie eingefallen, sich danach zu fragen, wie und weshalb sie es ist. Kurz, sie ist sich gar nicht dessen bewußt, eine Person zu sein, löst sie sich doch nicht einen Augenblick von ihrer »Rolle« los. Sie weiß gar nicht, daß sie eine »Rolle« hat.

Dies macht sie zu einer ganz und gar organischen Gestalt. Ihre Rolle als Mutter duldet keine geistigen Umschichtungen. Sie hat keinen Geist. Sie lebt in einer Kontinuität des Gefühls, die sich niemals löst, und kann deshalb sich ihres Lebens, das heißt ihres »Person-seins« niemals bewußt werden. Aber trotzdem sucht auch sie auf ihre Art und für ihre Zwecke einen Verfasser. Und plötzlich scheint sie zufrieden, als man sie vor den Theaterdirektor bringt. Vielleicht weil auch sie hofft, von ihm Leben zu bekommen; nein, nur deshalb, weil sie hofft, der Theaterdirektor würde sie eine Szene mit dem Sohn darstellen lassen, in die sie so viel von ihrem eigenen Leben hineinlegen würde. Aber es ist eine Szene, die nicht existiert, die niemals sich ereignet hat noch sich ereignen könnte. So wenig ist sie sich ihres Person-seins bewußt, das heißt des Lebens, das sie erlangen kann, begrenzt und umrissen, Augenblick für Augenblick in jeder Geste und in jedem Wort.

Sie tritt mit den anderen Personen auf die Bühne, aber ohne zu begreifen, was man mit ihr vor hat. Offenbar glaubt sie, der Wahn, Leben zu besitzen, der Mann und Tochter beseelt und der auch sie auf eine Bühne gebracht hat, sei nur eine der unbegreiflichen Narrheiten dieses gequälten und andere quälenden Menschen und – o Entsetzen! – eine neue Unanständigkeit der armen irregeführten Tochter. Sie ist ganz und gar passiv. Die Ereignisse ihres Lebens und deren Bedeutung, ja ihre Wesensart selbst wird mehr von den anderen berichtet. Sie widerspricht nur einmal, als sich der mütterliche Instinkt in ihr auflehnt, um zu erklären, daß sie weder Sohn noch Mann verlassen will, weil man den Sohn ihr fortnahm und weil der Mann sie selbst verließ. Sie berichtigt diese Irrtümer. Sonst weiß sie von nichts und gibt sich über nichts Rechenschaft. Sie ist ein Stück Natur, in der Gestalt einer Mutter festgehalten.

Diese Gestalt hat mir eine neuartige Befriedigung gebracht, die ich nicht verschweigen will. Anstatt sie wie gewöhnlich als »unmenschlich« zu definieren – es scheint dies die besondere und unverbesserliche Eigenart aller meiner Geschöpfe zu sein –, haben alle meine Kritiker die Güte gehabt, mit »wahrem Vergnügen« festzustellen, daß meine Phantasie endlich ein ganz und gar menschliches Geschöpf hervorgebracht habe. Ich deute mir dies Lob auf folgende Art: Daß die arme Mutter ganz an ihre natürliche Bestimmung gebunden, ohne jede geistige Bewegungsfreiheit, wie ein Stück Fleisch dahinlebt, ganz hingegeben an ihr Amt, zu gebären, zu ernähren, zu erziehen und ihre Brut zu lieben, ohne ihren Verstand irgendwie einzuschalten, das macht sie zum vollkommenen »menschlichen Typ«. Gewißlich! Denn was gibt es im menschlichen Organismus Überflüssigeres als den Geist!

Aber solche Kritiker wollten trotz ihres Lobes die Mutter abtun, ohne bis zu dem dichterischen Zentrum vorzudringen, das diese Gestalt in dem Spiel bedeutet. Eine durchaus menschliche Gestalt ist sie, weil sie ohne besonderen Verstand ihres eigenen Daseins unbewußt bleibt und nach keiner Erklärung dafür sucht. Aber die Tatsache, daß sie von ihrem Person-sein nichts weiß, hindert sie nicht daran, es zu sein. Das eben ist ihr Drama in meinem Spiel, und sein lebendigster Ausdruck drängt sich in den Schrei, den sie ausstößt, als der Theaterdirektor ihr zu bedenken gibt, daß alles schon in der Wirklichkeit vorbei sei und kein Grund zu neuen Tränen – in den Schrei: »Nein, jetzt geschieht es, immer geschieht es! Meine Qual ist nicht am Ende! Ich bin ja immer da und lebendig, jeden Augenblick meiner Qual, und die lebt immer wieder von neuem!« – Und dies fühlt sie, ohne Bewußtheit und als etwas Unerklärliches. Aber sie fühlt es mit solchem Grauen, daß sie gar nicht daran denkt, es könne etwas sein, was man sich selbst und anderen erklären könnte. Sie fühlt es und nichts weiter. Sie fühlt es als Schmerz, und dieser Schmerz schreit unmittelbar aus ihr; so spiegelt sich in ihr die Starrheit ihres Lebens auf eine Weise, wie sie auf eine andere den Vater und die Stieftochter peinigt. Diese: Geist – sie: Natur. Der Geist lehnt sich auf oder sucht seinen Nutzen, wo er kann. Die Natur, solange sie nicht die Sinne aufpeitschen, weint nur leise.

Der innere Zwiespalt zwischen Leben und Form ist die unerläßliche Vorbedingung nicht nur der geistigen, sondern auch der natürlichen Ordnung der Dinge. Das Leben, das sich, um zu sein, in die Form unseres Körpers festlegte, tötet allmählich seine eigene Form. Der Schmerz dieser festgelegten Natur ist das unaufhaltbare beständige Altern unseres Körpers. Der Schmerz der Mutter ist auf die gleiche Weise bleibend und beständig. Auf drei Gesichtern lebendig geworden, in drei verschiedene Dramen gleichzeitig verstrickt, findet dieser innere Zwiespalt so in dem Spiel seinen vollendetsten Ausdruck. Und darüber hinaus deutet die Mutter mit jenem Schrei noch den besonderen Wert, der durch den menschlichen Geist geschaffenen, das heißt der künstlerischen Lebensform, einer Form, die ihr das eigene Leben weder abtötet noch aufbraucht. Begännen der Vater und die Stieftochter ihre Szene hunderttausendmal wieder von neuem, immer wieder würde in dem gegebenen Augenblick, in dem das Leben des Kunstwerks durch ihn ausgedrückt werden soll, dieser Schrei ertönen, unverändert und unveränderlich in seiner Form, aber nicht als mechanische Wiederholung, nicht als äußerlich Notwendiges, sondern immer lebendig und immer neu. Jedesmal frisch geboren und in die gleiche unvergängliche Form gekleidet. So werden wir immer, wenn wir das Buch aufschlagen, Francesca, die Lebendige, Danten ihre süße Sünde beichten hören. Und wenn wir hunderttausendmal die Stelle wieder lesen, hunderttausendmal würde Francesca ihre Worte wiederholen, aber nie mechanisch, sondern sie jedesmal als das erste Mal sprechend mit so gewaltiger und überraschender Leidenschaft, daß Dante jedesmal entseelt zu Boden stürzte.

Alles, was lebendig ist, hat Form, weil es lebendig ist, und darum muß es sterben. Mit Ausnahme des Kunstwerkes, das eben deshalb immer lebt, weil es Form ist. Die Geburt eines Geschöpfes der menschlichen Phantasie ist der Schritt über die Schwelle zwischen dem Nichts und der Ewigkeit, und da sie von der Notwendigkeit gezeugt wird, mag sie auch unversehens vor sich gehen. In einem erdachten Drama genügt es, daß eine Person irgendeine notwendige Sache sagt oder tut, und siehe da, die Person ist geboren und ist genau das, was sie sein soll. So erscheint Madame Pace unter den sechs Personen und scheint ein Wunder oder ein Trick auf der realistisch dargestellten Bühne. Aber es ist kein Trick. Die Geburt ist wirklich, die neue Person ist lebendig, nicht weil sie schon vorher lebte, sondern weil sie unter einem glücklichen Stern geboren wurde, weil sie ihre Eigenart als Person gleichsam als Notwendigkeit in sich trägt. So ereignete sich eine Spaltung, eine plötzliche Wandlung der Bühnenrealität, denn eine Gestalt kann ja auf diese Art gewiß nur in der Phantasie des Dichters und nicht auf den Brettern der Bühne entstehen. Ohne daß jemand es merkte, habe ich mit einem Schlag die Szene geändert: ich habe sie im Augenblick. in meine Phantasie aufgenommen, ohne sie jedoch den Augen der Zuschauer zu verschließen. Das heißt, ich habe auf der Bühne selbst meine Phantasie bei dem Akt des Gebärens enthüllt, von dem Blickpunkt der Bühne aus gesehen. Dies plötzliche und unkontrollierbare Übergehen von einer Wirklichkeitsschicht in die andere ist ein Wunder, von der Art, wie sie der Heilige vollbringt, der sein Standbild sich bewegen läßt, das in jenem Augenblick gewißlich weder von Holz noch von Stein ist. Aber es ist kein willkürliches Wunder. Obwohl die Bühne die phantastische Wirklichkeit der sechs Personen aufnimmt, ist sie nicht eine feste und vorbedachte Begebenheit. Alles entsteht dort erst, alles ist Bewegung, alles ist ein plötzlich entstandener Versuch. Auch die Wirklichkeitsschicht, in der sich dieses ungeformte Leben wandelt und wiederum wandelt, auch sie verändert sich beständig und auf organische Art. Als ich den Plan faßte, Madame Pace auf dieser Bühne allmählich entstehen zu lassen, spürte ich, daß ich es tun könnte, und ich tat es. Hätte ich gemerkt, daß diese Entstehung vom Wege abführte, ich hätte es vielleicht unterlassen; zum Schaden des Werkes. Denn entgegen trügerischer Scheinlogik entspringt diese phantastische Geburt einer Notwendigkeit, die geheimnisvoll mit dem ganzen Leben des Werkes in organischem Zusammenhang steht.

Es wurde mir der Einwand gemacht, das Stück verliere an Wert, weil es nicht wohl disponiert, sondern chaotisch, weil es überromantisch sei. Ich verstehe, wie man zu diesem Einwand kam. Die Darstellung des Dramas, das die sechs Personen enthält, erscheint zunächst wirr und ohne geordneten Fortgang, ohne logische Entwicklung und Verkettung der Geschehnisse. Das ist durchaus richtig. Ich hätte gar keine chaotischere, willkürlichere und kompliziertere – also romantischere – Manier finden können, das Drama, in das sich die sechs Personen verwickeln, darzustellen. Es ist richtig, aber ich habe ja gar nicht dies Drama dargestellt. Ich stellte ein anderes dar – und ich brauche wohl nicht wiederholen, welches! –, in dem man unter anderem gerade eine versteckte Satire auf die romantische Manier finden kann. Die sechs Personen drängen sich mit erhitzten Köpfen um die Wette zu den Rollen eines bestimmten Dramas, während ich sie als Personen eines anderen Spieles benutzte, von dem sie nichts wissen und ahnen, derart, daß ihre romantisch-leidenschaftliche Erregung in humoristischer Weise auf leerem Grunde steht. Und so konnte das Drama der Personen, nicht wie es sich gebildet hätte, wenn es meine Phantasie aufgenommen hätte, sondern eben als abgelehntes Drama, in der Ausarbeitung nichts anderes werden als eine »Situation«, mit großen Strichen entworfen, ein Querschnitt, ein ungeordnetes Chaos, ständig unterbrochen, in die Irre führend, widerlegt, ja sogar von einer der Personen selbst geleugnet und von zwei andern überhaupt nicht gelebt.

Der Sohn ist diese Person, die das Drama leugnet, das ihn zur Person macht und der doch seine einzige Bedeutung nur dadurch erhält, daß er eine Person ist, nicht von dem »Spiel, das gemacht werden soll«, sondern von demjenigen, das ich daraus gemacht habe. Überhaupt ist er der einzige, der nur als »Person auf der Suche nach dem Dichter« lebt, wenn auch der Dichter, den er sucht, kein dramatischer Dichter ist. Auch dies konnte nicht anders sein: so wie die Struktur der Personen in meiner Auffassung eine ganz organische ist, so logisch ist die Verwirrung der resultierenden Situation als ein neues Motiv romantischen Kontrastes.

Und hat ein jeder verstanden, daß unser Leben sich nicht künstlich erzeugen läßt und daß das Drama der sechs Personen, denen der Dichter fehlt, der sie mit Geist erfüllt, sich niemals wird darstellen lassen, so verstehen wir auch, wie der kleine Sohn, der gar keines menschlichen Sinnes, ja nicht einmal einer menschlichen Stimme bedarf, in seiner Wesenheit als Ding das herbeiführt, was geschehen muß: dumpf und zwecklos bricht er zusammen beim Knall einer mechanischen Schußwaffe und mit ihm der fruchtlose Versuch der Personen und der Schauspieler, denen der Dichter nicht hilft.

Luigi Pirandello.


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