Hermann Pies
Kaspar Hauser Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse
Hermann Pies

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VI. Die Bindersche Bekanntmachung.

(Einen in widerrechtlicher Gefangenschaft aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jungen Menschen betr.) 2138 F. 1–4

Vom Magistrat der königlich bayrischen Stadt Nürnberg wird hiermit ein Fall zur allgemeinen öffentlichen Kenntnis gebracht, der so merkwürdig und in seiner Art vielleicht so unerhört ist, daß er nicht nur die Aufmerksamkeit aller Polizei- und Justiz-, Zivil- und Militärbehörden, sondern auch die Teilnahme aller fühlenden Menschen unsers Vaterlandes in Anspruch nimmt.

Am zweiten Pfingstfeiertage, Montag den 26. Mai d. J., Nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr begegnete einem hiesigen Bürger am Eingange der Kreuzgasse dahier, bei dem s. g. Unschlittplatze ein junger Mensch, dem Anschein nach 16 bis 18 Jahre alt, ohne Begleitung und fragte ihn nach der Neutorstraße. Der Bürger erbot sich, dem jungen Menschen den Weg dahin zu zeigen und begleitete ihn; während dessen zog dieser aus der Tasche einen versiegelten Brief, worauf die Adresse stand: An Tit. Hrn. Wohlgebohner Rittmeister bei der 4. Esgataron bey 6. Schwolische Regiment in Nierberg, und dies bewog den Bürger, mit ihm auf die Wache vor dem Neuen Tor zu gehen, um dort am ersten Auskunft zu erlangen. Auf dem weiten Weg dahin suchte der Bürger ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, überzeugte sich aber bald, daß wegen Mangels an Begriffen bei ihm solches nicht möglich sei. Am Neuen Tore angelangt, wurde der junge Mensch nach Vorzeigung des gedachten Briefes an das nicht weit davon entfernte Haus gewiesen, in welchem der bezeichnete Herr Rittmeister wohnte. In dessen Abwesenheit bemühte sich der Bediente, den jungen Menschen möglichst auszufragen, konnte aber keine befriedigende Antwort erlangen, und, als inzwischen der Herr Rittmeister zurückgekommen war, den Brief gelesen, aber sich ebenfalls vergebens bemüht hatte, dessen ihm ganz fremden, rätselhaften Inhalt bei dem jungen Menschen näher zu erforschen, wurde solcher nebst diesem Briefe noch an jenem Abend dem Magistrat übergeben.

Was der Brief und dessen Beilage enthält, geht aus dem unter Nr. 1 folgenden im lithographierten ganz getreuen sämtlichen königl. Landgerichten des Ober- und Unterdonau-, Regen- und Isarkreises mitgeteilten Faksimile hervor.Die Reproduktion dieses Faksimiles ist diesem Werke beigegeben.

Das erste von einem Magistratspolizeibeamten mit ihm vorgenommene Verhör lieferte in abgerissenen kurzen Antworten kein anderes Resultat, als daß ihm weder der Ort noch die Gegend seiner Geburt oder seines Aufenthaltes noch seine Herkunft bekannt und daß er von demjenigen Unbekannten, bei welchem er »alleweil« (immer) gewesen, bis an das »große Dorf« (Nürnberg) gewiesen worden sei, wo sich alsbald der Fremde entfernt habe.

Ob nun schon dieses erste Verhör und die Art und Weise, wie er sich dabei benahm, keine Veranlassung gaben, anzunehmen, daß Blödsinn oder Verstellung zu Grunde liege, sondern vielmehr auf die Meinung führen mußten, daß dieser junge Mensch von seiner Kindheit an mit Entbehrung aller menschlichen Gesellschaft auf die unmenschlichste Weise in einem tierähnlichen Zustande einsam gefangen gehalten worden sei, wozu hauptsächlich der Umstand berechtigte, daß er nichts als Wasser und Brot genoß, so unterstellte ihn doch der Magistrat, um vor jeder Täuschung gesichert zu sein, neben der geheimen sorgfältigen Beobachtung des erfahrenen Gefängniswärters der genauen Untersuchung und Beobachtung des hiesigen königl. Stadtgerichtsarztes. Während aber jener nichts entdecken konnte, was irgend einen Verdacht gegen diesen jungen Menschen zu erregen imstande gewesen wäre, fiel nach sechs Tagen das gerichtsärztliche Gutachten wörtlich dahin aus: »daß dieser Mensch weder verrückt noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt wie ein halbwilder Mensch erzogen worden, zur ordentlichen Kost nicht zu bewegen sei, sondern bloß von schwarzem Brot und Wasser lebe.«

Von der Wahrheit dieses Urteils überzeugte sich der unterzeichnete Vorstand des Magistrats und Polizeisenats in einem bald nachher von ihm mit diesem jungen Menschen vorgenommenen umständlichen Verhör und es ergab sich hiebei, daß derselbe weder von Menschen noch von Tieren eine Vorstellung hatte und außer »Buben«, worunter er aber nur sich und denjenigen verstand, bei welchem er immer gewesen war, und einem »Roß« (Pferd), womit er gespielt, nichts kannte.

Diese Beschränktheit seiner Begriffe, – obschon im schreiendsten Widerspruche mit seiner auf die herrlichsten Naturanlagen deutenden großen Wißbegierde und einem ganz außerordentlichen Gedächtnisse, – bestimmte bald den Unterzeichneten, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlassen und statt deren sich vertraulich mit ihm zu unterhalten. Ärzte, Lehrer, Erzieher, Psychologen, Polizei- und Gerichtsbeamte, die scharfsichtigsten Beobachter aus allen Ständen und unzählige an seinem früher traurig gewesenen Schicksale innigen Anteil nehmende Personen erhielten seitdem Zutritt zu ihm und ihre mehrfältig ausgesprochenen Erklärungen stimmen mit den Ansichten der unterzeichneten Polizeibehörde überein.

Er selbst befindet sich in einem, soweit es unbeschadet der Aufsicht über ihn geschehen kann, möglichst freien Zustande, bleibt sich aber, der täglich sichtbaren erfreulichen Fortschritte in seiner geistigen Entwicklung ungeachtet, in der ersten Erzählung seines Schicksals treu. Um so sicherer kann daher sein bisheriges Leben, insoweit es ihm selbst klar ist, aus unzähligen Unterhaltungen des unterzeichneten Vorstandes mit ihm wie folgt mitgeteilt werden.

Kaspar Hauser – so nennt sich das Opfer unmenschlicher Behandlung und sein Signalement ist in der unten folgenden Beilage Nr. II angegeben (wovon hieher nur zu bemerken ist, daß er die bayrische Mundart spricht, wie man sie in der Gegend von Regensburg, Straubing, Landshut usw., vielleicht auch Altötting, Burghausen hört, und daß er am rechten Arm geimpft ist), war immer ganz allein eingesperrt und sah und hörte niemand anders als das Ungeheuer, das ihm seine einzige Nahrung, Brot und Wasser, reichte. Er befand sich stets in einem kleinen, engen, niedrigen Raum zu ebener Erde, dessen Boden nicht gebrettert war, sondern, wie es scheint, aus festgeschlagener Erde, dessen Decke aber aus ineinandergeschobenen und befestigten Brettern bestand. Zwei kleine, längliche Fenster waren mit Holzstößen verschlichtet und durch sie drang daher nur ein schwaches dämmerndes Licht; niemals sah er die Sonne. Er saß in einem Hemde und kurzen, am Knie gebundenen, wahrscheinlich dunkelfarbigen und durch einen Hosenträger (nach bayrischer Mundart »Halfter«) gehaltenen Hosen ohne alle weitere Bekleidung auf dem Boden und spielte mit zwei weißen hölzernen Pferden, die er sonst Rosse nannte, und einem weißen hölzernen Hund, hing ihnen verschiedene kleine Spielsachen um den Hals und sprach mit ihnen so viel, als ihm der Mangel an Wörtern und somit die Armut an Begriffen gestattete. Das eine dieser Pferde war kleiner als das andere, keines höher als ungefähr 1 bis 1 ¼ Schuh und der Hund viel kleiner als beide – demnach gewöhnliche Kinderspielwerke. Im Boden seines Behältnisses stand, wie es scheint, mit ausgehöhlter Vertiefung, ein Hafen oder ein ähnliches Gefäß mit einem Deckel, in welches er seine körperlichen Bedürfnisse verrichtete, nicht weit davon lag auf der Erde ein Strohsack, welchen er zuerst sein Bett nannte. Da er wegen Mangel an Übung fast gar nicht stehen und gehen konnte, sondern, wenn er sich aufrichtete, fiel, so rutschte er auf dem Boden bei seinen Pferden herum, von diesen zum Hafen und von da zum Strohsack, auf welchem er schlief. Dies geschah immer, sobald die Nacht hereinbrach. Der früheste Morgen traf ihn schon wieder wach. Beim Erwachen fand er vor seinem Lager schwarzes Brot und frisches Wasser und den oben gedachten Hafen geleert; er schließt daraus mit Recht, daß statt der Nahrungsmittel, welche er immer tags vorher verzehrt hatte, während des Schlafes ihm neue gebracht worden sind und auf gleiche Weise die Reinigung des Hafens erfolgt ist. Ein gleiches behauptet er auch hinsichtlich des Beschneidens der Nägel und Haare. Sein Hemd wechselte er selten und da er nicht weiß, wie es geschah, so behauptete er, daß es ebenfalls während des Schlafes, der gut und fest war, geschehen sein müsse. Das Brot, das er genoß, war ihm zureichend, an Wasser dagegen hatte er nicht immer Vorrat nach Durst.

Der Eingang zu seinem Kerker war mit einer kleinen, niedrigen Tür verwahrt und diese von außen verriegelt. Der Ofen darin war weißfarbig, klein, rund, wie etwa ein großer Bienenkorb geformt und wurde von außen geheizt (oder wie er sich ausdrückte »einkenten«). Lang, lang, aber wie lang, das weiß er nicht, weil er keinen Begriff von der Einteilung der Zeit hatte, war er in diesem Kerker gewesen. Niemand hatte er darin gesehen, keinen Strahl der Sonne, keinen Schimmer des Mondes, kein Licht, keine menschliche Stimme, keinen Laut eines Vogels, kein Geschrei eines Tieres, keinen Fußtritt gehört. Da öffnet sich endlich die Türe des Kerkers und der Unbekannte, welcher ihn bis Nürnberg geführt, trat ein, barfuß und fast ebenso, wie er, dürftig gekleidet und gebückt, um nicht anzustoßen, so daß, obschon er nur mittlerer Größe war, beinahe die Decke des Kerkers auf ihm ruhte, und gab sich ihm als denjenigen zu erkennen, der ihm immer Brot und Wasser gebracht und die Pferde geschenkt habe.

Derselbe gab ihm die unten unter Beilage Nr. III verzeichneten Bücher, sagte ihm, daß er nun lesen und schreiben lernen müsse und dann zu seinem Vater komme, der ein Reiter gewesen sei, und daß er auch ein solcher werden solle. Bei seinen außerordentlichen, durch die langwierige und furchtbare Einkerkerung dennoch nicht in Stumpfsinn übergegangenen geistigen Anlagen fand die Bemühung des Unbekannten leicht Eingang. Er lernte, wie er sagt und ihm auch nach seinen jetzigen sichtbaren Fortschritten ebenfalls zu glauben ist, schnell und leicht, aber doch nicht viel, sondern nur notdürftig lesen und seinen Namen schreiben, weil der Unbekannte immer nur nach 4 Tagen, am fünften Tage wieder zu ihm kam und ihn unterrichtete. Immer aber kam er in derselben Kleidung, barfuß, und Hauser hörte ihn nicht eher kommen, als bis er die Türe geöffnet hatte.

Um seine Lernbegierde zu vermehren, versprach ihm derselbe zu erlauben, daß, wenn er gut lerne, er mit den Rossen in seinem Kerker herumfahren dürfe; aber noch beklagt er es bitter, daß, obschon er jene Bedingung erfüllt habe und dann herumgefahren sei, der Unbekannte nicht Wort gehalten, sondern ihn mit einem Stecken dafür, und wenn er weinte, gezüchtigt habe (wovon auch noch die Spuren am rechten Ellenbogen sichtbar sind) und daß er ihm das Fahren ernstlich verboten habe. Zum Schreiben bediente er sich eines Bleistifts, welchen der Unbekannte für eine Feder ausgab. Bei Erteilung dieses Unterrichtes schärfte ihm dieser ernstlich ein, »niemals zur Türe hinauszuwollen, weil über ihm der Himmel und darin ein Gott sei, der bös würde und schlage, wenn er hinaus wolle.«

So verging wieder eine geraume Zeit, doch war sie nach seiner Meinung nicht so lang, als er sich in Nürnberg befindet, da wurde er auf einmal nachts geweckt. Der Unbekannte stand wieder vor ihm und sagte ihm, daß er ihn jetzt fortführen wolle. Er weinte darüber, ließ sich aber durch die ihm inzwischen oft vorgesagte, wahrscheinlich auch erklärte und lieb gewonnene Vorstellung, daß er zu seinem Vater komme und daß er wie dieser ein Reiter werde, bald beruhigen. Der Unbekannte, der bis dahin immer nur in bloßen Hemdärmeln, kurzen gebundenen Hosen und barfuß zu ihm gekommen war, hatte sich nun außerdem auch noch in einen kurzen Schalk (auch Jankerl, Kittel genannt) gekleidet, Stiefel angezogen, einen groben runden schwarzen Herrenhut aufgesetzt und blaue Strümpfe an.

Er nahm Hauser, wie er war, auf den Rücken und trug ihn, bloß mit einem Hemd und kurzen gebundenen Hosen bekleidet und mit einem großen schwarzen breiten runden Bauernhut mit hohem Kopf bedeckt, gleich von seinem Kerker aus ins Freie und unmittelbar darauf einen langen hohen Berg hinauf immer weiter fort bis es Tag wurde. Er war indes wieder eingeschlafen und erwachte erst, als er auf den Boden niedergesetzt wurde; da lehrte ihn der Unbekannte gehen, was ihm sehr schwer fiel, denn er war barfuß und seine Fußsohlen sehr weich, er mußte daher sich oft niedersetzen, endlich konnte er aber doch besser gehen und abwechselnd unter Gehen und Ausruhen trat die zweite Nacht ein. Sie legten sich im Freien auf die Erde nieder, es regnete heftig, oder, wie er sich früher ausdrückte, schüttete vom Himmel herunter, und den armen Kaspar Hauser fror es stark. Er schlief indessen doch ein und setzte mit Anbruch des zweiten Tages in Begleitung des Unbekannten auf gleiche Weise die Reise weiter fort. Das Gehen war ihm leichter geworden, aber die Beine und Lenden schmerzten ihn um so heftiger. Mit einbrechender dritter Nacht lagerten sie sich wieder auf der Erde im Freien; diesmal regnete es zwar nicht, doch war es sehr kalt und es fror ihn abermals heftig. Mit der ersten Helle des dritten Tages setzten sie ihre Reise in der vorigen Weise fort und als es noch weit von hier war, nahm der Unbekannte aus einem in ein Tuch eingebundenen Bündel, das er mit sich trug, die unten in der Beilage II beschriebenen Kleider bis auf die blauen Strümpfe, welche er sich selbst von den Füßen zog, und zog ihm alles an. Derselbe vertauschte alsdann seinen Hut, der ein grober schwarzer Herrenhut war, gegen denjenigen, welchen er ihm bei dem Weggang aus dem Kerker gegeben hatte, zog barfüßig seine Stiefel wieder an, die nach Hausers Meinung weit schöner waren als die schlechten Stiefel, die er hatte anziehen müssen, und nahm dessen im Kerker getragene Hosen an sich. So verändert setzten sie ihre Reise weiter fort. Ihre Nahrung auf dem ganzen Weg blieb dieselbe, welche Hauser im Kerker genossen hatte, das Brot, in einem großen Laib bestehend und das Wasser in einer Bouteille trug der Unbekannte in der Tasche bei sich. Derselbe beschäftigte sich auf dem ganzen Wege damit, ihm nach einem Rosenkranz, den er damals zum erstenmal sah und von jenem erhielt, das Vaterunser und noch ein anderes Gebet zu lehren, welche beide er früher nie gehört hatte und jetzt noch gut vorsagen kann. Auch unterhielt derselbe ihn stets mit der Erzählung, daß er zu seinem Vater komme und ein Reiter werde, der dieser gewesen sei, was ihm immer Freude machte. Sie kamen auf dem ganzen Weg in kein Haus, wohl aber an Häusern und Menschen vorbei, die aber natürlich Hauser nicht beschreiben kann. Der Unbekannte ermahnte ihn hiebei, immer nur auf den Boden zu sehen, damit er ordentlich gehen könne, wahrscheinlich aber mehr noch deswegen, damit er keine Eindrücke von den Umgebungen aufnähme, an welchen er sich dereinst wieder zu erkennen imstande wäre. Er tat dies auch pünktlich.

Als sie endlich Nürnberg, welches der Unbekannte mit dem Namen des »großen Dorfs« bezeichnete, sich genähert hatten, zog derselbe den bereits erwähnten Brief aus der Tasche und übergab ihn dem Kaspar Hauser mit dem Auftrag, solchen in das große Dorf hineinzutragen, einem Buben zu zeigen und zu geben, der ihn weiter führen würde. Er bezeichnete ihm, wie es scheint, oft und genau den Weg, den er allein zu gehen habe, und versprach ihm, als Hauser sich ungern von ihm trennte, gleich nachzukommen.

Hauser ging, wie ihm geheißen worden war, immer gerade vor sich hin, kam so zum Tor, ohne mehr zu wissen zu welchem, herein und wahrscheinlich bald nachher zu dem Bürger, der ihm den Weg zeigte. –

Wenn dieses in seiner Art vielleicht einzige, in Akten noch nicht vorgekommene Beispiel unbarmherziger, unmenschlicher Behandlung jedes menschlich fühlende Herz ergreift, so möge auch der scharfprüfende Verstand in nachfolgenden treugegebenen Zügen die lautere Wahrheit dieses Falles erkennen. Die weiche Hand unseres Findlings, die einfache Kost, die er bei äußerem gesunden Aussehen und wohlgenährtem Körper, mit dem größten Abscheu vor jeder andern nahe oder fern ihm dargebotenen oder auch versuchten und sogleich mit wahrem Ekel zurückgewiesenen Kost noch bis zur Stunde genießt, die Empfindlichkeit seiner Geruchs- und Geschmacksnerven gegen die einfachsten Gegenstande, z. B. Blumen, Erdbeeren, Milch, die auf andere Menschen keinen Eindruck machen, der mit seinem, dem Anschein nach starken, aber zufolge angestellter Versuche sehr schwachen, an die Kräfte eines achtjährigen Kindes nicht hinreichenden Körper ebenfalls in Widerspruch stehende langsame, schwankende und ihn anstrengende Gang, der ihn in das Alter eines Kindes von zwei Jahren versetzt; die Nervenschwäche, die sich bei kleinen Anstrengungen durch momentanes Zittern der Hände und Zucken der Gesichtsmuskeln ausspricht, der zwar helle und weittragende aber nicht kräftige, gegen den Eindruck des Tageslichts sehr empfindliche Blick, die Neigung, solchen auf die Erde zu richten, wie die Neigung zur Einsamkeit, eine gewisse Unbehaglichkeit im freien großen Reiche der Natur und unter vielen Menschen, die Abneigung gegen großes Geräusch und Lärmen, die Dürftigkeit in Worten, Vorstellungen und Begriffen von allen sinnlichen und übersinnlichen Gegenständen, im auffallenden Kontraste mit dem sichtbaren Bestreben, sich verständlich zu machen und zu verstehen, und die Weise, nur in kurzen abgebrochenen Sätzen zu sprechen, diese wichtigen Momente zusammen lassen mit vollem Rechte schließen, daß er viele, viele Jahre lang mit Ausschließung von aller menschlichen Gesellschaft widerrechtlich eingekerkert gewesen ist.

Sein reiner offener schuldloser Blick dagegen, die breite hohe Stirn, die höchste Unschuld der Natur, die keinen Geschlechtsunterschied kennt, nicht einmal ahnt, und erst jetzt die Menschen nur nach den Kleidern zu unterscheiden gelernt hat, seine unbeschreibliche Sanftmut, seine alle seine Umgebungen anziehende Herzlichkeit und Gutmütigkeit, in der er anfangs immer nur mit Tränen und jetzt, nach eingetretenem Gefühle der Freiheit, mit Innigkeit selbst seines Unterdrückers gedenkt, die zuerst in heißer Sehnsucht nach seiner Heimat, seinem Kerker und seinem Kerkermeister bestandene, dann aber in wehmütige Erinnerung übergegangene und erst jetzt durch liebevolle Behandlung allmählig verschwindende Anhänglichkeit an das Vergangene, die eben so aufrichtige als rührende Ergebenheit an alle diejenigen, welche häufig mit ihm umgehen und ihm Gutes erweisen, sein Vertrauen aber auch gegen alle andere Menschen, seine Schonung des kleinsten Insekts, seine Abneigung gegen alles, was einem Menschen oder Tier nur den leisesten Schmerz verursachen könnte, seine unbedingte Folgsamkeit und Willfährigkeit zu allem Guten ebensosehr als seine Freiheit von jeder Unart und Untugend, verbunden gleichwohl mit der Ahnung dessen, was böse ist, und endlich seine ganz außerordentliche Lernbegierde, durch die er mit Hilfe eines ebenso schnell fassenden als treuen Gedächtnisses seinen Wörtervorrat, der anfangs kaum in 50 Wörtern bestand, bereichert und bereits Vorstellungen und Begriffe von vielen Gegenständen, deren er außer denen, welche in seinem Kerker waren, keine kannte und jetzt auch von Zeit und Raum erlangt hat, seine ganz besondere Vorliebe für die ihm früher ganz unbekannt gewesene Musik und das Zeichnen, seine Neigung und Geschicklichkeit, beide zu erlernen, und seine ganz ungemeine Ordnungsliebe und Reinlichkeit, so überhaupt sein ganzes kindliches Wesen und sein reines unbeflecktes Innere – diese wichtigen Erscheinungen zusammen geben in demselben Maße, in welchem sie seine Angaben über seine widerrechtliche Gefangennahme unterstützen und bekräftigen, die volle Überzeugung, daß die Natur ihn mit den herrlichsten Anlagen des Geistes, Gemüts und Herzens reich ausgestattet hat. Sie berechtigen aber auch eben deshalb, und bei genauer Prüfung des sich durchaus als unwahrscheinlich und erdichtet darstellenden Inhalts des unter Nr. I abgedruckten Briefes zur dringenden Vermutung, daß mit seiner widerrechtlichen Gefangenhaltung das nicht minder schwere Verbrechen des Betrugs am Familienstande verbunden ist, wodurch ihm vielleicht seine Eltern, und wenn diese nicht mehr lebten, wenigstens seine Freiheit, sein Vermögen, wohl gar die Vorzüge vornehmer Geburt, in jedem Falle aber neben den unschuldigen Freuden einer frohen Kinderwelt die höchsten Güter des Lebens geraubt und seine physische und geistige Ausbildung gewaltsam unterdrückt und verzögert worden ist. Der Umstand, daß er im Kerker mit seinen Spielsachen sprechen konnte, ehe er den Unbekannten gesehen und von ihm Unterricht in der Sprache erhalten hat, beweist aber auch zugleich, daß das Verbrechen an ihm schon in den ersten Jahren der Kindheit, vielleicht im zweiten bis vierten Jahre seines Alters und schon daher zu einer Zeit angefangen wurde, wo er schon sprechen konnte und vielleicht schon der Grund zu einer edlen Erziehung gelegt war, die, gleich einem Stern in der dunklen Nacht seines Lebens, aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtet.

Daher ergeht, nicht um ihn zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn und betrachtet ihn als ein ihr von der Vorsehung zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne den vollen Beweis der Ansprüche anderer auf ihn nicht abtreten wird, sondern um das Verbrechen zu entdecken, das ohne allen Zweifel an ihm begangen wurde, um den Bösewicht oder seinen Gehilfen zu entdecken, die es begingen, und um ihn dadurch womöglich in den Besitz der verlorenen Rechte der Geburt wieder einzusetzen, an alle Justiz- und Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und alle diejenigen, welche ein menschliches Herz in dem Busen tragen, die dringende Aufforderung, alle und auch nur die entferntesten Spuren, Anzeigen und Verdachtsgründe, welche auf die Entdeckung des Verbrechens führen könnten, der unterzeichneten Polizeibehörde mitzuteilen und diese dadurch in den Stand zu setzen, die Verhandlungen dem betreffenden Gericht zur weitern Einschreitung übergeben zu können. – Es darf in dieser Hinsicht kaum erinnert werden, daß die Nachforschungen sich neben der Ausmittelung des Kerkers, oder wenigstens der wahrscheinlich stillen einsamen Gegend, wo er liegt oder gelegen war, denn der Bösewicht, der Häuser darin gefangen hielt, möchte jenen vielleicht nach der Wegführung unsres Findlings der Erde gleichgemacht und jede Spur davon vertilgt haben, auch auf die Ausmittelung eines Kindes richten müssen, welches in einem Alter von 2 bis 4 Jahren vor 14 bis 18 Jahren vermißt worden ist und über dessen Verschwinden vielleicht bedenkliche Gerüchte in Umlauf gekommen sind.

Jede Mitteilung, jeder Wink wird dankbar benützt und wenn sich der Angeber genannt hat, dessen Name möglichst verschwiegen, auch nach Umständen derselbe reichlich belohnt werden.

Anonyme Anzeigen dagegen können nicht berücksichtigt werden.

Nürnberg, den 7. Juli 1828.

Der erste Bürgermeister Binder.

Erste Beilage.

Wortlaut des Briefes, den Häuser bei sich trug

Text des Briefes und Zettels s. Bd. I Seite 37 f., die Abbildung des Faksimiles Seite 112 f.

Bemerkungen hinsichtlich des Briefs und seiner Beilage.

Das Siegel, womit der Brief rot verschlossen war, scheint ein Handwerkssiegel zu sein; beim Aufmachen des Briefs wurde es aber zu sehr verletzt, als daß man seine ursprüngliche Beschaffenheit erkennen könnte. – Die darauf befindlichen Buchstaben, welche man noch für ein G. I. R. oder G. F. R. halten kann, sind ohne Zweifel, um sie unkenntlich zu machen, nach dem Einsiegeln heraus- oder abgekratzt worden. Durch Vergleichung der Handschrift des in dem Brief selbst eingeschlossenen, auf einem Oktavblättchen geschriebenen Zettels mit der Handschrift des Briefs ergibt sich, wenngleich jener mit lateinischen, dieser mit deutschen Buchstaben geschrieben ist, eine große Ähnlichkeit zwischen beiderlei Schriftzügen.

Auch sind beide offenbar mit ein und derselben Tinte geschrieben, und es geht daraus hervor, daß der Zettel nicht schon vor 16 Jahren, sondern erst jetzt geschrieben und also erdichtet wurde. Denn wäre der Zettel 16 Jahre älter als der Brief, so würde die Tinte eine ganz andere Farbe als die im Briefe angenommen haben. Dies scheint der übrigens schlaue, bösartige Betrüger vorher nicht erwogen zu haben.

Das Wasserzeichen im Papier heißt I. Reindel, welcher eine Papiermühle in Mühlhof, im königlichen Landgericht Schwabach im Rezatkreise des Königreichs besitzt. Vielleicht gibt es aber auch wo anders einen Papierfabrikanten dieses Namens.

Zweite Beilage

Signalement Kaspar Hausers

Er ist mittlerer Statur, wohlgewachsen, hat hellbraune fast ins Blonde fallende Haare, ein ovales Gesicht, breite hohe Stirne, braune Augenbrauen, graue Augen, eine mittelgroße, etwas breite Nase, einen proportionierten Mund mit etwas aufgeworfener Unterlippe, ein rundes Kinn, einen hellen wie an den Backen schwach hervorkeimenden Bart, gute Zähne, eine gesunde Gesichtsfarbe, eine angenehme Gesichtsbildung und außer dem Impfzeichen am rechten Arm kein besonderes Zeichen.

Bei seiner Ankunft in Nürnberg war er bekleidet mit einem groben, runden, schwarzen, mit gelber Seide gefütterten und mit rotem Leder besetzten Filzhut von der Form, in der er von den mittleren und höheren Ständen getragen wird. Auf dem Boden des Hutes ist eine Abbildung, die Stadt München darstellend, aufgeklebt, welche wahrscheinlich den Namen und den Ort des Fabrikanten bezeichnen soll.

Wahrscheinlich waren beide in der Form eines Herzens aufgedruckt oder geschrieben; denn man sieht deutlich, daß etwas herausgekratzt ist. Er war ferner bekleidet mit einem schwarzseidenen Halstuch, einer alten, ausgewaschenen, rotgetupften, zeugenen Weste mit runden, durchbrochenen, gelbmetallenen Schleifen, die man samt den erstem aus der Weste nehmen und in eine andere einmachen kann und die bekanntlich vor 12 bis 14 Jahren zur Mode gehörten, aber jetzt nur noch selten gesehen werden; ferner mit einem dunkelgrautuchenen Kittel (auch Schalk, Jankerl genannt) mit tuchenen Knöpfen, mit dergleichen Pantalons, zwischen den Beinen mit dergleichen Tuch besetzt, mit kalbledernen Halbstiefeln, die zu seinen Füßen nicht recht paßten und ihm daher wehe taten, mit hohen Absätzen und Hufeisen, die Sohlen mit Nägeln beschlagen.

Sein Dialekt ist der altbayrische, wie er in der Gegend von Regensburg, Straubing, Landshut, vielleicht auch Altöttingen, Burghausen gesprochen wird. Er sagt zum Beispiel »hoamweisen« statt heimweisen; »a söchenes möcht i« statt ein solches möchte ich; »er kümmt scho, wenn i a Reiter wer, wie mei Voter aner gween is« statt er kommt schon, wenn ich ein Reiter werde, wie mein Vater einer gewesen ist usw. Jetzt aber veredelt sich durch den Unterricht sein Dialekt von Tag zu Tag.

Dritte Beilage

Beschreibung der übrigen Gegenstände, welche Kaspar Hauser bei sich hatte.

  1. Ein Gebetbüchlein, betitelt: Geistliches Vergißmeinnicht, d.i. schöne auserlesene und eifrige Morgengebether, einer frommen Seele, Altöttingen, bei Johann Michael Seidel, bürgerlicher Buchbinder;
  2. ein kleiner Rosenkranz von Horn, mit einem metallenen Kreuz;
  3. ein deutscher Schlüssel;
  4. eine gedruckte Piece, betitelt: Sechs andächtige und kräftige Gebeter;
  5. Eine dergleichen: Geistliche Schildwacht betitelt (gedruckt zu Prag);
  6. eine dergleichen, mit geschriebenen Rosenkranzgebeten und mehreren gedruckten Gebeten und Bildnissen, darunter:
  7. ein sehr kräftiges Gebet, dadurch man sich aller heiligen Messen ect. teilhaftig machen kann ect. (ohne Jahrzahl). Gedruckt und zu finden in Burghausen.
  8. Gebet oder Aufopferung seiner selbst vor dem Hochwürdigsten Gut (ohne Jahrzahl). Burghausen, gedruckt und zu finden bei Jakob Lutzenbergers churfürstlichen Regie ...
  9. Gebet zu dem hl. Schutzengel (ohne Jahrzahl). Salzburg, zu haben bei Franz Xaver Oberer.
  10. Die drei theologischen Tugenden ect. (ohne Jahrzahl). Salzburg, zu haben bei Franz Xaver Oberer.
  11. Kunst, die verlorene Zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen ect. (ohne Jahrzahl). Gedruckt und zu finden in Burghausen.
  12. Gebet zu dem hl. Blut (ohne Jahrzahl). Gedruckt in Prag.
  13. Gebet zu der unbefleckten Empfängnis Mariä ect. Im Jahr 1770.

Alle, sowohl gedruckte als geschriebene Gebete dem Anscheine nach alt und lange aufbewahrt.

7. Ein viereckig zusammengeschlagenes Papier, worin sich eine kleine Quantität Goldsand befindet.

8. Einige leinene blau und weiß geblumte Lumpen.


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