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VIII

Als der Abend kam, drangen fröhliche Lieder aus den vielen Zelten, die überall auf der Hofwiese errichtet waren, damit die Gäste ihr Unterkommen hätten, die von den weiter entfernt liegenden Höfen gekommen waren. Nur ein kleiner Teil von ihnen hatte in den Gebäuden des Hofes Platz gefunden, und zumeist waren es die Älteren, die eine Nacht im Zelt nicht mehr gut vertrugen. Das junge Volk blieb draußen und war außerdem froh über diese Anordnung. Ein Abend war es, an dem die Sonne wie ein Purpurball hinter die Berge niederstieg. Und als sie ihre Grate erreicht hatte und ihre letzten Strahlen nur noch vereinzelt über die Wiesen blitzten, begann plötzlich der Himmel in Nordwest von einer schweren qualmenden Glut zu brennen, in deren Widerschein die Gesichter leuchteten und verklärt wurden. Feine Schleier krochen nach einiger Zeit durch die Niederungen und Gräben, die sich zuletzt zusammentaten und die Wiese in ein wogendes Meer verwandelten, in dem die Schatten der Pferde und Menschen nur noch schwer zu sehen waren. Der Hof versank in diesem Meer, als die Nacht hereinbrach. Es wurde eine Nacht, wie geschaffen zu heimlichem Wispern und heimlichem Tun.

Kjarval stand wohl lange vor dem Haus und schaute in der Richtung nach den Bergen, die verschwunden waren in den wallenden Nebeln. Es sah aus, als ob das milchige weiße Branden ihm nicht gefallen wollte, nicht gerade. Und als er sich einmal umdrehte, weil er dachte, daß er einen Schritt hinter sich gehört hätte, da stand Geir Thors in der Tür und hatte kleine Augen, genau wie er selbst, Und auch Geir Thors sah zu den Bergen hin.

»Hm, also –« räusperte sich der Bauer und tat einen Schritt weiter auf die Wiese hinaus. Und Geir folgte ihm.

»Das da! – Meinst du, – was meinst du, wo sie nun sein werden?« Er dachte an Thorkill und seine Leute, die doch bald die Berge hinter sich gelassen haben mußten.

»Schwer zu sagen, das!« nickte Geir, denn sicher hatte der Bauer keine Antwort erwartet. Wer konnte auch wissen, wie weit sie nun gekommen waren.

»Jedenfalls, – man reitet nicht im Nebel!« brummte er noch und dachte an den schmalen Felssteig, der die letzte Wegstrecke vor dem Tal bildete und in die großen Grasebenen des Südens hinüberführte. »Sie haben Halt gemacht, – ich denke, jenseits!«

Kjarval drehte sich um und blickte auf den Burschen. Aber er konnte nichts herauslesen aus seinem Gesicht. Starr war es. Es war nichts aus ihm zu lesen, nein!

»Jau, du wirst wohl recht haben. Jenseits werden sie sein. Jau!« –

»Wo seid Ihr, Vater?«

Asdis kam zu den beiden Männern heraus.

Ihr Gesicht war noch blasser als sonst an diesem Abend. Vielleicht kam das nur von dem schwarzen Festkleid ihrer Mutter, das sie zur Begrüßung der vielen Menschen angelegt hatte, über dem fein und schmal ihr Kopf stand mit seinen blonden Haaren und dem kleinen niedrigen Samtbarett, das sie auf dem Scheitel trug. So dachte der Bauer erst. Aber als das Mädchen neben ihm stand und kein Wort weiter fand, sondern nur blaß in die Nacht blickte, da dachte er sich noch mehr und dachte dabei daran, daß sie auf Leif wartete. Und sich also nach ihm sehnte, – das Mädchen. Er reckte sich auf danach und stand plötzlich steif wie ein Stück Holz und preßte die Lippen zusammen, weil er sich dachte, daß nun alles vorbei sei und sein Warten umsonst und seine Hoffnung, daß am Ende alles noch gut gehen könnte. Es war die schwerste Stunde seit dem Tag, da er ihren Brief erhalten hatte mit der Nachricht von Leif.

Asdis stand neben ihm und schob leise ihre Hand unter seinen Arm, als wollte sie sich an ihm festhalten und Hilfe von ihm haben, irgendeine Hilfe, vielleicht Verstehen. Endlich! Vielleicht sollte Kjarval endlich wissen, daß ein warmes lebendes Menschenkind mehr war als ein Hof und mehr als Hunderte von Pferden und Schafen. So dachte Kjarval å Arnarholt, als er die Bewegung des Mädchens wahrnahm. Er knurrte vor sich hin, als Asdis plötzlich ihren Kopf an seine Brust legte. Danach sah er zu Geir hinüber. Aber der Bursche war weggegangen.

Der Vater legte seine schwere Hand auf den Rücken des Mädchens und spürte, daß es bebte und zuckte in ihrem Leib. Gerade so, als ob sie nun weinte. Da nahm er auch noch die andere Hand und legte sie auf die Schulter seiner Tochter und hielt sie stumm bei sich. Mochte der Teufel wissen, daß er nichts anderes tun konnte. Seine Sorgen mußten klein werden und gering, wenn sein eigen Blut im Schmerz an ihm hing und bei ihm Zuflucht suchen wollte und Schonung, weil es vielleicht zu viel geworden war, was das Mädchen sich in den vergangenen Tagen und Wochen zusammengedacht hatte. Und weil es nun einen Ausweg suchte. Er beugte danach sogar seinen grauen Kopf herab zu seinem Kind, während er ihr unaufhörlich übers Haar strich, weil das Beben in ihrem Leib immer stärker wurde. Der große harte Kjarval brummte wie ein gutmütiger Bär, bis das Mädchen Asdis sich langsam wieder von ihm löste und wortlos ins Haus hineinging, ohne sich nach ihm umzusehen. Kjarval hörte sie gehen und stand trotzdem immer noch und schaute in den Nachtnebel hinein.

In einem der Zelte ging es laut her. Dort saß Helge zusammen mit ein paar anderen Knechten. Und die andere Seite war natürlich auch vertreten. Die blonde Lara saß auf Helges Schoß, weil er das durchaus so haben wollte. Und daneben saß Hildur bei Gunnlaugur und kicherte und tat ein wenig, als ob sie sich schämte. Und auch andere Mägde waren noch da und Burschen. Helges Gesicht war nicht besonders fröhlich, obwohl er in die lustigen Lieder der anderen einstimmte. Durchaus nicht fröhlich also. Er dachte sich, daß hier zu viele Leute waren, zehn, zwölf, meinetwegen auch mehr. Und das waren zuviel, wenn ebensogut zwei allein genügt hätten. Er ließ einmal sein Mädel von den Knien gleiten und kroch zum Zelt hinaus, um sich das Wetter zu betrachten. Dann griff er nach hinten wieder unter die Blahe und zog die blonde Lara an ihren Bändern und Schleifen ins Freie heraus, weil er spazierengehen wollte.

»Gehen wir, gehen wir dann«, war alles, was er zu den Zurückbleibenden sagte. »Ja, wir gehen also noch spazieren!«

Dann tauchte er im Nebel unter.

Das war Helge.

Aber gleich darauf kam auch Gunnlaugur aus dem Zelt hervor, und auch er war nicht allein. Die kleine Hildur kicherte in einemfort, als er mit ihr nachher über die Wiese zum Hof hinüberlief, weil Gunnlaugur nicht mehr zu wissen schien, in welcher Richtung man zur Haustür kam. Der Nebel –

Die Wiesen dufteten, und Gunnlaugurs Augen glänzten. Er hielt die Hand des Mädchens fest in seiner Pranke und dachte nicht daran, den Hof anzusteuern. Er wollte zur Scheune. In dieser Stunde gab es nur einen Weg für ihn. Zu zwei großen Torflügeln, hinter denen das Heu in hohen Lagen aufgestockt war. Während Gunnlaugur so neben dem Mädchen trabte, bekam Hildur immer rötere Wangen trotz des Nebels, und ihr Kichern wurde immer verlegener und leiser. Am Ende hörte es sogar ganz auf. Zu der Zeit hatten sie die Scheunentür schon hinter sich, und der Knecht nahm sie in seine Arme, daß ihr der Atem zu eng wurde. Sie flüsterten jetzt nur noch, und Gunnlaugur begann sich nach der langen spinklen Leiter umzusehen, die sonst gewöhnlich hier stand und auf der man zum ersten Stockwerk hinaufgelangen konnte.

Hm, also die Leiter war nicht zu sehen. Sie war weg!

Erst war der Knecht verdutzt. Er suchte ratlos im Dunkel herum und begann dann zu fluchen und zu knurren. Und dann war plötzlich die Leiter an ihrem Ort, und aus der Höhe kam unterdrücktes Flüstern.

»Schnell!« flüsterte Gunni und hob Hildur über die ersten vier Sprossen hinauf, während er selbst hinterherkletterte, »schnell!«

Es flüsterte noch die halbe Nacht auf dem Heuboden. Die Nacht war warm, und das Heu duftete betäubend. Und mitunter hörte man draußen ein Lied. Es lagen Melodien in der Nacht, die im Blut mitschwangen. Die Erde war so nahe!

In allen Stuben des Hofes saßen drinnen noch die Gäste bis lange nach Mitternacht. Der junge Gisli von Thiorsa, ein schlanker hochaufgeschossener Bursche, dem die Haare zu beiden Seiten ungebändigt über die Ohren fielen, saß mit langen Beinen auf den Dielen und spielte auf einem Ziehharmonium, und manche von den alten Bauern, die zum Fest des Herbstes den langen Weg nicht gescheut hatten, nickten mit den alten Köpfen wohlgefällig zu seinen Liedern, wenn sie sonst auch schon lange das Singen vergessen hatten und nur unwillig murrten, wenn mal eine Jungmagd an ihnen vorbeilief und trällerte. Das war Weiberkram und Flatterei und dergleichen. Aber heute nickten sie also mit den Köpfen und waren wohl einverstanden mit allem, was der junge Gisli zu singen hatte. Mitunter griff sich einer der Jüngeren auch eine Dirn beim Arm und tanzte polternd über die Bretter. Und die ganz Alten hockten über den Tisch gebeugt und hatten plötzlich wieder blanke Augen, wo sie sonst schon lange trüb waren. Und daran war nun wieder eine Flasche schuld, die plötzlich einmal auf dem Tisch stand oder vielmehr in den Händen herumwanderte, bis sie richtig leer war.

Kjarval å Arnarholt war bald an diesem und wieder an einem andern Tisch, um jedem die Ehre anzutun, daß der Gastgeber auch bei ihm saß. Darauf wurde streng gehalten auf dem freien Land. Selbst die alte Kristin wollte nicht darauf verzichten. Und heute schon gar nicht, wo so viele großspurige Fremde da waren, – Fremde, ja, wenn sie auch von den nächstgelegenen Höfen stammten, zehn bis dreißig Meilen in der Runde. Der Rauch stand in den Räumen schlimmer noch als draußen der Nebel, aber wer achtete darauf an solch einem Tag, an dem die Kaffeekanne zwanzigmal die Runde machte und der Kuchen in Bergen auf den Tischen stand!

Von Zeit zu Zeit stand einer der Bauern auf und humpelte vor die Tür, um zu sehen, ob sich noch nicht die Reiter von der Nordgruppe eingefunden hätten. Ein breiter bärtiger Bauer, Haraldur von Storolfsvoll, war schon zu zwanzig Malen draußen gewesen, aber immer wieder kam er enttäuscht zurück. Es rührte sich noch nichts in der Steppe. Am Ende waren sie noch im Berg und mußten abwarten, bis der Nebel hochging. Man hätte sicher das Bellen der Hunde gehört oder das Blöken der Schafe, denn der Nebel trug ja jedes Geräusch vervielfacht weiter. Nein, es hatte keinen Zweck, sie in der Nacht zu erwarten.

Asdis saß unter den Leuten und sprach mit ihnen. Sie war die Hausfrau auf Arnarholt. Die Bäuerin! Zumindest hatte sie ihre Pflichten. Aber ihre Gedanken waren nicht bei den Worten, die aus ihren Lippen kamen. Oft suchte ihr Blick zu ihrem Vater hinüber, – ein müder schwerer Blick. Ihre Wangen waren schmal und weiß wie Leinen und ihre Augen halb von den Lidern bedeckt, die Lippen blaß. Jedesmal, wenn eine Tür ging, hob sie unruhig das Haupt und lauschte auf den Schritt, der zu hören war, bis sie erkannt hatte, daß es nicht der war, der in ihren Gedanken umging. Plötzlich konnte dann um ihren Mund ein Lächeln ausbrechen, aber es war nur, weil jemand zu ihr gesprochen hatte. Es war eigentlich kein Lächeln, sondern nur ein Zucken um ihre blutleeren Lippen. Die Augen taten nicht mit dabei und ihre Finger spielten wie vorher weiter an den Flechten, die über ihre Schulter hereinfielen. Sie flochten und wanden und drehten an ihnen ohne Aufhören.

Einmal zuckte sie hart zusammen, der alte Haraldur hatte ihr seine Hand auf die Schulter gelegt, der Alte von Storolfsvoll. Er funkelte ihr von oben herab listig zu und zeigte mit der anderen Hand auf Gisli, der am Boden saß und mit verträumten Augen immerfort auf sie starrte. Die Ziehharmonika lag mit ausgezogenem Balg über seinen spitzen Jungensknien wie ein Hase, dem man die Faust hinter die Ohren gehauen hat und der nun leblos mit weißem Bauch und langen Läufen ausgestreckt liegt. Gisli hatte sie ganz vergessen, seine Ziehharmonika! Mit roten Ohren fummelte er hastig nach ihr, als er mit einem die Blicke der Männer und Frauen auf sich gerichtet sah und Mittelpunkt ihres Interesses geworden schien.

»Ihr habt eine Liebschaft, Jungfer Asdis«, sprudelte der Alte hervor, von dessen ganzem Gesicht eigentlich nur ein einziger großer Bart zu sehen war, »wann schickt Ihr uns den Hochzeiter?« Der alte Haraldur war vom nächsten Hof. Ein anderer hätte sich kaum getraut, eine so offene Sprache zu führen. Einige der Männer sahen zu dem Bauern hinüber, was er zu der Sache meinte, und wieder einige blickten auf Geir. Die Leute wußten alle, wie die Dinge standen, hm, und sie waren gespannt, wie der Scherz des Alten also wohl aufgenommen werden würde, der eigentlich gar kein Scherz war, sondern harter Ernst.

»He, Gisli!« krähte die dürre Kristin aus ihrer Ecke herüber, »willst du sie haben?«

Der Junge stand von den Dielen auf, die Ziehharmonika baumelte immer noch wie ein Hase an seinen langen Beinen herunter, und sein Gesicht war wie mit Blut übergossen. Er wäre am liebsten in den Boden versunken vor Scham. Mit ein paar Schritten wollte er verschwinden. Aber da holte ihn der bärtige Alte mit einem raschen Griff zu sich heran: »Heraus mit der Sprache, he!«

Gisli war ein kecker Bursche, der nicht leicht um eine Antwort verlegen war, trotz seiner fünfzehn Jahre. Er schaute erst bedenklich zu dem Bauern hin, zu Kjarval, und als er in seinen Augen langsam ein Lächeln kommen sah, sagte er mit heller Jungenstimme: »Ich möchte schon!« Er sah dabei von der Seite zu Asdis hin, mit seinen großen Augen, mit dem Brand von Haaren und seinem kirschroten Jungensmund.

Da zog das Mädchen ihn zu sich und gab ihm vor allen Leuten einen Kuß, nicht nur auf die Wangen, sondern richtig auf den Mund. Aber wenn Gisli vorher selig gestrahlt hatte, so war das jetzt etwas ganz anderes. Er packte hastig seine Harmonika zusammen und lief unter dem Gelächter der andern aus dem Zimmer hinaus, weiter fort, vors Haus, wo er sich an die regennasse Wand lehnte und – weinte. Gerade als ob er jetzt schon gemerkt hätte, daß viel Trauer und Bitternis in der Liebe sein kann. Aber daran war nur eine Träne schuld, die ihm aus den Augen der Jungfer Asdis über die Backen gerollt war.

Haraldur å Storolfsvoll mußte sich schütteln vor Lachen, als der Junge so geschwind verschwand.

Aber da geschah etwas Unerwartetes.

Erst war es nichts Besonderes, – nur daß Geir Thors plötzlich in der Tür stand. Er hatte den jungen Gisli bei sich und schob ihn in die Stube hinein. Es war nichts Besonderes. Aber dem alten Haraldur blieb plötzlich der Spaß im Halse stecken, den er noch machen wollte. Und auch über die andern war ein lähmendes Schweigen gekommen. Haraldur trat einen Schritt zurück, und daran war Geirs Gesicht schuld. Oder vielmehr seine Augen. Er suchte nach einer Stuhllehne, der Bauer von Storolfsvoll. »Hm, war es nicht ein Scherz gewesen?« murmelte er endlich und schickte einen hilfesuchenden Blick über die Leute hin, »hm, also ein Scherz!«

»Haraldur å Storolfsvoll!« sagte der Bursche an der Tür. Er sagte es so leichthin, schien es. Nicht eben laut. Aber Haraldur war es, als ob er gebrüllt hätte. Und auch den andern klang es so.

»Ihr fragt nach einem Hochzeiter, Haraldur å Storolfsvoll? Habt Ihr nicht gefragt?«

Der Bauer wich gegen die Leute hin zurück, als Geir auf ihn zuschritt. Kjarval hatte sich erhoben, er wollte etwas sagen, vielleicht wollte er auch den Jungen zurückhalten, aber seine Füße waren wie festgewurzelt.

»Ihr wolltet den Hochzeiter sehen? Haraldur!« wiederholte Geir und blieb mit funkelnden Augen vor ihm stehen, während der Bauer schützend den Arm vor sich hob. »Leute!« preßte er hervor, »Leute!«

»Seht mich doch an, Haraldur!« lachte Geir spöttisch, so spöttisch, daß den Leuten graute, »seht ihn doch an, den Hochzeiter!« »Spiel ein wenig, Gisli!« fuhr er im gleichen Tonfall fort, »spiel!« Und ging dann auf das Mädchen zu, das sich wie im Traum von ihrem Platz erhoben hatte. Er reichte ihr die Hand und zog sie zur Mitte des Tanzbodens, während der Junge von Thiorsa mit klammen Fingern seine Harmonika auszog und ungeschickt und hölzern zu spielen begann.

»Unser Ehrentanz!« flüsterte Geir Thors dem Mädchen zu, das mit geschlossenen Augen in seinen Armen hing, »es ist jetzt zu Ende, das Spiel! Der Tanz beginnt!«

Und wahrlich hatte keiner der Leute einen solchen Tanz bis dahin gesehen.

Der Bursche riß das Mädchen an sich, daß ihr der Kopf in den Nacken fiel und ihre Flechten sich lösten. So führte er sie die ersten Schritte, bis sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen schien und von weither ihre hellen Augen auf ihn heftete, in sein braunes dunkles Gesicht, über das der Zorn eine Blutwelle auf die andre sagte.

»Weißt du noch«, flüsterte er heiser, »im Berg – damals im Berg! Ich mußte dich betrachten, wie ein Bild. Und hinter dir stieg der Gletscher gegen die Wolken. Du liefst in den Bach hinaus. Heut bist du schöner als ein Bild! Warum schwankst du, Asdis, warum kommst du nicht zu mir? Warum kamst du nicht – die ganze Zeit? Wußtest du nicht, daß es sein mußte, wie es nun ist? Jetzt! Jetzt! wußtest du es nicht? Sag es!« Und als sie nickte, leise, leicht, und zu lächeln begann, zag wie ein Kind: »Es ist unser Hochzeitstanz!« flüsterte er weiter und preßte sie ungestüm an sich und wild. »Sag es! Es ist unser Hochzeitstanz!« Da nickte sie zum andern Mal und hob ihr Gesicht zu ihm auf mit zuckenden Lippen, aber in ihren Augen stand jetzt ein Leuchten, daß es ihm war, als ob mitten in der Nacht die Sonne über ihnen aufgegangen sei.

»Asdis?« flüsterte er, »Asdis!« –

Unter den Leuten begann ein Raunen und Summen. Gisli stand mit seinem brandroten Schopf auf den Dielen und spielte und starrte und spielte und sah abwechselnd wieder auf das Mädchen, bis ihm mitten in einem Polka die Finger von den Tasten glitten vor Schreck, » die Leute hatten sich von den Tischen erhoben und machten drohende Gesichter, weil das nie Sitte gewesen war auf dem freien Land: der Bursche hatte das Mädchen Asdis an sich gerissen und küßte sie, mitten im Saal und vor allen Menschen. Sie sahen auf Geir Thors mit scheelen Augen, und einer rief ihn an. Doch da gab es die zweite Überraschung in dieser Nacht.

Geir stand bei dem Mädchen. Er hielt sie bei der Hand. Und so standen sie beide vor dem Kreis der Bauern. Und plötzlich stand noch ein Dritter bei ihnen. Und der dritte war Kjarval! Erwartungsvoll wandten die Bauern ihre Köpfe zu ihm hin, und es war so still im Raum, daß man den Wind draußen gegen die Bretter der Außenwand streichen hörte:

»Es könnte sein«, hub der Bauer langsam an, »es könnte sein, daß Arnarholt einen neuen Bauern bekommt. Ihr da, hört ihr es? Und es müßte dann Geir Thors sein!«

Keiner sagte ein Wort. Sie glaubten wohl, daß Kjarval noch mehr zu sagen hätte. Der Pastor – Sera Leif –?

Aber Kjarval å Arnarholt sandte nur seine kühlen grauen Augen über sie hin und ergriff dann die Hand des Mädchens, um sie aus dem Raum zu führen.

Geir blieb zurück und sah ihn gehen.

Da trat als erster der Bauer von Storolfsvoll aus der Reihe der Männer heraus und reichte ihm die Hand: »Ich wünsch Euch Glück, Geir å Arnarholt!« sprach er klar und offen. Aber leise fügte er hinzu: »Und wegen des andern – vorher –« Das sollten die andern nicht hören, aber es war doch am besten, wenn man derlei gleich abmachte.

Er wußte nicht, Haraldur å Storolfsvoll, daß die Vorsehung ihn als Amboß benutzt hatte, und daß ohne ihn nichts hätte geschehen können.

Draußen war Wind aufgekommen. Der Nebel wanderte in Fetzen über die Wiesen und wehte aufs Meer hinaus. Ruhe lag über Arnarholt nach dem Lärm und den Ereignissen der Nacht. Geir Thors lag in der kleinen Schmiede, die am Ende der Gehöfte stand. Die Dorfleute mußten zurücktreten, wenn so viele Gäste beherbergt werden sollten. Deshalb hatte er sich eine Decke aus dem Haus geholt, um auf dem Boden der Schmiede zu schlafen. Es war ja nicht anders gewesen in den Bergen. Er versuchte schon seit Stunden, das mächtige Gefühl des Glückes zu betäuben, das in ihm schwang und sein Blut wie im Fieber durch die Adern jagte. Aber der Schlaf kam nicht zu ihm. Es war vergebens, gegen das Glück zu kämpfen.

Einmal, wie er so lag, hörte er ein leises Rollen in der Ferne. Er hob den Kopf und horchte. Dann ließ er sich wieder zurückfallen, vielleicht kamen sie nun aus dem Berg. Auch der eine, – aber das Spiel war zu Ende, wenn er nun kam. Ausgespielt! Und wenn er es nicht wissen wollte, nichts davon, so sollte er es erfahren! Es war zu Ende gespielt worden! Und er sollte sich wahren, der Schwarze! Das Land kannte nicht die höflichen Sitten der Stadt. Das Land konnte den Tod in sich tragen, es war nicht fein genug, das Land!

Noch einmal hob er den Kopf und horchte auf das ferne Rollen. Es mußten Pferde sein.

Ja, im Einschlafen hörte er schnelles Pferdegetrappel. Dicht vor der Hütte zog es vorbei. Es mochten Leute sein, die zu einem Frühritt aufbrachen. Das Poltern der Hufe begleitete ihn in seinen Schlaf hinüber. Es schwoll an und sank wieder weg. Plötzlich riefen Stimmen dazwischen. Die Schritte von Männern eilten hin und her. Einmal waren die Stimmen laut, ein andermal wieder gedämpfter. Sie schienen einen zu suchen, denn jetzt riefen sie laut. Ganz nahe kamen sie zu ihm heran, Schritte, viele Schritte. Jetzt schienen sie ganz nahe bei ihm zu sein. Einer wollte ihn am Arm fassen. Aber Geir drehte sich zornig auf die Seite und stieß ihn mit erhobener Hand weg. Wickelte sich dann fester in die Decke, weil es kühler geworden war. Nun rief wieder einer seinen Namen. Aber er wollte schlafen, – endlich jetzt!

»He, Geir, Geir!«

»Geir Thors!« rief man.

»Geir Thors!«

Da öffnete er die Augen.

Gesichter sah er über sich gebeugt! Übernächtig! Bleich. Ein Knecht! Das war Gunnlaugur. Helge! Neben ihm Kjarval, mit verkniffenem Mund, schmal wie ein Strich!

»Nun?« stieß Geir hervor, »was steht ihr hier? Was ist denn?«

»Kjarval!«

Auch der Bauer schwieg.

Jeder schwieg.

Endlich nickte der Bauer mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung nach draußen, über seine Schultern zurück, »draußen, du wirst es erfahren! Komm einmal mit! Du kannst es dann selbst sehen.« Er zog ihn am Arm in die Höhe, und Geir torkelte noch halb schlafend mit ihm zur Schmiede hinaus. Die Knechte kamen hinter ihnen. Ihre Stiefel dröhnten über die Schwelle.

Draußen warteten zwei Männer und sahen ihnen entgegen. Ein dritter lehnte am Sattelknauf, an der Vorderhand seines Hengstes, zu Tode erschöpft.

»Was ist? Da seid ihr ja! Bist du zurück jetzt, Thorkill?« Es war wirklich Thorkill von der Nordgruppe und ein paar seiner Leute.

Thorkill antwortete nicht.

Er wandte nur den Kopf nach der Seite.

»Dort!« murmelte Kjarval. »Geh einmal hinüber.«

Einige Schritte abseits lag ein Bündel Decken, das Geir vorher gar nicht bemerkt hatte. Ein Mann mußte darunterliegen, denn die Formen eines Körpers zeichneten sich durch das Tuch ab, und die Spitze eines Reiterstiefels ragte ein wenig unter den Decken hervor.

Geir sah wieder auf Thorkill, bevor er zu dem Bündel aus Decken hinüberschritt.

»Und?«

Keine Antwort.

»Wer ist es denn? Einer vom Hof?«

»Jau.«

Die Bergreiter sahen verlegen auf Kjarval, der neben dem Burschen stand. Es zuckte in ihren scharfen ledernen Gesichtern.

Da lief der Bursche hinüber und hob die Decke auf.

Ein Gesicht starrte ihn an, von blutigen Rissen durchzogen, ein Auge, halb geöffnet, über dem ein paar verklebte Haarsträhnen lagen. Ein dünner Blutstreifen floß aus den geöffneten Lippen über das stopplige Kinn. » »Das ist doch –«

Ja, es war Oddur!

Der Bursche ließ die Decke langsam wieder aus seinen Fingern gleiten und drehte sich um. Thorkill sah ihm blaß entgegen. Die andern hatten ihre Köpfe auf dem Boden.

»Wo? Wo ist es geschehen?«

»Thiorså«, sagte der Altknecht kurz. Nach einer Weile: »Es war wohl ein Steinschlag! Sicher war es ein Steinschlag!«

»Einar ist der andre!«

»Noch einer? Einar!«

»Auch der junge Pastor! – Drei sind es!« sagte Thorkill noch dazu.

Geir Thors schien etwas sagen zu wollen. Aber er hob nur abwehrend die Hand. Kam ihm kein Wort über die Lippen.

»Es waren Steine«, fuhr Thorkill fort und schlang einen Knoten in seinen Zügel, ohne es zu wissen, »Leif stürzte zuerst, hinter ihm ritt Oddur. Hinter ihm! Er war sofort tot!«

»Wer?«

»Nun, der Pastor! Sein Pferd schien getroffen worden zu sein, denn es lag noch auf dem Felsabsatz, als wir hinkamen. Ein Stein war genau drauf niedergeschlagen. Der Pastor muß wohl im Fallen über den Felsen hinausgestürzt sein.« Er holte Atem und wies darauf zu Oddur hinüber: »Er lebte noch, deshalb haben wir ihn mitgenommen. Aber unterwegs starb er dann. Auch Einar wird tot sein, wir sahen nichts von ihm! Der drüben meinte, – er meinte, daß einer geschrien hätte im Berg«, murmelte er hinterdrein, »aber er muß sich getäuscht haben. Keiner außer ihm hat etwas gehört!«

»Jau, er schrie um Hilfe!« warf der jüngste der Reiter dazwischen und trat neben Thorkill, »aber nur einmal hab ich ihn gehört, nur einmal!«

»Habt ihr nicht versucht, zu ihm hinabzukommen, zu dem, der schrie? Es kann doch sein, – er könnte noch leben!«

»Du oder einer von den andern!« stieß Geir hervor und packte Thorkill beim Arm, »habt ihr es nicht versucht?«

»Fünf Kinder habe ich«, sagte Thorkill heiser, »und auch mein Weib lebt nicht mehr!« Er wischte sich mit seiner braunen verarbeiteten Hand über die Stirn, auf der der Schweiß in kleinen Perlen stand.

»Und die Taue!« murmelte er noch gepreßt, »sie hätten nicht gereicht. Die Taue, Bauer!«

Alle schwiegen! Ein paar Mägde standen im Hintergrund und schauten flüsternd auf die Männer, einer und der andere der Bauern, die zu Gaste waren, kam aus der Hoftür.

»Da sind sie ja endlich!« schrie einer mit lauter Stimme. »He, man hat euch schon lange erwartet! Jetzt erst kommt ihr?«

»Schafft den Toten in die Schmiede!« flüsterte Kjarval. »Her mit euch, rasch! Sie brauchen noch nicht alles zu wissen, die andern!«

»Der Fels –« murmelte der Altknecht, als er die Leiche aufhob.

»Soll keiner etwas davon reden jetzt! Ich werde es den Leuten sagen.«

»Ging alles klar im Berg?« kam der alte Haraldur zum Bauern.

»Jau, sie sind nun bald da!« erwiderte Kjarval å Arnarholt, »sie werden nun gleich kommen! Das waren nur eben ein paar Mann. Jau, sie kommen schon!«

Aber hinter den Gebäuden sattelte Geir Thors den Roten.

»Du reitest mit zurück, Thorkill!« befahl er dem Führer der Nordgruppe. Frische Pferde! Gunnlaugur und Helge! Los! Kommt mit!«

Die beiden sind schon aufgesessen.

Hinter der Schmiede kam noch der jüngste der Leute Thorkills hervorgeritten. »Nimm mich mit, Geir Thors!« rief er schon von weitem, obwohl er sich vor Müdigkeit kaum auf dem Pferd halten konnte. Kjarval kam um die Ecke und reichte den Männern die Hand. Jedem einzelnen von ihnen.

»Los!« Geir ritt an und warf noch einen Blick zu dem Bauern zurück.

Los mit den drängenden Pferden – –

Kjarval schritt wieder ins Haus zurück, als die Gestalten der Reiter kleiner und kleiner wurden. Müde und gebeugt ging er und mit gesenktem Kopf.

Der Hof ging schweren Zeiten entgegen.

Drinnen deckten einige Mägde die langen Tische zum Morgenmahl der Gäste. Sie zogen steife weiße Leinentücher über die Bretter, trugen Tassen und Teller heran, während andere noch dabei waren, die Dielen zu säubern.

Unter ihnen war Sigga, die kaum zwanzig Lenze erlebt hatte. Mit erschrockenen Augen sah sie den Bauern vorbeigehen. Dann setzte sie geschwind die Brote, die sie herbeigetragen hatte, auf eine Bank und lief ihm nach.

»Bauer! Es gehen seltsame Reden um unter den Knechten, und – Ihr wißt – daß auch Einar bei der Nordgruppe ist, und Einar, Bauer, Einar! – Sie reden von einem Unglück!«

»Wer redet?« sagte Kjarval langsam und sah sie finster an, »wer redet also?«

»Die Knechte sprachen miteinander, nur so!« Sigga fuhr zusammen. »Aber ich habe es gehört, ich habe es gehört! – Bauer!« schrie sie plötzlich und packte ihn am Arm, »Ihr! was sagt Ihr? Ihr wollt mir nicht antworten! Bauer! Ist es wahr, was die Knechte sagen, – ist etwas geschehen?«

»Nun –«

»Bauer!«

»Was schreist du da? Was sollte denn geschehen sein, was denn?«

»Im Berg!« flüsterte die Magd mit weißen Lippen, »es hat einer gesagt, ein Pferd lag auf dem Weg, Bauer! Ein Pferd!«

»Das war es wohl?« sagte Kjarval, »es war ein Pferd!«

»Ein Pferd nur?«

»Jau, Sigga!«

»Keiner von –? Ihr sagt nicht die Wahrheit, Bauer! Wißt Ihr, Bauer –«, sie begann zu schluchzen, »Ihr sollt es wissen, jetzt gleich –«

Sie sah auf ihren Leib hinab und wagte kaum weiter zu sprechen, »Wir wollen heiraten, Einar und ich. Er ist arm, und ich auch. Aber wenn er im Dienst bleibt bei Euch, Bauer, so können wir heiraten!«

»Einar?«

»Sagt, daß Ihr es erlaubt, Bauer. Warum sagt Ihr denn nichts?«

Kjarval nahm sie bei der Hand und zog sie zu seinem Zimmer. »Komm herein! Komm einmal herein! Wegen des Kindes –« begann er dann zögernd, »wegen des Kindes, ich – ich will es versorgen. Ich schenke dir zehn Schafe, zwanzig! Und ein paar Ziegen kannst du haben. Und natürlich bleibst du immer auf dem Hof!«

»Bauer! – Warum sagt Ihr das? Wir, Einar und ich – Bauer! Wo ist Einar?« schrie sie erschreckt und krallte ihm ihre Finger in den Rock.

»Der Berg, – wenn Nebel im Berg ist, Sigga, und – sieh! Eben sind sie weggeritten, Geir und Thorkill und Gunnlaugur, um nach ihnen, – sie wollen nach ihnen sehen!« murmelte der Bauer und sah sie mit unbeweglichem Gesicht an. »Und jetzt, wenn sie zurückkommen –«

Das Mädchen stand wie versteinert. Kjarval hielt sie am Arm und wollte ihr tröstend zureden, aber plötzlich riß sie sich los und rannte mit gellenden Schreien zur Tür hinaus. »Tot! Tot! Tot! Und er wollte es mir nicht sagen! Tot!« Sie lief zu den Mägden hinüber. »Tot! – Er ist tot!« schrie sie mit überschlagender Stimme durch die Gänge und rannte ins Freie hinaus, während die Menschen hinter ihr her aus dem Hause drangen und erschreckt unter sich riefen und redeten. »Was ist, was ist geschehen? Wo ist der Bauer?«

Kjarval trat unter die Leute.

»Was ist, Bauer?« fragte Haraldur å Storolfsvoll, der hinter ihm aus dem Hause kam.

»Hört jetzt!« hob Kjarval seine Hand, nachdem er ihm einen kurzen Blick zugeworfen und danach wieder seine durchdringenden Augen auf die andern gerichtet hatte, »hört her! – Es ist ein Unglück geschehen im Berg!« fuhr er fort, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, »drei von den Männern sind gestürzt. Der alte Oddur ist es, und Leif, und – und Einar!«

Die Lippen Kjarvals begannen zu beben, als er soviel gesagt hatte. »Es kam ein Unglück über den Hof!« murmelte er und zwang sich mit aller Macht zur Ruhe. Und hob wieder seine Stimme: »Sie sind sofort in den Berg geritten, Geir Thors und Thorkill und die Knechte, um zu helfen, wenn es möglich ist, wenn noch einer zu retten ist. Sie haben den Alten in der Frühe gebracht. Er ist auf dem Hof.«

Die Leute schwiegen und sahen bedrückt einander an, als der Bauer zu Ende gekommen war, mit dem, was er zu sagen hatte. Sie waren geschlagen von dem Neuen und Grausamen, mit dem sie erwacht waren. »Der Herr –« flüsterte die alte Kristin und sah mit ihren alten schwimmenden Augen zu den Bergen hinüber, die im Norden blau gegen die Wolken standen, mit schneeigen Flecken und Graten, hart und verschlossen.

Erst gemach kam wieder Leben in die Menschen. »Wo ist es geschehen, Kjarval å Arnarholt?« fragte einer der fremden Bauern, »vielleicht sollten wir reiten, meint Ihr nicht? Wir stehen hier umher, aber vielleicht könnten sie uns brauchen?«

»Habt Dank, Ingolfur!« sagte der Bauer gepreßt, »aber es wird keinen Sinn mehr haben, versteht Ihr!« Und Ingolfur hatte verstanden. Er ging ins Haus zurück, wenn der Berg seine Opfer haben wollte – und ein Landfremder war dabei – und ein Pastor, – schade um die beiden Jungen! Der Alte, jau, der alte Oddur! Für ihn war es richtig gewesen. Es hätte wohl auch sonst nicht mehr lange mit ihm gedauert. Nur – die Jungen! Aber wer wollte etwas gegen den Berg?

Asdis war auf ihr Lager hingekauert, als der Bauer sie endlich aufgefunden hatte. Sie gab keine Antwort auf seine ängstlichen Fragen. Sie hob nicht einmal den Kopf. Und als er sie aufrichten wollte, um sie zu beruhigen, brach sie in ein lautloses Weinen aus, das ihre schmalen Schultern zittern ließ. Ratlos setzte er sich neben sie auf das Lager und wartete, bis sie von selbst zu reden anfangen wollte.

War er nicht ihr Vater? Wußte sie das nicht? Ihr Vater! Mählich wurde sie wieder still und lag wie ein unbewegliches Bild neben ihm.

»Tochter!« sagte er leise, »es war eine Fügung – es war wie eine Fügung!«

»Ihr versündigt Euch, Vater«, murmelte sie und begann wieder zu weinen.

Plötzlich richtete sie sich auf und sah ihm mit ihrem tränennassen Gesicht in die Augen. »Ich hätte es ihm gesagt, heute noch, daß es nicht sein konnte. Nun kann ich es ihm nie mehr sagen, Vater, es wird wie eine Unwahrheit sein, – für immer! Ich konnte es ihm nicht mehr sagen! Es ist vorbei.«

Schluchzend fiel sie in die Kissen zurück.

»Nie mehr, nie –«

Erschrocken beugte der Bauer sich zu ihr hinab: »Sieh mich an, mein Kind!«

»Laßt mich, Vater!«

»Ich habe es ihm nicht gewünscht«, murmelte der Bauer, »nicht so! Ich wollte dich wiederhaben für – für den Hof, Asdis! Verstehst du mich! Aber nicht so! Das wollte ich nicht, bei Gott!«

»Grausam!« flüsterte das Mädchen, »– in den Felsen!«

Der Bauer atmete schwer, wie er da neben ihr saß.

»Denk nicht daran, Mädchen.« Hilflos streiften seine Blicke die dunkle Bretterwand entlang. »In den Felsen, sagst du? Starb nicht Gunnar im Berg, dein Großvater? Der Sturm riß ihn vom Weg in die Schlucht. Und Eirik, er ritt fehl im Nebel. Und Björn damals. Helge ritt mit ihm. Und als sie zur Tür am oberen Gatter kamen und er sie vom Pferd aus öffnen wollte, da entglitt sie seiner Hand und schlug gegen den Kopf seines Tieres. Helge sah, wie es sich bäumte, Björn verlor die Bügel und riß im Fallen das Pferd mit sich in die Tiefe. Und dann Magnus. Und der dänische Leutnant, der vor drei Jahren auf dem Hof war, auch er blieb im Berg liegen. Und die zwei Deutschen, die über dem Krater hingen und zuletzt keine Kraft mehr hatten! Der Berg hat vielen den Tod gebracht, aber du siehst nur dies eine – jetzt – nur das –«

»Ja, Vater! Es ist so schwer!« flüsterte sie. »Und ich kann ihm nun nicht mehr sagen –«

»Schlaf, Tochter, versuche zu schlafen. Ich will dir eine Magd schicken. Du mußt nicht mehr daran denken! Nicht jetzt! Es ist zuviel für dich, – das alles! – Soll ich gehen?«

»Ja, geht, Vater!«

Der Bauer war noch am selben Tag in Hlidarenda drüben, bei Sera Egil, dem Priestergreis.

Als er eintrat, fand er den Pastor an seinem Schreibtisch sitzend. Er las in einem großen Buch, das er vor sich aufgeschlagen hatte, wie bei alten Männern, die viel vom Leben gesehen haben und müde davon geworden sind, müde von den Sorgen anderer, an denen sie teilnahmen, krochen ihm die Lider seiner Augen tief über die grauen Pupillen, daß nur noch ein wäßriges Schimmern aus den schmalen Lidspalten hervorkam. Ein müdes, altes, wissendes Sehen, das das äußere Bild nicht mehr zu brauchen schien für ein reifes und gerechtes Urteilen.

Sera Egil war alt.

Es war lange her, seit er den Menschen von Gottes Wort erzählt hatte und von seinen Gesetzen. Lange her, obwohl er jeden Feiertag auf der Kanzel stand und zu ihnen sprach, wenn sie sich räuspernd und mit feierlichen Gesichtern auf ihren angestammten Plätzen im kleinen Kirchlein niederließen und darauf warteten, daß er die zwei Stufen zum Predigtstuhl hinaufgehen sollte, was er den Bauern und Weiblein heute und schon seit vielen Jahren gesagt hatte und was er ihnen gab, das hatte nichts mehr gemein mit den Gedanken, die er als junger Priester in seinem Kopf und auf den Lippen getragen hatte und mit der ganzen Leidenschaft seines Herzens in ihren Seelen festpflanzen wollte. Die Jahre hatten ihn belehrt, daß die Pflanzungen verödet waren, obgleich sie sich Woche um Woche in den Kirchenbänken eingefunden hatten, nachdem sie draußen vor dem Pfarrhof ihren Pferden die Sättel abgenommen hatten und sie koppelten, damit sie während des Kirchdienstes nicht in die Berge liefen. Sie schlugen keinen tot, die Bauern – aber das hätten sie ohnedies nicht getan, auch ohne die Gesetze Gottes nicht! Und hätte einer unter ihnen Lust dazu verspürt, so hätte Egil ihn wiederum nicht davon abhalten können, indem er ihm die Bibel vor die Nase hielt und auch vielleicht aus ihr vorlas! Es hätte nichts genützt! Was anderes wäre es natürlich gewesen, wenn er ihm die eisenbeschlagene Urkunde Gottes an den halsstarrigen Schädel geworfen hätte. Damit ließ sich wohl ein Mord noch besser verhüten als mit dem Wort allein.

Sera Egil hatte bald den Priestereifer abgestreift wie ein altes Hemd, den heiligen Eifer der Kirche. Und was er heute seinen Bauern gab, das war er selbst, sein Eigenes und sein Leben. Von da ab war es aufwärts gegangen mit dem Christentum, wenn es noch diesen Namen verdiente. Nun ja, das Gewand war noch echt und die Kelche, die im kleinen Altarschrank aufbewahrt wurden, – es gab damals noch keine eigene Sakristei für die Meßgeräte. Nur er selbst, der Pfarrer, er war zu sehr ein Mensch, um noch ein Pfarrer zu sein. Das Leben hatte ihn gelehrt, daß sich der leibhaftige Gott nicht aus Büchern erkennen lassen wollte, der wirkliche Gott nicht aus dem, was fiebernde und schreckerfüllte Gehirne aus sich herausgeboren hatten, wenn ihnen das Wasser schon an der Gurgel stand und sie die schwarzen Schwingen aus dem Jenseits herüberrauschen hörten. Sondern daß Gott aus seinen eigenen Werken erkannt sein wollte, aus dem, was er selbst geschaffen hatte, aus den Felsen, die er in den Himmel türmte, aus den Tieren und Pflanzen, aus der großen Bruderschaft alles Lebenden. Darum dünkte ihn ein Fluch echter als ein Wort, das nicht in der eigenen Seele geboren war, und das Schreien eines gebärenden Weibes war mehr im Geiste Gottes und des Lebens als ein Buch der Weisheit von tausend Weisen.

So hatte Sera Egil sein Amt verstanden.

Und so kam es auch, daß das Buch, in dem er las, nicht die Bibel war, sondern es war das Buch, in dem die Namen aller Schäflein seiner Pfarre bis auf zweihundert Jahre zurück getreulich aufgeschrieben waren, ihre Geburt und ihr Leben und ihr Tod! Und auch wohl der Tag ihrer Hochzeit dazu, und was an Früchten aus ihrer gottgefälligen Vereinigung gekommen war. Unbegreiflich viel Leben und Sterben faßte dieses vergriffene dicke Lederbuch, das erst vor zwanzig Jahren neu geleimt werden mußte, weil es aus dem Band gegangen war mit seinen vielen Namen samt ihren Schicksalen.

Sigurgeir Kjarval nahm seine Mütze ab, als er in das Zimmer des Pfarrers trat. Dann ging er zu Sera Egil hinüber und reichte ihm die Hand, seine braune Bauernhand! Und der Pastor legte die seine hinein, da war es eine Hand von schier gleicher Art, obschon es die Hand eines Predigers war. Sie blickten sich an mit den gleichen ernsten Augen, und Sigurgeir Kjarval wußte danach, daß er dem Pastor nichts neues zu sagen hatte. Es war bereits aufgeschrieben im Buch der Lebenden, was er ihm berichten wollte. Und drei Kreuze standen dahinter, für jeden von ihnen eines!

Der Bauer nahm den Stuhl, den ihm der Pastor bot. Umständlich holte er sein Schnupftuch aus der Tasche hervor und strich sich den Schweiß von der Stirn. Dann steckte er das Tuch wieder in die Tasche und hatte derweil noch nichts gesprochen. Der Pastor saß und blickte durch die Fensterscheiben in das herbstliche Land hinaus, das in leiser Wehmut mit seinen Wiesen und Sandflächen um den Pfarrhof lag. Wolken schleierten tief über die Ebene. Und über die Grasplätze ging es wie Wellen und Wogen im Wind. Es lag eine stille Trauer über der Erde. Weiches trauerndes Land. Doch war seine Trauer nicht tödlich, nicht starr und verschlossen. Die Hoffnung war noch nicht tot, die Hoffnung. Er blickte auf sein Buch hinab, der Pfarrer von Hlidarenda, und sah es aus seinen Seiten hervorquellen, weinend und lachend und lebend, Menschen, Menschen, Generationen von Menschen, die sich aneinanderreihten. Nein, da war die Hoffnung nicht tot. Im Schatten sterbender Stämme wuchsen junge Bäume! Und die mächtige Krone des Alten hielt den Sturm von ihnen ab, daß er sie nicht brechen konnte vor der Zeit.

»Es ist noch die Hoffnung da, Sigurgeir Kjarval!« sagte er und sah mit einem milden Lächeln dem Bauer ins Gesicht.

Aber der Bauer wehrte ab: »Laßt es gut sein, Sera Egil, ich brauche keinen Trost. Aber«, sagte er mühsam und sah auf das Buch, »sprecht zu meiner Tochter von Trost. Helft ihr, Pastor«, preßte er hervor, »sie grämt sich um die Toten!« Seine Wangen färbten sich tiefrot, als er soweit gesprochen hatte. Und in seinen grauen Augen flackerte die Angst um sein eigen Blut. Seine starken Hände, die die Fron des Landes zu Schalen gewölbt hatte, tasteten unruhig über die schmale Gesimskante des Fensters an seiner Seite. Und in seinem Gesicht lagen die Falten tiefer als sonst. Oder war es nur der Widerschein der Sonne, die in diesem Augenblick noch einmal gleißend auflohte, bevor sie versank, – ihr Schein mochte die Schatten zwischen den Furchen seines Gesichts vertiefen.

»Sendet sie herüber zu mir!« murmelte der greise Priester mit kummervollem Gesicht. »Es mag zu schwer sein für ein junges Weib.«

»Und die Gräber«, begann der Bauer wieder, »drei Gruben, Pastor, für die Leute vom Berg, für die Toten!«

»Laßt das meine Sorge sein, Sigurgeir Kjarval. – Er hat es mit seinem Leben bezahlt, mein junger Amtsbruder«, fügte er noch hinzu und erhob sich vom Tisch. Aber mehr sagte er nicht. Er sah die Gedanken des Bauern wie in einem Buch! Und dennoch schwieg er.

Als Kjarval schon weit in der Ebene draußen ritt, läutete der Priester den Totensegen über das Land, auf das die Dämmerung sich senkte.

Mit hohen Stimmen riefen die Glocken. Und schwiegen dann wieder für die Dauer eines Gebets, worauf sie von neuem durch den Wind dröhnten in zwei abgehackten Schlägen, und wieder. Aber der Greis betete nicht in den Pausen der Trauer, er sann über dem Leben.

*

Sigurgeir Kjarval nahm die Mütze von seinen grauen Haaren, als die Totenglocken in das emsige Trappeln seines Pferdes hineinklangen. Er sah sich scheu um nach dem Kirchlein und wieder voraus auf den Weg!

»Dem Herrn sei Dank!« flüsterte er und hatte ein schlimmes Funkeln in den Augen, »er hat mir meine Tochter gerettet!«

Aber es schien, als ob die Sorge ihre Fänge nicht mehr lösen wollte von seinem Hof. Er hatte sein Pferd abgeschirrt und wollte eben ins Haus treten, als der Lichtschein einer Laterne aufflammte, die ein Knecht aus der Scheune heraustrug. Ihr gelbes Licht flog schwankend über die Wände der Häuser und Ställe und kam langsam näher, bis Kjarval in seinem hellen Kreis stand.

»Bauer!«

»Die Gäste sind weggeritten, Bauer!«

»Sie sind –?«

»Es ist etwas geschehen, Bauer!« sprach der Knecht weiter und rückte langsam näher, »ein Unglück, Bauer!«

»Das Mädchen »« stammelte Kjarval und griff nach einem Halt, »das Mädchen!«

»Jau, Bauer!« sagte der Knecht traurig und blieb stehen, weil er sich vor ihm fürchtete, »Ihr wißt es schon?«

Er hüstelte vor sich hin und trat wieder einen Schritt zurück, und noch einen. Die Augen Kjarvals glommen seltsam auf im Licht. Sie waren wie die Augen eines Wahnsinnigen.

»Das Mädchen!« stöhnte er und schwankte, als ob er zusammenbrechen wollte. Aber plötzlich war er über dem Knecht und riß ihm die Laterne aus der erhobenen Hand. »Gib!« brüllte er, »gib, bei den Verdammten! Gib das Licht!« Doch der Knecht taumelte zurück, klirrend verlosch die Lampe auf den Steinen. Kreischend rannten Mägde vor die Haustür. Hunde heulten auf.

»Sigga!« schrie der Knecht hinter dem Bauern drein, »es ist Sigga!« Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, um was es ging, und daß Kjarval glaubte, seine Tochter, – seine Tochter sei tot! Sigga!« brüllte er über den Hof. Aber da schlugen schon die Tore der Scheune zurück und knallten gegen die Wände, daß es schaurig durch die Nacht krachte.

»Ein Licht! Bringt ein Licht! Der Bauer, Gott, der Bauer! – – – Ein Licht!«

In diesem Augenblick kam Kjarval wieder aus dem Schober und schritt auf das Haus zu. Eine Last baumelte ihm von der Brust, um die er seine beiden Arme geschlossen hatte. Die langen Haare des toten Mädchens fielen von seinen Armen herab und wehten im Dunkel wie ein Schatten hinter ihm her. So schritt er auf die Hofleute zu, die gelähmt an ihren Plätzen standen und ihn erwarteten und kein Wort aus dem Munde brachten. Nur der langsame schwere Schritt des Bauern dröhnte über den Boden, die Arme der Toten baumelten bei jedem Tritt an seiner Seite.

Im Hausgang wurde es hell. Thorhildur trug eine Lampe heraus, sie sprang, so schnell sie ihre Füße tragen wollten. Aber dicht vor der Tür prallte sie entsetzt zurück über dem Bild des Bauern, der in diesem Augenblick den Eingang erreicht hatte. Er blieb mit starrem Gesicht vor der Magd stehen, mitten im hellen Lichtkreis, und nickte ihr zu, schwer, und nickte noch einmal: »Nicht wahr, Thorhildur!« murmelte er, »sie hat dich immer lieb gehabt, nicht wahr, Thorhildur?« Dann wollte er weiterschreiten, wie im Traum. Nur ganz unbewußt sah er auf das tote Mädchen in seinen Armen hinab.

»Es ist Sigga, Herr!« kreischte die Magd, »Herr, es ist nicht Eure Tochter!«

Der Bauer verfärbte sich jäh, als er das Gesicht der Magd erkannte. »Das Licht!« flüsterte er heiser, »das Licht!«

»Sigga!« flüsterte er weiter, »es ist Sigga!«, während die Mägde und Knechte atemlos auf ihn sahen. Aber plötzlich ging ein Murmeln durch ihre Reihen. Draußen stand hart ein Pferd auf. Asdis kehrte von einem Ritt durch die Wiesen zurück!

»Bauer, Eure Tochter ist da! Sie weiß noch nichts von Sigga. Bauer, sie darf Euch nicht sehen – und die Tote!« redete Thorhildur auf ihn ein, »so geht doch, Bauer!«

Aber Kjarval stand noch immer halb von Sinnen an der Wand des Ganges und sah auf das Gesicht der toten Magd, die schlaff in seinen Armen hing. Abwesend irrte sein Blick danach über die Gesichter hin, die ihn umgaben und auf ihn starrten.

»– nicht meine Tochter!«

Er hörte Asdis' Stimme draußen.

»Du lebst!« stieß er hervor. »Asdis! Du lebst!«

»Laßt mich hinein! Was ist geschehen?« rief das Mädchen. »So laßt mich doch hinein!«

Doch als sie durch die Tür trat, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen bei dem Anblick ihres Vaters. Ihre Lippen zitterten im Krampf. Lautlos brach sie zusammen.

Da erst kam Leben in den Bauern. Er ließ die Tote auf den Boden gleiten und beugte sich über sein Mädchen. Mit bebenden Händen strich er über ihre Wangen und rief ihren Namen. »Dem Herrn sei Dank, daß du lebst!« murmelte er ein um das andere Mal, »Asdis! Meine Tochter! Komm, Asdis!« flüsterte er und trug sie zu ihrem Zimmer –

»Unglück ist über dem Hof, Vater!« schrie Asdis die Nacht hindurch, »Unglück, Vater!«

»Ihr habt sie getötet, Vater! – Sigga, die kleine Sigga! Tot, tot – –« wimmerte sie dazwischen.

Der Bauer saß an ihrem Lager. Er hielt ihre fieberheiße Hand und legte seine Arme um ihren Leib, wenn die Schauer sie packten und umherstießen.

»Unglück ist über dem Hof!« murmelte er wie ihr Echo und senkte seinen grauen Kopf auf die Brust.

»Geht, Bauer«, kam die alte Kristin nach Mitternacht zur Tür hereingehumpelt und stieß ihren Stock auf die Dielen, »geht! Ihr könnt ihr nicht helfen! Die alte Kristin wird bei ihr sitzen und für sie sorgen.«

»Geht!« sagte sie nochmals.

Da stand Kjarval auf und ging hinaus.

»Ich fand sie, als ich draußen bei der Lagune war, wißt Ihr, in dem schmalen Wasser, wo das Meer mit dem Haff verbunden ist. Dort hatte ich meine Netze ausgelegt, um Lachse zu fangen. Viele Steinblöcke liegen da umher, aber ich habe sie trotzdem gleich gesehen, ihr rotes Mieder.« Der Knecht machte eine Pause und sah zu Kjarval auf. »Wir wußten, daß sie heiraten wollten, jeder wußte darum. Aber weil ihn der Steinschlag getroffen hat, so – so ist es geschehen, Bauer! So habe ich sie gefunden, die Sigga!«

Darauf schwieg er und drehte seine Mütze in den ungeschlachten Fäusten hin und her. Er sah wieder auf den Bauern, aber er konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil Kjarval mit dem Rücken zum Fenster stand.

»Sie hatte doch ein Kind von ihm –«, hob er wieder an.

»Schon gut, Magnus!« Der Bauer winkte müde mit der Hand. »Nun ist es geschehen! Geh doch jetzt!«

»Bauer?«

»Nun?«

»Da sind keine Bretter mehr.«

»Bretter?«

»Jau, Bauer, für den Sarg.«

Hatte Kjarval nicht gehört?

»Bauer, die Lade! Svenn hat kein Holz mehr, meint er. Und das Mädchen muß doch –«

»Der Sarg? Jau! Ihr könnt sie in meinem Sarg begraben. Er steht droben auf dem Dachboden. Viel zu groß ist er für sie. Aber das ist nun gleich, wir können ihn holen!«

Er ging vor dem Knecht her die knarrende Stiege zum Dach hinauf, wo viel altes Gerät war. In einer Ecke stand die Totenlade, – bald seit zwanzig Jahren, seit der Zeit stand sie dort, als sie sein Weib in Hlidarenda begraben hatten, seither!

»Einer von euch soll nach Thiorså reiten zum Händler. Wir brauchen noch Bretter, wenn Geir zurückkommt«, sagte der Bauer keuchend, als sie den schweren Sarg die Treppe hinabtrugen, »wir werden noch mehr Bretter brauchen.«

Scheu sahen die Mägde aus der Küchentür hervor, als sie danach über den Hof hinüberliefen und in der Scheune verschwanden, wo sie die Lade in der Ecke zunächst der Tür niedersetzten. Der Knecht hob den Deckel von ihr und stellte ihn an die Wand, während Kjarval zu der kleinen schmalen Gestalt hinüberging, die im Halbdunkel des Stadels auf ein paar Heubüscheln ausgestreckt lag.

»Jau, das war nun die kleine Sigga.« Aber sie lag jetzt reglos am Boden, wo sie vor ein paar Tagen noch mit emsigen Händen umhergegangen war und mit Freude daran gedacht hatte, daß sie nun bald das junge Leben in denselben Händen halten könnte, das jetzt noch schwer und warm in ihrem Leib behütet lag. Und überdies mußte er jeden Augenblick eintreffen, von den Bergen herabreiten, ihr Liebster, aus dem Torfa!

Behutsam deckte der Bauer wieder das weiße Laken über den Leib, der jetzt starr war und kalt, und über ihr Gesicht mit den blonden gelösten Haaren.

»Das waren die Toten!« murmelte er und sah auf das grobe Tuch, unter dem der alte Oddur lag. Und er spähte noch weiter umher, als erwartete er, noch ein solches Bild und wieder eines zu sehen. Es war noch viel Platz in der Scheune, viel Platz!

Das Tor des Schobers knarrte. Svenn brachte den Sarg für den Alten. Er war nicht so prächtig und schwer wie der des Bauern. Aber was machte das. Brauchte Oddur einen prächtigen Sarg?

»Holt dann die Bretter!« sagte Kjarval, ehe er die Scheune verließ.

Und die Knechte nickten.

Wenig danach hörten sie vor dem Haus drüben das aufgeregte Trampeln eines Pferdes. Sie sahen von ihrer Arbeit auf, und Svenn streckte seinen Kopf durch das Tor. Der Knecht äugte über seine Schulter hinweg gleichfalls hinaus. Doch es war nur der Bauer mit Glaesir, seinem neuen Pferd. Er führte es einige Schritte und stieg dann in den Sattel. Mit einem Sprung fast schoß das Pferd davon. Das Klappern seiner Hufe ging im Steppenboden verloren.

»Es leidet ihn nicht mehr auf dem Hof!« sagte Svenn und sah ihm nach.

»Vielleicht reitet er in die Berge?« murmelte der andre und spuckte aus. »Was sagst du dazu, daß die Gäste aufgebrochen sind? Sie wollten nicht mehr auf dem Hof bleiben. Er sei verrucht und verflucht! hat einer gesagt. Und man könnte es mit auf seinen eigenen Hof schleppen wie eine Krankheit!«

»Glaubst du vielleicht etwas davon?«

»Hm!«

»Vielleicht stirbt auch das Mädchen noch. Sie hat die ganze Nacht geschrien!« flüsterte der Knecht wieder.

»Hm! Der Bauer würde es nicht überleben.«

»Faß jetzt an!« schrie Svenn plötzlich nach seinen Worten. Er stand über die tote Magd gebeugt und wollte sie aufheben, um sie in den Sarg zu legen. Aber in diesem Augenblick scholl ein rasender Aufschlag dicht unter der Scheunentür mit ihren großen offenen Flügeln vorbei. Svenn schnellte wie ein Pfeil in die Höhe und hatte wachsbleiche zitternde Lippen, und der Knecht stöhnte vor Schreck im Dunkel. Keiner war fähig, ein Glied zu rühren.

»Das war kein richtiges Pferd!« murmelte Svenn endlich und sah mißtrauisch auf die Toten, langsam wich er von der Magd zurück an die Wand und von da weiter zum Tor. »Am hellen Tag!« keuchte er und war mit einem Sprung im Freien.

»Die Toten haben sich gemeldet!« murmelte der Knecht und rannte hinter ihm her. Und sie nickten bedeutsam, als sie dann vor der Scheune standen. Nirgends war ein Pferd zu gewahren oder ein Reiter.

»Die Toten –«

Aber es war nur die Tochter vom Hof gewesen, die einen Augenblick, in dem die Magd aus ihrem Zimmer hinausgegangen war, benützte, um aus dem Haus zu fliehen. Das Fieber glänzte noch in ihren Augen, und ihre Arme vermochten kaum den Sattel vom Haken zu heben. Aber unter Aufbietung aller Kräfte kam sie doch zu dem Stall hinüber, in dem der Graue stand und ihr wiehernd entgegenblickte. Seit Raudur den Rappen des Bauern geschlagen hatte, stand Greye an der Raufe, aus der vordem Odinn gefressen hatte. Mit zitternden Händen befestigte das Mädchen den Sattel auf seinem weichen Rücken mit den schimmernden weißlichen Haarspitzen und führte ihn über das holprige Pflaster auf den Hofraum hinaus.

»Wir müssen reiten!« flüsterte sie ihm zu und strich ihm über die Nüstern, mit bebenden bettwarmen Fingern. Dann stieg sie mühsam auf seinen Rücken und nahm die Zügel auf, während es in ihrem Kopf flammte und stieß von quälenden Bildern, die sie zu sehen vermeinte. Sie sah hoch in den Felsen einen Burschen, der sich über eine steile Wand in die Tiefe hinabseilte, um nach einem Toten zu suchen. Und nun hatte die Angst sie gepackt, sie sah den Tod auch nach ihm die knöchernen Finger krümmen. Helfen mußte sie, helfen!

Dann gab sie Greye den Weg frei.

Aber als sie nun über die Steppe hinaustritt, begannen bereits wieder die Schleier des Fiebers ihre Sinne zu betäuben, wie im Traum nur sah sie die Berge im Norden aus der Ebene heraufkommen und sich nähern.

Und wie im Traum hielt sie von den Bergen ab.

Unter den Hängen des Vatna hockte ein halbwüchsiger Bursche auf einem Steinblock und sah zu den Felsen hinauf, in denen sich einige Punkte bewegten, die man mit Mühe noch als Pferde und Männer ausmachen konnte.

Der Junge folgte eifrig den Bewegungen der Punkte und hatte kaum ein Auge für die Riesenherde von Schafen, die um ihn herumtrippelte und wogte und die Luft mit lärmendem Geschrei erfüllte.

Unverwandt blickte er auf die Stelle, über die in der letzten Nacht der Steinschlag gegangen war und die Reiter in die Tiefe hinausgefegt hatte.

»Jetzt sind sie dort!« murmelte er vor sich hin und sprang aufgeregt von seinem Platz auf. »Gerade da ist die Stelle!« redete er weiter, obgleich außer den Schafen und ein paar Hunden kein Wesen in der weiten Runde war, das ihn hören konnte, »Und geschrien hätte einer«, das hatte ein Knecht gesagt, der mit Thorkill zum Hof geritten war, um Hilfe zu holen. Dem Jungen lief es kalt über den Rücken hinab, als er daran dachte, daß einer in den Felsen hängen konnte und schrie. Schrie! Fröstelnd zog er die Schultern in die Höhe.

Aber plötzlich drehte er sich um und horchte. Durch das Blöken und Wärmen der Schafe hörte man schnelles Trappeln von Pferden. »Da müssen sie kommen!« Er sprang zu seinem Pferd und kletterte in den Sattel. Noch einmal lauschte er nach Süden hin. »Jau, das sind sie!« schrie er plötzlich und trabte davon, »jetzt kommen sie.«

Ein einzelner Reiter erschien auf der Rundung eines Hügels, und der Junge wollte schon enttäuscht seinen Gaul parieren, als noch andere dem ersten folgten und in scharfem Trab auf den Jungen zuhielten.

Es war Geir mit Thorkill und den andern.

»Wo sind die übrigen?« rief Thorkill schon von weitem, als er den Jungen gewahrt hatte.

»Droben«, nickte der Junge zum Berg hin, »alle! Sie waren die ganze Nacht droben!« sagte er dann, als er die Reiter erreicht hatte. »Dort!« zeigte er zu den Punkten hinauf, die langsam sich auf der Stelle hin und her bewegten, an der das Unglück geschehen war.

»Sie haben noch nichts gefunden!« murmelte der Altknecht, während er zu den Punkten hinaufstarrte, »wenn sie etwas gefunden hätten, so hätten sie sicher einen von den Leuten zu Tal geschickt. Ja, Geir Thors, ich weiß nicht, ob Ihr Euch getraut, dort droben in den Fels einzusteigen. Und bedenkt, wenn Ihr nun auch noch Euer Leben drangeben würdet! Bedenkt das!«

»Es wird nicht mehr lange dauern«, fuhr er dann fort und wies auf die Wolken, die in tiefem Flug über die verschneiten Kuppen des Torfa hineinflogen, zerfetzt und eilig drängend, »es wird nicht mehr lange dauern, bis der Berg wieder verhüllt ist und man kaum einen Schritt in ihm tun kann, wollt Ihr nicht besseres Wetter abwarten?«

Er holte die Schnupfdose aus seiner Rocktasche und stopfte sich umständlich die Nasenlöcher. »Wir fanden kaum unsere Pferde wieder in der Unglücksnacht, so dicht hing der Nebel über dem Berg! Man kann nicht in ihn einsteigen.«

»Man kann nicht!« nickte Geir und wandte seine Augen nicht von den Schroffen und schwarzen Basaltsäulen, die in die rauchende Wolkenkappe des Gebirgskammes eintauchten. »Es wird natürlich nicht leicht sein!« murmelte er danach und trabte wieder an, und die andern folgten ihm, bis auf den Jungknecht, der wieder zu seiner Herde zurückritt. »Aber man muß es trotzdem versuchen!« hob er zum drittenmal zu sprechen an, »wir wollen auf den Steig hinaufreiten zu den andern.«

Die Männer im Berg blickten ihnen bedrückt entgegen, als sie sie herankommen sahen.

Sie hatten nun schon seit Sonnenaufgang dort oben gestanden, und einer von ihnen hatte versucht, über den Felsen hinauszuklettern und zu sehen, ob er nicht vielleicht einen Weg finden könnte zu dem einen, der die halbe Nacht hindurch gewimmert und gestöhnt hatte, – jau, einer von ihnen mußte nun doch noch am Leben sein wie durch ein Wunder, denn anders konnte man sich das nicht erklären.

Geir Thors wurde leichenblaß, als er sie reden hörte: »Und da habt ihr nicht versucht,– und während der ganzen Zeit hängt noch einer im Berg!«

»Er ist ja hinaufgestiegen, der da«, sprach der Knecht wieder weiter, aber wir hatten Mühe, bis wir ihn zu guter Letzt wieder auf den Weg heraufgezogen hatten. Niemand wird dem da unten helfen können.« Seine Augen wurden plötzlich stier; er packte Geir am Arm und zeigte in die Tiefe: »Hört Ihr's. Hört Ihr's? Da ist er wieder!«

Kaum vernehmbar klang ein Wimmern von unten herauf.

»Geir Thors! Ihr denkt doch nicht, – Ihr wollt doch nicht hinab zu ihm?«

»Warum nicht? Thorkill!« gab der Bursche mit blassen Lippen zurück. »Wenn nun Ihr im Berg drunten hingt und darauf wartetet, daß man Euch herausholen würde? Wenn nun Ihr an seiner Stelle wäret, oder ich, oder einer von euch!« Er sah sich in den Gesichtern der Knechte um.

»Aber es kommt Regen, und vielleicht wieder Nebel. Wie wollt Ihr da herausfinden?«

»Man muß sehen, man muß eben warten! Abwarten! Ein Leben ist das andere wert! Hast du die Taue?« wandte er sich an Thorkill. »Dann gib sie her!«

»Aber, Geir Thors, Ihr könnt nicht jetzt einsteigen! Seht doch nach oben! Die Wolken sind noch tiefer gekommen.«

»Gib her!«

»Jau. Da! Und – und – dann segne Euch der Herr! Nun, da sind sie also, die Taue!«

»Und wenn mir etwas zustoßen sollte, dann grüß die drunten auf dem Hof!« Er sah einen Augenblick auf Thorkill. »Auch das Mädchen mußt du dann grüßen! Vergiß es nicht!«

»Kannst du nicht von Zeit zu Zeit rufen, damit wir wissen, wo du bist!« stieß der Altknecht heraus, als Geir schon über den Rand des Steigs hinausgeklettert war. Er legte sich glatt auf den Bauch und schob seinen Kopf über den Abhang hinaus. »Du mußt also rufen!«

»Jau, Alter!«

Der Fels war steil. Aber wenn man erst über eine Wand von einigen dreißig Fuß hinabgekommen war, waren genug wagerechte Bänder da, die einige Bewegungsfreiheit gaben. Den Blicken der Knechte entzogen, arbeitete sich Geir auf das erste Querband hinab und schritt auf ihm entlang, während er seine Augen in jede Schrunde und auf jede Nadel heftete, die er einsehen konnte von seinem Platze aus.

Nun stand er schon auf der zweiten Terrasse, und auf der dritten, und wischte sich den Schweiß von der Stirn, – er hatte keine noch so geringe Spur gewahren können. Er blickte auf ein Kar hinab, das sich bald hundert Meter unter seinen Füßen befand. Von nadelscharfen grotesken Zacken war es umrandet, zwischen denen Schluchten sich eingehängt hatten, von Schneewänden ausgekleidet, die selbst die Sonne eines ganzen Sommers nicht zu schmelzen vermocht hatte. Als ob der Berg lange nach seinem Erstehen sich noch einmal gereckt und gedehnt und seinen alten Mantel gesprengt hätte, so standen die Grate und Schluchten in wirrem Durcheinander und wilden Formen um das Kar, das sie umschlossen.

Das Poltern eines niedergehenden Steines schlug plötzlich durch die Stille. Droben schrien sie dazu, um ihn zu warnen. Er sah nach oben und sah den Stein über sich aus den Felsen herauskommen und mit einem schleudernden Satz ins Kar niederstürzen. Darauf blickte er wieder dorthin, weil er sich dachte, daß, wenn ein Stein diesen Weg genommen hatte, es mit einem Menschen wohl nicht anders sein würde. Aber er sah ein, daß es doch ein Unterschied war, ein Stein schnellte sich wieder ab vom Fels. Das tat ein Körper nicht, wenn er über die Wand herabkam! Er spürte ein kaltes lähmendes Gefühl in seinen Beinen und suchte nach einem Griff im Gestein, um weiterzukommen. Er wollte sich nun doch zum Kar hinabseilen. Vielleicht, wenn man von unten aus die Wand einsehen konnte, vielleicht konnte man dann einen von ihnen finden.

Drunten suchte er die Wand ab, über die er herabgeklettert war. Die Rufe der Knechte hörte er nur noch schwach aus der Höhe. Er schickte eine Antwort zurück, damit sie sich beruhigen sollten. Dabei gewahrte er mit einem, wie die Nebelfetzen nun schon um den Platz rauchten, an dem er den Steig verlassen hatte. Sein Ruf flatterte wie ein Echo zu ihm zurück. Auch die Helle des Tages war matter geworden und der Berg farblos. Aus den Spalten klirrte das Tropfen und Plätschern von dünnen Wasserrinnen, die sich im Innern des Berges ihren Weg zu Tal suchten.

Und plötzlich waren dann die Flächen des Gesteins mit kleinen feuchten Perlen beschlagen. Als er mit der Hand über sie strich, blieb ein schwärzlicher nasser Streifen zurück. Der Nebel kam nun auch zu ihm. Er schaute nach dem Weg, den er bisher zurückgelegt hatte, um ihn wiederzufinden, wenn es sein mußte, daß er die Suche aufgab. Aber er sah überall nur Nebel und Schwaden zwischen den Schroffen brauen.

Im Südosten lohte die Sonne unversehens noch einmal durch den Dunst, flackerte trüb und gelb wie eine Fackel, Funken schienen aus dem Fels zu stäuben. Um so drückender war danach die Dämmerung, die sich an den Hängen festklammerte, feucht und kalt.

Dann kam die Nacht!

Geir begann wieder aufwärts zu steigen im Fels. Wollte zu einer Terrasse, die mehr Platz bot, als die Stelle, an der er sich jetzt befand. Aber plötzlich hielt er ein und horchte, hatte seine Fäuste im Stein verkrampft und horchte. Hatte er sich getäuscht? Lautlose Stille war um ihn, nur das Wasser rann in den Poren des Berges. Er mußte sich verhört haben.

Da war wieder ein Laut! Seitwärts von ihm! Als ob sich etwas im Dunkel regte! Geir zuckte zusammen! Aber nun war es besser zu hören, jetzt kam es ganz nahe, ein Rabe strich durch die Wand! – Stille!

Nur ein Rabe. –

Dicht unter ihm streiften die Schwingen mit einemmal vorüber, kehrten wieder zurück. Dann hörte er den Vogel aufblocken. Ein leises Quarren kam durch das Dunkel, von der Seite herüber, – ein wenig oberhalb, – er saß wohl jetzt und linste durch die Nacht zu ihm herüber.

Aber plötzlich rann ihm ein Schauer über den Leib, als er an den schwarzen Vogel dachte, was wollte der hier im Berg? Im Berg, in dem die Leichen der Männer irgendwo hängen mußten?

Der Rabe –

Geir suchte nach einem Griff, um weiterzukommen, stieg an. Kaum konnte er mehr die einzelnen Absätze unterscheiden, so dunkel war es geworden, – einmal glitt er aus und blieb danach eine ganze Weile dort stehen, wo er sich gerade befand, weil er seinen Füßen nicht mehr trauen wollte. Aber als er sich gefaßt hatte und weiterkletterte, hörte er, wie der Kolkrabe wieder abstrich und pfeifend dicht an ihm vorbeiruderte, als ob er sich vergewissern wollte, was er hier treibe. Dumpf setzte er danach auf einem Stein auf, etwas klirrte durch die Felsen und fiel. Wieder! Er mochte ein paar Steinkrümel über den Fels hinaus gewetzt haben.

Eine Weile horchte der Bursche noch mit angehaltenem Atem –

Und plötzlich war ein eigentümlicher schnarrender Ton in der Nacht, rätselhaft –

Geir horchte, mit zuckenden Fingern, auf dieses Schnarren. Das Blut stieg ihm in den Kopf und hämmerte wild in den Schläfen, obwohl er noch nicht wußte, woher das Schnarren rühren mochte, von dem Vogel vielleicht, von dem Raben! Es mußte von ihm sein!

Da fiel ihm unversehens ein Geschehen ein, das schon weit zurücklag. Der Vater seines Vaters hatte auf dem Sterbebett gelegen – er begann zu röcheln in seinen letzten Augenblicken. – »Bring die Kinder hinaus!« hatte Hordis zu einer Magd gesagt. Und Sigrid hatte bei ihnen gesessen und ihnen Geschichten erzählt, während der Großvater im Nebenraum starb ...

Der Bursche lauschte, während ihm die Augen aus den Höhlen traten vor Grauen.

Dort unten röchelte ein Mensch!

Und bei ihm saß der Rabe und wartete.

Mitunter stieß er ein trockenes Quarren in den Nebel und wartete weiter.

»Einar!« brüllte Geir. »Leif!«

»Einar!«

Der Rabe strich wieder ab und fiel über ihm in die Wand ein. »Kraak, kraak!«

Stille!

»Einar!«

Nichts war zu hören. Bis ein leises Wimmern anhob und sich steigerte und schließlich schrie, grausam durch die Nacht schrie!

Geir hörte weit über sich die Stimmen der Knechte schallen. Sie riefen ihn mit seinem Namen.

Aber wie ihr Echo stieg wieder der Schrei aus der Tiefe herauf, schneidend.

»Ich komme, ich komme!« brüllte der Bursche und tastete mit seinen Füßen über das feuchte Gestein unter sich, um einen Halt zu suchen. »Ich komme!« schrie er und stand doch mit gefesselten Gliedern an den Fels gedrückt und vermochte nicht, die verkrampften Finger aus den Steinen zu lösen, weil er keine Kraft mehr gehabt hätte, ihnen neue Griffe abzuzwingen. Seine Knie begannen zu zittern.

Da schlug aus der Tiefe ein dumpfes Geräusch zu ihm herauf. So tönt kein fallender Stein.

Und kein Schrei kam danach mehr durch die Nacht.

Als die Knechte ihn im Morgengrauen wieder über den Felssteig hereinklettern sahen, schraken sie zurück vor seinem Gesicht! Keiner wagte ihn zu fragen.

»Ihr könnt reiten!« sagte er nur und sah sich scheu unter ihnen um. Darauf ließ er sich von Thorkill den Platz zeigen, wo die Pferde die Nacht hindurch gestanden hatten, und kletterte müde auf den Rücken des Roten, nachdem der Altknecht ihn gesattelt hatte.

»Ihr kommt ja wohl auch zum Hof?«

Der Altknecht nickte und trat zur Seite, um ihn mit seinem Pferd vorbeizulassen.

Dann griff er mit zitternden Händen nach seiner Tabaksdose. Er war plötzlich ein Greis geworden, zwischen seinen fummelnden Fingern rieselte der Tabakstaub auf den Boden hinab.

Die Knechte sammelten die Seile auf und ritten auch talab. Der Jungknecht bei der Herde war eben dabei, die Zeltpflöcke aus dem Grund zu reißen und die Leinen aufzurollen.

»Was sagst du, Thorkill?« fragte er den Alten, als der bei ihm aus dem Sattel stieg und ihm über die Haare strich, als ob er irgendeinem Menschen etwas Gutes antun müßte oder sich vergewissern wollte, daß noch nicht alles Leben in dieser Bergnacht erstorben war.

»Fertig!« murmelte Thorkill. »Ist Geir Thors bei dir gewesen, als er wegritt?«

»Jau!« Der Jungknecht senkte den Kopf.

»Hat er vielleicht etwas gesagt!« fragte Thorkill vorsichtig.

»Geir? – Er ritt vorbei, als ich ihn grüßte, sagte er nur: ›Du kannst auch reiten, du!‹«

»Sonst nichts?«

»Was sollte er mir sagen?«

»Hm, jau!«

Thorkill stieg wieder in den Sattel.

»Leute!« schrie er. »Wir können reiten!«


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