Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 8. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Lina von Saalen.

Eine Anekdote,

aus ihren und andern Papieren gesammelt.


Aus Lina's Tagebuch.

Mannheim den 14. Jenner 1788.

Das war wieder ein langer trüber Tag, den selbst die Comödie nicht aufheitern konnte. Erst zum drittenmal besuchte ich sie, und schon macht sie mir Langeweile. Man weiß eigentlich nicht, wo das Theater ist, denn die Herren und Damen in den Logen spielen so gut als die auf der Bühne ihre Rollen und geizen eben so gierig nach Beyfall.

Ein anderer Puppenmarkt, die Redoute, erwartet mich morgen. Ich, die ich den Tanz so sehr liebe, warum finde ich denn keinen Geschmak an diesen so berühmten Faschings-Lustbarkeiten? vermuthlich darum, weil man den Tanzsaal wie den Comödiensaal zum Paradeplaz macht. Da lobe ich mir jene kleinen Familienbälle, wo das Vergnügen den Charakter der Geselligkeit beibehält. O ich fühle, daß ich nicht für die große Welt gebohren bin. Jezt erst lerne ich 2 den Werth der Einsamkeit schätzen, wo ich mich ungestört meinen Träumereyen überlassen kann. Zwar hier träume ich auch; ach, nur zu sehr! Armes Mädchen, wohin wird sich deine Phantasie noch verwirren?

Lina, du hast deiner Mutter angelobt, jeden Abend ein Verhör mit dir selbst anzustellen und die Gedanken und Empfindungen des verflossenen Tages mit so gewissenhafter Treue niederzuschreiben, als ob es unter ihren Augen geschähe. Warum hast du dich bis jezt vor dem Bekenntnisse gescheuet, daß eine unerklärbare Veränderung mit dir vorgeht, daß es keine Einsamkeit mehr für dich giebt, daß ein unbekannter Fremdling bey dir eingekehrt ist, den du vergebens aus deiner Gegenwart zu verbannen suchst? Auch jezt schwebt sein Bild auf meinem Papiere. Ich erröthe vor seinem Anblik und weiß nicht warum; ich hauche einen stillen Seufzer auf das Bild, und weiß nicht warum, und wenn ich es mit Gewalt von dem Blatt wegwische, so steht es im folgenden Momente wieder da. Mein Herz scheint größer geworden zu seyn, es findet nicht mehr Raum genug in meinem Busen.

Was will denn dieser Allgegenwärtige, daß er mir überall nachfolgt? was willst du, freundlicher Geist? Man sagt die Geister verschwinden, wenn man sie anredet, aber dieser verschwindet nicht. Ha! mein Licht geht aus, und mein Vater kömmt noch nicht: er blieb unten bei einer Spielgesellschaft. Der arme Vater! er liebt das Spiel zu sehr, wenn es ihn nur nicht 3 am Ende noch unglüklich macht. Ach! der Schuzengel, der seine Leidenschaft im Zaum hielt, hat ihn verlassen.

 
Der Lieutenant von Dornek an seinen Vetter in Straßburg.

Mannheim, den 15. Jenner.

Vielen Dank! lieber Vetter, für deine guten Nachrichten. Unser Gaskogner thut mir wenigstens einen eben so großen Gefallen, als sich selbst, daß er noch lebt. Es wäre mir unendlich leid, wenn ich das Regiment wegen einer Balgerey verlassen müßte, dazu ich, wie du am besten weist, im eigentlichsten Verstande gezwungen wurde. Hoffentlich wird das Männchen sich die empfangene Lektion merken und künftig unsere Nation mit seinen platten Sarkasmen verschonen. Dennoch werde ich nicht eher zurükkommen, als bis du mir meldest, daß der Patient völlig genesen ist. Fürchte nicht, lieber Vetter, daß ich hier lange Weile finde; seit acht Tagen werde ich nur zu sehr an Mannheim gefesselt. Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die, wenn mein Herz mir nicht lügt, über das Glük oder Unglük meines Lebens entscheiden wird.

In meinem Gasthofe befindet sich ein **scher Hauptmann, der, wie ich höre, in Heilbronn auf Werbung liegt. Der Mann gefällt mir nicht ganz, er hat etwas finsteres, menschenfeindliches auf seiner Stirne; aber desto besser gefällt mir seine Tochter. Ich habe 4 schon schönere Mädchen gesehen, aber ein liebenswürdigeres ist mir noch nie vorgekommen. Stelle dir die himmlische Unschuld unter der Gestalt einer Grazie vor, so hast du ihr Bildniß; und diese Außenseite wird durch alle Reize des Geistes und Herzens erhöht.

Glaube nicht, Freund, daß ich schwärme; unsere ganze Tischgesellschaft hat hierüber nur eine Stimme. Sie allein weiß nicht, daß sie alles um sich her bezaubert, und ihre Bescheidenheit erlaubt keinem unter uns, es ihr zu sagen. Ich gebe dem holden Geschöpfe kaum achtzehn Jahre; dennoch verräth ihr ganzes Wesen eine Reife des Charakters, einen sanften Ernst, der mich vermuthen läßt, daß sie nicht immer glüklich war. Sie weicht nicht von der Seite ihres Vaters, dem sie die zarteste, kindlichste Aufmerksamkeit verschwendet und der . . . . . . Man sollte glauben, daß er sich fürchte, ihr ins Gesicht zu sehen.

Seitdem sie hier ist, herrscht ein ganz anderer Ton an unserer Wirthstafel. Die Mannspersonen sprechen nicht mehr so laut und verbieten sich jeden freyen Scherz; die Frauenzimmer – zum Glüke sind es nur ein Paar ältliche Damen, denen es nicht einfällt, mit ihr zu wetteifern – die Frauenzimmer suchen durch eine ungezwungene liebreiche Güte ihre Zuneigung zu gewinnen, und sie für die Kälte ihres Vaters zu entschädigen. Ich hatte schon viermal das Glük neben ihr zu sizen. Bey jedem meiner kleinen Dienste färbte sich ihr Rosenantliz höher; diese 5 reizende Verlegenheit wollte aber nicht sagen, daß sie ihr unangenehm waren.

Gestern erst, da ihr Vater nach Tische mit einem Zeitungsblatt ans Fenster trat, hatte ich Gelegenheit, sie einige Minuten allein zu sprechen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagte; eine Liebeserklärung war es nicht; wo hätte ich den Muth dazu hergenommen? es war aber doch mein Herz, das zu ihr redete. Sie muß es verstanden haben, denn sie erröthete stärker, aber auch schöner als noch nie, und schlug die Augen nieder. Sie faßte sich aber gleich, und als sie es jezt erst bemerkte, daß ihr Vater die Zeitung las, schwebte sie zu ihm hin und fragte ihn, ob sie ihm das Blatt auf seinem Zimmer vorlesen sollte. Nein, antwortete er troken, warf die Zeitung hin, und verließ den Speisesaal. Sie machte mir einen allerliebsten Kniks und folgte ihm nach. Doch ich hoffe, sie diesen Abend auf der Redoute zu finden.

Ihr Vater nennt sich Herr von Saalen; er muß reich seyn, wenigstens hat er schon große Summen verspielt. Der Unhold scheint nicht zu wissen, welch einen Schaz er an seiner Tochter besizt. Das Mädchen wird mir noch den Kopf verrüken und wenn du hier wärest, lieber Vetter, so würdest du mit all deiner Philosophie ihren Reizen so wenig als ich widerstehen können. Aber leider wird sie mit dem Schlusse des Carnevals wieder abreisen, das schon mit dem Anfange des künftigen Monats zu Ende läuft. Die 6 dummen Calendermacher! Warum muß es gerade dieses Jahr von so kurzer Dauer seyn? doch kömmt Zeit, kömmt Rath.

Lebe wohl, lieber Vetter, grüße mir unsere Freunde und schreibe mir bald wieder; es bleibt bey der verabredeten Adresse. Ich umarme dich brüderlich.

Dein Carl.

 
Der Hauptmann von Saalen an Lina.

Wir müssen uns trennen, meine Tochter. Was dieser Entschluß mich koste, sagen dir die zitternden Züge, die ihn dir ankündigen. Diese schrekliche Nacht hat mich in den tiefsten Abgrund des Verderbens gestürzt; nicht nur meine eigene Baarschaft, sondern auch die mir anvertrauten Gelder hat eine unselige Stunde verschlungen und mich dem Elend und der Schande hingegeben. Um wenigstens dieser auszuweichen, fliehe ich nach Holland. Unter einem fremden Namen und in einem fremden Welttheil will ich mich der ewigen Gefangenschaft entziehen, die hier mein Loos seyn würde. Fluche mir nicht, gute Lina, überlaß dieses mir.

Beykommende sechs Dukaten sind alles, was ich entbehren kann; sie können dich zu meinem Vater bringen, an den ich heute noch schreiben werde. Wirf dich ihm zu Fuße; dein Anblik wird seine Grausamkeit entwaffnen; er wird gegen die Tochter der Barbar nicht seyn, der er gegen die Mutter gewesen ist.

7 Sein Herz wird ihm sagen, daß er der erste Urheber meines Unglüks war, und seine siebenzig Jahre werden ihm sagen, daß es Zeit ist, seiner Rache Grenzen zu setzen.

Lebe wohl, mein liebes Kind; ich kann dich nicht segnen; aber wenn es einen Beschüzer der Unschuld giebt, so wird dieser es thun. Noch einmal, fluche mir nicht, und vergiß deinen unglüklichen Vater.

Friedrich von Saalen.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Gott! Barmherziger Gott! welch ein Erwachen! Armer unglüklicher Vater! o ich fluche dir nicht; wie konntest du das fürchten? Beten will ich für dich, sobald ich Kraft finde zu beten.

Ein Abgrund öfnet sich um mich her; die Ufer der Erde weichen zurük; einsam, von aller Welt verlassen, stehe ich auf einer Felsenspitze mitten im Abgrund; ach! und ich kann mich nicht hinunterwerfen in die Tiefe und die Felsenspize stürzet nicht ein unter mir. Die Feder entsinkt mir. Gott! Gott!

Ich soll mich meinem Großvater zu Füßen werfen; nimmermehr! Was darf ich von einem Mann erwarten, der zwanzig Jahre lang hassen kann, der bis an den Rand des Grabes meine Mutter verfolgte, weil sie keine andern Ahnen hatte, als einen groß gestorbenen Vater, und keine andere Mitgift, als Tugend und Schönheit; der meinen Vater enterbte, 8 weil dieser Adel und diese Mitgift seinem Herzen genügten, und weil er, um glüklich zu seyn, keiner fremden Erlaubniß zu bedürfen glaubte.

Mag doch mein Vater unrecht gehabt haben; ich wills glauben; hätte mir sonst meine sterbende Mutter . . . . ach meine Mutter, meine theure Mutter! nein! nein, ich will das Haus nicht betreten, das dir verschlossen war; ich will mich vor keinem Manne demüthigen, der dir so oft geflucht hat und dir in meiner Gegenwart fluchen würde, ohne daß ich seinen Fluch unterbrechen dürfte. Nein, nein, lieber will ich als Magd mein Brod gewinnen, als es von dem Unmenschen erbetteln. Nein, theure Mutter, nie werde ich so dein Andenken beschimpfen. Dein heiliger Schatten wird mich in die Fremde begleiten; er wird mir vorangehen durch die öde dornichte Steppe, und mir die Hütte zeigen, in der ich mich vor der Schmach, ach! und vor meinem eigenen Herzen verbergen kann . . . . . Es kömmt jemand . . . . . Es ist Zeit, daß ich fliehe. Der Unfall meines Vaters und seine Entweichung sind ruchtbar. Als ich nicht an der Tafel erschien, kam die Wirthin, eine herzgute Frau, heraufgeschlichen und klopfte leise an meine Thüre. Ich schloß ihr auf: umsonst bemühte ich mich, ihr meine Thränen zu verbergen; sie weinte mit mir. »Wollen Sie nichts genießen, gnädiges Fräulein?« Diese Anrede erschütterte mich, wie ein Donner. »Ich habe keinen Hunger, liebe Frau Wirthin.« Plözlich fuhr der Gedanke in mir auf, ob nicht mein Vater ihr schuldig seyn möchte?»Mein Vater ist verreist, und hat mir aufgetragen, Sie zu bezahlen.« Sie sah mich eine Weile wehmüthig an und schwieg. »Was bin ich Ihnen schuldig?« – O es hat keine Eile; seyen Sie unbesorgt, liebes Fräulein. – »Vermuthlich werde ich morgen ebenfalls verreisen, und da muß ich wissen . . . . ich bitte Madame, machen Sie mir meine Rechnung.« – Sie wird bald gemacht seyn. Ihr Herr Vater hat jede Woche bezahlt; es stehen nur drei Tage. Wir hatten auf vier Gulden des Tags akkordirt. Ich bezahlte. Ich sah, daß dem guten Weibe die Hand zitterte, als sie das Geld einstrich; meine Hand zitterte ja doch nicht, als ich es ihr darzählte. Sie müssen etwas zu sich nehmen, sagte sie, indem sie hinaus gieng.

Nach einigen Minuten kam sie mit einer Kraftbrühe zurük, die ich nicht ausschlug. »Der französische Offizier, Herr von Dornek heißt er, wo ich nicht irre, hat schon einigemal nach Ihnen gefragt, liebes Fräulein. Er ist sehr unruhig wegen Ihrer Gesundheit; möchten Sie ihn nicht vor sich lassen? – Unmöglich, Madame, mir ist wirklich nicht wohl und nichts als die Einsamkeit kann meine Kopfschmerzen besänftigen. Es entfuhr mir ein Seufzer; warum eben in diesem Augenblike, da ich doch bisher meine Seufzer zurükhalten konnte.

10 Die gute Frau sezte sich neben mich, und ergriff meine Hand. »Sie haben ein Anliegen, liebes Fräulein, ein schweres Anliegen! Ich weiß es: das ganze Hans weiß es.« Sie wollte meine Hand küssen; indem ich sie zurükzog, ließ sie eine Thräne darauf fallen. Ich fiel ihr um den Hals. »Womit kann ich Ihnen dienen, liebes Kind? befehlen Sie,« sagte sie schluchzend. Es war mir unmöglich zu sprechen. Sie wiederholte ihre Bitte mit der treuherzigsten Wärme. Vielleicht kann sie deinen Entschluß befördern, dachte ich, und dieser Gedanke gab mir die Sprache wieder. »Sie kennen mein Unglük, gute Frau, und schenken mir Thränen. Vielleicht können Sie es erleichtern. Wenn Sie mich auch behalten wollten, so sehen Sie selbst ein, daß es sich nicht wohl für mich schiken würde, nach der Abreise meines Vaters in einem Gasthofe zu wohnen. Könnten Sie mir nicht in einem ehrbaren Hause ein Obdach verschaffen? Am liebsten wäre mirs, wenn ich wenigstens einen Theil meines Unterhalts durch meine Arbeit verdienen könnte. Ich stike und klöple Spizen. Ich habe zwar noch etwas Geld, aber . . . . . .« Sie unterbrach mich: O, liebes Fräulein, nehmen Sie doch das zurük, was Sie mir gegeben haben. Gott weiß, ich nahm es blos an, weil ich Sie durch meine Weigerung zu beleidigen fürchtete. Sie zog hastig ihre Geldbörse heraus. »Kein Wort mehr davon, wenn sie mich nicht wirklich beleidigen wollen. Sie 11 sehen ja, daß ich Ihnen Gelegenheit gebe, mich auf eine weit wesentlichere Art zu verpflichten.«

Hier wurde sie abgerufen. »Lassen Sie mir nur Zeit bis morgen, sagte sie, indem sie mir die Hand drükte; ich habe verschiedene Freundinnen, die mich vielleicht in den Stand sezen werden, Ihnen, liebes Fräulein zu dienen.« »Kein Fräulein mehr, flüsterte ich ihr zu. Die Personen, denen Sie mich empfehlen, müssen mich blos unter dem Namen Caroline Roland kennen.«

Dein Name theure Mutter, giebt mir eine innere Würde, eine Weihe zum Leiden. Möge ich mir mit ihm auch deine Standhaftigkeit zueignen!

Den 17ten.

Schon heller Tag; ich habe also fünf Stunden geschlafen; wie viel, wie wenig ist es für den Unglüklichen! Was es für mich sey, das weiß nur er, der meine Tage gezählt hat. Doch ich weis es ja auch; lag ich nicht fünf Stunden lang in einer seligen Vergessenheit meines Zustandes. Wahrlich, kein geringer Gewinn; ach könnte ich ihn nur mit meinem armen Vater theilen! Gewiß hat er keine fünf Stunden geschlafen. Dieser Tag muß mein künftiges Schiksal entscheiden; mein künftiges Schiksal!

Es ist zehen Uhr und meine gute Wirthin hat sich noch nicht sehen lassen. Vermuthlich hat sie mir noch keinen Zufluchtsort ausgefunden. Großer Gott, was werde ich anfangen. Dem Rathe meines Vaters 12 folgen? Nein, nein. Jede Demüthigung würde mir erträglicher seyn, als diese. Doch wenn ich auch den bittern Kelch ausleeren, wenn ich mich vor meinem Großvater in den Staub werfen wollte, so würden mir jezt die Mittel dazu fehlen. Noch drey Dukaten . . . . . Zwar meine Uhr; doch sie gehörte ja meiner Mutter, sie hieng zum Haupte ihres Sterbebettes . . . . . sie ist mir ein Heiligthum; ich schwör es, nie soll es in unheilige Hände gerathen. Großer Gott! was habe ich gethan, daß du dich so ganz vor mir verbirgst: bin ich denn nicht ein Waise und willst du nicht der Waisen Vater seyn?

Ja, du bist es, o vergieb, vergieb mir, daß ich daran zweifeln konnte. Ach! der Kummer hatte meine Augen umwölkt, daß ich den Arm nicht sah, den du nach mir ausstrektest!

Um eilf Uhr trat meine Wirthin, von einer angenehmen ehrbaren Frau begleitet, in mein Zimmer: hier Mademoiselle Roland, bringe ich Ihnen eine Freundin, die Sie in ihr Haus aufnehmen will. Es ist Madam Müller, die Puzhändlerin. Ein Strom von Gefühlen schwellte mein Herz; alle meine Glieder bebten; ich konnte nicht sprechen. Ich wankte der freundlichen Erscheinung entgegen; meine Thränen flossen, aber meine Blike mußten ihr sagen, daß Freudenthränen mit darunter waren. Beruhigen Sie sich, Mademoiselle, sagte sie in einem liebreich mitleidigen Tone: ich hoffe Ihr Vertrauen zu verdienen; und 13 ich, liebes Kind, sezte die Wirthin hinzu, stehe Ihnen dafür, daß sie es verdienen wird. Jede ergriff eine meiner Hände, sie nahmen mich zwischen sich und sezten sich auf mein Bette. Sie können, fuhr Madam Müller fort, heute noch bei mir einziehen. Meine Tochter wird ihr Stübchen mit Ihnen theilen, ein gutes Mädchen, das bald auch sein Herz mit Ihnen theilen wird.

Ich sank der würdigen Frau schweigend in die Arme. Ich habe eine weitläufige Kundschaft, fuhr sie fort, und hoffe Sie bald bey einer adelichen Dame unterzubringen. Indessen werde ich Sie auf meiner Stube mit Puzarbeit beschäftigen. Ihre Figur und Ihre Lage verbieten mir, Sie in meinem Laden den Bliken der Neugierigen auszusezen. Ich konnte ihr blos durch einen festen Händedruk antworten. Ihre Arbeit werde ich Ihnen stükweis am Ende jeder Woche bezahlen und Ihr kleines Kostgeld davon abrechnen. Dieses sage ich Ihnen blos, um Ihre Delikatesse zu beruhigen. Ihr seelenvoller Mutterblik sagte mir noch weit mehr; mein Herz floß über; ich umarmte meine gute Wirthin, die mit ihrem Busentuche meine Thränen abtroknete. Diesen Abend, wann es dunkel wird, sagte sie, werde ich Sie zu Madam Müller begleiten und Ihnen Ihren Koffer durch den Hausknecht nachschiken.

Madam Müller ist eine edle gebildete Frau, sie muß eine ausgezeichnete Erziehung empfangen 14 haben. Wir sprachen noch manches, das mich in meiner vortheilhaften Meinung von ihr bestärkte. Mit Vergnügen glaubte ich zu bemerken, daß die Wirthin ihr meinen Stand verheelet habe. Als sie fort war, dankte ich der wakern Frau nochmals für ihre Vorsorge und besonders auch für diese Aufmerksamkeit. Sie irren sich, sagte sie, für meine Freundin habe ich kein Geheimniß und ich würde ihr Vertrauen beleidigt haben, wenn ich nicht ganz offenherzig gegen sie gewesen wäre. Allein sie wird sich immer so gegen Sie betragen, als ob Ihre Geburt ihr unbekannt wäre, und auf ihre Verschwiegenheit gegen andere Personen, selbst gegen ihre Tochter, können Sie sich heilig verlassen. Was konnte ich dagegen sagen?

Es ist Abend um fünf Uhr; mein Koffer ist gepakt; der Gasthof ist leer, alle Gäste sind im Schauspiel, jede Minute wird mir zur Stunde. Ah, nun höre ich die Stimme meiner Wirthin, sie spricht mit jemand auf dem Vorsaal. Gott! er ist es, ich erkenne seine Stimme; er ist also nicht im Schauspiel. Warum zittre ich, ha, kaum kann ich die Feder halten. Unglükliche, wie dein Herz klopft! was kann er wollen? er entfernt sich, sie nähert sich meiner Thüre.

Den 18ten.

Sie klopfte leise an; ich raffte meine Papiere zusammen und schloß ihr auf. Sind Sie bereit, liebes Fräulein? flüsterte sie im Hereintreten. Ich bin es, antwortete ich und hieng mich mit kindlichem 15 Vertrauen an ihren Arm. Wir schlichen über die Hausflur die Treppen hinunter, und erst, als wir eine Weile auf der Straße fortgegangen waren, sagte sie: ich habe Ihnen so eben einen Besuch erspart. Herr von Dornek verlangte Sie zu sprechen. Ich sagte ihm, Sie wären nicht wohl und wollten Niemand vor sich lassen. Nur mit Mühe konnte ich ihn abweisen; Sie zittern, liebes Kind? – Es ist kalt. – Wir haben nicht mehr weit. Indem schlugen wir eine andere Straße ein und in einigen Minuten erreichten wir die Wohnung der Madam Müller.

Sie und ihre Tochter empfiengen mich mit einer rührenden Herzlichkeit. Friederike ist ein sehr feines Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Ihre Mutter legte unsere Hände in einander, ohne ein Wort zu sprechen. Auch wir sprachen nicht; aber unsere Thränen flossen zusammen, indem wir uns umarmten. Nach einer Viertelstunde verließ uns meine wohlthätige Wirthin und Madam Müller hatte mich kaum in das äußerst reinliche Stübchen ihrer Tochter eingeführt, mir mein Bett und meinen Kleiderschrank angewiesen, als meine Sachen aus dem Gasthof ankamen. Den Rest des Abends brachte ich mit meinen kleinen Einrichtungen zu, wobey Friederike mir mit liebenswürdiger Gefälligkeit an die Hand gieng. Sie schien sich über die Zierlichkeit meiner Garderobe zu verwundern, allein sie sagte nichts. Man gieng zu Tische; Mutter und Tochter 16 bemühten sich, mich aufzuheitern, und es gelang ihnen. Sie machten mich näher mit ihrer Lebensweise und mit meiner eigenen Bestimmung bekannt. Einige meiner Stickereyen, die Friederike bey mir gesehen und der Mutter weit über ihren Werth angepriesen hatte, bewogen sie, mir dieses Fach aufzutragen. Bei Licht wird nicht gearbeitet; nach dem Abendessen aber wird eine Stunde gelesen; ich erbot mich dieses Geschäft mit Friederiken zu theilen. Zugleich bat ich Madam Müller um die Erlaubniß, jeden Abend eine halbe Stunde auf mein Tagebuch zu verwenden; ich sagte ihr, daß ich schon in meinem zwölften Jahre meiner Mutter angeloben mußte, diese Arbeit nie als im äussersten Nothfalle zu unterlassen. Nichts soll Sie hier davon abhalten, erwiederte sie liebreich. Friederike wird sie mit allen Schreibmaterialien versehen. Dieses that sie beym Schlafengehen, und ich schrieb während sie sich auskleidete, allein erst diesen Morgen konnte ich die Geschichte eines Tages endigen, mit dem ich eine neue Laufbahn beginne. Nur der Allwissende weiß, wohin sie mich führen wird. Glüklich, wenn jeder bange Morgen meines künftigen Daseyns in einen so ruhigen Abend übergeht, wie der gestrige. Ruhig? Arme Lina, dein Geist ist es, aber ist es auch dein Herz? 17

 
Der Lieutenant von Dornek an seinen Vetter.

Mannheim den 20sten Jenner.

Spotte, so lange du willst, lieber Vetter; es bleibt dennoch wahr, daß du an meiner Stelle nicht vernünftiger seyn würdest, als ich. Eine unwiderstehliche Gewalt reißt mich fort und ich fühle mehr als nie, daß das Loos meines Schiksals gezogen ist. Der Name Lina von Saalen steht darauf mit dem meinigen so enge verschlungen, daß keine irdische Macht mehr im Stande seyn wird, sie zu trennen.

Höre, lieber Freund, was sich seit meinem lezten Briefe zutrug. Ich sagte dir, daß ich die Redoute besuchen würde; ich that es. Erst als ihr Lohnwagen vor dem Gasthofe hielt, machte ich mich auf den Weg, was hatte ich früher dort zu schaffen?

Sie erschien an der Hand ihres Vaters reizend wie . . . . . Ich Thor! Womit könnte ich das Unvergleichbare vergleichen? O sie war es nicht blos in meinen Augen, alle Blike waren auf sie geheftet, alle flogen ihr nach, wenn sie, wie eine Unsterbliche, auf den Fittigen des Zephyrs daher wogte.

Viermal hatte ich das – Glük (ein elendes Wort, allein keine Sprache hat den Ausdruk, den ich suche) ich hatte, sage ich, viermal das Glük, mit ihr zu tanzen. Sie mußte mich sehr albern finden, nicht weil ich ihr keine von den gewöhnlichen Höflichkeiten vorleyerte, sondern weil die Zunge mir versagte, so oft 18 ich etwas klügeres vorbringen wollte. Ohne ein Wort zu sprechen, zog ich sie zum Tanz auf; ohne ein Wort zu sprechen, führte ich sie an ihren Plaz zurük. Ich hätte mich vor die Stirne schlagen mögen. Meine Augen müssen mich besser bedient haben, als meine Zunge, sonst würde sie mir schwerlich gefolgt seyn.

Doch hatte ich ein einzigesmal die Beredtsamkeit, ihr eine Erfrischung anzubieten. Statt einer Antwort nahm sie mir das Glas mit einer bezaubernden Grazie ab. Als sie es wieder auf den Teller sezte, ließ sie ihren Fächer fallen; sie bükte sich, um ihn aufzuheben, ich auch; unsere Hände begegneten sich und ich . . . . . ich bekam plözlich den herkulischen Muth, ihr niedliches Händchen, aber freylich nur ganz leise, zu drücken.

Ein glühender Purpur überzog ihr Gesicht, und ich taumelte mit meinem Teller nach der Büvette. Hier traf ich einen Bekannten an, der mich einige Minuten aufhielt. Ich weiß nicht, was er mir sagte, noch was ich ihm antwortete, denn ich stand auf feurigen Kohlen. Als ich in den Saal zurükkam, fand ich ihre Stelle leer; ich suchte sie unter den Tänzerinnen, aber umsonst; ich suchte sie an allen Orten und Enden; sie war verschwunden.

Vielleicht hat sie sich nur einige Augenblicke entfernt, dachte ich, und mein Auge lauerte wohl eine halbe Stunde auf ihre Rükkunft; denn es war kaum ein Uhr nach Mitternacht. Endlich sah ich ihren 19 Vater hereintreten, aber ohne sie. Er gieng in ein Neben-Zimmer; ich folgte ihm; er sezte sich an einen Pharao-Tisch, wo man ihn zu erwarten schien. Nun sah ich, daß er sich das arme Mädchen vom Halse geschafft hatte, um ungehindert zu spielen. Ich verwünschte ihn und seine Karten und gieng mit schwerem Herzen nach Hause.

Hier erfuhr ich die Wahrheit meiner Vermuthung; Lina lag bereits zu Bette, indeß ihr Vater mit rastloser Emsigkeit an seinem und ihrem Verderben arbeitete, denn am folgenden Morgen erfuhr ich, daß er alle seine Baarschaft verspielt, sich heimlich davon gemacht und seine Tochter am Rande der Verzweiflung zurükgelassen habe.

Zweimal suchte ich die Unglükliche zu sprechen, aber vergebens. Sie ließ niemand als die Wirthin vor sich, und diese bat mich das Zweitemal so dringend, ich möchte bald sagen so kläglich, das arme Kind ungestört zu lassen, daß ich meinen Besuch erst am folgenden Tage wiederholen wollte. Mit Erstaunen hörte ich, sie habe des Abends zuvor den Gasthof verlassen, und mehr konnte ich von der geheimnißvollen Wirthin nicht erfahren. Ich verbarg meinen Unwillen und wandte mich unter der Hand an das Gesinde. Der Hausknecht, hieß es, habe des Fräuleins Koffer fortgeschafft. Ich machte mich an diesen; ein Laubthaler löste ihm die Zunge; er nannte mir das Haus 20 einer Puzhändlerin, die, wie er sagte, den Auftrag hatte, den Koffer weiter zu versenden.

Ich eilte zu dem Weibe und verlangte sie allein zu sprechen. Meine Anfrage sezte sie in Verlegenheit. Die gute Frau konnte oder wollte nicht lügen, aber eben so wenig wollte sie mir die Wahrheit sagen. Sie erröthete und schwieg. Ich suchte ihr allen Verdacht zu benehmen. Mein Ton, vielleicht auch meine Miene, gewannen endlich ihr Vertrauen. Sie gestand mir, daß Mademoiselle Roland sich bei ihr aufhalte. »Mademoiselle Roland?« – Ja, mein Herr; blos unter diesem Namen will sie in meinem Hause gekannt seyn. – »Nun gut, kann ich sie nicht sprechen? in Ihrer Gegenwart versteht sich.« – Dazu muß ich ihre Erlaubniß haben. Sie gieng und blieb wohl eine Viertelstunde aus, ein Jahrhundert sollte ich sagen. Furcht und Hoffnung trieben mich in einem siedenden Strudel umher.

Endlich hörte ich sie zurük kommen; jeder ihrer Fußtritte wiedertönte in meinem Herzen. »Folgen Sie mir, mein Herr.« Sie führte mich die Treppe hinauf; gerne wäre ich ihr vorgerannt, wenn ich den Weg gewußt hätte. Ich hüpfte ihr nach, gleich dem Vogel, dem man die Schwingen beschnitten hat. Sie öfnete mir ein sehr hübsches Zimmer und Caroline trat mir in der feyerlichen Majestät der leidenden Unschuld entgegen. Ich verstummte. Was verlangen Sie, mein Herr? sagte die zephyrische 21 Stimme. Die Frau sezte mir einen Stuhl; auch Caroline sezte sich. Diese Pantomime gab mir Zeit, mich zu sammeln.

Ich habe, Mademoiselle, Ihren Unfall erfahren und komme, Ihnen alle Hülfe anzubieten, die in meinem Vermögen stehet. Eine plözliche Röthe überzog ihr blasses Gesicht. – Ich danke Ihnen, mein Herr, für Ihre Güte; die Freundschaft der Madam Müller macht mir jede andere Hülfe entbehrlich. Ich wandte mich zu Madam Müller: ich beschwöre Sie, Madam, mir zu erlauben, Ihre Sorge für das Fräulein mit Ihnen zu theilen. Caroline unterbrach mich; verschonen Sie mich, mein Herr, mit einem Titel, den ich auf immer ablege, und wenn Ihnen mein Unfall nicht gleichgültig ist, so kann meine Ehre Ihnen noch weniger gleichgültig seyn. Ich erwarte daher von Ihrem Zartgefühl, daß Sie mich mit Ihren Besuchen verschonen, und meine Einsamkeit nicht stören werden. Unglükliche weinen gern im Verborgenen. Eine Thräne glänzte in Ihrem schönen Auge. Ich weiß, Mademoiselle, erwiederte ich, daß ich keinen Anspruch auf die Ehre habe, Ihre Thränen abzutroknen; aber den Wunsch diese Ehre zu verdienen, können Sie meinem Herzen nicht untersagen. – Eben weil ich Ihr Herz für edel halte, antwortete sie, habe ich Sie vor mich gelassen, um Ihnen selber zu sagen, was ich sonst meiner Beschüzerin an Sie aufgetragen hätte.

22 Sie stand auf; ich that mechanisch ein gleiches; aber ich fühlte, wie entscheidend dieser Augenblik für mich war. Ich gehe, Mademoiselle, sagte ich; allein ehe ich Sie verlasse, müssen Sie das Bekenntniß meines Herzens anhören: ich liebe Sie und um Sie zu lieben, bedurfte ich der vierzehn Tage nicht, die ich das Glük habe, Sie zu kennen. Sie erblaßte und konnte sich kaum aufrecht halten; wenn ich mich aber nicht betrüge, so war es ein froher Schreken. In ihren Augen konnte ich nicht lesen; sie waren niedergesenkt und helle Thautropfen hiengen an ihren langen Wimpern. Vielleicht, fuhr ich fort, hätte ich noch lange geschwiegen; wenn das Exil, dazu Sie mich verurtheilen, mir nicht den Muth und vielleicht das Recht gegeben hätte, zu reden. Ihr Herz muß Ihnen sagen, edle Lina, ob ich hoffen darf, und wenn es sich jezt nicht erklären kann, so schmeichle ich mir wenigstens, daß sie mir die Erlaubniß nicht versagen werden, mein Urtheil in einigen Tagen aus Ihrem Munde zu vernehmen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen Gelegenheit gegeben habe, mir Ihre Hochachtung zu schenken; aber das weiß ich, daß Sie mich nicht im Verdacht haben können, Ihnen eine andere als rechtmäßige Verbindung anzubieten. Ich schwieg, sie auch, und meine lezten Worte erschütterten sie so sehr, daß sie sich niedersezen mußte.

Sie sehen, mein Herr, sagte Madam Müller, daß Mademoiselle Roland zu sehr überrascht 23 ist, als daß Sie heute eine Antwort von ihr erwarten könnten. Ich nehme es auf mich, Sie in Ihrem Namen zu berechtigen, Ihren Besuch in drey Tagen zu wiederholen.

Ich gestehe dir, lieber Vetter, daß die gute Frau mich aus einer wenigstens eben so großen Verlegenheit zog, als ihre Pflegetochter. Blos die Furcht, keine Gelegenheit mehr zu einer Erklärung zu finden, hatte mir die Zunge gelöst, und so fest auch mein Entschluß ist, Carolinen meine Hand zu geben, so hätte ich doch lieber zuvor die Schwierigkeiten gehoben, die meinem Vorhaben im Wege stehen.

Ich unterwarf mich also ganz gerne dem Ausspruche der Madam Müller. Ich näherte mich Carolinen, um mich ihr zu empfehlen. Sie nahm sich zusammen und begleitete ihre Verneigung mit einem nicht eben zärtlichen, aber doch wohlwollenden Blicke, der die Capitulation ihrer Beschützerin zu ratificiren schien. Erst auf der Treppe fiel mir ein, daß ich mit keinem Worte meines Vermögens erwähnt hatte, diese Reticenz konnte wohl Carolinen, aber nicht so leicht der Madam Müller entgangen seyn. Ich sagte also, indem sie mir hinunter leuchtete: ich habe vergessen, mit dem Fräulein von meinen Glüksumständen zu sprechen. Wenn Sie mich verpflichten wollen, Madam, so sagen Sie ihr, daß ich Aussichten habe, die auch minder bescheidene Ansprüche, als die ihrigen, befriedigen könnten. Merke, 24 dies, Freund, Aussichten sagte ich, nicht Einkünfte, und das war doch wohl nicht gelogen.

Nun ist guter Rath theuer. Du kennest meinen Vater und seinen Plan; ich nenne blos ihn, weil ich überzeugt bin, daß meine Mutter, ob es gleich auch ihr Plan ist, mein Glük der Ausführung desselben vorziehen würde. Es ist schon spät: tausend Gedanken kreuzen sich in meinem Kopfe, und noch konnte ich keinen festhalten. Ich will mich auf mein Bette werfen: vielleicht offenbaret mir ein Traum, was ich wachend vergebens suche. Denn von ihr werde ich ja doch träumen.

Den 21sten.

Es ist schon wieder bald Mitternacht, und noch bin ich nicht viel klüger als gestern um diese Stunde. In so weit wäre ich mit mir einig, daß ich alsdann erst mein Inkognito ablegen werde, wenn ihr Herz dem meinigen entspricht. Ich habe hierzu einen sehr wichtigen Grund: ich konnte mich heute nach Tische nicht enthalten, meiner Wirthin mit einer triumphirenden Miene zu sagen, daß ich den Aufenthalt der Mademoiselle Roland ausgespäht habe. Das war nun freilich eine Kinderei, Vetter, allein diese Kinderei brachte mich auf eine große Entdekung. Ich fragte die Wirthin, wer denn diese Madam Müller sey? und unter der vortheilhaften Schilderung, die sie von ihr machte, war auch der Zug, daß sie der Herbornischen Familie alles zu danken habe. Du kannst 25 denken, wie ich hier auflauerte; kaum konnte ich meine Bestürzung verbergen.

Nun bereue ichs, daß ich mich verpflichtet habe, Carolinen nie anders, als in Gegenwart dieser Frau, zu sprechen. Doch ist nur erst das Schiksal meiner Liebe entschieden, so soll sich wohl der Augenblik zu einem Tête à Tête mit ihr finden. Uebrigens mag ich die Sache überlegen wie ich will, so kann ich, auch wenn sie mich liebt, ihr fürs erste meine Treue nicht anders, als durch eine geheime Verbindung versichern. Allein werde ich wohl den Muth haben, ihr diesen Antrag zu thun? Mündlich gewiß nicht. Was für eine imponirende Gottheit ist doch die Unschuld! Der erste Jüngling, der vor einem edeln reizenden Mädchen auf die Kniee fiel, war traun kein Gek. Ich kann mich, selbst in Gedanken nie anders, als mit dem Gefühle der Anbetung, dem himmlischen Geschöpfe nähern. Gleichwohl möchte ich nicht vor ihr niederfallen. Unsere Romanenhelden haben dieses heilige Symbol der ehrerbietigen Liebe entweiht und Lina würde, wie mich dünkt, mich nicht gern in dieser Stellung sehen.

Wie wäre es, wenn ich vor meinem Besuche an sie schriebe, wenn ich ihr ganz treuherzig eröfnete, daß ich nicht von mir allein abhange und ihr deswegen meine Hand noch nicht im Angesichte der Welt reichen kann. Ich Thor! weiß ich denn schon, ob sie meine Hand annehmen wird? baue ich mein Glük nicht zu 26 dreist auf ihr Unglük? Elender! ihrer Liebe, nicht ihrem Unglük must du den Sieg verdanken. O es sieht in meinem Kopfe noch verwirrter aus als gestern.

Lebe wohl, Freund, ich muß meinen Brief schliessen, wenn er nicht zu einem wirklichen Dokumente meines Aberwizes werden soll.

 
Aus Lina's Tagebuch.

den 20sten Jenner.

Wohl mir, ich hin unter gute Menschen gerathen! Madam Müller und ihre Tochter begegnen mir mit einer ungeheuchelten herzlichen Liebe; das Wetter war diesen Morgen sehr kalt und stürmisch; man beschloß den Sonntag zu Hause zu feyern; dieses würde ich ohnehin gethan haben; Friederike langte Zollikofers Reden über die Würde des Menschen hervor; ich erbot mich zur Vorleserin. Die Wahl wurde mir überlassen. Ich öfnete das Buch auf Gerathewohl und die Rede über den Werth der Tugend fiel mir in die Hände. Ich las sie mit der Wärme eines theilnehmenden Herzens. Als ich fertig war, umarmten mich Mutter und Tochter. Sie waren tief bewegt und ich konnte den Antheil nicht verkennen, den ich an dieser Rührung hatte.

Durch ihren Beifall aufgemuntert, las ich ihnen nach Tische einige Gedichte aus dem Voßischen Musenalmanach, den ich mit mir auf die Reise genommen hatte. Eben las ich im reizenden Liede, das Landmädchen, die Worte: 27

Da kam er mit Erröthen
Durch hohes Gras daher,

als Madam Müller abgerufen wurde. Es dauerte ziemlich lange, bis sie zurükkam. Der Besuch gilt nicht mir, sondern Ihnen, Mademoiselle, sagte sie, und er will sich nicht abweisen lassen. Es ist ein gewisser Herr von Dornek, der Sie schlechterdings sprechen will. Warum erbebte ich bei diesem Namen?

Madam Müller bemerkte meine Verwirrung. Fassen sie sich, Mademoiselle, fuhr sie fort, er muß Ihnen weder etwas Unangenehmes noch etwas Geheimes zu sagen haben, weil er mich eingeladen hat, der Unterredung beizuwohnen. O thun Sie es, liebe Madam, stammelte ich. Nur unter dieser Bedingung kann ich ihn vor mich lassen. Nun gut, versezte sie; allein erholen Sie sich zuerst. Sie sind ja blaß wie eine Leiche und können kaum sprechen. Nun fühlte ich, wie mir das Blut aus dem Herzen ins Gesicht schoß. Nach und nach konnte ich freyer athmen, und auf einen Wink ihrer Mutter entfernte sich Friederike.

Länger dürfen wir ihn doch nicht warten lassen, sagte Madam Müller, und ohne meine Antwort zu erwarten, verließ auch sie mich, um den interessanten jungen Mann, wie sie ihn nannte, zu mir heraufzuführen. Gott, wie überraschte er mich! Mir ahnete zwar, daß er mir seine Hülfe anbieten würde und meine Antwort war bereit. Allein sein Herz, 28 seine Hand! noch jezt glaube ich zu träumen. Ich muß mich sammeln.

Was soll ich seine Worte niederschreiben? sind sie nicht mit Flammenzügen in mein Herz gegraben? Ich weiß es ihm Dank, daß er ohne mein Unglük seine Erklärung noch verschoben haben würde und daß er mir dieses erst alsdann sagte, da ich ihm die Hoffnung benahm, mich wieder zu sehen. Also in drey Tagen! die gute Madam Müller hat mir einen grossen Dienst geleistet, daß sie das Wort für mich nahm. Aber nur drey Tage! Wahrlich die Frist ist zu kurz. Arme Lina! für deine Vernunft wohl, aber auch für dein Herz? Hat es nicht bereits entschieden? Ach meine Mutter, meine theure Mutter! warum kann ich dich nicht um Rath fragen? Noch nie habe ich es so ganz gefühlt, daß ich eine Waise bin. Wie oft sagte sie mir: sobald dein Geist mit Wohlgefallen bey dem Bild eines Jünglings verweilt, sobald dein Herz bey seinem Anblicke lauter schlägt, so traue dir selbst nicht mehr: eile an den Busen deiner Mutter und schließ ihr den deinigen auf. Dieser Augenblik ist nun da; aber du . . . . . wer kann dich einzige mir ersetzen!

Den 21sten.

Die ganze Nacht brachte ich schlaflos zu: dennoch fand ich sie kurz. Was für ein räthselhaftes Ding ist die Sanduhr der Zeit! räthselhaft wie der Mensch. Zwar ich bin mir kein Räthsel mehr; Dornek hat 29 gestern den Vorhang weggezogen, der mir mein Herz verbarg. Dieses neue Gefühl, das seit einigen Tagen darinn aufkeimte, heißt also Liebe. Warum entstand es nicht eher in mir? Warum gerade für ihn? Ich fand mich ja schon mit mehr als einem Jüngling in Gesellschaft. Alle sagten mir Schmeicheleyen vor, und sie rührten mich nicht; dieser sagte mir keine und mein Herz flog ihm entgegen. Armes Herz, wirst du deine Hingebung nicht bereuen?

Er liebt mich, o er liebt mich! das muß ich glauben, wenn ich an Menschenwerth, und an Tugend glauben soll. Sein Ton, sein Blik, seine offene Stirne, alle seine Gesichtszüge tragen das Gepräge der Wahrheit: allein ist er auch unabhängig? kann er, darf er mir seine Hand anbieten? Ha! wenn er einen Vater hätte, der dem Vater des meinigen gliche. Dann, arme Lina, hast du nichts zu hoffen. Gott! Ja, ja, das will ich thun: Madam Müller, die ohnehin Zeuge seiner Erklärung war, und Zeuge meiner Antwort seyn wird, soll meine Vertraute seyn, Sie hat Geist und Herz, und jede Stunde giebt sie mir einen neuen Beweis ihrer Liebe. Diesen Abend, wenn wir allein sind, will ich sie um ihren mütterlichen Rath bitten, und sie näher mit meiner Lage bekannt machen.

Den 22sten.

Der Schritt ist gethan; wohl mir, daß er gethan ist. Nach dem Abendessen bat mich Friederike, 30 ich möchte ihr ein Buch zur gemeinschaftlichen Lektüre vorschlagen. Haben Sie Voßens Odyssee? – Nein. – Aber doch gelesen? – Nein. – Wissen Sie das Buch zu bekommen? – Ey, ich wills kaufen, wenn Sie mir dazu rathen. – Kaufen Sie's auf mein Wort. Ein Freund meines Vaters, bey dem es Grundsatz ist, jungen Personen, die nicht blos für die lange Weile lesen wollen, vor allen Dingen einige gute Uebersetzungen der Alten in die Hände zu geben, hat mich schon vor drey Jahren mit der Odyssee bekannt gemacht. Seitdem habe ich viel, vielleicht zu viel gelesen und immer ist die Odyssee mein Lieblingsbuch geblieben. Ich weiß sie halb auswendig. Nun so müssen Sie, sagte Friederike, sie uns vorlesen, allein was lesen wir heute? – Was Sie wollen; zuvor aber wünschte ich mich ein Viertelstündchen mit Ihrer Frau Mutter zu unterhalten.

Friederike stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Ich ergriff sie beym Arme. Bleiben Sie, liebe Friederike, ich habe keine Geheimnisse, wenigstens keine für die Tochter meiner Wohlthäterin. Das gute Mädchen fiel mir um den Hals: vergeben Sie mir, sagte sie, länger kann ich mich nicht zurükhalten. – Ich auch nicht, erwiederte ich, und gab ihr die Umarmung aus vollem Herzen zurük. Ihre Mutter sah uns lächelnd an, und umschlang uns beide. Lassen Sie uns, sagte sie zu mir, wie alte Bekannte mit einander leben. Von nun an nicht mehr Madam, 31 und noch weniger Wohlthäterin; Ihre Freundin will ich heißen, weil ich es bin. Meine zweyte Mutter, rief ich weinend, und ich Ihre Lina. Merken Sie sich das. – Sehr gerne, liebes Kind, und nun, was haben Sie mir zu sagen? – Was ich Ihnen zu sagen habe, wissen Sie schon; aber ich bedarf Ihres mütterlichen Raths, und um diesen wollte ich Sie bitten; was soll ich dem Herrn von Dornek antworten? Wenn ich mich nicht betrüge, versetzte sie liebreich, so ist es Ihre Vernunft und nicht Ihr Herz, das mich fragt. Dieses hat ihm wohl schon geantwortet. Ich verbarg mein Gesicht in ihren Busen. Kennen Sie den Herrn von Dornek? – Ich machte seine Bekanntschaft erst im Gasthofe. – Wissen Sie, wer er ist? – Ein edler Mann, wie ich glaube; mehr weiß ich nicht von ihm. – Auch ich halte ihn für einen edeln Mann. Dieses ist genug, um ihn zu schätzen, allein von einem Liebhaber, von einem Freyer muß man denn doch mehr wissen. Ich kenne die Familie Dornek nicht; sie muß nicht aus unserer Gegend seyn. – Ich auch nicht; allein ich denke . . . . . Er werde sich schon näher erklären, wollen Sie sagen, das denke ich auch; bis dahin aber glaube ich, liebe Lina, daß Sie ihm den Ausspruch Ihres Herzens verheelen müssen. Was meynen Sie? – Allerdings. Wer weiß ob seine Familie . . . . ein Seufzer erstikte meine Worte. Nimmermehr würde ich mich entschließen, wider ihren Willen seine Hand 32 anzunehmen. Auch ich bin die unglükliche Frucht einer solchen Verbindung, die meinen Vater sein Erbe und meine Mutter das Leben gekostet hat. Nein, wenn ich unglüklich seyn soll, so will ich es allein und ohne meine Schuld seyn.

Madam Müller billigte meinen Entschluß mit Lobsprüchen, die mich beschämten. Wir kamen überein, daß ich dem Herrn von Dornek meine vorzügliche Achtung nicht verbergen, mich aber zugleich mit vollem Vertrauen bey ihm nach seinen Verhältnissen näher erkundigen sollte, um meinen Vater von seinen Absichten benachrichtigen zu können. Es schlug eilf Uhr, als wir uns trennten. Mit erleichtertem Herzen ging ich an Friederikens Hand auf unser Stübchen. Das liebe gute Mädchen! wie ruhig sie schläft! Auch ich bedarf der Ruhe, werde ich sie finden?

 
Dornek an seinen Vetter.

Den 24sten Jenner.

Weist du, lieber Vetter, was meine Mutter mit dem Briefe will, den du mir zugeschikt hast? Nicht mehr und nicht weniger, als meine hohe Vermählung mit dem gnädigen Fräulein von Palmfeld beschleunigen. Es hat sich ein Anbeter bei ihr eingenistet, der, wie sie meynt, mir gefährlich werden könnte. Mag er doch: ich werde ihm das Kleinod nicht streitig machen. Die Palmfeld ist ein hübsches, ganz gutes Mädchen, und obendrein eine reiche Erbin, aber bey dem allem doch ein Gänschen: ihr 33 Porträt könnte mich einnehmen, weil es stumm ist, aber wahrlich das Original nicht; zumal seitdem ich meine Lina kenne. Meine Mutter, oder vielmehr mein Vater will, daß ich auf einen Monat Urlaub nehmen und meinem gefürchteten Nebenbuhler in den Weg treten soll. Daraus wird nichts. Wenn mein Vater erst wüßte, daß ich ihm so nahe bin; aber gerade das muß er am wenigsten wissen.

Ich weiß nicht, warum ich so heiter, so sicher bin. Ist es etwa wegen des Opfers, das ich meiner Lina bringe? doch sie weiß ja nichts davon, und soll nichts davon wissen. Möge es Ahnung meines bevorstehenden Glükes seyn! Ich bin zwar noch ein Neuling in der Liebe, aber doch schien mirs, als ob das himmlische Mädchen mein Herz nicht verschmähete. O du hättest sie sehen sollen, lieber Freund, wie sie im heiligen Pomp der Unschuld vor mir stand; es war nicht die Röthe der frischen Rose, die ihre Wangen färbte; es war der schimmernde Purpur, der das Antliz der göttlichen Jungfrau bey Anhörung jenes unerwarteten Grußes überstrahlte. O des Phantasten! wirst du hier ausrufen; nun ja ich schwärme. Ich taumle in den entzückendsten Regionen der Phantasie umher; möge ich doch nie aus meinem Wonnetraum erwachen. Lebe wohl! Uebermorgen ein Mehreres.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 25sten Jenner.

Wohl dir, Lina, du hast deine Pflicht gethan. 34 Du darfst dir, ohne zu erröthen, vom gestrigen Tage Rechenschaft geben.

Um fünf Uhr trat er, von Madam Müller begleitet, ins Zimmer. Ich war auf seine Ankunft vorbereitet, dennoch erlosch mir die Stimme. Auch er zeigte eine gewisse Verlegenheit, die mir, ich weiß nicht warum, Freude machte. Madam Müller erbarmte sich unser und, ohne zum gewöhnlichen Nothbehelf, dem Wetter und dem Theater, ihre Zuflucht zu nehmen, spann sie ein gleichgültiges Gespräch an, das uns beiden Zeit ließ, uns zu erholen. Doch, sagte sie endlich, indem sie sich selbst unterbrach, vergeben Sie mir, Herr von Dornek, ich vergesse, daß Sie hieher kamen, um mit meiner guten Lina, und zwar von ganz andern Dingen zu sprechen. Vom Glücke meines Lebens, antwortete er, indem er sich mit rührender Schüchternheit gegen mich wandte. Dieses steht in Ihrer Macht, edle Lina; möchte es eben so gewiß seyn, daß es in meiner Macht stehe, zum Glük Ihres Lebens beizutragen!

Ich faßte Muth; wenn ich Sie nicht schäzte, erwiederte ich, so würde ich Ihnen und mir diesen zweiten Besuch erspart haben. Sein Gesicht strahlte. Allein, fuhr ich fort, Sie wissen, daß ich einen Vater habe: seine Abwesenheit macht mich nicht unabhängig. Und Sie, haben Sie keine Eltern? Er erblaßte: ich habe Eltern. – Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie schätze: ich glaube, daß auch Sie mich schätzen und 35 unfähig sind, mir einen Antrag zu thun, der, anstatt unser beiderseitiges Glük zu befördern, es auf immer zerstören werde.

Theure Lina, sagte er, indem er meine Hand ergriff und an sein Herz drükte, nur in Ihrer Glükseligkeit kann ich die meinige finden, und nur durch Offenherzigkeit kann ich mir Ihre Achtung erhalten. Ich sagte Ihnen neulich, daß blos die Furcht, Sie auf immer zu verlieren, meinen Entschluß, Ihnen meine Gesinnungen zu eröfnen, beschleunigt habe. Ich wünschte zuvor eine Schwierigkeit wegzuräumen, die mir die Zunge band. Es ist ein Heirathsplan meiner Eltern, dabei sie blos meinen Vortheil, nicht aber mein Herz zu Rathe gezogen haben. (Mich dünkt, er konnte das meinige klopfen hören.) In einem Jahre würde zwar meine Volljährigkeit mich von allem Zwange befreyen; allein ich kann diesen Zeitpunkt nicht mehr abwarten. Mit lezter Post hat mein Vater mich nach Hause berufen, um diese Heirath zu Stande zu bringen. (Ein heißer Schauer überlief mich.)

Allein ich bin fest entschlossen, diesen Ruf abzulehnen, und alles anzuwenden, um dem Mißbrauche seiner Gewalt auszuweichen, die ja auch ihre Grenzen hat, deren Verlezung er, ich kenne ihn, am Ende gewiß reuen würde. Auf jeden Fall giebt es ein sicheres, vielleicht einziges Mittel, meine Freiheit zu behaupten. Sie, theure Lina, fuhr er im süßesten Zaubertone der Zärtlichkeit fort, Sie allein könnten 36 alle Schwierigkeiten auf einmal und auf immer heben. – Ich? gewiß trauen Sie mir zu viel zu. – O gewiß nicht; eine nur wenig Monate geheim gehaltene Verbindung würde . . . . . .

All mein Blut drängte sich nach meinem Herzen, und ein kalter Schweiß entquoll meiner Stirne. Das Bild meiner Mutter trat vor meine Seele. Ich muß erblaßt seyn, denn er rief erschrocken aus: Um Gotteswillen, Lina, was fehlt Ihnen? Ich wollte mich von meinem Stuhl erheben und konnte nicht; ich wollte ihm meine Hand entziehen, sie war lahm.

Madam Müller faßte mich in ihre Arme, endlich erholte ich mich. Meine Mutter, sagte ich leise, wurde das unselige Opfer einer geheimen Verbindung. Sie hat mir auf dem Sterbebette das Gelübde abgenommen, mich nie in eine Familie einzudrängen. Dieses Gelübde ist mir heilig, und lieber wollte ich . . . . O reden Sie nicht aus, rief er tief erschüttert, und machte mit seiner Hand eine Bewegung, als wollte er sie mir auf den Mund legen. Reden Sie nicht aus, wenn Sie mich nicht elend machen wollen. Ich wankte.

Gewiß hauchte in diesem Nu die Verklärte mich an. Plözlich beseelte mich eine neue Kraft; ich stand auf. Es giebt Dinge, sagte ich entschlossen, die sich nicht zweymal sagen lassen: noch schätze ich Sie, Herr von Dornek, aber ich will auch von Ihnen geschäzt seyn. Eine Meineidige würde Sie weder glüklich 37 machen, noch durch Sie glüklich werden können. Lassen Sie mir Ihre Hochachtung und meine eigene Hochachtung. Er staunte mich an; eine Thräne lag auf seiner Wange. Sie schließen mir den Mund, sagte er nach einer Pause, aber dieser Zug fesselt mein Verhängniß auf ewig an das Ihrige, und Ihre Tugend giebt mir die Kraft, mich bis zu Ihnen zu erheben.

Er drükte meine Hand an seine brennenden Lippen; allein indem Sie mir diese Hand verweigern, werden Sie mir doch nicht immer Ihre Thüre verschließen? Ich? Hier ist meine Pflegemutter, sie soll für mich antworten.

Sie. Ihre eigene Ruhe, mein Herr, und die Ruhe dieser jungen Heldin macht es Ihnen zum Gesez, uns bis zu günstigen Zeiten nur selten zu besuchen.

Ich warf einen segnenden Blik auf die Gute.

Dornek zu Madam Müller: Sie sind des Titels würdig, den meine Lina Ihnen giebt; (seine Lina!!) und um Ihnen zu beweisen, daß auch ich Ihr Vertrauen zu verdienen wünsche, so verlasse ich Sie für heute. Ich sehe, daß dieser Engel der Einsamkeit und Ihres mütterlichen Beystandes bedarf. Mein Herz war voll, häufige Thränen entstürzten meinen Augen. Er zog sein Tuch heraus, troknete meine Thränen ab, küßte das Tuch und stekte es wieder ein. Das alles that er mit einer Behendigkeit, die mir keine Zeit ließ, mich zu besinnen. Dann nickte er uns mit einem Ausdrucke von Ehrerbietung 38 und Zärtlichkeit, der meine ganze Seele durchdrang, ein Lebewohl zu, und schwirrte zum Zimmer hinaus.

Die edle Müller und ich sahen uns lange stumm an. Gewiß las sie in meinem Gesichte eben das namenlose Gefühl, das ich in dem ihrigen las; denn wir warfen uns in gleichem Moment einander in die Arme. Ein treflicher junger Mann, Lina, sagte sie endlich, und für seinen Stand ein wahres Wunder, desto herrlicher, mein Kind, ist der Sieg, den Sie über Ihr Herz davon trugen. O warum waren seine Eltern nicht Zeugen davon!

Arme Lina! wie demüthigte dich dieses Lob; sie wußte nicht, die Gute, wie schwer dieser Sieg mir wurde. Werde ich wohl immer siegen, immer stark genug seyn, dem Sturme zu widerstehen, der mein Herz unaufhaltsam ihm entgegen schleudert? doch sie nannte ihn ja selbst einen treflichen jungen Mann. Desto gefährlicher ist er einem unglücklichen Mädchen, das keine Hoffnung hat, die Seinige zu werden. O verlaß mich nicht, Geist meiner Mutter! und wenn du mir den Muth nicht geben kannst, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, so gieb mir wenigstens den Muth, ihn zu fliehen.

 
Dornek an seine Mutter.

Straßburg den 25sten Jenner.

Ihre gütige Zuschrift, theuerste Mutter, hat mich nicht wenig überrascht. Ich bin noch keine zwei Jahre in Diensten, und soll schon einen Urlaub nehmen. 39 Unser Chef sieht es nicht gern, wenn junge Offiziere sobald das Regiment verlassen; nicht zu gedenken, daß sie sich dem Spotte ihrer Cameraden aussezen.

Freylich hätte ich einen wichtigen Grund anzugeben. Allein, beste Mutter, warum soll ich denn so früh heirathen? Das Fräulein von Palmfeld ist allerdings eine vortheilhafte Parthie, und ich weiß wohl, daß ich ehedem wenig dagegen einwandte. Allein die Entfernung und der Geschmack, den ich am Soldaten-Stande fand, haben das Bild des Mädchens ganz aus meiner Seele verwischt.

Ueberdieß zweifle ich, liebe Mutter, ob diese Verbindung mich glüklich machen würde. Ich habe seitdem Gelegenheit gehabt, Vergleichungen anzustellen, die eben nicht zum Vortheil der jungen Palmfeld ausfielen. Glanz und Reichthum würde sie mir mitbringen; aber ich fühle, daß diese Güter meinem Herzen nicht genügen. Es verlangt eine Gefährtin, deren Empfindungen den meinigen entsprechen, und an deren Seite ich beides, die Seeligkeiten der Liebe und der Freundschaft, geniessen kann.

Wenn ich diese Gefährtin nicht schon gefunden habe, so werde ich sie gewiß finden; allein, vergeben Sie mir meine Offenherzigkeit, das Fräulein von Palmfeld ist das Ideal nicht, das mir vor der Seele schwebt.

Wenn Sie also, beste Mutter, das wahre Glük Ihres Carls verlangen, und wie könnte ich daran zweifeln? so entsagen Sie einem Plane, der meinen 40 schönsten Wunsch unerfüllt lassen würde, und suchen Sie meinen ehrwürdigen Vater zu bewegen, ihn aufzugeben. Erlauben Sie mir, Ihnen in meinem Leben ein einzigesmal ungehorsam zu seyn. Wenn Sie den Zustand meines Herzens kennten, so würden Sie mich vielleicht selbst zu diesem Ungehorsam berechtigen.

Leben Sie wohl, theuerste Mutter; ich küsse Ihnen und meinen guten Vater mit der zärtlichsten Ehrfurcht die Hände.

 
Dornek an seinen Vetter.

Mannheim den 26sten Jenner.

Sie liebt mich, Freund! aber ach! das ist es auch alles. Mein Schiksal bleibt unentschieden. Sie will nichts von einer geheimen Verbindung, nichts von einer Heirath wider den Willen meiner Eltern hören. Ich bin in Verzweiflung, und dennoch, so groß ist die Obergewalt der Tugend, dennoch muß ich sie bewundern; dennoch erlaube ich mir nicht zu wünschen, daß sie weniger tugendhaft wäre.

Ich weiß nicht, was aus mir werden wird, lieber Vetter; aber das weiß ich und schwöre es bey allem, was der Ehre heilig ist, daß keine andere, als Caroline von Saalen, je mein Weib werden soll. Es entstehe aus diesem Gelübde, was da wolle, ich bin auf alles gefaßt.

Hier meine Antwort an meine Mutter. Es liegt mir unendlich viel daran, daß sie in Straßburg und nicht hier auf die Post komme. Du kennest die 41 Heftigkeit meines sonst so guten Vaters und seinen Credit am hiesigen Hofe. Er wird und soll meine Liebe, aber ja nicht den Aufenthalt meiner Geliebten errathen. Wer weiß, was für Schritte er sich in der ersten Hitze gegen das arme schuzlose Mädchen erlauben würde!

Auf deine Verschwiegenheit, mein Bester, rechne ich eben so zuversichtlich, als du in meinem Falle auf die meinige rechnen würdest, und in allen möglichen Fällen auf meine Freundschaft rechnen kannst.

 
Aus Lina's Tagebuch.

den 28sten Jenner.

Schon drey Tage läßt er sich nicht sehen. Was wohl die Ursache seyn mag; ist er vielleicht krank? ach, es ist nicht an ihm, krank zu seyn! er hofft ja noch. Wenn er krank wäre, so würde Madam Müller es von der Wirthin erfahren haben; allein sie spricht kein Wort von ihm; gerade als wollte sie mich ihn vergessen lehren.

Hat etwa sein Vater sein Geheimniß ausgespäht, und ihn abgeholt? Sein Vater . . . . . . ich weiß nicht, warum ich vor dem Bilde dieses Vaters erbebe. Ich sehe ihn mit kaltem Ernste beym Geständnisse seines Sohnes den Kopf schütteln, dann zu den Thränen seines Sohnes hohnlachen, dann den fußfälligen Sohn von sich wegstoßen, auf die Straße werfen, und ihm auf immer die väterliche Thüre verschließen.

42 Wenn du ihn liebst, Lina, so wirst du ihm nie dieses Schiksal zubereiten, so wirst du ihn auf ewig von dir verbannen; dein Herz wird bluten, aber es wird für ihn bluten.

Doch weist du denn, ob er diese Probe aushalten, ob er den Drohungen, den Bitten seiner Eltern nicht endlich nachgeben werde, zumal da eine reiche, schöne Erbin . . . . . . Ist sie schön? sagte er das? ich glaube, nein; doch weiß ichs nicht gewiß. Ha! wenn sie bey ihrem Reichthume noch schön ist, und wenn das reiche, schöne Fräulein ihn liebt, so wird sie alle ihre Reize aufbieten, um das Bild der armen verlassenen Waise aus seinem Herzen zu verdrängen. O warum hab ich ihn gesehen, warum hab' ich ihn angehört?

Lina, du bist ungerecht. Ein zweites neues Gefühl, weit furchtbarer als das erste, vergiftet nicht blos die Ruhe, sondern selbst die Güte deiner Seele. Spüre dem Namen dieses Gefühls nicht nach; ein höllischer Dämon hat es dir eingehaucht, denn es macht dich ungerecht.

Wie! du konntest sie vergessen, jene feyerlichen Worte: »dieser Zug fesselt mein Schiksal auf ewig an das Ihrige.« Und was war das für ein Zug? eine abschlägige Antwort, der mein Herz widersprach, eine Weigerung, seine Wünsche zu krönen. Das war Tugend, das war Liebe, die sich selbst die Fesseln der Tugend anlegt.

Undankbare! er liebt dich; selbst sein Ausbleiben, 43 das du ihm zum Verbrechen machst, ist ein Beweis seiner Liebe. Die Ruhe dieser jungen Heldin, sagte meine Pflegemutter, macht es Ihnen zum Gesetz, uns nur selten zu besuchen. Und ich klage; ich schelte auf ihn, daß er drey Tage vergehen ließ, ohne es zu übertreten. O der jungen Heldin!

den 29sten.

Weh mir! zum erstenmal in meinem Leben mußte ich vor mir selbst erschrecken, als ich das gestrige Blatt meines Tagebuchs las, und mein eigenes Bild mit der mißtrauischen Stirne, mit den hohlen Augen, mit den hämischen Zügen erblickte.

O ich will das Blatt herausreissen; nein, Lina, du sollst es nicht herausreissen; es soll als ein warnendes Denkmal deines verirrten Herzens stehen bleiben, und du, Edler, vergieb mir, daß ich dich mißkannte, vergieb mir, daß ich das Opfer, das du meiner Ruhe, meiner Ehre bringest, durch einen Argwohn entweihte. Strafe ihn diesen Argwohn durch deine Gleichgültigkeit, durch deine Verachtung. Lina ist deiner nicht werth.

den 30sten.

Ja, sie ist deiner werth. Sie hat mit sich selbst gerungen, lange gerungen und endlich hat sie gesiegt. Sie ehret deine Tugend, sie bewundert deine Standhaftigkeit, und wird sie nachzuahmen suchen. 44

 
Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen, den 29sten Jenner.

Ich wende mich an dich, liebe Molly, mit einem Auftrage, der mir sehr am Herzen liegt. Morgen wird meine Wilhelmine unsern Gerichtsverwalter heirathen. So sehr ich mich freue, das brave Mädchen wohl versorgt zu sehen, so verlegen bin ich, ihr eine Nachfolgerin zu finden.

Ich habe mich an verschiedene Freundinnen gewandt, und keiner ist es gelungen, meinen Wunsch zu befriedigen. Vielleicht bist du, liebe Müller, glüklicher als sie. Du weißt, was ich brauche. Eine wohlberüchtigte und wohl erzogene junge Person, mehr Gesellschafterin als Kammerjungfer und vornehmlich eine Vorleserin für meinen Gemahl, der noch immer in den Kriegsbüchern und Reisebeschreibungen lebt und webt, und darüber die langen Winterabende und oft selbst sein Podagra vergißt. Ich dächte, du solltest in deinem Mannheim wohl ein Mädchen finden, das sich für mich schikt. Bei sonst gleichen Eigenschaften würde ich einer jungen Waise den Vorzug geben.

Sinne ein Bischen nach, liebe Molly, ob dir keine Candidatin einfällt, die du mir empfehlen kannst; aber noch einmal, ihr erstes Talent muß eine angenehme Stimme und die Fertigkeit im Lesen seyn. Ich weiß wohl, daß dieses Talent eben nicht gemein ist, zumal wenn man, wie ich, die Kunst darunter 45 versteht, mit Geschmack, das heißt mit Gefühl zu lesen. Das konnte Wilhelmine; das muß auch ihre Nachfolgerin können.

Die französische Lektüre behalte ich mir vor, weil ich vernünftigerweise nicht verlangen kann, daß die Person diese Sprache besitze. Du kannst ihr für das erste Jahr fünfzig Thaler anbieten; bin ich mit ihr zufrieden, so werde ich ihr jedes Jahr ihren Gehalt vermehren. Was sie in meinem Hause finden wird, das weißt du, liebe Molly; mir ziemt es nicht es zu sagen. Nur muß ich dich bitten, dein gutes Herz im Zaume zu halten, damit dein Mund nicht zum Lügner werde.

Der Obriste grüßt dich, und fügt meiner Bitte die seinige bey. Lebe wohl, liebe Molly, und antworte mir bald. Ich rechtfertige meine Ungeduld nicht; du wirst sie sehr verzeihlich finden. Ich umarme dich und deine gute Friederike.

Elise von Sonnenstein.

Aus Lina's Tagebuch.

den 31sten Jenner.

Du winkst mir, gütige Vorsicht, ich küsse deine winkende Hand und folge.

Wie furchtsam dieses lezte Wort da stehet! Ich will den wankenden Zügen nachhelfen. Nein, bleibt, wie ihr da stehet, und erinnert mich täglich an meine Schwäche und an meine Pflicht.

46 Unglükliche! noch vor wenig Tagen hattest du ihn als die höchste Wohlthat gesegnet den Ruf, den nun dein Herz mit einem Seufzer annimmt.

Allein, must du denn darum auf deine Hofnung Verzicht thun? Hofnung! . . . . . Hast du die Schwierigkeiten vergessen, deren er selbst mit einer so edlen Offenherzigkeit erwähnte? Wohlan, ich will, ich muß abreisen.

Nach ihrem Briefe zu urtheilen, muß diese Baronin von Sonnenstein eine vortrefliche Frau seyn. Meine Pflegemutter, die sie von Jugend an kennet, spricht mit Entzücken von ihr. Sie ward als die Waise eines Beamten von der Mutter der Baronin, einer Frau von Herborn, in ihr Haus aufgenommen, und als Gespielin ihrer einzigen Tochter mit ihr erzogen. Dieses erklärt mir die ausgezeichnete Geistesbildung, die ich gleich in der ersten Stunde an ihr bemerkte.

Auch der Obriste, der beinahe zwanzig Jahre älter ist, als seine Gemahlin soll ein sehr braver, aber etwas strenger Mann seyn. Er mußte, seines schwachen Gesichts wegen, schon vor mehreren Jahren den Kriegs-Dienst verlassen. Meine Pflegemutter bürgt mir dafür, daß es mir nicht schwer seyn werde, sein Wohlwollen zu gewinnen.

Morgen wird sie der Baronin antworten: sie sagte, sie wolle mir ihre Antwort vorlesen; da ich ihre Liebe zu mir kenne, so weiß ich schon, daß sie 47 mir günstig, nur allzugünstig seyn wird, und habe mir die Mittheilung verbeten.

In fünf Tagen kann die Antwort von Waldingen einlaufen. Indessen werde ich eine Arbeit vollenden, die Madame Müller mir als eine Probe meiner vorgeblichen Geschicklichkeit für ihre Freundin mitgeben will. Sie hat mir feyerlich angeloben müssen, daß sie ihr, ohne meine Einwilligung, meinen Stand nicht entdecken wolle. Diese Eröfnung würde sie nur in Verlegenheit setzen, und ich will lieber als ein bürgerliches Dienstmädchen mein Brod gewinnen, als unter dem lästigen Namen eines Fräuleins von fremder Gnade leben.

Madam Müller billigt meine Gründe um so mehr, da die Baronin, wie sie sagt, einen Sohn hat, dem die Kammerjungfer lange nicht so gefährlich seyn würde, als das Fräulein. Dieser Umstand könnte mich in meinem Entschlusse wankend machen, wenn ihrer ausdrüklichen Versicherung nach, dieser Sohn nicht in auswärtigen Kriegsdiensten stände, und seine Eltern nur selten besuchte. Sie kann mir weitet nichts von ihm sagen, weil sie ihn seit fünfzehen Jahren nicht gesehen hat. Auch ich will ihn nicht sehen. Nicht alle jungen Offiziere sind so edel, so bescheiden wie . . . . .

Die gute Friederike! so oft sie mich ansieht, stehen ihr die Thränen in den Augen; auch von ihr wird mir die Trennung schwer werden. Erst heute 48 habe ich ihr meinen wahren Namen gesagt, den ihre Mutter ihr bisher verborgen hatte. Das liebe Mädchen erschrak, sie warf sich ihre Vertraulichkeit gegen mich vor; ich suchte sie durch meine verdoppelten Liebkosungen zu beruhigen. Es gelang mir, und mein Zutrauen band ihr Herz noch fester an das meinige. Ihre Mutter weiß mir Dank dafür; die Gute, wie vieles bleibe ich ihr noch schuldig.

So oft ich den Namen meines Vaters ausspreche, so oft ich ihn nur denke, fährt es mir wie ein Dolch durchs Herz. Schon sind es vierzehen Tage, daß er mich verließ, und noch weiß ich nichts von ihm, kann nichts von ihm wissen, so wenig, als er von mir, weil ich meinem Großvater ein neues Unrecht erspart habe.

 
Madam Müller an Frau von Sonnenstein.

Mannheim den 1sten Hornung.

Wünschen Sie mir Glük, gnädige Frau; ich kann Sie über Ihre Erwartung wohl versorgen. Ein liebenswürdiges hülfloses Mädchen, die Tochter eines Werb-Offiziers, sieht Ihr Haus als eine Freystatt an, welche die Vorsehung ihr gegen die Gefahren ihres Alters anbietet. Ihr Vater kam mit ihr von Heilbronn hieher, um den Faschingslustbarkeiten beizuwohnen. Auf der Redoute verspielte er seine Casse, entfloh nach Holland, und ließ seine Tochter mit einigen Dukaten im Gasthofe sitzen. Die arme 49 Unglükliche wollte vor Kummer vergehen. Ihre Wirthin kam zu mir, um mich zu fragen, ob ich sie nicht in meinem Laden brauchen könne. Ohne ihrer gerade benöthigt zu seyn, nahm ich sie in mein Haus auf, um sie der Zudringlichkeit eines jungen Edelmanns zu entziehen, der sich im nämlichen Gasthofe aufhält, und sie im eigentlichsten Verstande anbetet.

Sie arbeitete an meiner Seite, als ich Ihre gütige Zuschrift erhielt; ich las sie ihr vor; sie gieng einige Minuten mit sich zu Rathe. Der Kampf ihres Herzens mahlte sich in jedem Zuge ihres schönen Gesichts. Plözlich fiel sie mir in die Arme, ihre Thränen strömten auf meinen Busen, und sie beschwor mich mit aufgehobenen Händen, sie Ihnen zu empfehlen. Beim Allerheiligsten, rief sie, gelobe ich Ihnen, daß ich ihre Empfehlung rechtfertigen werde, und ich, gnädige Frau, besinne mich keinen Augenblik, Ihnen die Aufrichtigkeit ihres Gelübdes zu verbürgen. Sie werden meine Gewährleistung nicht gewagt finden, wenn Sie das trefliche Mädchen nur erst kennen, und wenn ich Ihnen noch sage, daß sie nicht nur die Unterstützung ihres Liebhabers, sondern selbst seine Hand ausgeschlagen hat, weil er sie ihr unter der Bedingung anbot, die Heirath, seines Vaters wegen, noch eine Zeit lang geheim zu halten.

Gleichwohl bin ich überzeugt, daß das arme Kind den jungen Edelmann liebt. Er nennt sich Herr von Dornek, und giebt sich für einen Offizier aus. Er 50 ist ein sehr angenehmer, und, wenn ich meinen Beobachtungen trauen darf, ein edler Jüngling, den ich zwar für einen verliebten Schwärmer, aber für nichts weniger, als einen Verführer halte. Caroline Roland, so heißt das holde, noch nicht achtzehnjährige Mädchen, wollte ihn nie anders, als in meiner Gegenwart sprechen, und bey seinem lezten Besuche betrug sie sich mit einem Heldenmuthe, den ich bewundern mußte, und der mir für ihre Grundsätze haftet.

Vergeben Sie mir meine Redseligkeit, gnädige Frau; ich glaubte alle diese Umstände erzählen zu müssen, um Ihnen vom Charakter meiner Clientin einen Begriff zu geben. Doch es ist Zeit, daß ich Ihnen auch etwas von ihren Talenten sage. Sie liest das Deutsche vortreflich, und auch das Französische mit großer Fertigkeit. Ihre süße melodische Stimme wird dem Herrn Obersten gewiß gefallen. Ueberdieß macht sie alle Arbeiten eines gebildeten Frauenzimmers; besonders aber stikt sie sehr hübsch, und hat mir verschiedene überaus niedliche Muster von ihrer Erfindung gewiesen.

Sie sehen, gnädige Frau, daß ich Recht hatte, wenn ich Ihnen sagte, daß ich Sie über Ihre Erwartung wohl versorgen könne. Caroline wird auf Ihren ersten Wink abreisen; ihrer neuen Laufbahn ungewohnt, rechnet sie auf Ihre Nachsicht. Ich hoffe, sie werde Ihrer nicht lange bedürfen. Ich habe 51 ihr Muth eingesprochen, ich habe ihr mein eigenes Schiksal erzählt. Als ich ihr sagte, daß Ihre selige Frau Mutter mich als eine Waise aufnahm, und mit Ihnen erziehen ließ; als ich hinzusetzte, daß auch Sie, gnädige Frau, eine Mutter der Waisen sind, erhob sie ihre schönen schwarzen Augen gen Himmel. Nun, rief sie, so wird sie auch meine Mutter seyn, und Gott wird sie dafür segnen. Schreiben Sie ihr, liebe Madam, daß ich reisefertig bin.

Aus meiner obigen Erzählung werden Sie ersehen, daß es nöthig seyn wird, ihre Abreise und den Ort ihres Aufenthalts vor ihrem Liebhaber zu verbergen. Caroline selbst sieht dieses ein; sie weiß auch nicht, daß ich ihre künftige Beschützerin mit dem Geheimniß ihres Herzens bekannt gemacht habe.

Wie wäre es, wenn ich sie in einem Lohnwagen bis Heidelberg zu meinem Schwager begleitete, wo eine vertraute Person Ihres Hauses sie abholen, und die übrigen sieben Meilen leicht in einem Tage zurüklegen könnte? Ich erwarte hierüber Ihre Befehle.

Leben Sie wohl, gnädige Frau; meine Friederike, die mit ihrem ganzen Herzen an der holden Unglüklichen hängt, küßt Ihnen die Hände, und ich bin mit der zärtlichsten Verehrung Ihre

Molly.

 
Aus Lina's Tagebuch.

den 2ten Hornung.

Gott Lob! auch diese Probe ist überstanden, aber 52 welche Marter! Der Gedanke, daß wir uns vielleicht zum letztenmale sehen, lastete mir auf dem Herzen, drang mir in die Augen. Was es mich für eine Anstrengung kostete, mich der Thränen zu erwehren! doch wenn ich ihm meine Schwermuth nicht verbergen konnte, so hat er doch gewiß ihre Ursache nicht errathen; nein das hat er nicht. Noch nie war er so interessant. Seitdem er mir sein Herz aufgeschlossen hat, ist er blöder, ja sogar ehrerbietiger, als zuvor. Dieses, sagt man, ist die ächte Liebe, o gewiß ist seine Liebe ächt. Diese Miene, dieses Auge ist nicht die Miene, nicht das Auge eines Heuchlers, und seine Stirne, wie offen! sie trägt das hohe Gepräge einer geraden reinen Seele. Mir selbst darf ich dieses wohl sagen, er wird ja dieses Blatt nie lesen; er hat an seine Mutter geschrieben; spätestens in acht Tagen erwartet er Antwort. In acht Tagen! wo werde ich in acht Tagen seyn; wie wird er staunen, wie wird er erschrecken, wie wird er trauren! ja gewiß wird er trauren, wenn man ihm sagen wird, Lina ist nicht mehr hier, Lina hat sich verborgen, und wird sich nicht eher wieder zeigen, als bis sie es ohne Furcht vor ihrem eigenen Herzen thun kann. Darf ich seine Geliebte nicht seyn, so werde ich doch ewig die Freundin des Edlen bleiben. Aber dann, ach dann muß die Freundin sich auf lange, vielleicht auf immer von ihm entfernen. Durch diese Entfernung werde ich ihm einen großen, ach den 53 größten Beweis meiner Freundschaft gebe. Ich will meine Pflegemutter fragen, ob ich nicht einige Zeilen zurüklassen darf, o sie wird mirs erlauben; ich darf, ich muß ihm sagen, daß ich ihn nicht verschmähe, daß ich nicht aus Gleichgültigkeit vor ihm fliehe, aus Gleichgültigkeit! . . . . Arme Lina, arme, arme Lina! du hast nicht einmal mehr die Kraft zu wünschen, daß er dir, daß zu ihm gleichgültig wärest.

Zwey Stunden verstrichen uns wie zwey Minuten, wir sprachen unter andern auch von Literatur, auch er ist ein warmer Freund der Odyssee, und meines lieben melancholischen Ossians. Wir saßen neben einander auf dem Canape; ich rückte ihm mit einer unwillkührlichen raschen Bewegung näher, als er mir meine beiden Lieblings-Schriftsteller nannte, die ich ihm noch nicht genannt hatte. Auch er weiß die Lieder von Selma auswendig. Wenn ich wiederkomme, sagte er, wollen wir einige Oden von Klopstock mit einander lesen. Wenn ich wiederkomme . . . . . . Mein Herz wollte brechen, ich mußte mich auf das Canape zurüklehnen. Madame Müller bemerkte meine Marter; sie bemächtigte sich des Gesprächs; er schien es ungern zu sehen; ich zwang mich so gut ich konnte, und mischte mich darein. Man rief uns zum Abendessen, er wollte weggehen. Madam Müller, die gute Madam Müller fragte ihn, ob er unser Gast seyn wolle. Ach sie dachte, sie müsse ihm noch diese Freude machen. Mit Entzücken nahm 54 er ihr Anerbieten an; noch zwey Stunden verschwanden wie zwey Minuten. Er hat viele Kenntnisse, das Gespräch war sehr unterhaltend, und es freute mich, daß auch Friederike Antheil daran nahm; sie that es auf eine Art, die mir das liebe Mädchen von einer neuen interessanten Seite zeigte. So gewann mein Herz Zeit, ruhiger zu werden; seine Heiterkeit trug das meiste dazu bei. Es that mir so wohl, ihn glüklich zu sehen, als er aber weggieng, als er meine Hand ergriff, und sie an seinen Mund preßte, da zitterte meine Hand; ich dachte: dieses ist sein Abschied, und ich erlaubte mir, die seinige ganz leise zu drücken. Das durfte ich doch wohl; wer weiß, ob und wann . . . . . Nein, diesen Gedanken kann ich nicht ausschreiben.

 
Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen den 3ten Hornung.

Nur zwey Worte, liebe gute Molly: denn ich habe heute fremde Gäste. Künftigen Mittwoch den 6. dieses wird mein Wagen zeitig in Heidelberg eintreffen. Mein Verwalter und sein junges Weibchen wollen mir meine neue Hausgenossin zuführen. Gerne würde ich sie selbst aus deinen Händen empfangen, und dich nach sechs Jahren wieder einmal umarmen, wenn ich nicht bey meinem Gemahle, der einen leichten Anfall seines Podagra hat, das Amt der Wärterin und Vorleserin verwalten müßte.

55 Du sagst mir viel Gutes von deiner Caroline, und weil du mir es sagst, so glaube ich es. Meinen Dank für dieses Geschenk will ich dir, liebe Freundin, durch die Art bezeugen, wie ich es aufnehmen werde. Da ich noch ein Mädchen habe, so soll Caroline in Hinsicht auf ihre Herkunft und Erziehung mehr die Aufseherin meiner Toilette und Garderobe, als meine Zofe seyn, und wenn sie das Glük hat, sich bey meinem Gemahle beliebt zu machen, so werde ich sie vielleicht noch mehr auszeichnen können. Der Verwalter wird dir alle deine Auslagen bezahlen.

Lebe wohl, meine Freundin; ich brauche dir nicht zu wiederholen, daß ich von ganzer Seele die Deinige bin.

Elise.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 5ten Hornung.

Nie bin ich seit meinen frohen Kinderjahren so heiter erwacht, wie heute. Mir träumte von ihm. Friederike war schon auf; sie trat an mein Bett, und indem sie mich küßte, flüsterte sie mir ins Ohr: Sie haben im Schlafe den Namen Dornek ausgesprochen. Ich verbarg mein Gesicht in das Kissen. Wenn Sie mich nicht ansehen wollen, so will ich gehen, sagte sie schalkhaft, und hüpfte davon.

Ich kleidete mich eilends an; ehe ich hinuntergieng, blickte ich zum erstenmal in den Spiegel. Mein Gesicht glühte; die Wonne der Seligen blitzte 56 aus meinen Augen; ich hatte nur einen Gedanken, eine Empfindung: meinen Traum. Noch immer seh ich ihn, wie er mit lächelnder Miene vor mir stand, und zu mir sagte: Du fliehst mich, Lina, aber entgehen wirst du mir nicht. Er streckte die Arme nach mir aus. Ich wollte meiner Pflegemutter rufen, und rief . . . . Dornek!

Heute könnten Sie einem Mahler zum Bilde der Aurora sitzen, sagte Madam Müller, indem sie mich auf die heitere Stirne küßte. Der arme Schelm von Mahler möchte ich nicht seyn, rief die muthwillige Friederike aus dem Nebenzimmer, wo sie das Frühstück zubereitete. Wir saßen noch am Theetische, als der Briefträger die Antwort der Frau von Sonnenstein überbrachte. Madam Müller übersah sie mit flüchtigem Blicke, und ihre frohe Miene verkündigte mir ihren Inhalt, noch ehe sie mir das liebe herrliche Blatt mittheilte. Ich küßte es. Friederike weinte an meinem Halse und ich weinte am Halse ihrer Mutter. Bleiben Sie mir, was Sie mir sind, mehr konnte ich nicht hervorschluchzen. Alle Arbeit wurde eingestellt, der Wagen gemiethet, und Friederike begleitete mich auf mein Zimmer, um mir einpacken zu helfen. »Werden Sie mir dann auch bisweilen schreiben, wie es Ihnen geht?« sagte das traute Mädchen. Das werde ich, erwiederte ich in ihren Armen, und jede Antwort meiner Friederike wird ein Blümchen 57 seyn, das sie auf meine neue einsame Laufbahn streuet, Ihrer Friederike! bin ich das, kann ich das seyn? Ja, du bist es, rief ich mit hochklopfendem Herzen; die Tochter meiner zweiten Mutter ist meine Schwester. Laß uns von nun an einander diesen süßen Namen geben. Sie preßte mich mit feurigem Entzücken an ihr Herz! Meine Lina! meine Schwester! Wir hatten uns so viel zu sagen, und über unserm Gespräche gieng unsere Arbeit so langsam von statten, daß wir keine Glocke schlagen hörten, und Madam Müller uns selber zu Tische holen mußte.

Als sie die Thüre des lieben traulichen Stübchens öffnete, giengen wir ihr Arm in Arm, Wange an Wange entgegen. Lina will meine Schwester seyn, rief Friederike, indem sie mit mir an den Busen ihrer Mutter hinsank. Sie küßte uns wechselsweis, und sprach tief gerührt: der Himmel hat meinen Wunsch erhört; er hat meiner Friederike eine Freundin gegeben, die ihr Vorbild seyn kann. Das ist ihre Mutter, antwortete ich, indem wir die trefliche Frau in die Mitte nahmen, und mit ihr hinunter giengen.

Mein Herz war zu gepreßt, als daß ich hätte essen können. Ich saß stumm an Friederikens Seite: das gute Mädchen war unfähig mich aufzumuntern, und ihre Mutter unternahm es nicht; sie wußte, daß es ihr mißlingen würde. Nach Tische drückte Sie mir liebevoll die Hand: Gehen Sie, mein 58 Kind, auf Ihr Stübchen, in Ihrer Lage ist man gern allein. O wie Recht hatte sie! ich eilte an mein Tischchen und schrieb, ach, zum letztenmal in dieser freundlichen Zelle, an diesen Blättern!

Noch etwas möchte ich schreiben, nur wenige Zeilen; aber sie muß es mir erlauben, ehe ich mirs erlaube. Ich will sie fragen; es ist ohnehin Zeit, daß ich wieder hinunter gehe.

Abends um 9 Uhr.

Ich fand sie mit dem Briefe beschäftigt, den sie mir für meine künftige Gebieterin mitgeben will. Ehe sie ihn besiegelte, gab sie mir ihn zu lesen. So zärtlich, so schmeichelhaft erlaubt sich keine Mutter von ihrer Tochter mit einer fremden Person zu sprechen. Nun wagte ich es sie zu fragen, ob es nicht schicklich wäre, daß ich einige Zeilen an den Herrn von Dornek hinterließe? Warum nicht? antwortete sie, Ihre Entfernung ist keine Flucht, und das muß er wissen. Ich setzte mich hin und schrieb. So wie ich eine Zeile endigte, überlas ich sie: mit keiner war ich zufrieden, und konnte doch nichts bessers zu Stande bringen. Die Dinte schien mir in der Feder zu gerinnen. Endlich war der armselige Zettel fertig: ich übergab ihn mit bebender Hand meiner mütterlichen Freundin. Sie durchlas ihn zweymal. Gut, mein Kind, ganz gut, sagte sie, indem sie mir ihn zurükgeben wollte. Behalten Sie ihn, erwiederte ich; er weiß ja, daß ich keine 59 Geheimnisse für Sie habe. – Ganz wohl: allein der Brief muß gesiegelt seyn: er könnte morgen in meiner Abwesenheit hieher kommen: dann würde es sich nicht schicken, daß Friederike ihm das Blatt offen zustellte.

Die Worte, morgen, Abwesenheit quetschten mein Herz; es entstieg ihm ein tiefer Seufzer; hätte ich ihn ersticken wollen, ich glaube, ich wäre ohnmächtig geworden. Sie sah mich wehmüthig an, und streichelte meine Wangen. Getrost, mein Kind, Ihr Schicksal ist in guten Händen; Sie müssen am Ende glüklich werden. Diese Weissagung flößte einen belebenden Balsam in mein stockendes Blut. Ein Briefwechsel mit dem jungen Manne, so fuhr sie nach einer Pause fort, könnte Ihnen nichts Neues sagen, und da Ihr Aufenthalt ihm aus mehr als einem Grunde verborgen bleiben muß, so will ich zwischen beide in die Mitte treten. Ich will ihm alles mittheilen, was er wissen darf, und Ihnen nichts verheelen, was Sie wissen müssen. – Ich hätte mich ihr zu Füßen werfen mögen.

So vergieng mir der Abend. Madam Müller schickte uns früh zu Bette. Ich hatte aber noch mein letztes Tagewerk zu vollenden; nun ist es vollbracht. Ich habe es mit der Feder geschrieben, mit der ich ihm mein Lebewohl sagte. Ich will sie aufbewahren, und sie nie gebrauchen, als um seinen Namen zu schreiben. Es muß keine Ahnungen geben, sonst hätte 60 er mich heute gewiß besucht. Ach, nur noch eine Minute, nur noch eine Sekunde möchte ich ihn sehen. Vielleicht sehe ich ihn wieder im Traume; träumen werde ich wohl von ihm . . . ob ich aber schlafen werde . . .?

 
Dornek an seinen Vetter in Straßburg.

Mannheim den 5ten Hornung.

Unser Patient, lieber Vetter, hätte wohl ein bischen später genesen, oder unser Obrister sich ein bischen weniger um mich bekümmern können. So lieb deine Briefe mir sind, so war doch der heutige mir eine wahre Hiobspost. Er hat mich aus einem Wonnerausch aufgeschreckt, in dem meine Seele schon drey Tage und drey Nächte umhertaumelt. O lieber Freund, ich bin glücklicher, als es noch kein Mensch auf Erden war, und wenn du mirs nicht glaubst, so bin ich es doch.

Vier Stunden brachte ich letzten Freitag bei ihr zu. Anfangs war das liebe Mädchen nicht heiter; ich vermuthe, daß sie schlimme Zeitung von ihrem Vater erhielt. Allein dieser stille Schmerz, den sie bisweilen wegzulächeln suchte, gab ihrem holden Gesichte etwas so feyerliches, so sanft-heroisches; es war das himmlische Bild der Geduld, die mit der Kette spielt, welche das Verhängniß ihr angelegt hat. Ihre Denkart, ihre Gefühle, ihr Geschmack, alles, alles scheint mir die Copie, oder vielmehr das Modell meiner eigenen Denkart, meines Geschmacks, 61 meiner Gefühle zu seyn. Kurz, wäre Lina nicht tugendhaft, so würde selbst Aphrodite mit allen ihren Künsten ihr die Ehre, mich zu bestricken, überlassen müssen . . .

Doch ich komme wieder auf deine Ediktal-Citation. Früher, als übermorgen, lieber Vetter, kann ich unmöglich abreisen; unmöglich, sage ich dir. Ich muß das göttliche Mädchen noch einmal sehen, und unsern Briefwechsel mit ihr verabreden. Dieses kann heute nicht geschehen, denn ich habe schon zwey Tage rasende Kopfschmerzen, von Fieberschauern begleitet, die mich nöthigen, die Stube zu hüten. Hoffentlich wird es nicht ärger kommen.

Du hättest das Briefchen meiner Mutter wohl öfnen können. Es lautet weit gnädiger, als ich es erwarten durfte. Ich soll die Antwort auf meine Bittschrift selbst abholen, und wenn ich Bedenken trage, einen Urlaub zu begehren, so will mein Vater deswegen an den Obristen schreiben.

Ich antworte ihr nicht mehr von hier aus, und weiß noch nicht, was ich antworten werde. Wäre mein Brief für sie allein, so würde ich mein Herz vor ihr ausschütten. Mit meinem Vater aber muß ich noch hinter dem Berge halten, bis mir die Palmfeld aus dem Wege ist. Der Obriste liebt mich, und wenn ich ihm meine Abneigung vor dieser Heirath beichte, so läßt er sich vielleicht bewegen, mir 62 den Urlaub zu versagen, oder doch ihn zu verschieben: wenn er gleich jezt mit mir grollt.

Den 7ten.

O lieber Freund, was habe ich dir zu erzählen! Gestern und noch diesen Morgen fühlte ich mich so krank, daß ich mich nicht aufrecht halten konnte. Des Abends ließ ich mir eine Sänfte bringen, um Carolinen meine Abreise anzukündigen. Ihre Wirthin empfieng mich sehr freundlich, aber doch mit einiger Verlegenheit. Unsere Lina ist verreist, sagte sie, als wir allein waren, und hat mir dieses Briefchen an Sie hinterlassen. – Hier hast du eine wörtliche Abschrift davon.

Den 5ten Abends.

»Ich verberge mich, mein Freund, ohne zu fliehen. Die Vorsicht öfnet mir unvermuthet eine Freystätte, wo ich die Entwicklung meines Schiksals abwarten kann. Wenn Sie mich lieben, Dornek, wenn ich fortfahren soll, an die Reinheit Ihrer Absichten zu glauben, so suchen Sie meinen Aufenthalt nicht auszuspähen. Sie sollen ihn erfahren, sobald es die Umstände fordern, oder erlauben. Niemand weiß ihn, als Madam Müller, und die wird das Gelübde nicht brechen, das sie mir geleistet hat. Wenn Sie unsere wechselseitige Lage unbefangen erwägen, so werden Sie meinen Schritt billigen, oder ich müßte mich an Ihnen betrügen. Jezt, da ich mich entferne, darf ich Ihnen sagen, 63 daß mein Herz Sie vor allen Männern auszeichnet, die ich kenne. Auch jezt würde ichs Ihnen nicht sagen, wenn ich Sie für fähig hielte, in diesem Bekenntnisse einen Widerruf meiner ersten Erklärung zu finden. Frühe Leiden haben die Zahl meiner Jahre verdoppelt, und eine hingeopferte Dulderin hat mir ihr warnendes Beyspiel zur Erbschaft hinterlassen. Antworten Sie mir nicht, und trauen Sie mir zu, daß ich weiß, was Sie mir antworten würden.

»Leben Sie wohl, Dornek. Auch wenn wir uns nie wiedersehen, so bin und bleibe ich

Ihre Freundin
Caroline.    

Stelle dir, lieber Vetter, einen Träumenden vor, der, indem er sein Liebstes auf Erden zu umfassen glaubt, nach einem leeren Schatten greift. Ich sank schweigend in einen Armstuhl; ich drükte das Briefchen an mein Herz, an meinen Mund; ich ließ eine Thräne darauf fallen. Das Fieber, das in meinen Adern schlummerte, erschütterte alle meine Glieder. Sie sind krank, lieber Herr von Dornek, sagte Madam Müller, indem sie mich mitleidig ansah; gehen Sie, legen Sie sich zur Ruhe. Ich kam, sagte ich, um von ihr Abschied zu nehmen; denn ich habe Befehl erhalten, zu meinem Regimente nach Straßburg zurükzukehren, und sie . . . . . hat Ihnen, unterbrach sie mich, den Schmerz des Abschieds ersparet. – 64 Erspart? antwortete ich, und versank in eine dämische Betäubung. Mir ward sehr schlimm. Ich fühlte die Nothwendigkeit, mich nach Hause tragen zu lassen. Sie erlauben mir doch, sagte ich im Weggehen, Ihnen meine Briefe an Lina zuzuschicken? Ich werde sie nicht siegeln. Mit Vergnügen will ich sie bestellen, versetzte sie, wenn ihr Inhalt so beschaffen ist, daß ich sie bestellen kann. Linas Billet an Sie, schreibt mir mein Verhalten vor.

Ich verließ die rechtschaffene Frau, auf die ich nicht zürnen kann, nachdem ich ihr die Adresse meines Banquiers gegeben hatte. Ich werde ihm sagen, daß der Herr von Dornek ein reisender Freund sey, den ich erwarte. Denn ich mag dich, lieber Vetter, nicht kompromittiren. Alles dieses schreibe ich dir auf meinem Bette. Demungeachtet will ich morgen abreisen; was hätte ich hier noch zu thun? Da ich einen Lohnwagen nehme, und kleine Tagreisen machen will, so wird meine Epistel immer noch vor mir eintreffen.

Hoffentlich denkst du nun, wie ich von meiner Lina. Wenn mein Vater sie kennte, er würde gewiß meine Wahl billigen; ihre Armuth würde ihn nicht abhalten, er war nie geizig und ist reich, aber freylich hat er einen überspannten Begriff von der Ehre, und wenn gleich Lina von Adel ist, so trägt sie doch einen Namen, den ihr unwürdiger Vater durch eine Schandthat beflekt hat. Nein, nein, ich kann, 65 ich darf mein Geheimniß nicht laut werden lassen. Lebe wohl, lieber Vetter, und bedaure deinen unglüklichen Freund

Carl.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Waldingen den 7ten Hornung.

Falle nieder, o Lina! vor deinem unsichtbaren Vater, der zum zweitenmale so sichtbar für dich gesorgt hat. Einem sterblichen Wohlthäter zu danken, fällt dem gerührten Herzen oft schwer, weil es seinem Danke Worte geben muß. Dir aber Allgütiger, ist jedes frohe Gefühl deiner Güte, ist jede Freudenthräne eine Hymne. Mit diesem süßen Gedanken will ich, von dir allein gesehen, meinen Eintritt in diesen Tempel der Tugend feyern. O möge ich nie unwürdig seyn, ihn zu bewohnen!

Den 9ten.

Erst heute bin ich im Stande, die Scenen der vergangenen Tage zu übersehen, und den Faden der Begebenheiten wieder aufzunehmen.

Diese nächtliche Stille, diese feyerliche Einsamkeit meiner neuen Zelle, sind recht zur Beschwörung der Abgeschiedenen gemacht. Denn das sind sie ja für mich die lieben Wesen, die ich in Mannheim zurükließ, und mit denen ich nur noch, wie aus einer andern Welt, umgehen kann.

Armer Dornek, wie wird meine Verschwindung dich überrascht, geschrekt, betrübt haben! und 66 mein Brief, ob er ihm wohl mißfallen hat? ich glaube es nicht: das könnte Madam Müller mir sagen, allein sie wird es nicht thun. Friederike wohl, wenn sie darf; doch sie wird nicht dabey gewesen seyn, als er ihm übergeben wurde. Die gute Friederike! unvergeßlich wird mir die lezte Nacht seyn, die wir zusammen verlebten. Sie legte sich an meine Seite, Hand in Hand entschlummerten wir; Hand in Hand wachten wir auf. Ehe ich unser liebes Stübchen verließ, warf ich einen segnenden Blik auf die mit der Farbe der Hoffnung bekleideten Wände, und nach einer flüchtigen Stunde wankte ich am Schwester-Arme dem Wagen entgegen. O Trennung! doch, warum will ich die noch blutende Wunde berühren? Heil dir, du schöne gute Seele!

Madam Müller ließ mich ausweinen; ach sie wußte, daß nicht alle meine Thränen um Friederiken flossen. Endlich ergriff sie meine Hand, und sagte: »Nur jezt in diesem Augenblicke des Schmerzes erlaube ich mir, Sie um die nähere Geschichte der Mutter zu bitten, deren Andenken Ihnen so heilig ist.« In der That hatte Sie diese Saite noch nie berührt, so oft sich auch die Gelegenheit dazu anbot. Ich ermannte mich, und erzählte ihr alles, was ich von der Unvergeßlichen wußte. Am liebsten verweilte ich bey den zahllosen Opfern, die sie sich auflegte, um dem Kinde ihres Busens durch seine Erziehung eine Erbschaft zu hinterlassen, die kein Testament, 67 kein unglüklicher Würfel ihm rauben könne. Ich verbarg ihr, so gut ich konnte, daß sie nicht so glüklich war, als sie es zu werden hoffte, daß der stille Gram über die Kälte und die Launen des Mannes, an dem sie mit ganzer Seele hieng, sie schon in der ersten Hälfte ihrer Tage wegraffte. Madam Müller weinte nicht, selbst nicht bey dem Gemälde ihres heldenmüthigen Abschieds. Bewunderung und Ehrfurcht überwogen ihr Mitleid.

Nach einem ernsten Stillschweigen sagte sie: es ist billig, liebes Kind, daß ich Ihr Vertrauen erwiedere, zumal da mein Schiksal Ihre Zuversicht auf eine höhere Fügung befestigen kann; und nun erzählte sie mir die umständliche Geschichte ihres Lebens. Nicht nur ihre Erziehung, dieses wußte ich schon, sondern auch ihre glückliche Heurath, und ihr jetziger Wohlstand war das Werk der Frau von Herborn, der Mutter meiner künftigen Gebieterin, die durch den Vorschuß eines ansehnlichen Capitals ihren verstorbenen Gatten in den Stand setzte, sein Gewerbe beträchtlich zu erweitern. Meine Elise gleicht ihrer Mutter, setzte sie beym Schlusse hinzu; auch an ihr werden Sie mehr finden, als Sie erwarten. Es ist mir leid, daß die Umstände mir verbieten, Sie bis Waldingen zu begleiten, wo ich seit zwölf Jahren nicht war. Aber ich kann meine Tochter nicht allein zu Hause lassen. Ehe der Obriste den Dienst verließ, kam er bisweilen mit seiner Gemahlin hieher; 68 jezt hält ihn Altersschwäche zu Hause, und die trefliche Frau weicht nicht von seiner Seite. Er war ein Waffenbruder ihres Vaters; sie stand in der vollen Blüthe der Jugend, als er um sie warb. Sie fand wenig Geschmak an dieser Verbindung, allein zum Glük war ihr Herz frey, und in der Folge vertrat die Freundschaft bei ihr die Stelle der Liebe.

Der Obriste schäzt sie nach ihrem ganzen Werthe; er hat alle Tugenden, und auch einige Fehler der alten Ritter; seine Ahnen gelten ihm über alles, und die Ehre ist sein Idol. Auch würde er seinen einzigen Sohn lieber begraben, als ihn an eine Person verheirathen, gegen deren turniermäßige Sippschaft sich etwas einwenden ließe.

Die Erzählung der Madam Müller führte uns bis an die Thore von Heidelberg. Ihre Schwägerin empfieng uns sehr freundschaftlich; dennoch war mir nicht wohl bei ihr. Die gute Frau hielt es der Höflichkeit gemäß, recht viel mit mir zu schwazen, und ich, ich hätte mich in einen Winkel verbergen, und anstatt zu schwazen, weinen mögen.

Schon war man vom Tische aufgestanden, und der Wagen, der mich weiter bringen sollte, war noch nicht angekommen. Ich fieng an zu fürchten, allein zurükbleiben zu müssen; und meine Pflegemutter, die meine Furcht wahrnahm, bemühte sich vergeblich, sie zu zerstreuen, als Herr Ehrhard mit seiner jungen Gattin hereintrat. Er übergab der Madam 69 Müller sein Creditiv, und diese stellte mich dem wackern Paare vor, das mich mit vieler Herzlichkeit bewillkommte. Ich zwang mich, heiter zu scheinen. Mau sezte sich, und es begann ein gleichgültiges Gespräch, während dessen Madam Müller sich hinaus schlich, und ihren Kutscher rufen ließ. Der heranrollende Wagen erscholl, wie ein Donner in meiner Seele. Madam Müller stand auf, und schloß mich in ihre Arme: Keinen Abschied, mein liebes Kind, sagte sie, wir trennen uns nicht. Sie entschlüpfte mir, nickte der Gesellschaft einen stummen Gruß zu, und flog eilends in ihren Wagen.

Lange saß ich mit dem Tuche vor den Augen, schweigend in einer Ecke. Von Zeit zu Zeit warf man mir einen liebreichen Blik zu, ohne mich anzureden; man schonte meinen Schmerz. Endlich fieng ich an, es zu versuchen, ob ich dieser Schonung noch bedürfe; ich sezte mich neben Madam Ehrhard, und faßte sie bei der Hand: vergeben Sie mir, liebe Madam; die mich verließ, war meine zweite Mutter. Sie werden Sie in Waldingen wieder finden, Mademoiselle, sagte der junge Mann. Kräftiger hätte er mich nicht trösten können.

Ich folgte meinen Begleitern in den Gasthof. Hier erst fühlte ich mich fremd und verwaist. Umsonst bekämpfte ich meine rükkehrende Traurigkeit. Herr Ehrhard fiel auf ein Palliativ, das ihm nicht ganz mißlang. Wie wäre es, sagte er, wenn 70 wir anstatt hier, in Bruchsal übernachteten? Wir würden dann morgen um desto früher an Ort und Stelle kommen. Es ist noch nicht spät, die Wege sind gut, und wir werden noch zeitig genug dort eintreffen. Ich ließ mir seinen Vorschlag gerne gefallen.

Wir fuhren ab; der Anblik der herrlichen Gegend, deren blendendes Winterkleid die niedergehende Sonne mit Gold und Purpur schmükte, erhob und stärkte mein Herz. Eine festliche Nacht, vom vollen Monde beleuchtet, wechselte die Scene, ohne ihre Pracht zu vermindern. Unser Wagen glitt pfeilschnell über den silbernen Teppich hin, und zur Stunde der Abendmahlzeit erreichten wir Bruchsal.

Am folgenden Morgen sezten wir unsere Reise weiter fort. Mein Gemüth war ziemlich heiter; ich war mit meiner Gesellschaft vertrauter geworden, und hatte mich von den Erschütterungen des vorigen Tages erholt. Die gefällige Madam Ehrhard fand ein Vergnügen daran, mich mit der Lebensweise unserer Herrschaft, und mit meinen künftigen Beschäftigungen bekannt zu machen. Alles, was ich hörte, bestätigte die Erzählungen der Madam Müller, und vereinigte sich, mir eine angenehme Aussicht zu öfnen. O Hoffnung! lezte Freundin der Unglüklichen, was wären sie ohne dich? Auf deinen Anker gelehnt, will ich mein Schiksal erwarten: sagte nicht meine Pflegemutter, es sey in guten Händen? 71

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 9ten Hornung.

Meine erste Ruhestunde in meiner neuen Heimath sey meiner zweiten Mutter gewidmet. Mein Herz ist zu voll, als daß ich Ihnen mehr, als ein paar flüchtige Zeilen schreiben könnte. Vorgestern, gegen Abend, bin ich mit meiner schäzbaren Begleitung glüklich hier angekommen.

Beiliegender Auszug aus meinem Tagebuche enthält die Beschreibung meiner Reise vom Augenblik an, da Sie Ihre trauernde Lina verliessen.

Zitternd trat ich vor meine Gebieterin, die uns auf dem Vorsaal empfieng. Ich sah sie, und zitterte nicht mehr. O theuerste Mutter! Ihre Elise ist ein Engel der Güte und des Trostes. Herr und Madam Ehrhard hatten mich unterweges auf die liebreichste Aufnahme vorbereitet, und dennoch ward ich durch ihren Empfang überrascht.

Ich bin glüklich, Mutter, so glüklich, als eine Unglükliche es seyn kann. Dieses genüge Ihnen für heute. Uebermorgen will ich meiner Friederike weitläufiger schreiben. Sie soll die Mittelsperson meiner Unterredungen mit Ihnen seyn. In ihren schwesterlichen Busen will ich mein Herz ausschütten. Küssen Sie mir das theure Mädchen, und lassen Sie sich von ihr in meinem Namen umarmen. Sie allein fühlt für Sie, was Ihre ewig dankbare

Lina. 72

 
Lina an Friederike Müller.

Waldingen den 11ten Hornung.

Unsere Mutter, liebste Friederike, hat dir von meiner ersten Tagreise Rechenschaft gegeben, und aus meinem vorgestrigen Briefe an sie, wirst du auch meine Ankunft in diesem seligen Winkel der Erde erfahren haben. Schriebe ich nicht an meine Friederike, an meine Schwester, so würde ich ihr sagen, daß meine Seele sich auf dem ganzen Wege mit ihr beschäftigte; ich würde ihr vor allen Dingen das Gelübde meiner ewigen Liebe erneuern. Allein das brauche ich nicht, und wohl mir, daß ichs nicht brauche!

Ich bin nun völlig hier eingerichtet. Das Stübchen, das ich bewohne, ist freilich nicht so freundlich, als das deinige. Allein es hat eine schöne Aussicht auf den Schloßgarten. Nach und nach will ich es mit einigen Blumenstüken auszieren, wenn ich Muße finde, die Versuche meines Pinsels fortzusezen. Ich habe bei meiner Abreise vergessen, dich um deine und unserer Mutter Silhouette zu bitten; sie würden die schönste und liebste Zierde meiner Zelle ausmachen.

Alles, was mich umgiebt, trägt das Gepräge der Ordnung und einer ruhigen Thätigkeit. Die einfache Maschine scheint sich von selbst zu bewegen: es ist aber nicht schwer die Hand zu entdecken, die das Ganze ohne Anstrengung, gleichsam spielend, regieret.

73 Ich wiederhole dir nicht, was ich unserer Mutter von der Frau des Hauses, dieser Einzigen ihres Geschlechts, und von der Art, wie sie mich aufnahm, gesagt habe. Nur das muß ich hinzusezen, daß ihre Physiognomie, diese sanfte geistvolle Physiognomie, mir so bekannt vorkömmt, daß ich es mir nicht ausreden kann, sie nicht schon irgendwo gesehen zu haben. Wo? das weiß ich nicht; ich vermuthe in Heilbronn, und doch weiß ich mich auch nicht des geringsten Umstandes dieser Erscheinung zu erinnern. Genug, ihr Bild liegt in irgend einem dunkeln Winkel meiner Seele, und dieses Bewußtseyn trägt nicht wenig dazu bei, mich hier einheimisch zu machen.

Der Obriste hat ein ernstes Ansehen, und sein Ton mildert diesen Ernst nicht. Allein unter dieser rauhen Rinde schlägt ein edles, warmes Herz. Dieses habe ich heute erfahren.

Seit meiner Ankunft aß ich mit dem alten Kammerdiener und der Haushälterin am sogenannten Kammertische, und ich muß dir gestehen, liebe Freundin, daß diese Gesellschaft mir wenig Vergnügen machte. So oft man zum Essen klingelte, schlug mir das Herz, und ich mochte mich zwingen, so viel ich wollte; ich fühlte, aber nur hier fühlte ichs, daß ich nicht an meiner Stelle war.

Gestern las ich dem Obristen die deutschen Zeitungen vor; er schien mit dieser ersten Probe vergnügt zu seyn. Es war auch eine französische dabei; 74 ich fragte ihn, ob ich nicht auch diese lesen solle? Meinetwegen, sagte er, will mal hören, was Sie kann. Es war die Leidener, in der gerade eine sehr kraftvolle englische Parlamentsrede vorkam. Ich las sie, so gut ich nur immer konnte. Bravo, bravissimo! rief er, als ich fertig war, wo hat Sie das Ding gelernt? – Von meiner Mutter, die in einer französischen Pension zu Hanau erzogen wurde. – So, so. Nun da wundert's mich nicht mehr; Sie hat einen recht guten Accent.

Indem trat seine Gemahlin herein. Die Müller hat uns wohl bedient, Elise; du mußt ihr auch in meinem Namen danken. Das Mädchen liest recht flink, und da du dich nicht gern mit der französischen Zeitung abgiebst, so kann sie künftig sie dir abnehmen. Ich wünschte, antwortete ich, der gnädigen Frau noch mehr abnehmen zu können. Mein höchster Ehrgeiz ist, meinen großmüthigen Beschützern nüzlich zu seyn. – Beschüzen will ich Sie gegen die ganze Welt, wenns nöthig ist, und wenn Sie, wie ich hoffe, sich gut aufführt, so wollen wir noch mehr für Sie thun. Nehme Sie mirs nicht übel; es war schlecht von Ihrem Vater, daß er sein Kind so sizen ließ. Ein tiefer Seufzer entfuhr mir. Elise sah mich liebreich an; sie sah die Thräne, die mir ins Auge trat. »Bliz und Hagel! was ist das für ein Offizier, der sein Kind verläßt? oder war er vielleicht ein bloser Werbelieutenant?« – Er war 75 Hauptmann, gnädiger Herr, unter den **schen Truppen. – Teufel! so war er doch gewiß kein Cavalier; wäre er das, und Sie gienge mich etwas an, so würde ich ihm auf der Extrapost nachjagen, und mich mit ihm herumschießen. Höre mal, Frau, war Ihr Vater gleich ein . . . . . . . ich mags nicht sagen vor dem armen Mädchen da, so trug er doch Ringkragen und Schärpe. Der Tochter eines Hauptmanns müssen wir mit Distinktion begegnen, zumal vor unsern Leuten. Wenn wir keine Fremden haben, so kann sie mit uns essen; was meynst du – Sehr gerne, antwortete Elise, du weist ja, mein Bester, daß ich die Rechte der Unglüklichen nicht verkenne. Ich wollte dem edeln Greise die Hand küssen; er ergriff die meinige, und schüttelte sie. – Nicht doch, Mädchen, das schikt sich nicht für die Tochter eines Hauptmanns. Ich ergriff die Hand seiner Gemahlin, und ließ ihr nicht Zeit, sie zurükzuziehen. Ein Thränenstrom begleitete meinen Kuß. Lassen Sie diese für mich reden, sagte ich schluchzend. Wenn es in meiner Macht steht, erwiederte sie, so will ich sie alle abtroknen. O liebe Friederike! doch, was kann ich dir sagen, ich weiß, du feierst mit unserer edlen Mutter, diese heilige Scene.

Gleich zu Mittage nahm ich Besiz von meiner Ehrenstelle; ich erbot mich, Elisen das Amt der Vorlegerin abzunehmen. Sie ließ es mit Vergnügen geschehen, und ich glaube, daß ich mich dabei 76 noch so ziemlich gut benahm, weil sie mir mehrmals zulächelte. Mein Geist war frei und heiter, denn es war mir himmlisch wohl bei dem treflichen Paare. Nach Tische reichte ich dem Obristen seine Schaale Caffee; er sah mich freundlich an: Höre, Mädchen, sagte er; (denn hören Sie klingt mir zu fremd, und höre Sie zu despektirlich für eine Offizierstochter,) du gefällst mir, ich will dich also duzen: ich könnte ja ohnehin dein Großvater seyn. – Sie und Ihre Frau Gemahlin, erwiederte ich gerührt, werden mir durch dieses liebe Du, einen neuen Beweis Ihrer Gnade geben. O glauben Sie mir, mein heiligstes Bestreben soll seyn, mich Ihrer würdig zu machen. Du bist ein braves Kind, das seh ich schon, antwortete er, ich denke, wir werden gute Freunde werden.

Nun bat ich Elisen um Arbeit, und übergab ihr das Halstuch, das ich für sie mitgebracht, und bisher völlig vergessen hatte. Sie war sehr wohl damit zufrieden. Ich gebe dir nichts dagegen, sagte sie, es würde das Ansehen haben, als ob ich dir dein Geschenk bezahlen wollte. Das Mädchen mußte mir den Nährahmen holen, auf dem eine von Madam Ehrhard angefangene Arbeit aufgespannt war. Wilhelmine wollte sie vollenden, ich sehe aber wohl, daß ich ihr diese Mühe ersparen kann, sagte Elise, indem sie ihr Strickzeug hervorlangte. Wir arbeiteten, indeß der Obriste am Kamine sein 77 Mittagsschläfchen hielt. Wir sprachen leise und wenig, bis er aufwachte; dann mischte er sich in unser Gespräch.

Gegen Abend mußte ich ihm in des Levaillant Reise nach Afrika vorlesen. Ich las gut, weil ich verstand, was ich las, und weil das Buch mir Vergnügen machte. Nach einer Stunde befahl er mir, ein bischen auszuruhen, und stand von seinem Lehnsessel auf, um sich eine Pfeife zu stopfen. Wollen Sie mir dieses Geschäft überlassen, gnädiger Herr, fragte ich mit einem Muthe, den blos seine Güte mir geben konnte. Ich habe meinem Vater mehr als eine Pfeife gefüllt. – Du? – Bisweilen auch angestekt. Je, Mädchen, du bist ja in alle Sättel gerecht. Laß einmal sehen; dort auf dem Kamine liegen Fidibus. Ich stopfte die Pfeife, überreichte sie ihm, und brannte sie an. Elise lachte, und er versicherte mich, daß ich meine Sache recht gut gemacht habe.

Ich nahm mein Buch wieder vor; nach einer halben Stunde mußte ich es weglegen, weil er, wie er sagte, nicht haben wollte, daß ich mir die Schwindsucht an den Hals lese. Du siehst, liebe Friederike, daß ich es in drei Tagen in der Gunst dieses edeln Paares weiter gebracht habe, als ich es in drei Monaten zu bringen hoffen durfte. Dieses ist nicht mein Werk, eine höhere Hand hat mir ihr Herz geöfnet.

Morgen früh geht der Reitknecht auf die nächste 78 Post, um die Zeitungen und Briefe abzuholen. Dieses geschieht wöchentlich zwei bis dreimal, ich will ihm meine Epistel mitgeben. Das nächstemal, hoffe ich, wird er mir ein Briefchen von dir zurükbringen. Wie werde ich auf seine Ankunft lauern!

Lebe wohl, meine Schwester, ich umarme dich, und unsere theure Mutter aus der Fülle meines Herzens.

 
Madam Müller an Lina.

Mannheim den 15ten Hornung.

Dank, meine Lina, für Ihr liebes Briefchen. Eh es abgieng, wußten Sie meine Antwort. Sie kennen mein Herz; denn Sie haben mir den Namen Ihrer zweiten Mutter beigelegt. Theurer kann Ihnen das Andenken Ihrer ersten Mutter nicht seyn, als mir dieser Titel ist. Ich fürchte nicht, ihn jemals, weder durch meine, noch durch Ihre Schuld, zu verlieren, ob Sie mir gleich bereits eine mächtige Nebenbuhlerin gegeben haben.

Ihr herrlicher Brief an Friederike hat uns im buchstäblichen Sinne des Worts entzükt. Wie froh, wie stolz bin ich, daß meine Prophezeihung so richtig und so schnell eintrifft: Freilich war es nicht schwer, vorherzusehen, daß meine Elise und ihr edler Gemahl wenig Zeit brauchen würden, um Ihren Verdiensten Gerechtigkeit zu erweisen. Sie werden begierig seyn, zu erfahren, was sich nach meiner Rükkunft zugetragen hat. Ich hielt es für klug, in 79 einiger Entfernung von meiner Wohnung auszusteigen. Meine Vorsicht war unnöthig. Herr von Dornek besuchte mich erst am folgenden Abend. Ein starker Katharr hatte ihn genöthigt, mehrere Tage das Zimmer zu hüten. Er fragte nach Ihnen: Sie ist verreist, sagte ich, und übergab ihm Ihr Briefchen. Er sah mir steif ins Gesicht, und erbrach es mit bebender Hand. Nachdem er es gelesen hatte, drükte ers lange fest an seine Lippen, und warf sich schweigend in einen Lehnstuhl. Endlich sagte er mit entschlossener Stimme: ich werde sie wieder finden. Das werden Sie; antwortete ich, sobald Sie unserer Lina Ihre Liebe vor der Welt bekennen dürfen, und sie vor der Welt sie erwiedern kann. Das verspreche ich Ihnen; ich bot ihm meine Hand, und drükte die seinige. Er seufzte; nach einem langen Stillschweigen sagte er: Sie verdienen, Madam, und besizen mein ganzes Vertrauen. Erlauben Sie mir, Ihnen von Straßburg aus zu schreiben. Mit Vergnügen, erwiederte ich: denn auch Sie besizen mein Vertrauen. Ich kam, fuhr er fort, um Abschied von ihr zu nehmen; ich muß morgen in meine Garnison zurükkehren. Sie versprechen mir doch, die junge Heldin meiner zärtlichsten Verehrung zu versichern? Ich versprach es, und der edle junge Mann verließ mich so zufrieden, als ers in diesem Augenblike seyn konnte.

Meine Zuversicht auf Ihre Grundsäze, theuerste Lina, muß so grenzenlos seyn, als sie es wirklich ist, 80 sonst würde ich mir nicht erlaubt haben, Ihnen diesen Auftritt so umständlich zu erzählen. Hoffen sie nicht, verzweifeln Sie nicht, und überlassen Sie Ihr Schiksal der leitenden Vorsicht.

Uebrigens bleibt es bei unserer Abrede; alles, was Sie interessiren kann, sollen Sie erfahren. Leben Sie wohl, meine theure Tochter; ich umarme Sie, wie ich Sie liebe.

 
Friederike an Lina.

Mannheim den 15ten Hornung.

Schon eine Viertelstunde, meine Lina, size ich an diesem lieben Tischchen, an dem du dein Tagebuch schriebst, und mir ist, als hätte ich meine Sprache vergessen. Freilich bin ich im Schreiben nicht so geübt, wie du, aber ich weiß ja doch wohl, was ich dir sagen will, und dennoch fehlen mir die Worte. Woher kömmt das?

O meine Schwester, welch eine Lüke hast du bei uns zurükgelassen! Ueberall suche ich dich, und finde dich nur noch in meinem Herzen. Jeder Winkel unsers Hauses ist mir eine Wüste, zumal unser Stübchen, wo meine Lina immer so ganz mein war. Noch jezt, wenn ich halb eingeschlummert, oder halb aufgewacht bin, rede ich dich oft an: wachst du, Lina? frage ich leise. Lina schweigt, und ich schauere auf, und seufze.

So saß ich auf meine Arme gestüzt in der Ladenstube, und träumte von dir, als meine Mutter von 81 Heidelberg zurükkam. Es war schon dunkel, ich hörte sie hereintreten; bist du's, Lina, fragte ich, und die gute Mutter schloß mich in ihre Arme. Dieser Kuß ist von deiner Lina, sagte sie, und wir weinten beide, und sie mußte mit den ganzen Abend von dir erzählen.

Des andern Tages kam der gute Herr von Dornek; er wollte dich besuchen; doch das wird sie dir selbst schreiben. Ich verließ die Stube, als sie ihm dein Briefchen zustellte. Wenn es sich auch geziemt hätte, so hätte ich nicht bleiben mögen; er dauerte mich zu sehr. Ich weiß ja, was es ist, eine Lina verlieren; verlieren! Nimmermehr; unser Bund dauert ewig; ewig, wie unsere Seelen; dafür bürgt mir dein Herz, das ich so ganz in deinem Briefe gefunden habe. O, er kömmt nicht von meinem Busen, nicht von meinen Lippen; aber ich nehme mich sorgfältig in Acht, daß meine Küsse kein Wörtchen davon auslöschen.

Wie lieb ist mir die Frau von Sonnenstein nun auch um deinetwillen! Wenn der Frühling kömmt, will ich an sie schreiben, und sie um die Erlaubniß bitten, dich auf einige Tage zu besuchen. Unsere Mutter hat es mir schon erlaubt, und Elise wird es mir auch erlauben; sie ist ja so gut. Du hast ihr doch gesagt, daß wir Schwestern sind? aber es ist noch lange, sehr lange, bis zum Frühling.

Ich kann nicht weiter; denn ich fühle nun wieder, 82 daß wir getrennt sind. Lebe wohl, meine Lina, und liebe deine ewig treue

Friederike.

N. S. Hier sind die Silhouetten, aber wie stumm, wie todt! Warum kann ich ihnen keine Sprache geben? Wenn du mir die deinige schicken kannst, o so thu es doch, Liebe; ich möchte sie in ein Medaillon fassen lassen.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 15ten Hornung.

Gott! wie viel gute Menschen schmüken noch die entweihte Erde! Was für ein himmlischer Anblik würde deine unsichtbare Kirche seyn, wenn sie auf einmal sichtbar würde! Welch ein edles Weib ist Molly, welch ein reines, unschuldvolles Wesen ihre Tochter! und Elise, mein Schuzengel! und ihr ehrwürdiger Gemahl: ein wahrer Patriarch im Harnisch.

Als der Reitknecht ihm heute die Zeitungen, und Briefe zustellte, fiel ihm der von meiner Pflegemutter in die Hände. Er las die Aufschrift: an Mademoiselle Roland. Mädchen, du hast einen schönen Namen, sagte er, indem er mir den Brief hinreichte, es ist der Name eines großen Helden. O Schade, ewig Schade . . . . . – daß er rasend wurde, versezte ich in einer Anwandlung von Naseweisheit. – Rasend? ich glaube du rasest; wer hat dir das weiß gemacht? – Ei, Ariost hat ja ein 83 Gedicht unter dem Titel, der rasende Roland geschrieben. – Was Teufel! meynst du, ich spreche von jenem verliebten Narren? ich habe das alberne Buch auch einmal durchblättert, und mich genug darüber geärgert, daß der Mauvillon, der doch ein Offizier seyn will, solche Läppereien ins Deutsche übersezen mochte. Mein Roland war bei Gott ein anderer Held. Höre nur: Im siebenjährigen Kriege besezte ich mit dreihundert Mann eine Schanze. Ein kaiserlicher Major griff mich mit überlegener Macht an; ich wehrte mich, als ein braver Kerl. Endlich wurden wir übermannt. Ich übergab dem Major meinen Degen, und in diesem Augenblik schoß einer meiner Grenadiere ihm eine Kugel durch den Leib; seine Leute wollten mich niederstoßen; er wankte an meine Brust, diente mir zum Schilde, und starb in meinen Armen.

Ich stieß einen Schrei aus, und taumelte auf meinen Stuhl. Was hast du, Mädchen? rief er, du erschrekst mich ja. – Ach, gnädiger Herr, Ihre Geschichte! Ich weinte laut. – Nun ja, er ist werth, daß man um ihn weint. Ich weinte auch, als ich den majestätischen Todten an mein Herz drükte. Es ist schön von dir, gutes Mädchen, daß du um meinen Roland weinst: ich habe dich lieb darum.

Ach, wie würde er mich erst lieben, wenn er wüßte, daß dieser majestätische Todte, den er an sein Herz drükte, mein Großvater war! Ich hatte 84 vielleicht Unrecht, daß ich mich in diesem feierlichen Augenblik ihm nicht zu erkennen gab; allein ich war so überrascht, so erschüttert, daß es noch eine gute Weile anstand, eh ich ganz zu mir selbst kam. Dieses geschah erst, als der ehrwürdige Greis mich bei der Hand nahm, und in einem gerührten Tone zu mir sagte: Armes Kind, wenn nur der Schrek dir nicht schadet. Geh ein bischen in die freie Luft, ich will indessen meine Briefe lesen. Er wußte nicht, wie sehr ich es nöthig hatte, mich zu sammeln.

Ich schlich auf mein Stübchen, und sezte mich ans offene Fenster, bis meine Nerven besänftigt, und meine Augen trocken waren. Mein Großvater sein Lebensretter! O, diese Scene muß ich heute noch meiner Pflegemutter erzählen: wie wohl wird sie ihr und meiner lieben Frida thun! Nun erst erinnerte ich mich des Briefes, der sie veranlaßt hatte. Ich riß ihn auf. Ach! warum war der Name Dornek das erste Wort, das ich suchte? Ich fand ihn, und zum zweitenmal brach mein Herz.

Ich werde sie wiederfinden, sagte der Edle, o! er weiß nicht, wie nahe sie ihm ist, wie gern sie sich würde finden lassen, wenn die Stimme der Pflicht ihr nicht geböte, hinter dem Vorhang zu bleiben! Wird sie jemals hervortreten dürfen? Wird die Stimme der Pflicht jemals in die Stimme des Herzens einklingen? Hoffen Sie nicht, verzweifeln Sie nicht, sagte die weise, trefliche Müller; allein wie 85 schwer ist es, nicht zu verzweifeln, wenn man nicht hoffen soll!

 
Dornek an seinen Vater.

Straßburg den 16ten Hornung.

Ein Brustfieber hat mich, liebster Vater, abgehalten, den Brief eher zu beantworten, den meine gute Mutter den 9ten dieses in Ihrem Namen an mich geschrieben hat. Ich habe meinem Vetter verboten, Sie davon zu benachrichtigen, weil ich lieber mich dem Verdachte der Nachlässigkeit, als meine Eltern der Unruhe aussezen wollte, welche diese Nachricht ihnen verursacht haben würde.

Wenn Sie, liebster Vater, auf meiner Reise beharren, so muß ich es Ihnen überlassen, mir den Urlaub dazu beim Obristen auszuwirken. Ehe ich weiter gehe, muß ich Ihnen einen Vorfall entdecken, den ich Ihnen nicht länger verhehlen darf, und blos, um Ihnen einen Verdruß zu ersparen, bisher verhehlet habe.

Gegen das Ende des vorigen Jahres gerieth ich im Kaffeehause mit einem jungen Dragoner-Lieutenant in Streit. Die hiesige deutsche Schauspieler-Gesellschaft, die freilich sehr mittelmäßig ist, gab Anlaß dazu. So lange er nur über diese spottete, ließ ich's geschehen; als er aber seine platten Sticheleien auf die deutsche Nation ausdehnte, braußte mir die Galle auf. Ein Wort gab das andere; wir schlugen uns, und ich hatte das Glük, oder das Unglük, 86 meinen Gegner gefährlich zu verwunden. Er ist von einer großen Familie; die Sache machte Aufsehen, und ich mußte mich einige Wochen verborgen halten.

Nun ist zwar alles vorbei; der Patient ist hergestellt – und meine Cameraden sind mit meiner Aufführung zufrieden; nur der Obriste ist noch immer sehr ungehalten auf mich, und würde mir den Urlaub gewiß versagen.

Allein, bester Vater, wenn Sie glauben, daß mein Glük von dieser Reise abhängt, so erlauben Sie mir, Ihnen zu wiederholen, daß Sie sich irren. Ich bin fester, als jemals überzeugt, daß ich das Fräulein von Palmfeld nicht lieben kann. Mein Herz empört sich gegen diese Verbindung, und die Ehre verbietet mir, meine Hand, ohne mein Herz, zu vergeben, oder gar gegen das Fräulein Empfindungen zu heucheln, die ich nicht habe.

In der Welt giebt es eine einzige Person, die mich glüklich machen kann. Sie ist von edler Geburt, aber wäre sie auch eine Hirtin, so würde sie einen Thron verdienen. Sie ist nicht reich an Gold, aber reich an Tugenden, und in meinen Augen ist sie die schönste ihres Geschlechts. Wenn Sie sie kennten, theuerste Eltern, so würden Sie die Wahrheit meiner Schilderung bestätigen, und Ihren Carl seelig preisen, daß er dieses Kleinod gefunden hat.

O lassen Sie mich, beste Eltern, zu Ihren Füßen Sie beschwören, mich nicht elend zu machen, wenn 87 Sie mich nicht glüklich machen wollen. Ich habe mein Herz vor Ihnen ausgeschüttet, und erwarte nun mein Urtheil. Reden Sie; von Ihnen hängt es ab, ob ich künftig mein Daseyn segnen, oder verwünschen soll. Ich bin mit der zärtlichsten Ehrfurcht Ihr

Carl.

 
Antwort des Vaters.

Ei, sieh doch, Herr Sohn, seit wann haben wir Brüderschaft zusammen getrunken? Was das für ein impertinenter Ton ist! Hast du ihn in Frankreich gelernt? Wie bedaure ich es, daß ich, als du von deinen Reisen zurükkamst, dich nicht unter meinem Commando behalten habe. Warte, Junge, ich will dich Subordination lehren! Indessen hast du dein Glük mit Füssen von dir gestossen. Die Palmfeld ist verlobt, und du kannst bleiben, wo du bist; ich mag dich nicht vor Augen sehen.

Aber glaube darum nicht, Ritter Haasenfuß, daß ich deine Liebe zu deiner Dulcinea begünstigen werde. Sie muß das Incognito lieben, weil sie dir nicht erlaubt, mir ihren Namen zu nennen. Doch ich mag ihn nicht wissen; ich will nichts von ihr hören. Sie mag mir ein eben so sauberes Früchtchen seyn, wie du, da sie dich zum Ungehorsam gegen deine Eltern verführen konnte. Oder hast etwa du sie verführt? und wohl gar . . . . . Ha, Junge, wenn ich eine solche Schande an dir erleben müßte! doch ich will's nicht von dir glauben. Aber auch alsdann 88 würde ich dir nicht erlauben, sie zu heirathen. Nur ein Pinsel von Vater läßt sich auf diesem Wege zum Schwiegervater machen. Brechen mußt du allemal mit ihr, da ist bei Gott Gnade! oder ich rufe dich vom Regiment ab: dein Oberster ist mein Freund, er kann und wird mir deinen Abschied nicht versagen.

Noch einmal, junger Herr, mache mir keine Schwänke, und führe dich künftig so auf, daß ich deine Eselei vergessen kann, oder ich bin nicht mehr

Dein Vater.

A propos du hast recht gethan, daß du dich mit dem Gelbschnabel geschlagen hast. Nur ein Halunke kann seine Nation ungestraft schimpfen lassen. Aber an deines Obristen Stelle hätte ich dich dennoch auf ein Vierteljährchen ins Loch gestekt.

 
Lina an Friederike.

Waldingen den 20sten Hornung.

Ja wohl, meine Frida, ist unser Bund ein ewiger Bund. Darum werde ich dir auch nicht mehr sagen, daß ich dich liebe, als meine einzige Schwester liebe, und nie aufhören werde, dich so zu lieben. Aber eben, weil ich weiß, wie sehr dein Herz an allem Theil nimmt, was mir begegnet, will ich dir jeden Vorfall erzählen, der mir das Gemälde meiner jezigen Lage ergänzen kann.

Gestern schikte mich Elise in die Bibliothek, um ein Buch zu holen. Ich sah eine Harfe in einer Ecke stehen, und fragte sie, als ich zurükkam. ob sie 89 dies Instrument spiele. Ehedem spielte ich's, antwortete sie, aber seit mehreren Jahren habe ich keine Saite berührt. Spielst du etwa die Harfe? Ein bischen, gnädige Frau; blos so viel man braucht, um einen leichten Gesang zu begleiten. – Du siehst, Liebe, daß mein Glük mich bereits eitel gemacht hat. – Also singst du? – O, gnädige Frau, rief ich mit einer Schaamröthe, die ein wenig zu spät kam, ich singe lange nicht gut genug, um mich vor Ihnen hören zu lassen. Meine Mutter war meine Lehrmeisterin, und Sie würden wohl nicht errathen, was mein erstes Probestük war? Ein Gleimisches Kriegslied, das sie mich lehrte, um meinen Vater, der ein großer Freund dieser Lieder war, als Kind damit zu überraschen. – Mein Gemahl kann sie alle auswendig, und du würdest ihm ein großes Vergnügen zubereiten, wenn du auch ihn einmal überraschen wolltest. – Ich will thun, was ich kann, antwortete ich, und trug die Harfe auf mein Zimmer, um sie ganz insgeheim in Stand zu sezen.

Um den Obristen aufzuheitern, der seit einigen Tagen sehr mismuthig ist, hatte seine Gemahlin, den Pfarrer, samt seinem Vikar und den Gerichtsverwalter, mit seiner jungen Frau, zu Tische gebeten. Du kennst dieses interessante Paar aus meinem lezten Briefe. Der Pastor ist ein ehrwürdiger Greis, des Obristen Freund und Geheimerath: sein Neffe, der Vikar, ist ein geschikter und belebter Mann von etwa 90 dreißig Jahren, er hat den jungen Herrn auf Reisen begleitet, und zur Belohnung die Pfarr-Adjunktur erhalten. Da die beiden Geistlichen, seitdem ich hier bin, noch nicht auf dem Schloß gespeißt hatten, so stellte Elise mich ihnen als ihre Gesellschafterin, und als die Vorleserin ihres Gemahls vor. Dieser fiel ihr sogleich in die Rede: Sehen Sie, lieber Pastor, die kleine Hexe liest Ihnen die Leidener Zeitung so fix, wie Sie das Evangelium. Dabei stopft Sie Ihnen eine Pfeife troz dem besten Schmaucher. Der zweite Theil dieser Lobrede machte die Gäste lächeln, und mich bis in die Fingerspizen erröthen. Elise bemerkte es: O, mein Freund, Sie kann wohl noch andere Künste. – Alle Wetter, reitet sie, oder schießt sie etwa gar nach der Scheibe? Getroffen, rief Elise lachend. – Bravo! Hätte ich eine Tochter, reiten und schießen müßte sie mir auch lernen. Höre mal, Mädchen, mit dem Schießen gebe ich mich nicht mehr ab, meine Augen sind kaput; aber bei schönem Wetter mache ich auch noch meinen Ritt; ich will dir ein Collet und ein paar rehlederne Buchsen machen lassen, da mußt du dann auf dem kleinen Rothschimmel neben mir herplänkern. Ich stand wie am Pranger, und wollte eben gegen meine Promotion zum Schildknappen protestiren, als man zu meiner größten Freude zur Tafel klingelte. Bei der Mahlzeit übernahm ich meine gewöhnliche Rolle. Das Gespräch ward allgemein, und um den Eindruk der vorigen 91 Scene aus meinem Gemüthe zu verwischen, gab die gute Elise mir, so oft sie konnte, Gelegenheit, Antheil daran zu nehmen. Nun aber kam der Obriste auf die niederländischen Insurgenten, die er gar übel mitnahm, und auf den siebenjährigen Krieg zu sprechen, dem der Pfarrer als Feldprediger seines Regiments beigewohnt hatte. Die Augen des grauen Helden fiengen an zu blizen, die Runzeln seiner benarbten Stirne verschwanden, und seine eingefallenen Wangen färbte das Inkarnat der Jugend.

Indessen hatte man den Nachtisch aufgetragen, und der Hochheimer schimmerte in den Gläsern. Elise gab mir einen Wink, und ich stand mit einer geschäftigen Miene auf, als wollte ich etwas im Nebenzimmer holen, wo ich die Harfe verborgen hatte. Auf einmal fieng ich an, das herrliche Rheinweinlied zu spielen, und mit meiner Stimme zu begleiten. Alles ward still, und als ich zu Ende war, ertönte der Saal von einem lauten Händeklatschen. Komm heraus Mädchen, rief der Obriste, denn niemand, als du, kann die Sängerin seyn. Ich erschien unter der Thüre: nicht so, nicht so, mein Kind, bringe deine Harfe mit, und seze dich hier gegen uns über. Doch vor allen Dingen mußt du meinen Rheinwein kosten, den du so hübsch besungen hast. Da, kleine Nachtigall! er reichte mir ein volles Glas. Umsonst entschuldigte ich mich, daß ich keinen Wein trinke. Ich mußte das Glas annehmen. Ich trank einige 92 Tropfen auf seine und Elisens Gesundheit. – So recht! nun spiel uns noch was. Ich klimperte und sang ein paar Gretrysche Arien. Das Klatschen begann von neuem; der Obriste brachte meine Gesundheit aus, und Elise lohnte mir mit einem freundlichen Lächeln. Zulezt stimmte ich Gleims Siegeslied, nach der Schlacht bei Prag, an. Gleich bei der ersten Strophe verklärte sich das Gesicht des alten Kriegers; bei der zweiten: »Zwar unser Vater ist nicht mehr« nahm er seine Müze ab, und bei den Worten: »Dein Friederich hat dich beweint,« rollten ihm die hellen Thränen über die Backen.

Als ich fertig war, stand er schweigend von seinem Stuhl auf, trat zu mir, strich mir die Haare von der Stirne, und drükte einen väterlichen Kuß darauf. Dank, liebes Mädchen, du hast mir diesen Tag zum Festtage gemacht; hätte ich einen Orden, ich würde dir ihn umhängen. Gott segne dich! Ich ergriff rasch seine Hand, und küßte sie mit kindlicher Zärtlichkeit.

Unsere Gesellschaft verließ uns erst mit einbrechender Nacht, nachdem ich ein paar Proben meiner Kunst im Pfeifenstopfen hatte ablegen müssen. Mein Gesang hatte den guten Obristen ganz in die Vorzeit zurük versezt. Als wir allein waren, überhäufte er mich mit seinen treuherzigen Liebkosungen, und gerieth auf den fatalen Gedanken, nach zehn Jahren wieder einmal des großen Friedrichs Beschreibung des 93 siebenjährigen Kriegs zu lesen. Flugs mußte ich den Anfang mit dem ersten Capitel machen; ich zog mich noch so ziemlich heraus, allein mir bangt vor der Fortsezung. Es kommen in dem Buche so viele Sachen und Ausdrüke vor, die mir völlig fremd sind. Ich bat meinen ehrwürdigen Zuhörer um Geduld; er versicherte mich, daß ich ihrer nicht bedürfe.

Nun noch meinen heißen Dank, liebe Frida, für die sehr ähnlichen Silhouetten. Sie schmücken bereits meinen kleinen Hausaltar. Herr Ehrhard will mir die meinige machen; in einigen Tagen sollst du sie erhalten.

Genug, meine Schwester, für heute; die Augen fallen mir zu. Nur noch einen Kuß für dich und unsere theure Mutter.

 
Dornek an Madam Müller.

Straßburg den 24sten Hornung.

Was macht Lina? Erlauben Sie mir, liebe Madam, daß ich unsern Briefwechsel mit dieser Frage eröfne. Die Krankheit, die ich von Mannheim mit mir hieher brachte, und der Mangel an guten Nachrichten, womit ich meine Erkundigungen nach der schönen Entflohenen zu begleiten wünschte, waren Schuld an meinem bisherigen Stillschweigen. Nun aber, liebe Madam, nun kann ich es brechen, dieses martervolle Stillschweigen. Ich kann Ihnen sagen, mit Gewißheit kann ich Ihnen sagen, daß das größte Hinderniß, das meinem Glücke im Wege stand, 94 gehoben ist: Lina hat keine Nebenbuhlerin mehr; ich meyne bei meinen Eltern. In meinem Herzen konnte sie nie eine haben, aber die, welche sie bei meinen Eltern hatte, ist verlobt. Die Hand der reichen Erbin, die man mir bestimmte, ist vergeben. O! schreiben Sie dieses meiner Lina! schreiben Sie's ihr unverzüglich, ich beschwöre Sie darum auf den Knieen. Sagen Sie ihr: Dornek ist dem Ziele seiner Wünsche um einen großen Schritt näher gerükt, und mich versichern Sie nur mit einem Worte, daß Sie's ihr gesagt haben.

Nun, da der Plan meiner Eltern vereitelt ist, kann ich um desto nachdrüklicher meinen eigenen Plan durchsezen. Ich muß ihrem Unwillen Zeit lassen, sich zu legen. Dann aber will ich Ihnen so lange wiederholen, daß mein Leben von meiner Verbindung mit der Einzigen abhängt . . . . kurz, es wird, es muß gehen. Sie sehen selbst, liebe Madam, daß es gehen. muß.

Ich schließe, wie ich anfieng, mit der Frage: was macht Lina? und füge nur noch die Versicherung hinzu, daß ich Sie, edle Frau, als Lina's zweite Mutter ehre. Möchte ich Sie auch bald als meine zweite Mutter ehren können.

C. von Dornek.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 24sten Hornung.

In acht Tagen hoffte er auf Antwort von seinen 95 Eltern. Mehr als zweimal acht Tage sind vergangen, und ich weiß nichts von ihm. Madam Müller muß auch nichts von ihm wissen, denn sie versprach, mir ja alles, was mich interessiren kann, mitzutheilen. Was könnte er schreiben, das mich nicht interessiren sollte?

Vermuthlich haben seine Eltern ihm nicht geantwortet. Sie werden die romanhafte Flamme des jungen Enthusiasten wollen verlodern lassen. Er liebt ja seine Lina blos um ihrer selbst willen, und unter den Edlen der Erde ist es nicht erlaubt, so zu lieben. Armer Dornek! du hast dich selbst getäuscht, du hast nichts zu hoffen, Lina hat nichts zu hoffen. Die Simpathie, die unsere Herzen vereinigte, wird nie unsere Schiksale vereinigen. Eine Scheidemauer hat sich zwischen uns erhoben, durchsichtig zwar, wie Kristall, aber auch undurchdringlich, wie er. Wir werden uns immer sehen, immer uns winken, aber nie, ach nie, werden wir wieder zusammen kommen!

 
Der Hauptmann von Saalen, an Lina.

Brüssel den 18ten Hornung.

Ich glaubte, liebe Tochter, daß du meinem Rathe folgen, und dich nach meiner Abreise von Mannheim zu deinem Großvater begeben würdest. Zu diesem Ende schrieb ich aus Mainz an ihn, und empfahl dich seinem Mitleiden.

Zu gleicher Zeit schrieb ich an dich unter dem Umschlage des Pfarrers zu Saalen, der sich 96 meiner immer freundschaftlich annahm, aber freilich bei meinem unerbittlichen Vater nichts ausrichten konnte. Dieser sandte mir nach vierzehn Tagen meinen Brief an dich mit der Nachricht zurük, daß man dort nicht das Geringste von dir wisse. Es bleibt mir also nichts übrig, als mich an unsere Wirthin in Mannheim zu wenden, mit der Bitte, sich nach deinem Aufenthalte zu erkundigen, und dir diesen Brief einhändigen zu lassen. Denn da du den einzigen Zufluchtsort, den ich dir anweisen konnte, nicht angenommen hast, so vermuthe ich, daß du Mittel fandst, in Mannheim unterzukommen.

Da ich die Härte deines Großvaters kenne, so würde ich dich unter einem fremden Dache für glüklicher halten, als unter dem seinigen, sobald deine Ehre gesichert ist. Doch deine Grundsäze und dein reifer Verstand beruhigen mich über diesen Punkt: du bist unfähig eine Hülfe anzunehmen, über die du erröthen müßtest.

Uebrigens muß es dir Freude machen, zu erfahren, daß mein Vater aus Stolz für mich gethan hat, was er aus Menschlichkeit, ich will nicht sagen, aus Vaterliebe, nimmermehr gethan haben würde. Sobald er aus meinem Briefe meinen Unfall erfuhr, fürchtete er die öffentliche Entehrung seines Namens, und schrieb an den Chef meines Regiments, mit dem Anerbieten, daß er die 2000 Gulden, die ich der Werbkasse schuldig blieb, bezahlen wolle, wenn er 97 meinen Prozeß niederschlagen und mir eine unverfängliche Demission ausfertigen würde. Dieses ist geschehen, und seit zwanzig Jahren bin ich meinem Vater zum erstenmale Dank schuldig. Der gute Pfarrer muß einen sehr günstigen Augenblik ausersehen haben, um diesen Abschied von ihm zu erbetteln; denn ich habe ihn nicht nur in Händen, sondern bereits einen glüklichen Gebrauch davon gemacht.

Mein Vorsaz war, bei der holländischen ostindischen Compagnie Dienste zu suchen, und mich auf lange, wo nicht auf immer, aus Europa zu verbannen. Nun brauche ich nicht mehr zu diesem äußersten Nothmittel zu schreiten. Mein Name und mein Regimentsabschied haben mir bei der belgischen Insurrektions-Armee eine Hauptmannsstelle verschafft, die mir ein reichliches Auskommen versichert. Ich sage: versichert, liebe Caroline, denn ich habe das unselige Spiel verschworen, und bisher in mehr als einer Versuchung Probe gehalten. Anfänglich ergriff ich dieses gefährliche Mittel, blos, um meine Umstände zu verbessern: nach dem Tode deiner Mutter sollte es meinen Schmerz betäuben, und es führte mich in den Abgrund des Verderbens.

Mein Unfall hat mir die Augen geöfnet, und mein erster Blik war auf dich gerichtet, meine Tochter, die ich mit in den Abgrund hinunter zog. Vergieb mir den Kummer, den ich dir gemacht habe; von nun an werde ich wieder dein Vater seyn. Von 98 den hundert Dukaten, die man mir für meine Equipage ausbezahlt hat, empfängst du hier zehn in einer Anweisung auf Frankfurt. Es wird dir leicht seyn, sie in Mannheim zu Gelde zu machen.

Noch muß ich dir sagen, daß, wie mein ehrlicher Pfarrer mir meldet, mein Stiefbruder, der mit seiner boshaften Mutter den Haß meines Vaters um die Wette anfachte und nährte, an der Schwindsucht darnieder liegt, und wenig Hofnung zu seiner Genesung übrig läßt. Er wird also schwerlich das Erbtheil genießen, dessen er mich beraubt hat, und das ich ihm nur um deinetwillen misgönnte.

Lebe wohl, liebes Kind, schreibe mir bald, und melde mir unverholen, wie es dir geht. Hast du keine anständige Freistätte gefunden, so kann ich dich hier in einer Klosterpension unterbringen, bis ich Gelegenheit finde, besser für dich zu sorgen. Ich umarme dich mit väterlicher Zärtlichkeit.

Friederich von Saalen.

 
Lina an Madam Müller.

Den 26sten Hornung.

Lesen Sie, liebe Mutter, o lesen Sie den Brief, den Sie mir zugeschikt haben; er ist von meinem Vater, denken Sie nur, von meinem Vater . . . . . Doch, das wußten Sie ja vor mir. Vergeben Sie mir, beste Mutter, der Kopf schwindelt mir, und mein Herz ist trunken vor Freude.

99 Der gute Vater! Ich sagte Ihnen immer, daß er gut sey. Nur das Unglük machte ihn trübsinnig und verschlossen. Nun, da er wieder glüklich ist, habe ich ihn ganz wieder gefunden, und nun erst bin auch ich ganz glüklich, ja ganz glüklich, liebe Mutter; ich befrage mein Herz, und es sagt ja. Sie wissen, daß es sich nicht vor Ihnen verbirgt. Vergessen kann es jenen Unvergeßlichen nicht, aber der Gedanke an ihn störet sein Glük nicht; vielmehr sagt ihm eine dunkle Ahnung, daß die veränderte Lage meines Vaters auch auf die meinige einen günstigen Einfluß haben könnte, wenn nicht andere Hindernisse meine Aussicht umwölkten. Hoffe nicht, Lina, verzweifle nicht, dieses sage ich oft zu mir, weil meine zweite Mutter es zu mir gesagt hat.

Ich sende Ihnen meine Antwort an meinen Vater offen, damit Sie und meine Frida sie lesen können. Wie wird das liebe Mädchen, das so gern mit mir weinte, sich nun mit mir freuen! Die beikommende Anweisung meines Vaters bitte ich Sie, beste Mutter, in Geld zu verwandeln, und mir den Betrag unter Hrn. Ehrhards Adresse zu übersenden. Bald hätte ich vergessen, Ihnen zu sagen, daß der gute Obriste mir täglich mit mehr Güte begegnet. Wenn es mit meinen Vorlesungen aus Friederichs Geschichte bisweilen hapert, so weist er mich liebreich zurechte, und ein Kriegslied von Gleim macht alles wieder gut.

100 Die Begierde, mir seine Gewogenheit zu erhalten, hat meine erstorbene Liebe zur Musik wieder aufgewekt, und meine edle Wohlthäterin muntert mich selbst auf, mich darinn zu üben. Herr Arnold, der Vikar, ist ein treflicher Klavierspieler, und hat mir verschiedene seiner neuesten Musikalien für die Harfe zugerichtet. Er und sein Oheim besuchen uns oft, und ich finde viel Vergnügen in ihrer lehrreichen Gesellschaft. Kurz, liebe Mutter, Ihre Lina ist glüklich, und vergißt nicht, daß sie ihr Glük Ihnen zu danken hat.

 
Lina an ihren Vater.

Waldingen den 26sten Hornung.

Vater, lieber Vater, nur in meinen Freudenthränen, nur im Herzen Ihrer Lina können Sie die Empfindungen lesen, die es bestürmen. Ich habe Sie wieder, ich habe meinen guten Vater wieder; alle meine Leiden sind verschwunden. O warum lief Ihr Brief so lange in der Irre herum, ehe er mich erreichte! Ich nehme ihn aus meinem Busen hervor, um ihn zu beantworten.

Da Sie meinen Großvater kennen, so werden Sie sich nicht wundern, daß das liebe Blatt mich nicht in Saalen fand. Unmöglich konnte ich mich entschließen, mich vor einem Manne niederzuwerfen, der . . . . . doch ich vergebe ihm, weil ich eben dem Stolze, der uns verfolgte, das Glük verdanke, meinen Vater wieder gefunden zu haben.

101 Als ich Sie verlor, suchte ich mir in Mannheim eine Freistätte, wo ich, vor der ganzen Welt verborgen, mit meiner Hände Arbeit meinen Unterhalt gewinnen könnte. Ich fand sie durch die Fürsorge unserer guten Wirthin bei einer ihrer Freundinnen. Madam Müller, eine Puzhändlerin, deren Herz einer Fürstin Ehre machen würde, nahm mich auf, und behandelte mich mit einem Zartgefühl, das ihr schon in den ersten Tagen den Titel meiner zweiten Mutter erwarb. Sie empfahl mich der Frau von Sonnenstein, deren Jugendgespielin sie war, und in deren Hause ich mehr, unendlich mehr fand, als ich erwarten durfte. An der Seite dieser seltenen Frau lebe ich unter dem angenommenen Namen meiner Mutter, nicht als eine Bediente, sondern als eine Gesellschafterin, deren vornehmstes Geschäft ist, dem Obristen, ihrem alten ehrwürdigen Gemahle, vorzulesen.

Ich glaubte die Verbergung meines wahren Namens meinem Vater und mir selbst schuldig zu seyn. Von nun an ist diese Vorsicht überflüssig, und könnte mir am Ende als ein Mangel an Vertrauen ausgelegt werden. Ich will daher die erste günstige Gelegenheit ergreifen, mich meinen Wohlthätern zu entdecken.

Ihr Geschenk, bester Vater, wäre mir unnüz, wenn es mich nicht in den Stand sezte, alle fremde Unterstüzung auszuschlagen. Sie sehen hieraus, wie 102 theuer es mir ist, und ich weiß, daß es auch in Ihren Augen nun erst seinen wahren Werth erhalten werde. Da ich mit allem Nöthigen versehen bin, so übersteigt die Summe alle Bedürfnisse, die ich in einem ganzen Jahre haben kann. Sezen Sie also Ihrer Güte Grenzen, bester Vater, sonst werden Sie mich nöthigen, es an Ihrer Stelle zu thun, und Ihnen jede neue Beihülfe zurükzusenden.

Wie glüklich sind wir alle beide, daß wir des Erbes meines Großvaters nicht bedürfen! Glüklicher als er, der die ganze Frucht seiner Ungerechtigkeiten zu verlieren bedroht ist. Er mag sein Vermögen geben, wem er will; der kostbarste Theil desselben war ja doch derjenige, womit er die Ehre meines Vaters gerettet hat. Möge das Andenken dieser That ihm seinen lezten Kampf erleichtern!

Leben Sie wohl, theuerster Vater, und schreiben Sie mir doch ja bald wieder. Am besten kann es unter einem Umschlage an Madam Müller in Mannheim geschehen. Ich umarme Sie mit den reinsten Gefühlen der Ehrfurcht und Liebe.

Ihre glükliche Lina.

 
Madam Müller an Lina.

Mannheim den 28sten Hornung.

Diesen Augenblik, theure Lina, erhalte ich Ihr vorgestriges Schreiben mit seinen Beilagen. Sie errathen den Eindruk, den ihr Inhalt auf uns gemacht hat; wir sind trunken vor Freude; o warum 103 können wir Ihnen nicht Herz an Herz zum wiedergefundenen Vater Glük wünschen! Morgen geht Ihr herrlicher Brief an ihn ab; hier empfangen Sie den seinigen zurük. Nicht nur für Sie, mein Kind, sondern auch für ihn wird auf das überstandene Gewitter ein desto hellerer Sonnenschein folgen. In der moralischen, wie in der physischen Natur, bedarf es oft einer gewaltsamen Erschütterung, um unsere Atmosphäre zu reinigen.

Sie glauben wohl nicht, theure Lina, daß ich das Maaß Ihrer Freude noch häufen kann. Urtheilen Sie selbst, ob ich mir zu viel anmaße? Gestern erhielt ich einen Brief vom Hrn. von Dornek; er will wissen, wie Sie leben, und meldet mir, daß die Verlobung einer gewissen reichen Erbin ihn dem Ziele seiner Wünsche um einen großen Schritt genähert habe. Ehe er weiter geht, will er der übeln Laune seiner Eltern Zeit lassen, sich zu besänftigen, und ich finde, daß er Recht hat.

Sie sehen, liebes Kind, daß ich keine Lügenprophetin war, als ich Ihnen eine glükliche Zukunft weissagte. Wandeln Sie nur immer so ruhig an der Hand der Vorsehung fort, die Sie leitet: sie hat Ihnen eine Herberge geöfnet, wo es Ihnen wohl gehet, und noch täglich besser gehen wird.

Uebrigens bin ich ganz Ihrer Meinung, daß Sie die erste Gelegenheit ergreifen sollen, um sich Ihren Beschüzern zu entdecken. Das Gesez, das Sie mir 104 auferlegt haben, lastet mir schon lange auf dem Herzen, ob ich gleich Ihre Gründe nicht mißbilligen konnte. Nun bestehen diese Gründe nicht mehr: Ihr Verdienst hat Ihnen die Stelle angewiesen, die Sie Ihrem Namen nicht verdanken wollten, und so wenig Ihre Wohlthäter erröthen dürfen, Sie nicht gekannt zu haben, so würden wir sie dennoch durch ein längeres Stillschweigen beleidigen.

Ich bin sehr begierig die Folgen dieser Eröfnung zu erfahren. Elise wird vielleicht auf mich zürnen; dann es ist an Ihnen, gute Lina, mich wieder mit ihr auszusöhnen.

Leben Sie wohl, liebes Kind; wir umarmen Sie mit unserer ganzen Zärtlichkeit.

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 2ten Merz.

Wie kömmt es, meine mütterliche Freundin, daß ich zitterte, als ich in Ihrem so liebevollen Briefe die Nachricht las, die mein frohes Herz noch froher machen sollte? Man weint vor Freude, das weiß ich; meine Freudenthränen benezten ja den Brief meines Vaters; aber zittert man denn auch vor Freude? Es muß wohl seyn; denn die Freude ist es ja doch, was ich fühle, aber eine Art von Freude, die ich bisher nicht kannte.

Vielleicht ist das, was Dornek vom Unwillen seiner Eltern sagt, Schuld an der geheimen Bangigkeit, die sich in mein Wonnegefühl mischet. Ich danke 105 Ihnen, liebe Mutter, daß Sie mir diese Stelle seines Briefes nicht verhehlt haben: sie verwahret meine Phantasie vor allzukühnen Träumen, und mein Herz vor jener Trunkenheit der Hoffnung, die so oft täuschet. Sagen Sie dem guten Dornek ja nichts von meiner Unruhe: sie würde ihm seine Freude verderben. Lassen Sie ihn glauben, daß ich seine Hoffnung mit ihm theile; ganz wird er sich nicht irren, denn wenigstens fange ich nun an zu hoffen.

Heute war ich nicht dazu aufgelegt, Elisen meinen Stand zu entdecken. Es fehlte mir auch an einer günstigen Gelegenheit, oder wenn sie sich darbot, so habe ich sie nicht bemerkt. Aber Morgen, liebe Mutter, soll es gewiß geschehen. Fürchten Sie nichts von Elisens Unwillen; sie kann und wird nicht auf Sie zürnen. Wenn Sie gefehlt haben, so liegt ja die ganze Schuld des Fehlers an mir, und es wird mir nicht schwer seyn, Ihre Freundin davon zu überzeugen.

Leben Sie wohl, beste Mutter; übermorgen ein mehreres.

Hier meine Silhouette für unsere Frida; ich hatte sie bald vergessen.

 
Lina an Ebendieselbe.

Waldingen den 3ten Merz.

O meine Mutter, meine theure Mutter! Ich bin verloren. Dornek hat uns betrogen, schändlich 106 betrogen: er ist der Sohn meiner Beschüzer, der junge Sonnenstein.

Barmherziger Gott! was soll ich anfangen? Fliehen, fliehen. Aber wohin? wohin, als an den Busen meiner zweiten Mutter. O nicht wahr, Sie werden mir ihn nicht verschließen? Ich kenne nur zwo Freistätten: Ihr Haus oder das Grab. Ich kann die Feder nicht mehr halten; Morgen will ich es versuchen, meinen Brief fortzusezen.

Den 4ten Merz.

Ich habe nicht mehr Kraft, als gestern; dennoch zwang ich mich, beim Frühstük zu erscheinen. Elise erschrak über meine Todtenblässe; ich erdichtete eine Unpäßlichkeit: ach, ich erdichtete sie nicht. Alle meine Glieder sind zerschmettert. Ich will mich ermannen, denn ich darf die heutige Post nicht vorbeilassen; ich muß Ihnen, theure Mutter, die schauervolle Begebenheit erzählen.

Den ganzen Vormittag brachte der kränkelnde Obriste im Bette zu. Elise wich nicht von seiner Seite; ich konnte sie also zu meinem größten Glüke nicht allein sprechen. Nach Tische mußte ich dem guten Alten vorlesen: Elise saß am Fenster und arbeitete. Nach einer Weile unterbrach er mich: Geh, Mädchen, hole mir meine Dose; sie wird dort in der Kammer auf meinem Nachttische liegen.

Ich holte sie: zufälligerweise warf ich einen Blik auf das Gemälde des Deckels; es war Dorneks 107 Bild, nichts kann ähnlicher seyn. Ich ward wie vom Donner gerührt, und ließ die Dose fallen. Der Obriste hörte es: Alle Wetter! rief er, was machst du Schwindelkopf, was gilts, du hast das Porträt zerbrochen? Ich raffte die Dose von der Erbe auf, und wankte damit halb ohnmächtig in die Stube. Mit zitternder Hand übergab ich sie dem Obristen; er merkte nicht auf mich, er sah nur auf das Bild. Zum Glük ist es ganz geblieben, sagte er; sieh mal, Mädchen, das ist mein Sohn. Ich sah nichts; ein schwarzer Nebel fiel mir auf die Augen. Ich zitterte wie eine Missethäterin unter dem Schwerdte.

Elise sprang herbei: Um Gotteswillen, Lina, was fehlt dir? Sie faßte mich am Arme, eben da ich zu Boden sinken wollte, und führte mich auf den Sopha. Sei ruhig, mein Kind, es hat ja nichts zu bedeuten, sagte der Obriste. Schäme dich, für eine Soldatentochter bist du auch gar zu schrekhaft.

Elise hielt mir Salz vor, und als ich mich ein wenig erholt hatte, gab sie mir Tropfen ein, die mich allmählich zu rechte brachten. Geh nur auf dein Zimmer, und lege dich ein Stündchen aufs Bette, sagte die Gute, indem sie mir, wie jener stärkende Engel, den kalten Todesschweiß von der Stirne wischte.

Ich gehorchte willig; ach ich bedurfte der Einsamkeit! Ich hätte mich in den innersten Schoos der Erde verbergen mögen; ich warf mich auf mein Lager. Nun konnte ich weinen; eine Thränenfluth schwemmte 108 mein Kissen; meine Seufzer lüfteten mein armes gepreßtes Herz. Ich sank allmählich in einen Todesschlummer; aber auch im Todesschlummer fand ich keine Ruhe; der Grausame erschien mir; hohnlächelnd blikte er mich an, und wandte mir dann den Rüken zu. Ich schauerte auf; mein stockendes Herzblut wollte mich ersticken; ich sprang von meinem Bette, und lief in meinem Stübchen auf und nieder; mir ward besser. Ich sezte mich an mein Tischchen, und versuchte es an Sie, beste Mutter, zu schreiben. Ach, bei wem konnte ich sonst Schuz und Trost suchen! Ich konnte nicht schreiben. Ich kehrte auf mein Bett zurük; ich sage Ihnen nicht, was ich dachte, was ich fühlte; endlich bekam ich Kraft zu beten; ich ward ruhiger. Der Gedanke an den Allgegenwärtigen verscheuchte das Bild des Verführers, und erquikte meine Seele.

Nach einer Stunde kam Elise an meine Thür geschlichen; ich hörte sie und schloß auf. So mütterlich umarmte sie mich noch nie. Wie geht es, mein Kind? Mein Gemahl schikt mich, sagte sie zärtlich; es ist ihm herzlich leid, daß er dich so erschrekt hat. Ich küßte ihre Hand mit kindlicher Innbrunst. O es ist vorbei, gnädige Frau, erwiederte ich. Ihr Herr Gemahl hat keine Schuld. Was konnte er dafür, daß ich ein so schwaches Geschöpf bin.

Ich gieng mit ihr hinunter. Der gute Greis beschämte mich durch seine liebreichen Entschuldigungen. 109 Ich hätte mich erinnern sollen, sagte er, daß du schon neulich bei der Geschichte meines Roland halb ohnmächtig wurdest. Diese Worte waren mir wie eine Stimme vom Himmel; sie erinnerten mich an meine Mutter, und an den ruhigen Muth, womit sie den Kampf des Lebens kämpfte. Ich ermannte mich, und bot alle meine Kräfte auf, um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben. Elise, die meine Anstrengung bemerkte, unterstüzte mich, und so erreichte ich endlich das Ziel dieses langen schreklichen Tages.

Die ganze Nacht brachte ich auf einer glühenden Folterbank zu. Die Bilder der Vergangenheit und die Bilder der Zukunft wechselten, wie scheusliche Gespenster, in meiner Seele. Bei einem einzigen Gedanken konnte ich verweilen, bei dem Gedanken an meine Flucht. Gewiß, theure Mutter, werden auch Sie überzeugt seyn, daß ich dieses Haus verlassen muß, das für mich keine Freistätte mehr ist. Allein, wohin soll ich fliehen? Gestern war mein erster, einziger Gedanke: zu Ihnen, zu meiner zweiten Mutter. Diese Nacht aber habe ich die Schwierigkeiten erwogen, die sich diesem Entschluß in den Weg legen. Unter welchem Vorwande soll ich zu Ihnen zurükkehren? Mein Herz empört sich gegen eine heimliche Entweichung, die mich des schwärzesten Undanks gegen meine Wohlthäter verdächtig machen würde; denn die wahre Ursache meiner Flucht muß ihnen ewig verborgen bleiben.

110 Gesezt aber auch, ich wollte mich zu diesem mißlichen Schritt entschließen, und Sie, theure Mutter, wollten ihn begünstigen, wie lange könnte mein Aufenthalt bei Ihnen ein Geheimniß bleiben? Wenn dann Elise, wenn ihr unwürdiger Sohn ihn entdekte, was für zahllosen Verdrüßlichkeiten würde ich Sie, edle Freundin, und mich selber aussezen?

Nein, nein; ich kann, ich darf nicht zu Ihnen fliehen; ich muß mir den süßen Trost versagen, an Ihrem und an Friederikens Busen mein Schiksal zu beweinen.

Nichts bleibt mir übrig, als das Anerbieten meines Vaters anzunehmen, und mich in die dunkeln Mauren eines Klosters zu verschließen. O, warum hindert mich meine Religion, mich auf immer darein zu begraben! Es wird wohl noch ein Schlachtopfer der betrogenen Liebe verbergen, mit dem ich weinen kann. Ich will an meinen Vater schreiben; ich will ihn bitten, daß er mich zu sich berufe, und durch eine versicherte Person abholen lasse. Seinen Brief muß er so einrichten, daß ich ihn Elisen vorweisen kann. Ich werde ihr sagen, daß ich blos aus Pflicht und wider meinen Willen ihr Haus verlasse, ach! und ich werde nur allzuwahr reden.

Was sagen Sie zu diesem Plane, theure Mutter? Rathen Sie mir; Sie allein dürfen mein Anliegen wissen. Antworten Sie mir aber bald, denn wenn er, den ich nicht mehr nennen mag, hieher 111 käme . . . . Ha! sein bloßer Anblik würde mich tödten. Leben Sie wohl, und bedauren Sie Ihre unaussprechlich unglükliche

Lina.

 
Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen den 4ten Merz.

Schon wieder, liebe Molly, muß ich dich um eine Gefälligkeit bitten. Seit einiger Zeit bin ich nicht mit meinem Sohne zufrieden. Er hat Geheimnisse vor seiner Mutter, die sonst immer seine Vertraute war; er hat also Ursache, sich vor mir zu schämen. Für seine Sitten bin ich unbesorgt; ich kenne seine Grundsäze, er ist keiner Ausschweifungen fähig; allein es giebt Thorheiten, die leider oft so weit führen, als das Laster, und vor einer solchen Thorheit, liebe Freundin, mußt du mir ihn retten helfen.

Erkundige dich doch bei dem zuverlässigsten deiner Correspondenten, was mein Sohn in Strasburg für Familien besucht, und ob sich in diesen Familien keine Tochter befindet, die er auszeichnet? Du weißt, daß er seit ungefähr zwei Jahren in französischen Diensten ist, das deutsche Infanterie-Regiment N . . . unter dem er steht, liegt dort in Garnison, und es kann deinem Correspondenten nicht schwer seyn, ihn zu erfragen. Ich könnte zwar an meinen Neffen schreiben, der unter dem nämlichen Korps dient: 112 allein mein Gemahl will ihn nicht in den Fall sezen, zum Lügner oder zum Verräther zu werden. Du erkennst den ehrenfesten Rittersmann an diesem Zuge.

Mit unserer Caroline bin ich noch immer ungemein wohl zufrieden. Es ist ein reizendes Geschöpf, dessen Gesellschaft mir schon manche trübe Stunde aufgeheitert hat. Meinem Gemahl hat sie sich bereits unentbehrlich gemacht, und wenn er zwanzig Jahre jünger wäre, so wär' ich schon oft über die kleine Zauberin eifersüchtig geworden. Ihren Liebhaber scheint sie noch nicht vergessen zu haben. Bisweilen wandelt sie eine stille Schwermuth an, die sie mir vergebens zu verbergen sucht, welche ich aber nicht zu bemerken scheine. Es wundert mich gar nicht, daß sie in einem jungen unverdorbenen Herzen eine schwärmerische Leidenschaft anfachen konnte, und wenn der Unterschied des Standes nicht wäre, so wüßte ich nicht, was seine Eltern, zumal, wenn sie vermögend sind, abhalten sollte, seine Wahl zu billigen.

Ich selbst habe mir schon oft eine solche Schwiegertochter gewünscht, so sehr es mich bekümmern würde, wenn mein Sohn an Dorneks Stelle wäre; und dennoch würde ich auch alsdann ruhiger seyn, als ich es jezt bin.

Das liebe Mädchen machte mir gestern für ihre Gesundheit bange! heute befindet sie sich aber wieder 113 besser. Die Ursache ihrer Unpäßlichkeit wird sie dir vermuthlich selbst erzählen.

Lebe wohl, liebe Molly, ich entschuldige mich nicht, daß mein Vertrauen zu dir so grenzenlos ist, als meine Freundschaft.

 
Madam Müller an Frau von Sonnenstein.

Mannheim den 7ten Merz.

Ich brauche nicht erst nach Strasburg zu schreiben, edle Freundin, um Ihre Anfrage zu beantworten. Ihr Herr Sohn hat wirklich eine geheime Liebschaft, und der Gegenstand derselben ist . . . unsere Lina. Er hat sie und mich unter dem falschen Namen Dornek hintergangen. Dieses war ihm um desto leichter, da ich ihn, wie Sie wissen, seit seiner Kindheit nicht gesehen habe.

Sie können nicht mehr über diese Entdekung erstaunen, als ich darüber erstaunt bin. Lina selbst hat sie gemacht. Sie hat das Bild ihres Liebhabers auf der Dose Ihres Herrn Gemahls erkannt. Das arme Mädchen ist in Verzweiflung, und will aus Ihrem Hause entfliehen. Diese Entdeckung war Schuld an der plözlichen Uebelkeit, die sie überfiel, und die Sie, gnädige Frau, einem weit unbedeutendern Schrecken zugeschrieben haben.

Doch ich habe Ihnen noch ein anderes Geheimniß zu eröfnen, dabei ich Ihrer ganzen Nachsicht bedarf. Ich habe Ihnen den wahren Namen unserer Lina 114 verborgen: sie ist ein Fräulein von Saalen. Vergeben Sie mir, edle Freundin, diese Verheimlichung, die ich dem unglüklichen Mädchen auf das Heiligste angeloben mußte. Ohne sie würde sie die Stelle als Kammerjungfer bei Ihnen nicht angenommen haben, und ich wollte die arme Verlassene der Freistätte nicht berauben, die Sie ihr anboten. Sie sah den Vorzug nicht voraus, den Sie ihr als einer Bedienten einräumen würden, und glaubte die Verheelung ihres Standes ihrem Vater schuldig zu seyn; zu diesem will sie nun fliehen. Seine Sache bei dem Regiment ist beigelegt, seine Ehre ist gerettet, und er ist wieder als Hauptmann angestellt. Er hat noch seinen Vater, der ihn aber wegen einer Mißheirath enterbte, davon unsere Lina die einzige unglükliche Frucht ist. Sie trägt bei Ihnen den Namen ihrer Mutter, und dieser Name muß Ihrem Herrn Gemahl theuer seyn; denn diese Mutter war die Tochter eben des Majors Roland, dessen Geschichte das arme Mädchen so sehr erschüttert hat. Von jenem Augenblike an suchte sie nur eine Gelegenheit, sich Ihnen zu erkennen zu geben, und vermuthlich wäre es an eben dem Tage geschehen, da sie die unglükliche Entdekung machte, die ihr den Mund auf immer verschloß.

Lassen Sie sich, gnädige Frau, ja nicht gegen sie merken, daß Sie um ihre Geheimnisse wissen. Dieser bloße Gedanke wäre hinreichend, sie aus Ihrer Gegenwart zu verbannen, und wir müssen das arme 115 Kind vor einem Schritte der Verzweiflung bewahren. Von ihrer Liebe haben Sie nichts zu fürchten. Sie wissen, wie edel sie sich gleich anfangs dabei benahm, und nun ist sie zu sehr, und mit zu vielem Rechte gegen Ihren Herrn Sohn aufgebracht, um nicht alle ihre Kräfte aufzubieten, ihn aus ihrem Herzen zu verbannen. Nur müssen Sie ihre Bemühungen dadurch unterstüzen, daß Sie den unbesonnenen und allzu gefährlichen Jüngling von dem väterlichen Hause zurükhalten.

Ich sende Ihnen meine Antwort an Lina offen zu, es wird Ihnen leicht seyn, sie mit einem unkenntlichen Pettschaft zu versiegeln. Leben Sie wohl, meine großmüthige Freundin, und vergeben Sie mir einen Fehler, den ich blos in der Absicht begieng, um Ihrem edeln Herzen eine Gelegenheit zum Wohlthun zu verschaffen, und dessen Folgen ich nicht voraussehen konnte. Doch, wenn ich sie auch vorausgesehen hätte, so würde ich Ihnen ja nicht besser haben dienen können, als wenn ich den Gegenstand Ihrer Besorgnisse Ihrer eigenen Aufsicht anvertraute. Ich bin u. s. w.

 
Madam Müller an Lina.

Mannheim den 7ten Merz.

Ich bin zu heftig erschüttert, meine Lina, und zu tief gerührt, als daß ich Ihnen viel schreiben könnte. Allein mein Kummer um Sie, liebes Kind, hindert mich nicht, Ihre Lage reiflich zu erwägen, 116 und Ihnen das Beste zu rathen. Bleiben Sie an Ihrem Posten; wo könnten sie eine sicherere Freistätte finden? Was wollen Sie in Brüssel, in einem Lande des Aufruhrs und der Zwietracht thun, das im Begriff ist, ein Schauplaz der Verheerung zu werden? Was wollen Sie in einem Kloster thun, wo Sie vielleicht nicht eine verwandte Seele antreffen, und wohl gar dem lästigen Eifer der Bekehrungssucht ausgesezt seyn würden?

Nein, meine Lina, Sie müssen in Waldingen bleiben, in Waldingen, wo man Sie schäzt und liebt, und, das kann ich Ihnen heilig versprechen, immer mehr schäzen und lieben wird. Was haben Sie dort zu fürchten? Unter dem Dache Ihrer edeln Beschützer, das Sie ja selbst zum Zufluchtsort gegen Ihren Liebhaber wählten, sind Sie weit besser aufgehoben, als in meinen Armen.

Er weiß Ihren Aufenthalt nicht, und soll ihn weniger, als jemals erfahren; und, wenn er ihn auch ausspähete, glauben Sie, daß er die Frechheit haben würde, Sie bis in den Schoos seiner Eltern zu verfolgen, deren Unwillen er mit so vielem Rechte fürchten muß? Nein, meine Lina, weder seinen Eltern, noch Ihnen wird er es wagen, unter die Augen zu treten; denn ich werde ihm melden, daß sein Betrug entdekt ist, und daß Lina kein anderes Gefühl mehr für ihn haben kann, als tiefe Verachtung.

Seyen Sie also unbesorgt, meine Tochter, und bleiben Sie ihrem schönen Berufe getreu, den ein 117 offenbarer Wink der Vorsicht Ihnen angewiesen hat. Sie führt Sie auf einem unerforschlichen dornenvollen Pfade; allein auch jezt noch wiederhole ich Ihnen die Versicherung, daß sie am Ende Ihre Tugend krönen muß. Ich würde diese Tugend beleidigen, und den edeln Stolz Ihres Herzens miskennen, wenn ich für nöthig hielte, es zu einem Opfer zu stärken, das ihm zwar Schmerzen, aber keinen Kampf kosten wird.

Erinnern Sie sich des Augenbliks, da Sie die Standhaftigkeit hatten, die Hand des jungen Schmeichlers auszuschlagen, ob Sie gleich ihn damals noch schäzten. Jezt, da Sie ihn nicht mehr schäzen können, muß es Ihnen leichter seyn, den Namen der jungen Heldin zu rechtfertigen, den ich Ihnen damals mit Thränen der Bewunderung beilegte.

Heil Ihnen, Lina! Sie sind zu einer großen That aufgefordert; der Geist Ihrer verklärten Mutter beobachtet Sie; ihr Beifall wird Ihren Sieg belohnen: Ich drüke Sie in ihrem Namen an mein Herz, das ihre Gefühle für ihre Lina geerbt hat.

 
Madam Müller an den Lieutenant von Sonnenstein.

Mannheim den 8ten Merz.

Schon aus der Aufschrift meines Briefes, mein Herr, werden Sie ersehen, daß ihr Betrug entdekt, und unsere Correspondenz geendigt ist. Sie hatten Recht, daß Sie mir einen Namen verheelten, den Sie entweihen. Lina weiß alles; in diesem Worte 118 liegt Ihr Urtheil. Ich erspare Ihnen alle Vorwürfe: ersparen Sie mir die Mühe, Ihnen alle Ihre Briefe uneröfnet zurükzusenden.

M. Müller.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 9ten Merz.

Meine Pflegemutter hat Recht: ich muß hier bleiben. Hier habe ich niemand zu fürchten, als mein Herz. Armes Herz! wann wirst du aufhören zu bluten? Schmerzen, sagt sie, aber keinen Kampf wird es mich kosten, ihn zu vergessen; ja wohl Schmerzen, unaussprechliche Schmerzen kostet es, den zu vergessen, den man geliebt hat, doch nicht nur vergessen, verachten soll ich ihn. Verachten? Ja, Lina, verachten, er hat dich ja hintergangen. Was anders, als eine strafbare Arglist konnte ihn bewegen, sich unter einem falschen Namen in dein Herz einzuschleichen?

Gott! in welchen Abgrund wäre ich gesunken, wenn ich seinem ersten Antrage Gehör gegeben hätte. Jezt würde der Fluch und die Rache seiner Eltern mich verfolgen, in deren Schooße ich Schuz und Trost finde. Nun erst fühle ich, was es mich kosten würde, diese treflichen Menschen zu fliehen. Mit welcher liebreichen Unruhe ist Elise für meine Gesundheit besorgt? In welchem Vatertone, fragte ihr Gemahl mich noch diesen Morgen, wie ich geschlafen habe?

Nein, Lina, du darfst diesen Tempel der Tugend nicht verlassen. Hier allein findest du Ruhe, 119 wenn du sie finden kannst; und warum solltest du sie nicht finden? Was hast du dir vorzuwerfen? Du bist ja deinem Gelübde getreu geblieben, du warst schwach, aber nicht strafbar. Unbeflekt ist der Mantel deiner Unschuld; hülle dich darein, Lina, und hebe deine Augen empor: siehst du nicht, wie die Wolke sich verdünnet, die dir die Sonne verbarg? Schon brechen ihre Strahlen hindurch; bald werden Sie bis in dein Herz dringen.

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 10ten Merz.

Wie sehr, verehrungswürdige Freundin, rechtfertigen Sie den Mutternamen, den mein Herz Ihnen beilegte! Welch ein anderer könnte Ihnen seine Gefühle ausdrüken!

Ihre Antwort war mir eine himmlische Stimme, die mich aus meiner Ohnmacht aufwekte, und mich stärkte in meinem Kampfe. Denn, mit Erröthen gestehe ichs Ihnen, kämpfen mußte ich mit dem Feinde, der, Sie wissen es ja, sich in einer so einnehmenden Gestalt meines Herzens bemächtigt hatte. Ohne ihn zu verachten, höre ich auf, ihn zu fürchten.

Ich bleibe hier, liebe Mutter; Ihre Gründe haben mich überzeugt. Ich fliehe nicht, und fange an, mich zu schämen, daß ich fliehen wollte. Doch nicht blos Ihrem mütterlichen Rathe verdanke ich meinen Entschluß: das liebreiche Betragen meiner Beschüzer mußte hinzukommen, um mich vollends zu entscheiden.

120 Seit jener schreklichen Scene scheint ihre Liebe zu mir sich zu verdoppeln: sie haben ganz vergessen, daß ich blos ihre erste Magd bin, und beeifern sich um die Wette, es auch mich vergessen zu lehren. Der gute Greis hält sich für die Ursache meines gehabten Schreckens, und bietet sein ganzes Herz auf, um den Eindruk desselben aus meinem Gemüthe zu vertilgen. Auch Elise überhäuft mich mit ihren mütterlichen Liebkosungen; ihr Lächeln ruft den Frieden in meine Seele zurük. Oft glaube ich das Antliz eines Engels zu sehen. Allein, wie ist's möglich, liebe Mutter, daß Ihnen eine gewisse Aehnlichkeit nicht auffiel? Sie wissen, was ich gleich Anfangs meiner Frida schrieb, daß ich Elisen schon gesehen zu haben glaube, daß ihr Bild in irgend einem dunkeln Winkel meiner Seele verwahrt liege. Ach! nicht ihr Bild, ihr Ebenbild war es, das mir vorschwebte, und das ich auf der fatalen Dose wiederfand. Ich habe mich heute in meiner Ueberzeugung bestärkt. Ich las dem Obristen vor; die Dose stand vor ihm auf dem Tische: ich hatte den unseligen Muth, einen Blik darauf zu werfen. Plözlich kam mich ein Zittern an; die Zeitung flatterte in meiner wankenden Hand, die Buchstaben verschwanden, ich mußte inne halten. Zum Glüke war Elise nicht zugegen, und der Obriste konnte wegen seines kurzen Gesichts meine Verwirrung nicht bemerken. Wenigstens fragte er mich nicht, was mir fehlte, ob er 121 mich gleich steif ansah. Ich raffte alle meine Kraft zusammen, und zwang mich fortzulesen. O nie, nie werde ich das furchtbare Gemälde wieder ansehen.

Wir hatten den Pfarrer und den Vikar wieder zu Gaste; es war mir recht wohl in dieser Gesellschaft. Der schäzbare junge Mann unterhielt mich lange über literarische Gegenstände; er hat Elisen verschiedene neue Werke empfohlen, auf die ich mich freue. Während wir von Büchern sprachen, hat der Obriste sich lange mit seinem alten Freunde in seinem Cabinet allein unterhalten. Als sie zurükkamen, mischte sich der Pfarrer in unser Gespräch, und richtete das Wort mehrentheils an mich. Er muß mit mir zufrieden gewesen seyn, denn beim Weggehen drükte er mir väterlich die Hand, und sagte: Gott segne Sie, liebes Kind. Ich war bis zu Thränen gerührt, und hätte ihm um den Hals fallen mögen.

Welch' eine Seeligkeit ist es, von guten Menschen geliebt zu seyn. Nie empfindet mein Herz diese Seligkeit lebhafter, als wenn es sich mit Ihnen, beste Mutter, und mit meiner Frida beschäftigt.

 
Frau von Sonnenstein an Mad. Müller.

Waldingen den 11ten Merz.

Ich vergebe dir, liebe Molly, deine Sünde, weil ich ohne sie eins der edelsten Geschöpfe Gottes nicht kennen würde. Dein Brief an das herrliche Mädchen ist deiner würdig; wir haben ihn mit der innigsten Rührung gelesen. Mein Gemahl fühlt mit mir, 122 wie kräftig du mitgewirkt hast, unsern Sohn vor einem Schritte zu bewahren, der alle unsere übrigen Tage vergiftet haben würde.

Doch so mächtig uns auch die Entdekung überraschte, in unserer Lina die ungenannte Geliebte zu finden, die der junge Abentheurer mir mit so hohen und dennoch treuen Farben schilderte, so war doch das Erstaunen des guten Obristen noch größer, als er in ihr die Enkelin eines Helden entdekte, dessen Andenken er abgöttisch verehrt; er muß sich alle Gewalt anthun, um ihr den Eindruk zu verbergen, den diese Entdekung auf sein Herz gemacht hat, und er zürnet bisweilen auf das allzuschüchterne Mädchen, daß es jenen so günstigen Augenblik, sich ihm zu erkennen zu geben, unbenuzt vorbeilassen konnte. Doch es wird sich schon ein Anlaß finden, ihr ihr Geheimniß zu entreissen, ohne dich, liebe Molly, dem Verdacht auszusezen, es verrathen zu haben.

Es ist mir unendlich lieb, daß die Ehre ihres Vaters gerettet ist; mein Gemahl wird sich nun nicht mehr erlauben, in ihrer Gegenwart auf ihn zu schelten. Er kennt die Familie von Saalen; er entschuldigt die Strenge des Vaters gegen seinen Sohn, ohne seine Härte gegen seine unschuldige Enkelin zu billigen. Doch, sagte er gestern: wenn er das brave Mädchen kennte, so müßte er ein Teufel seyn, wenn er sie nicht liebte. Uebrigens soll er die Ehre nicht haben, sie zu versorgen; das ist meine Sache.

123 Du siehst, liebe Molly, daß Lina keine Ursache hat, unser Haus zu verlassen. Wenn meine Beobachtungen mich nicht trügen, so ist sie entschlossen, deinem Rathe zu folgen. Sie scheint mir ziemlich beruhigt zu seyn; suche du sie nur immer in ihrem Entschlusse zu bestärken. Ich gebe dir dagegen mein Wort, daß Carl ihren Aufenthalt nicht erfahren und ohne dein Vorwissen die väterliche Schwelle nicht betreten soll; dafür ist bereits gesorgt. – Uebrigens wirst du es einer Mutter nicht verargen, wenn es sie schwer ankömmt, ihren Sohn einer Niederträchtigkeit fähig zu halten: die Zeit wird alles aufklären.

Lebe wohl, liebe Molly. Mein Gemahl grüßt dich herzlich, er ist so sehr dein Freund, als ich deine Freundin.

Elise.

 
Der Hauptmann von Saalen an Lina.

Den 12ten Merz.

Dein Brief, liebe Tochter, hat mich über allen Ausdruk gerührt. Eine Geschäftsreise nach Holland hat mich gehindert, ihn früher zu beantworten. Der Zufall, oder eigentlicher zu reden, der Himmel hat dich besser versorgt, als ich dich versorgen kann. Bleibe, liebes Kind, in der stillen Freistätte, die er dir aufgeschlossen hat; sie ist weit angenehmer und weit sicherer, als die, welche ich dir anbot.

Ich behalte mir vor, deinen edelmüthigen Beschüzern schriftlich für ihre Güte zu danken. 124 Gegenwärtig finde ich es noch unnöthig, zumal da ich nicht weiß, ob du dich ihnen entdekt hast. Ist es nicht geschehen, so laß es noch anstehen; du würdest nichts dabei gewinnen, und sie nur in Verlegenheit sezen. Vielleicht treten bald Umstände ein, die mir Anlaß geben, ihnen persönlich meinen Dank zu bezeugen.

Ich erhalte so eben Briefe, die mir den Tod meines Stiefbruders ankündigen; allein mein Freund meldet mir, daß es noch nicht Zeit sei, mit meinem untröstlichen Vater von Gerechtigkeit zu sprechen. Wenn er nicht gerecht gegen dich seyn will, so wird es die Vorsehung seyn.

Lebe wohl, bestes Kind, und schreibe mir bald wieder. Ich bin mit der zärtlichsten Liebe,

Dein treuer Vater    
Friederich von Saalen.

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 16ten Merz.

Erschrecken Sie nicht, liebe Mutter, über meine unförmliche Handschrift. Ich schreibe Ihnen mit verbundenen Armen, und bin noch stolzer auf meine Wunden, als Vater Sonnenstein auf seine Narben. Hören Sie nun, wie ich zu diesen Ehrenzeichen kam.

Seit vorgestern litt der Obriste ziemlich stark an einem Podagra. Dennoch wollte er nicht im Bette bleiben, zwei Bedienten mußten ihn jeden Morgen 125 in seinem Rollstuhl ans Kaminfeuer schieben. Gestern nach Tische rauchte er sein Pfeifchen. Die Sonne strahlte lieblich durch die Fenster; Elise schlug mir einen kleinen Spaziergang in den Garten vor, um der heitern frischen Luft zu genießen. Der Obriste selbst munterte mich dazu auf. Ich folgte ihr; im Vorbeigehen befahl Elise dem Jäger, sich bis zu unserer Rükkunft zu seinem Herrn zu begeben. Der Mensch gehorchte; allein der Obriste sagte ihm, er habe ihn nicht nöthig, und schikte ihn fort.

Wir giengen ein halbes Stündchen im Garten umher; dann blieb Elise beim Gärtner stehen, der ein Beet umstach. Ich verließ sie, um zu ihrem Gemahl zurükzukehren: mir war, als ob mich jemand mit Gewalt fortrisse. Im Vorgemach hörte ich den Obristen mit erstikter Stimme dem Jäger rufen; ich stürzte in das Zimmer. Welch ein Anblik! Der Schlafpelz des guten Alten brannte lichterlohe, und weil er den Stuhl nicht verlassen konnte, bemühte er sich umsonst die Flamme zu löschen. Ich riß meinen Schwal vom Nacken, warf mich auf die Kniee, und suchte das Feuer mit dem Tuche zu ersticken. Ich verbrannte mir beide Arme; aber ich fühlte nichts, und in zwo Minuten war die Flamme gedämpft.

Die Angst hatte mir die Kraft benommen, die Leute zu rufen: nun lief ich nach der Thür, eben da Elise sie öffnen wollte. Meine Todengestalt und der Rauch, der ihr entgegen drang, entdekten ihr 126 alles: sie schrie um Hülfe, und lief mit mir zu ihrem Gemahl. Er hatte sich von seinem Schrecken erholt: Sei ruhig, Liebe, sagte er, der Spuk ist vorbei; diesem guten Engel da habe ich mein Leben zu danken.

Indessen kamen die Bedienten herbei gelaufen: der Obriste ward ausgekleidet, und zu Bett gebracht. Zum Glük ist er nur an dem einen Schenkel beschädigt; seine Pelzstiefel haben ihm die Beine geschüzt. Ich stand am Fuße des Bettes; nun erst sah mich Elise: ach Lina, vergieb mir, stammelte sie, indem sie mich weinend an ihr Herz drükte. In diesem Augenblicke trat der Wundarzt herein, und näherte sich dem Bette. Mein Freund, sagte der edle Greis, seh' er zuerst nach dem lieben Mädchen hier. Ich hatte bisher meine Arme zu verbergen gesucht; ich reichte sie dem Wundarzte dar; sie waren glühendroth. Elise stieß einen Schrei aus. Dachte ichs doch, sagte der Obriste, denn sie wühlte in den Flammen, wie ein Feuerwerker. Herr, kurier er mir das Mädchen radikaliter, versteht er mich? Man darf ihr nichts ansehen: für jeden ihrer Arme kriegt er noch so viel, als für meinen Schenkel. Ich mochte mich sträuben, wie ich wollte, ich mußte mich vor ihm verbinden lassen.

Vermuthlich, liebe Mutter, haben Sie mich in Gedanken schon mehrmals unterbrochen, um nach der Ursache dieses Unfalls zu fragen. Der Obriste, der sie allein wissen könnte, weiß sie nicht. Als er 127 geraucht hatte, rükte er mit seinem Rollstuhle näher zum Kamin, und entschlummerte. Wahrscheinlich ergriff das Feuer seinen Schlafpelz, und er erwachte erst im Augenblicke, da er es nicht mehr dämpfen konnte. Dem Himmel sey Dank, daß er mit der bloßen Furcht davon kam!

Den 17ten.

Unsere Wunden gehen gut; in acht Tagen verspricht mir der Wundarzt die völlige Heilung. Keine Narben, nur ein halbes Duzend Brandflecken werde ich davon tragen, die sich aber auch nach und nach verlieren sollen.

Der Obriste hat schon wieder sein Bett verlassen; der gute Greis hört nicht auf, mich mit seinen Lobsprüchen zu beschämen. Gestern besuchte uns der Pfarrer. Sobald er ihn erblikte, rief er ihm zu: vor allen Dingen, lieber Pastor, küssen Sie mir das Mädchen da! ohne sie würde ich das Schiksal des armen Königs Stänzels gehabt haben. – Sie werden sich erinnern, liebe Mutter, daß ein ähnlicher Unfall diesen edlen Fürsten das Leben kostete. Von nun an, fuhr der Obriste fort, lege ich einen Beschlag auf das Mädchen; ich lasse sie nicht mehr von meiner Seite, und wenn der Kaiser Joseph bei mir einkehrte, so würde ich zu ihm sagen: Majestät, dieses Mädchen ist meine angenommene Tochter; sie speist mit uns. Dann würde ich ihm ihre That 128 erzählen, und Kaiser Joseph würde sagen: Recht so, Alter, du hast ein Herz unter der Jacke.

Elisens Liebe äußert sich auf eine nicht minder rührende Weise. Jedesmal wohnt sie meinem Verbande bei, und ermahnt den Wundarzt zur sorgfältigsten Achtsamkeit. Oft, wenn wir allein sind, sieht sie mich einige Minuten mit unaussprechlicher Güte an, und schließt mich dann in ihre Arme. Heute gab sie mir einen prächtigen Schwal, um mir, wie sie sagte, meinen Verlust zu ersezen. Zu gleicher Zeit bot sie mir einen sehr reichen Beutel an: es ist meine Arbeit, du wirst ihn nicht ausschlagen. Er enthält den ersten Termin meiner Schuld: du bist schon über einen Monat bei uns. Ich nahm das viele Gold heraus, legte es auf den Tisch, und stekte den Beutel in meinen Busen. Mein Vater hat mich mehr als hinlänglich mit Gelde versehen; Sie haben mich vergessen gelehrt, daß ich Ihre Bediente bin; haben Sie die Großmuth, gnädige Frau, mich nicht mehr daran zu erinnern. Pfui Teufel, rief der Obriste aus seinem Rollstuhle; was hast du da für ein Wort ausgesprochen? Laß michs nie wieder hören. Gieb mir das Geld, Frau, ich wills in ihre Sparbüchse legen: eine Tochter darf ja wohl eine Sparbüchse haben.

Den 18ten.

Dank, liebe Mutter, für den Brief meines guten Vaters. Lesen Sie ihn; es freuet mich sehr, daß 129 er mir anräth, hier zu bleiben; es würde mir mehr, als jemals schwer fallen, dieses Haus zu verlassen; aber freilich habe ich auch mehr, als jemals Ursache, mit der Entdeckung meines wahren Namens zurükzuhalten. Wenn mein Vater erst alle meine Gründe wüßte!

Im Sturme der vergangenen Tage dachte ich nur wenig an den Störer meiner Ruhe; nun aber fange ich wieder an zu fühlen, daß ich ihn noch nicht vergessen habe. Gott, wie ists möglich, daß er der Sohn solcher Eltern seyn kann! Noch haben sie seinen Namen nie in meiner Gegenwart ausgesprochen; sie müssen sehr unzufrieden mit ihm seyn; ach, und ich bin die Ursache ihres Kummers! doch ich habe ja auch Kummer, aber wohl mir, daß ich mir nichts vorzuwerfen habe.

Mein Großvater trauert nun auch; ich kann nicht ohne Wehmuth an ihn denken. Wie schreklich muß sein Zustand seyn, wenn die Bahre seines Sohnes ihm die Bahre meiner Mutter ins Gedächtniß ruft; wenn er sich erinnert, daß sie zu seinen Füßen lag, und daß er sie von sich stieß; daß er ihr und dem unschuldigen Kinde fluchte, das sie unter ihrem Herzen trug! Er weiß nicht, daß sie ihm vergab, daß sie auf ihrem Sterbebette für ihn betete, und auch ihr Kind ermahnte, für ihn zu beten.

Ich zweifle, daß die Hoffnung meines Vaters eintreffen werde. Seine Stiefmutter ist noch 130 unversöhnlicher, als der blöde Greis, den sie belagert hält, und ihr Eigennuz kennt keine Gränzen. Die Elende! das Herz ihres Gefangenen, nicht sein Gold ist es, wonach wir streben.

Meine Hand ist müde zu schreiben, und es ist Zeit, daß ich meinen Brief schließe, wenn er nicht zum Buche werden soll. Leben Sie wohl, liebe Mutter; meine Arme sind mit Binden umwunden, aber sie können dennoch Sie, und meine Schwester an mein Herz drücken.

 
Der Lieutenant von Sonnenstein, an Madam Müller.

Straßburg den 18ten Merz.

Sie haben mir allen Briefwechsel mit Ihnen untersagt, Madam, und glaubten es thun zu müssen, weil Sie mich für einen heuchlerischen Verführer hielten. Ich tadle Ihre Strenge nicht; der Schein war gegen mich: allein diese Strenge würde zur Ungerechtigkeit werden, wenn Sie sich noch länger weigerten, meine Rechtfertigung anzuhören.

Lesen Sie dieses Blatt, das ich mich gezwungen sehe, Ihnen durch eine List in die Hände zu spielen, und wenn sie es gelesen haben, so sprechen Sie mir mein Urtheil. Ihr Verdacht gegen meine Redlichkeit stüzt sich vornehmlich auf den Umstand, daß ich mich unter einem fremden Namen in Ihr Haus eingeschlichen habe. Allerdings war dieser Name erborgt; allein meine Wirthin kann Ihnen sagen, daß ich in 131 ihrem Gasthofe nie einen andern trug. Acht Tage vor dem Hauptmanne kam ich unter diesem Namen in Mannheim an, und erst dort lernte ich ihn und seine Tochter kennen. Dieses wissen Sie aus Carolinens Munde; ich kann also nicht in der Absicht, sie zu betrügen, den fremden Namen angenommen haben.

Meine Eltern wissen, und halb Straßburg weiß, daß eine Ehrensache mich nöthigte, mich auf einige Wochen zu verbergen: was aber niemand wissen durfte, war der Ort meines Aufenthalts. Daher entlehnte ich einen fremden Namen; daher ließ ich alle meine Briefe an meine Eltern über Straßburg laufen. Wenn Sie mir einwenden, daß ich für Sie und für Carolinen das Inkognito hätte ablegen sollen, so kann ich Ihnen darauf antworten, daß es unfehlbar geschehen wäre, wenn ich nicht, unmittelbar nach meinem ersten Besuche, Ihre genaue Bekanntschaft mit der Herbornischen Familie, zufälligerweise von meiner Wirthin erfahren hätte. Gestehen Sie mir, Madam, daß Sie Sich schwerlich würden erlaubt haben, das Geheimniß meines Aufenthalts und meiner Liebe meinen Eltern zu verhehlen. Gleichwohl war mir an diesem Geheimniß alles gelegen, und wenn Sie sich meiner ersten Unterredung mit Carolinen erinnern, so brauche ich Ihnen hier meine Gründe nicht zu wiederholen.

Als das edle Mädchen meine Hand ausschlug, 132 offenbarte ich meinen Eltern zwar meine Liebe; allein den Gegenstand derselben erlaubte ich mir nicht, ihnen zu nennen, und noch beschwöre ich Sie, Madam, dieses Geheimniß heilig zu verwahren, wenn Sie nicht das arme Kind unsäglichen Verdrießlichkeiten aussezen wollen.

Nun, Madam, habe ich Ihnen zwar nicht alles, aber doch das Wichtigste gesagt, was ich zu meiner Vertheidigung sagen konnte. Finden Sie meine Rechtfertigung gegründet, – und die Achtung, die Sie mir eingeflößt, erlaubt mir nicht daran zu zweifeln, – so überlasse ich es Ihrem Zartgefühl, zu entscheiden, ob es billig, ob es gerecht wäre, Ihre und meine Lina in einem Verdachte zu lassen, der meiner Ehre und meiner Liebe gleich nachtheilig ist.

Sollte ich mich in meiner Erwartung irren, so wird sie dennoch über kurz oder lang erfahren, wer von uns beiden sie hintergangen hat: denn ich wiederhole es Ihnen, mit dem heiligsten Schwure, daß keine irdische Macht mich von ihr trennen, oder mich hindern soll, endlich ihren Aufenthalt auszuforschen. Diese Gesinnungen müssen bei Ihnen, Madam, und bei Ihrer liebenswürdigen Tochter den Umweg entschuldigen, den ich gebraucht habe, um Ihnen einen Irrthum zu benehmen, der mir mein ohnehin martervolles Daseyn zur Hölle 133 gemacht hat. Rauben Sie mir das Recht nicht, mich noch immer mit vorzüglicher Achtung zu nennen,

Ihren verbundensten
C. von Sonnenstein.

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 20sten Merz.

O, liebe Mutter, was für ein abscheuliches Ding ist es um die Verstellung! Ich habe die meinige theuer bezahlt. Hören Sie, was mir diesen Morgen begegnete: Ich saß mit Elisen ganz traulich am Theetisch, und machte wieder zum erstenmal dem Obristen sein Frühstük zurechte, als dieser zu mir sagte: Hör mal, liebes Mädchen, du mußt mir die Adresse deines Vaters geben: ich will ihm zu seiner braven Tochter gratuliren. Denken Sie Sich meinen Schrecken. Ach gnädiger Herr, erwiederte ich stammelnd, gehen Sie sich diese Mühe nicht; ich habe meinem Vater bereits gemeldet, wie viele Güte Sie für mich haben. Ey was! versezte er, ich will selbst an ihn schreiben: nicht von mir, von dir will ich mit ihm reden. Ich stand wie eine Bildsäule vor ihm; dennoch verlor ich die Besinnung nicht: ich bin ihm ohnehin eine Antwort schuldig, gnädiger Herr, Sie dürfen mir nur Ihren Brief zustellen. – Dahinter stekt was; Mädchen, du stehst da, wie eine arme Sünderin.

Elise schwieg; aber sie warf mir einen 134 mitleidigen Blik zu, der mich außer aller Fassung brachte. Ich sank dem Obristen zu Fuße: ach, gnädiger Herr, vergeben Sie mir! – Was zum Henker ist das? was soll ich dir vergeben? Ich zitterte, als ob alle meine Glieder sich ablösen wollten. O vergeben Sie mir; ich habe Ihnen meinen wahren Namen verhehlt: ich heiße Saalen. – Dacht' ichs doch, daß du ein böses Gewissen haben mußt. Saalen? Von Saalen, willst du vielleicht sagen? – Ach ja, erwiederte ich weinend: diesem unglüklichen Von glaubte ich meine Zurükhaltung schuldig zu seyn.

Ich lag noch immer auf den Knieen. Der gute Greis schloß mich in seine Arme. Lose Betrügerin, sprach er mit der innigsten Zärtlichkeit; ich will nicht untersuchen, ob du Recht thatest. Anfangs wohl, das gebe ich zu; allein du hast mir einen verteufelten Streich gespielt. Du bist ein Fräulein, und ich ließ dich drei Tage lang mit meinen Leuten essen; dafür bin ich dir Satisfaction schuldig. – Nicht doch, gnädiger Herr; lassen Sie mir meinen angenommenen Namen; es ist der Name meiner Mutter, meines Großvaters, des Majors Roland, dessen Andenken Ihnen so werth ist. – Des Majors Roland! rief er; du, seine Enkelin, Du! und auch das hast du mir verschwiegen. Kleine Hexe! ich weiß nicht, ob ich dich prügeln oder küssen soll. – Küssen, lieber Mann, sagte Elise, die bisher eine bloße Zuschauerin war; sie hat wahrlich genug gebüßt, und nun 135 umarmte auch sie mich mit einer Wärme, die ein himmlischer Balsam für mein erstarrtes Herz war.

Ich wollte noch einige Worte zu meiner Entschuldigung vorbringen. Der Obriste unterbrach mich: Kein Wort mehr, du Schalk! ich weiß genug, und kann das Uebrige errathen: gieb mir die Adresse deines Vaters. Ich gab sie ihm, und werde morgen auch schreiben; gewiß wird er meinen Schritt nicht mißbilligen. So fürchterlich der Augenblik war, so hat er mir doch einen schweren Stein vom Herzen gewälzt.

Auch für Sie, liebe Mutter, bin ich froh, daß das Bekenntniß abgelegt ist: weder der Obriste, noch Elise haben Ihrer bei dieser Unterredung erwähnt. Vermuthlich glauben sie, daß ich auch Ihnen meinen Stand verhehlet habe. Hier muß ich abbrechen, liebe Mutter, weil ich noch nach Brüssel schreiben will. Leben Sie wohl! u. s. w.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 21sten Merz.

Ich habe meiner Pflegemutter nicht alle Umstände des gestrigen Auftritts erzählen können. Als ich dem Obristen die Adresse meines Vaters zustellte, las er sie laut, und sagte dann lachend zu mir: du weißt nicht, Mädchen, was dein Inkognito all für Unfug hier angerichtet hat. Du hast dem armen Arnold das Herz warm gemacht; was willst du nun mit ihm anfangen? Ein Gedanke, den ich schon lange 136 mit mir herumtrage, half mir aus dieser neuen Verlegenheit. Ey, antwortete ich, ich will ihn einem Mädchen empfehlen, das ihn weit glüklicher machen kann, als ich. – Bravo, mein Kind! darf man fragen? . . . . Ich habe, gnädiger Herr: noch kein Recht zu antworten. – Ho, ho, schon wieder ein Geheimniß! Ich errathe es, lieber Freund, und lobe beides, ihren Einfall und ihre Zurükhaltung, sagte Elise, und machte dadurch der Unterredung ein Ende.

Der gute Arnold! ich bemerkte schon einige Wochen, daß er mich sehr auszeichnete. Seine Achtung schmeichelte mir, und etwas anders als Achtung fand ich nicht in dem Eifer, womit er sich mir gefällig zu machen suchte. Vermuthlich war sein Anliegen die Ursache der geheimen Unterredung, die sein Onkel neulich mit dem Obristen hatte. Welch ein Genuß wäre es für mich, die ich nicht selbst glüklich seyn kann, wenn ich das Glük zweier edeln Herzen befördern könnte.

 
Madam Müller an Frau von Sonnenstein.

Mannheim den 21sten Merz.

Lesen Sie diesen Brief, gnädige Frau, und sagen Sie mir, wie ich mich dabei zu verhalten habe. Der Ueberbringer, den meine Tochter für einen Bedienten hält, muß absichtlich den Augenblik meiner Abwesenheit ausgespäht haben, um seinen Streich 137 auszuführen. Friederike war im Laden; er näherte sich ihr, und fragte sie, ob sie nicht Mlle. Müller wäre? Auf ihre bejahende Antwort übergab er ihr den Brief mit den Worten: er kömmt von Mlle. Roland, und wischte davon. Ein großes Glük; denn Friederike war im Begriff, ihn zu fragen, wie man sich in Waldingen befinde: sie glaubte, er habe sich aus Bescheidenheit entfernt, weil verschiedene Damen im Laden waren. Der Brief hatte einen Umschlag mit meiner Tochter Adresse, und die Hand unserer Lina war so künstlich nachgeahmt,. daß sie den Betrug nicht eher merkte, als bis sie den Brief erbrochen hatte.

Sie können denken, gnädige Frau, daß weder sie, noch ich, der Versuchung widerstehen konnten, ihn zu lesen: in meinen Augen hat sich Ihr Hr. Sohn ganz von dem Verdachte gereinigt, wozu er unsere Lina und mich berechtigt hatte. Ob ich seine Schuzschrift dem Fräulein mittheilen, ob und was ich darauf antworten soll, hängt lediglich von Ihnen ab, und wenn ich keine andere Wahl habe, als Ihnen oder Ihrem Hrn. Sohne zu mißfallen, so wissen Sie im Voraus, welche Parthey ich ergreifen werde. Dennoch muß ich bekennen, daß es mir sehr wehe thun würde, wenn ich ihm die Rükkehr meiner völligen Achtung verhehlen müßte.

Unsere Lina hat mich von der Gefahr unterrichtet, die dem Hrn. Obristen bedroht hat: sie ist 138 weit stolzer auf ihre Wunden, als er auf seine Narben. Dieses sind die eigenen Worte des trefflichen Mädchens, das von der Güte seiner edeln Wohlthäter ganz entzükt ist. Auch ich bin es, gnädige, Frau, daß ich Ihrer Wohlthätigkeit einen so würdigen Gegenstand empfohlen habe, und verharre mit der zärtlichsten Ehrerbietung, u. s. w.

 
Die Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen den 24sten Merz.

Mit großem Vergnügen, beste Molly, habe ich die Apologie meines Sohns gelesen. Nun weiß ich doch, wie er nach Mannheim kam, und warum er dort seinen Namen verläugnete. Du kannst denken, meine Freundin, wie beruhigend es für mich seyn müsse, daß der junge Schwärmer sich blos eines unverzeihlichen Leichtsinns, aber keiner Niederträchtigkeit schuldig gemacht hat. Den Gebrauch seines Briefes überlasse ich ganz deiner Klugheit: durch meine Schuld soll weder meine Molly sein Vertrauen verlieren, noch unsere Lina ihre üble Meinung von ihm beibehalten; nur muß ihr Aufenthalt ihm noch immer verborgen bleiben. Das gute Mädchen hat einen neuen Schrecken gehabt: mein Gemahl hat ihr durch eine Kriegslist, wie er es nannte, das Geheimniß ihres Namens abgenöthigt, und dich dadurch über allen Verdacht einer Indiscretion weggesezt. Ich war eine stumme Zuschauerin der Scene, und 139 fühlte dabei keine geringere Angst, als die arme kleine Büßerin. Sie hat sich aber auf eine eben so rührende, als liebenswürdige Art aus der Schlinge gezogen.

Lina ist ein wahrhaft seltenes Geschöpf, und ich weiß nicht, wenn ich eine Tochter hätte, ob ich sie zärtlicher lieben könnte. Diesen himmlischen Genuß habe ich dir, meine Freundin, zu danken, und ich wünschte nichts so sehr, als dem edeln Mädchen zu beweisen, daß ich es nicht blos um meinetwillen liebe. Fürchte aber nicht, gute Molly, daß dieses neue Gefühl das heilige Band schwächen werde, das unsere Herzen schon lange und auf immer vereinigt.

Elise.

 
Madam Müller an Lina.

Mannheim den 27sten Merz.

Ja wohl, meine Lina, ist es eine häßliche Sache um die Verstellung, und ich bin froh für Sie, daß Sie diese beschwerliche Bürde von Ihrem Herzen abgewälzt haben. Doch Sie sind es nicht allein, die der Mangel an Offenherzigkeit in ein Labyrinth von Unannehmlichkeiten verwickelt hat. Der verkappte Dornek hat sich dadurch um Ihre Achtung gebracht, und ich halte es für meine Pflicht, sie ihm wieder zu verschaffen.

Aus einem Briefe, den ich erst kürzlich von ihm erhielt, habe ich die Ueberzeugung geschöpft, daß ein Duell ihn nöthigte, Straßburg auf eine Zeitlang zu 140 verlassen, und sich unter einem fremden Namen in Mannheim aufzuhalten. Auch ohne seine Bitte, liebes Kind, hätte ich mich für verbunden erachtet, ihn über diesen Punkt bei Ihnen zu rechtfertigen, und ich kenne meine Lina zu gut, als daß ich fürchten sollte, ihr durch diese Eröfnung einen gefährlichen Dienst zu leisten.

Getrost, meine Tochter: die Tugend ist kein leerer Name, sagt Haller, und auch Sie werden einst die unumstößliche Wahrheit seines Ausspruchs erfahren. Glauben Sie, o glauben Sie das Ihrer mütterlichen Freundin

M. Müller.

 
Ebendieselbe an den Lieutenant von Sonnenstein.

Mannheim den 27sten Merz.

Ich verzeihe Ihnen, mein Herr, den Kunstgriff, dessen Sie sich bedient haben, um sich gegen einen Verdacht zu rechtfertigen, der einen zu großen Schein von Gewißheit hatte, um Sie nicht mir und Carolinen in einem höchst nachtheiligen Lichte darzustellen. Sie können es meiner Denkungsart zutrauen, daß ich mirs zur Pflicht mache, Ihre Ehre bei ihr zu rechtfertigen, und diese Versicherung kann Ihnen zum Beweise dienen, daß ich an die Wahrheit Ihrer Vertheidigung glaube. Allein meine Verbindungen mit Ihren würdigen Eltern verbieten mir, eine Liebe zu begünstigen, von der ich nicht weiß, ob 141 sie ihren Beifall hat. Empfangen Sie, mein Herr, die Versicherung meiner Hochachtung.

 
Madam Müller an die Frau von Sonnenstein.

Mannheim den 27sten Merz.

Ich habe, gnädige Frau, nur noch einen Augenblik übrig, um meinen Brief an Lina und die Abschrift meiner Antwort an Ihren Herrn Sohn mit einigen Worten zu begleiten. Jene ist unter fliegendem Siegel, und ihre Uebergabe hängt von Ihnen ab; diese ist mit heutiger Post abgegangen, und wird, wie ich hoffe, nach Ihrem Sinne seyn. Es ist schwer, gnädige Frau, in einer so delikaten Sache alle Klippen zu vermeiden; allein Ihre so nachsichtsvolle Freundschaft wird wenigstens mein Bestreben, Sie zu befriedigen, in beiden nicht miskennen. Vielleicht bereite ich dem Herzen unserer Lina durch meine Eröfnung einen neuen Kampf. Allein sie muß ihren Sieg keinem ungerechten Gefühle, sondern ihrer Tugend verdanken, und wer ist fähiger, als Elise, sie für jedes Opfer zu entschädigen. Ich bin u. s. w.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 31sten Merz.

Also hat mein Herz mich nicht betrogen, als es meiner Vernunft widersprach, die ihm gebieten wollte, ihn zu verachten. Welch ein entzükender Anblik, unter der Maske des Verbrechers einen 142 Unschuldigen zu finden. Weide dich daran, Lina, du darfst es. Dieser Anblik entzükt ja noch weit mehr, als der eines reuigen Verbrechers, über den doch der ganze Himmel sich freuet. Nur muß dein Herz rein bleiben im Genusse seiner Freude. Schäzen darfst du ihn wieder, aber nicht mehr lieben; er ist der Sohn deiner Wohlthäter. Er ist zu einer glänzenden Laufbahn bestimmt, die deine Liebe ihm versperren würde. Grenzenlos ist ihre Güte gegen dich, und diese kannst du ihnen vergelten, indem du ihren Sohn hinderst, ungehorsam zu seyn. Sie zürnen auf ihn, weil er es schon war, und du warst die unschuldige Ursache seines Ungehorsams. Behaupte deine Unschuld, Lina, beginne ihn von neuem, den heiligen Kampf der Pflicht, und erkämpfe einen zweiten Sieg. Deine Pflegemutter erwartet ihn von dir; sie will nicht fürchten, dir durch ihre Eröfnung einen gefährlichen Dienst geleistet zu haben. Wohlan! sie soll es nicht fürchten dürfen, erfülle ihre Erwartung. Es ist ja weit schöner, weit größer, eine edle, als eine unedle Neigung besiegen. Ueber einen solchen Sieg muß der Himmel sich noch mehr freuen.

 
Der Lieutenant von Sonnenstein an Madam Müller.

Straßburg den 31sten Merz.

O, Sie wissen nicht, trefliche Frau, wie glüklich Ihre Zuschrift mich gemacht hat. Sie schenken mir mit Ihrer Achtung die Achtung meiner Lina 143 wieder. Die Hoffnung ist in meine Seele zurükgekehrt. Ich beginne ein neues Daseyn. Ich suchte die Hand meiner Lina auf einem unedlen Wege; ich wurde dafür bestraft, die Liebe hatte mich verblendet, die Liebe giebt mir den Muth, meinen Fehler zu verbessern.

Ich will mir einen Urlaub auswirken; ich will mich meinen Eltern zu Füßen werfen; ich will ihnen Alles bekennen, und ihnen das Bild meiner Lina vorhalten. Sein Anblik wird ihren Zorn entwaffnen, und mich mit ihnen aussöhnen. Das hoffe ich von ihrer Gerechtigkeit und von ihrer Liebe zu einem Sohne, der sie in seinem Leben nur einmal beleidigt hat.

Sie, liebe Madam, werde ich auf meiner Durchreise besuchen, nicht um die Entdekung des Aufenthalts meiner Lina von Ihnen zu erzwingen, sondern, um Sie zu beschwören, die Schilderungen zu bestätigen, die ich meinen guten Eltern von dem Engel machen werde. Ihre Verbindung mit Ihnen kann Sie nicht hindern, ihr Gerechtigkeit zu erweisen; sie ist ja auch Ihre Lina, und ihre Tugend hat ja auch Ihnen Thränen der Bewunderung entlokt. Ich darf mich also bei meinen Eltern auf Ihr Zeugniß berufen, und dieses Zeugniß muß meine Liebe rechtfertigen. Sie werden dem Verlangen nicht widerstehen, das seltene Mädchen kennen zu lernen. Auf ihren Ruf wird es aus der Dunkelheit hervortreten; meine 144 Eltern werden es sehen, bewundern, lieben und in das Glük meines Lebens einwilligen. Nie will ich vergessen, was Sie, würdige Frau, dazu beitragen werden, und meine Dankbarkeit wird, wie mein Glük, keine Grenzen haben, u. s. w.

 
Madam Müller an Frau von Sonnenstein.

Mannheim den 1sten April.

Schon wieder gnädige Frau, muß ich Ihnen einen Brief von Ihrem Herrn Sohne mittheilen. Wenn Sie noch nichts von seinem Vorsaze wissen, so wird er Sie eben so sehr überraschen, als er mich überrascht hat. Ich darf doch meiner Elise gestehen, daß ich die Herzensergießung des edeln jungen Mannes mit eben so viel Rührung, als Freude gelesen habe. Dennoch ist mir auf seinen Besuch bange; er wird mich mehr als einmal der peinlichen Gefahr aussezen, den Argwohn einer affektirten Zurükhaltung, wo nicht gar einer unredlichen Verstellung bei ihm zu erwecken; zu geschweigen, daß dieser Besuch es mir unmöglich macht, Ihnen mein Haus zum Zufluchtsort für unsere Lina anzubieten. Sie werden selbst einsehen, gnädige Frau, daß ich zuviel dabei wagen würde; und gleichwohl werden Sie mit mir überzeugt seyn, daß die hoffnungslose Liebe blos in der Flucht ihr Heil finden kann. Doch Sie bedürfen eben so wenig meines Rathes, als Lina bei ihrer edeln Beschüzerin meiner Empfehlung bedarf. Ich 145 weiß, daß Sie ohne meine Bitte für die Ruhe der treflichen Seele sorgen werden. Ich bedarf aber auch dieser ganzen Zuversicht, um nicht für das arme Kind zu zittern. Ich bin u. s. w.

 
Die Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen den 7ten April.

Zugleich mit deinem Briefe, liebe Molly, erhielt ich einen von meinem Sohne, darin er um die Erlaubniß bittet, uns auf einige Tage zu besuchen. Da er zu seiner Pflicht zurükgekehrt ist, werden wir sie ihm mit Vergnügen bewilligen. Wegen unserer Lina sei unbesorgt. Unsere Liebe zu ihr ist dir Bürge für die Maaßregeln, die wir treffen werden, um ihre Ruhe zu versichern, und wir können es, ohne daß sie nöthig hat, Waldingen zu verlassen.

Vor meines Carls Besuche darf dir nicht bange seyn; er weiß ja nicht alles, was wir wissen, und nur, wenn er es wüßte, könnte deine Rolle dir schwer fallen. Da ich ihm noch antworten muß, so bleibt mir nur der Augenblik übrig, dich, liebste Freundin, von ganzem Herzen zu umarmen.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 7ten April.

Nein, dieses fürstliche Menschenpaar hat seines gleichen nicht auf Gottes Erde. Was hast du denn gethan, Lina, daß sie dich täglich mit neuen Beweisen ihrer Liebe überhäufen? Oft sehen sie sich 146 geheimnißvoll an, und heften dann einen Blik voll unaussprechlicher Güte auf das erröthende Mädchen. Es ist als ob sie mein Geheimniß wüßten, und sich um die Wette bestrebten, sich an die Stelle ihres Sohns in mein Herz einzudrängen. O, sie haben schon ihre Stelle in seinem innersten Heiligthum; sie brauchen niemand daraus zu vertreiben. Auch er soll seine Stelle behalten; ich nenne ihn ja nur noch meinen Freund. Die Liebe seiner Eltern wird mich für seine Liebe entschädigen; sie giebt mir die Kraft, das Opfer zu vollenden, zu dem sie mich auffordert. Welch ein stärkendes Cordial ist die Atmosphäre der Tugend!

 
Lina an Friederike Müller.

Waldingen den 8ten April.

Wüßte ich nicht, liebe Frida, daß unsere gute Mutter dir alle meine Briefe mittheilt, so würde ich mir schon lange das Stillschweigen vorgeworfen haben, das ich seit einiger Zeit gegen dich beobachte. Indessen hat dieses Stillschweigen mir einen neuen Beweis deiner Liebe verschafft, den ich ohne dasselbe nicht hätte erhalten können. Es ist dir nicht eingefallen, mich einer Nachlässigkeit, vielweniger einer Erkaltung meiner Freundschaft zu beschuldigen, und hierinn, liebe Schwester, hast du mir die Gerechtigkeit erzeigt, die ich verdiene. Dafür will ich dir auch jezt eine Nachricht mittheilen, die nur eine gute Tochter und eine gute Schwester nach ihrer ganzen Wichtigkeit zu schäzen vermag.

147 Noch diesen Monat wird mein Vater mich besuchen. Der ehrwürdige Geistliche, der seit so vielen Jahren es umsonst versucht hat, das Herz meines Großvaters zu erweichen, hat endlich den Auftrag erhalten, ihn nach Saalen zu berufen. Er will sich mit ihm versöhnen, und das Denkmal seines vorigen Hasses zernichten. Diese entzückende Nachricht giebt er mir in einem Briefchen, das seine Antwort an den Obristen begleitete. Der edle Greis muß sehr wohl damit zufrieden seyn, denn, indem er mir das Briefchen übergab, sagte er zu mir: dein Vater ist ein ganz anderer Mann, als ich glaubte; es wird mich freuen, seine Bekanntschaft zu machen: – wie hüpfte mein Herz! – und damit er sehen möge, sezte Elise hinzu. daß du in Waldingen keine Waise warst, so bitte ich dich die Bildnisse deiner hiesigen Eltern immer bei dir zu tragen. Bei diesen Worten schlang sie mir eine goldene Kette mit einem Medaillon um den Hals, wovon jede Seite eines dieser theuren Bilder darstellt. In meinem Herzen und auf meinem Herzen, rief ich wonnezitternd, und haschte nach ihrer Hand, um sie zu küssen. Sie umarmte mich, wie unsere Mutter mich umarmte, und führte mich ihrem Gemahl zu, der auf seinem Lehnsessel ebenfalls seine Arme nach mir ausstrekte.

Süßere Thränen sind meinen Augen noch nicht entflossen. Also von nun an Vater und Mutter, sagte der liebevolle Greis; aber verstehst du mich, 148 Vater und Mutter schlechtweg, ohne Vortrab. Mein Carl durfte uns auch nie anders nennen.

Der Name Carl war mir ein elektrischer Schlag auf mein Herz: noch nie hatten sie ihn vor mir ausgesprochen. Ich fühlte, daß ich in einem Nu glühte und erblaßte. Um meine namenlose Verwirrung zu verbergen, küßte ich mit hastiger Innbrunst die beiden lieben Bilder, und ließ auf sie die neuen Thränen fallen, die beim Namen Carl meinen Augen entstürzten. Das edle Paar betrachtete mich mit einem stillen Wohlgefallen, und, als ob es in meiner Seele gelesen hätte, suchte es voll mitleidiger Güte einen Vorwand, diese erschütternde Scene abzukürzen. Nur du, meine Friederike und die zärtlichste der Mütter können sie mir nachempfinden. Lebe wohl, meine Schwester, was könnte ich dir noch zu sagen haben?

 
Aus Lina's Tagebuch.

Den 9ten April.

Carl also heißt er, Carl! so soll er künftig auch mir heißen. Dornek ist mir zu unheilig, und Sonnenstein zu heilig. Carl klingt so traulich, so schwesterlich. Schwesterlich . . . . . . Dieß ist das rechte Wort; seit gestern bin ich ja seine Schwester, vergiß es nie, Lina, seine Schwester bist du, dieser Titel schließt alle andere aus.

Wie wichtig, wie entscheidend war für mich der gestrige Tag! du irrest, Lina, dein Schiksal ist ja 149 schon lang entschieden. Erleichtert ward es gestern, verherrlicht. Das Opferlamm wurde mit einem Kranze von Gold und Perlen geschmükt.

Was war das? ein Schauer; wieder ein warnender Anhauch meiner Mutter oder meines mitleidigen Schuzgeists, um mich zu erinnern, daß ich auf dem Punkte stehe, ein Ungeheuer zu werden, eines der schwärzesten, ein Ungeheuer des Undanks.

Weinend betrachte ich die Bilder meiner Wohlthäter, und sie verwandeln sich unter meinen Augen in sein Bild, und sein Blik weckt den schlummernden Feind wieder auf in meinem Busen. O verlaß mich nicht, schüzender Engel! hilf mir siegen, oder sterben.

Ach! wie weit besser wäre es gewesen, wenn ich dieses Haus, das ich entweihe, verlassen und mich in die verborgenste Einsamkeit geflüchtet hätte. Lina, du kannst es noch; du erwartest deinen Vater; öfne ihm dein Herz, und beschwöre ihn, dich zu retten.

 
Der Lieutenant von Sonnenstein an seinen Vetter.

Mannheim den 10ten April.

Hier bin ich, lieber Vetter, und schreibe dir aus eben dem Gasthofe, wo ich meine Lina zum erstenmal sah. Ich kann dir nicht sagen, wie mir war, als ich unter dem dunkeln Thorwege aus meinem Postkariol stieg. Ich glaubte die Vorhalle des Verhängnißtempels zu betreten. Ich suchte flugs das Zimmer, das Lina bewohnte; zum Glücke war es ledig, 150 ich ließ es mir einräumen. Alles erinnert mich an sie. In diesem Bette ruhte sie; ihre Rosenwangen berührten dieses Hauptkissen, ach, und es empfieng ihre Seufzer, und ihre Thränen.

Ich eilte zu Madam Müller, die trefliche Frau bewillkommte mich mit einer heitern, zwanglosen Güte: mein Auge suchte die Einzige in jedem Winkel der Stube. Ich sezte mich auf das Canapee, auf dem ich den lezten Abend neben ihr saß. Was macht sie, fragte ich leise. Sie ist wohl, und von Ihrer Unschuld überzeugt, antwortete Madam Müller. Ich fiel ihr um den Hals: Der Wunsch mich glücklich zu sehen, sprach aus ihren Augen.

Sie ist eine Jugendfreundin meiner Mutter, und jezt erinnerte ich mich, daß ich als Knabe öfters von ihr sprechen hörte. Allein meine Mutter nannte sie nur immer Molly, und dann ist der Name Müller so gemein, so überall einheimisch, daß er nichts auffallendes für mich hatte.

Ihre Verbindungen mit meiner Familie machten mich zu einem alten Bekannten. Ich erkundigte mich nach ihrer Tochter, sie ließ sie rufen. Das liebenswürdige Mädchen erschien. Ein süßer Schauer ergriff mich, als ich an ihrem Halse die Silhouette meiner Lina erblikte. Ach, das ist Lina! rief ich: um eine Krone würde ich sie nicht beneiden, aber um dieses Bild, beneide ich Sie. Und ich, erwiederte das holde Geschöpf, würde Ihnen so gern das 151 Original gönnen. Würden Sie das, rief ich, indem ich nach ihrer Hand haschte. Nicht doch, erwiederte sie lächelnd, Sie gehen irre; hier, hier. Sie hielt mir das Porträt hin, das ich mit Entzücken an meine Lippen drükte.

Es fiel mir schwer, diese lieben Menschen zu verlassen. Beim Abschiede mußte Madam Müller mir versprechen, daß sie mir Lina's Aufenthalt entdecken wolle, sobald meine Mutter sie dazu bevollmächtigt. Das Herz klopft mir bei dem Gedanken, daß vielleicht morgen in dieser Stunde der Vorhang meines Geschickes aufrauschen wird. Du weißt, lieber Freund, daß meine Mutter sich in ihrem Gnadenbriefe nicht deutlich über die Stimmung meines Vaters herausläßt. Ich will daher bei seinem Freunde, dem alten Pfarrer, abtreten, und mich zuvor bei ihm nach der Lage der Dinge erkundigen. Lebe wohl, Bruder; meine nächste Zuschrift wird dir das Urtheil meines Lebens oder meines Todes mitbringen.

 
Lina an Friederike Müller.

Waldingen den 10ten April.

Nur ein Wort, liebste Frida, denn ich woge in einem Wonnestrudel, der mir kaum die Besinnung übrig läßt. Ganz unvermuthet kam gestern mein guter Vater hier an; so zärtlich, so leidenschaftlich ward ich noch nie von ihm umarmt. Bald wäre ich vor Entzücken an seinem Halse ohnmächtig geworden. Der Obriste empfieng ihn mit ausgezeichneter Achtung, 152 und Elise, die göttliche Elise mit ihrer gewöhnlichen Güte. Wirklich ist sie mit meinen beiden Vätern in ihrem Cabinet eingeschlossen, und ich bin auf mein Stübchen gehüpft, um dir mit fliegender Hand diese Zeilen hin zu krizeln. Nun noch meine Umarmung für dich und unsere theure Mutter. O, ich weiß, daß sie mit dir die Freude deiner Lina theilen wird.

 
Lina an Madam Müller.

Waldingen den 11ten April.

Mutter! Mutter! ich bin . . . . ha, auch dieses Blatt überströmen meine Thränen. Schon zwei habe ich weggelegt; es sind ja Freudenthränen. Ja, Mutter, Freudenthränen, Ihrer glücklichen, über allen Ausdruck, über allen Begriff glücklichen Lina.

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen einen Auftritt werde erzählen können, dessen Schilderung so ganz außer dem Kreise menschlicher Kräfte liegt. Meine Seele flattert in einer neuen Provinz Gottes umher, die sich an das Paradies anschließt. Sie glaubt zu träumen, und weiß doch, daß sie nicht träumt. Was ich vergesse, was ich verstümmle, was ich nicht sagen kann, das muß Ihr Herz ergänzen. Lassen Sie mich hier einen Augenblik ausruhen, ehe ich anfange. Ich weiß ja noch nicht, wo ich anfangen soll.

Gestern Abend saßen meine beiden Väter am Kamin, und zogen im Brett; ich nähte an Elisens Seite. Plözlich öfnete man die Thüre; der alte Pfarrer trat herein, und hinter ihm eine Gestalt, die man nicht 153 sehen konnte. Gnädiger Herr, sagte der Pfarrer, ich bringe Ihnen einen Gast. Die Gestalt drang hervor; es war . . . . Carl. Großer Gott! Lina, rief dieser, und blieb wie angedonnert stehen. Ich stieß einen Schrei aus, und stürzte meinem Vater entgegen, dessen Arme ich mit krampfhafter Gewalt umklammerte. Ich wollte mich in sein Kleid verbergen; Carl flog mir nach, Lina! rief er noch einmal, und griff nach meiner Hand, ich zog sie zurück, und wies auf den Obristen. Hätte ich mit einem Worte den Himmel gewinnen können, ich hätte das Wort nicht gefunden. Carl warf sich vor seinem Vater auf die Knie: Vergebung, Vater! lallte er; ach, sie ist es! der Obriste neigte sein Silberhaupt zu ihm herunter, eine Thräne glitt über seine Wange; er küßte seinen Sohn. Einfältiger Junge, sprach er, ich weiß ja wohl, daß sie es ist; ich weiß alles. Ein treuer Spion hat mir euer Geheimniß verrathen. Ich hieng noch immer bebend am Arme meines Vaters. Jezt warf ich einen Blik auf Elisen, sie saß mit niederhängenden Armen auf dem Canapee, und schlürfte tropfenweis den Becher der Freude. Auf ihren Wink sank auch ich zu des Obristen Füßen. Wie du zitterst, Mädchen? sagte er zu mir, indem er mich in seine Arme schloß; ein Bräutigam ist ja doch kein Gespenst. Dieses Wort fuhr mir, wie ein Blizstrahl ins Herz. Er öffnete es einem Gefühle, einem Gefühle, Mutter! das diesseits des Himmels noch in kein Herz kam. 154 Ich sank in eine süße Ohnmacht, die aber nur einen Augenblik dauerte. Elisens Küsse erwekten mich. Ich fand mich zwischen ihr und dem Obristen auf dem Sopha. Carl kniete nieder vor mir; er preßte meine Hände wechselsweis an seinen Mund, an sein Herz, und überschwemmte sie mit Thränen.

Küsse auch ihre Arme, rief sein Vater; sie tragen den Orden des Verdienstes; ohne sie wäre ich nicht mehr hier. Hört, Kinder, fuhr er nach einer Pause fort, ich mache meine Sachen gern kurz, ihr liebt euch. Gott selbst hat euch zusammengefügt, und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. In vierzehn Tagen soll euch der ehrliche Mann da diese Worte vor dem Altare wiederhohlen. Nicht wahr, Herr Hauptmann! Mein guter Vater drükte die Hand des Patriarchen an seine Brust.

Carls Freude glich dem Jubel eines Kindes, das den Ausbruch seiner Gefühle nicht zu zügeln weiß; er taumelte wechselsweis in die Arme seiner Eltern, und meines Vaters, der ihn mit der innigsten Herzlichkeit seinen Sohn nannte. O er wird es seyn; er wird der beste aller Söhne seyn.

Wahrscheinlich theure Mutter, haben Sie schon errathen, warum der traute Ankömmling durch den alten Pfarrer eingeführt wurde. Der liebenswürdige Sünder glaubte eines Fürsprechers zu bedürfen, und da hätte er freilich keinen bessern wählen können. Auch mein Fürsprecher war der ehrwürdige Greis 155 bei seinem grauen Freunde, der ihm Ihre Briefe an Elisen mittheilte, und ihn in allem zu Rathe zog. Nur stufenweise machte ich diese Entdeckungen. Der Obriste eröfnete meinem Vater den Plan seines großen Herzens in jenem unvergeßlichen Briefe, der ihm Gelegenheit gab, mir den Schleier der Verstellung abzureißen, und mein Vater kam eben zu rechter Zeit hieher, um der entzückenden Ueberraschung beizuwohnen, die meine neuen Eltern uns insgeheim zubereiteten.

Und Sie, theure Mutter, die unsichtbar, wie die Vorsehung, über mir waltete, meine wankenden Schritte leitete, mir den Weg in das Herz meiner Wohlthäter bahnte, Sie, der ich so unaussprechlich viel zu danken habe, was für göttliche Gefühle muß das Glük Ihrer Lina in Ihrer Seele erzeugen. Nehmen Sie diese Gefühle als Ihre Vergeltung an, und erhöhen Sie diesen Genuß noch dadurch, daß Sie mit meiner Frida bei meinem Feste erscheinen. Elise hat mir versprochen, sie darum zu bitten, und mein Geliebter – zum erstenmal spreche ich dieses Wort laut aus – und meine beiden Väter werden meine Bitte unterstüzen. Meine zweite Mutter und meine einzige Schwester müssen Zeugen meiner Glükseligkeit seyn, wenn sie ganz vollkommen seyn soll.

Morgen verreist mein Vater nach Saalen, und in acht bis zehen Tagen hofft er zurükzukommen. Gott! wenn auch noch dieser Wunsch meines Herzens 156 erhört würde, wenn mein Vater nach einer so vieljährigen Verfolgung auch wieder einen Vater fände! Er ist ganz verändert: das Spiel, das ihn so unglüklich machte, ist ihm zum Abscheu geworden, und die Rinde, die sein edles warmes Herz bedekte, ist abgefallen.

Mit welchem süßen Stolze werde ich zu Ihnen, meine ehrwürdige Freundin, sagen: Dieß ist mein Vater! Und zu ihm: Dieß ist meine zweite Mutter!

 
Der Lieutenant von Sonnenstein, an seinen Vetter.

Waldingen den 13ten April.

Bruder! du glaubst mit mir einen Himmel. Schwinge dich hinauf in jene Gefilde der Wonne, und frage den Seligsten unter den Seligen, ob er seliger ist, als ich? Er wird dir mit Nein antworten, denn Lina ist meine Braut. Meine Braut, Freund, und in vierzehn Tagen mein Weib.

Erwarte von mir keine Schilderung der Scene, die mich aus dem Abgrunde der Verzweiflung auf die höchste Zinne des Glückes erhob. Ich habe meine Besinnung noch nicht, aber meine Lina habe ich wieder. Die erste Person, die ich vorgestern beim Eintritt in das Zimmer meines Vaters erblikte, war Lina.

Die gute Müller, die es nicht ahnete, daß der verkappte Dornek der Sohn ihrer Freundin sei, hatte das himmlische Mädchen als Kammerjungfer 157 bei ihr untergebracht, und unter dieser bescheidenen Hülle hatte Lina in wenig Wochen das Herz meiner Eltern gewonnen, und sich den Titel ihrer Tochter erworben. Mein Bildniß, das sie von ungefähr entdekte, verrieth ihr mein Geheimniß. Sie hielt mich für einen Betrüger, und wollte, vom tödlichsten Kummer gepeinigt, zu ihrem Vater nach Brüssel fliehen. Das trefliche Weib, die Müller, brachte sie von ihrem Entschluß ab, und offenbarte meinen Eltern das Geheimniß ihrer Liebe und ihrer Geburt.

Mit Gefahr ihres eigenen Lebens rettete Lina meinen Vater aus den Flammen, und von nun an faßte dieser den edeln Entschluß, der schon lange der geheime Wunsch meiner Mutter war, das seltene Mädchen vor aller Welt in seine Familie aufzunehmen. Er schrieb an ihren Vater um seine Einwilligung, und du kannst leicht denken, liebster Freund, daß sie nicht lange ausblieb. Von dem allem wußte Lina nichts. Ihr froher Schrecken glich dem meinigen, als wir uns, wie durch eine magische Gewalt vereinigt sahen, und ihr namenloses Entzücken glich dem meinigen, als mein Vater in Gegenwart des Hauptmanns mich ihren Bräutigam nannte.

Nun, Bruder, wirst du mir doch erlauben zu schwärmen, und mir gestehen, daß es über und unter dem Monde kein glüklicheres Wesen giebt, als mich. Du wirst vollends nicht mehr daran zweifeln, wenn ich dir sage, daß Lina mir gestern an meinem 158 Busen gestand, daß auch sie unaussprechlich glüklich sei. Ich hatte mich zu ihr, auf ihr Stübchen geschlichen. Du hättest den Engel sollen erröthen sehen, als ich sachte ihre Thür öffnete, und ihr mit ausgespannten Armen entgegen flog. Das liebe fromme Mädchen will das Stübchen in eine Kapelle umschaffen, und sich hier, wie sie sagt, täglich ihres Glückes und ihrer Pflicht erinnern.

Mein Vater ist von ihr bezaubert. Am ersten Abend, als sie und der Hauptmann uns verlassen hatten, sagte er zu mir: Höre, Junge, du bist das Mädchen noch nicht werth; aber ich hoffe, du wirst es werden. Sie hat dich vor einem Lumpenstreiche behütet, der uns auf immer geschieden hätte, dafür will ich sie nun auch belohnen. Freilich hat ihre Geburt einen kleinen Klecks; allein ihr Vater ist Ritterbürtig, und nun wieder ein braver Mann. Zudem sind der Großvater und die Enkelin Ursache, daß ich noch da bin. Hätten sie das einem Könige gethan, so würde er sie gewiß in den Grafenstand erhoben haben, und da, denk ich, kann ich ja wohl das Mädchen, das obendrein an Tugend deiner Mutter gleicht, in meine Familie aufnehmen. Ich will aber den ganzen Hergang in meine Hauschronik schreiben, damit einmal unsere Nachkommen sehen, daß ich nicht wie ein Schuft, sondern wie ein Biedermann gehandelt habe. Freudenthränen begleiteten das Lächeln, 159 womit ich dem königlichen Greise und der besten aller Mütter die Hände küßte.

Heute ist der Hauptmann zu seinem Vater abgereist. Auch diese Aussöhnung ist eine schöne Blume in unserm Freudenkranze. Sobald er zurükkömmt, wird unsere Verbindung vor sich gehen. O, warum kannst du ihr nicht beiwohnen! Allein ich begreife wohl, daß du wegen der eintretenden Exerzierzeit keinen Urlaub erhalten würdest. Dieses schmerzt mich um so mehr, da ich nächstens meine Dimission einsenden, und mein Daseyn ganz meinen Eltern und meiner Lina widmen werde. Wie sehr diese sich meines Entschlusses freuen, kannst du errathen.

Nun, Bruder, habe ich dir ein Opfer gebracht, das deiner Freundschaft würdig ist. Eine ganze Stunde habe ich mir und meiner Lina geraubt, um mich mit dir zu unterhalten. Nur noch eine Umarmung, die Umarmung des glüklichsten Bräutigams und innigsten Freundes,

Carl von Sonnenstein.

 
Die Frau von Sonnenstein an Madam Müller.

Waldingen den 15ten April.

Ich schreibe dir etwas spät, liebste Molly; allein mit einer Brautmutter muß man Gedult tragen. Zudem hat unsere Lina dir von den Wonnescenen Rechenschaft gegeben, die sich bei uns ereignet 160 haben. O, liebe Freundin! ich bin die glüklichste Mutter. Alle meine stillen Wünsche, alle meine geheimen Anschläge sind mir gelungen.

Vergieb mir nun, gute Molly, daß ich dich nicht zu meiner Vertrauten gemacht habe; es geschah wahrlich nicht aus Mangel an Zutrauen; diese Gerechtigkeit wirst du mir doch wohl widerfahren lassen; allein ich fürchtete, ein heiterer Blik, eine geheimnißvolle Miene möchte meinem Carl den so schön gelungenen Ueberraschungsplan verrathen. Die Liebe ist so scharfsichtig, und der arme Junge war so unruhig, daß er gewiß jeden deiner Gesichtszüge ausgespäht hat. Ueber dieses war ich dir eine kleine Strafe für die Verhehlung der Geburt unserer Lina schuldig, deren frühere Entdeckung mich bevollmächtigt hätte, mit meinem Plane um so viel eher hervorzurücken. Mein Gemahl hat sich dabei überaus groß und edel benommen. Also nicht wahr, Molly, du verzeihst mir meine Zurükhaltung, und zum Siegel der Verzeihung erscheinst du mit deiner Friederike? Wir alle würden euch sehr vermissen, wenn du unsern Wunsch unerfüllt ließest, doch du wirst ihn ja erfüllen.

Der Obriste will dir seinen Staatswagen schicken, und der Hauptmann will euch abholen. Lina hat ihm ihre ganze Geschichte erzählen müssen, und er fühlt so sehr, als sie und mein Carl, was du für sein Kind gethan hast. Der Mann gewinnt 161 ungemein, wenn man ihn näher kennt, und wenn man seine ausgestandenen Drangsale erwäget, so muß man ihm seine Verirrungen verzeihen. Sein Herz war von den vielen Wunden vernarbt, und fühllos geworden: nun öffnet es sich wieder der Freude und der Liebe.

Eines Abends unterhielten wir uns bei Tische von dem jungen Paare; es saß gegen ihm über. Carl hatte seinen Arm um Lina's Arm geschlungen; der Hauptmann sah sie lange schweigend an. Seine Augen füllten sich mit Thränen. Gott! rief er zulezt mit einem tiefen Seufzer: Hätte das ihre Mutter erlebt! Er stand rasch von der Tafel auf, hielt die Hände vors Gesicht, und verließ das Zimmer. Er zerriß uns allen das Herz; allein unser Mitleid war mit jener Verehrung begleitet, die der schäzenswerthe Unglükliche einflößt.

Ich hätte dir noch Vieles zu erzählen, liebe Freundin; es kann und soll aber nur mündlich geschehen. Auch Lina hat ihrer Friederike vieles mitzutheilen. Sie geht mit einem Projekt um . . . . Doch kein Wörtchen mehr. Lebe wohl, liebe Molly, und eile in die Arme deiner

Elise.

 
Der Hauptmann von Saalen an Lina.

Saalen den 18ten April.

Ich schreibe dir, liebstes Kind, unter einem Dache das ich zwanzig Jahre lang nur von ferne ansehen 162 durfte, und das mich jezt wieder als den Sohn des Hauses beherbergt. Die Geschichte meines Eintritts über die furchtbare Schwelle und meiner Aussöhnung mit meinem Vater verspare ich auf unsere mündliche Unterredung. Für jezt sei dir genug zu wissen, daß dieser wiedergefundene Vater auch dein Großvater seyn will, und daß er sogar stolz darauf ist, dir den Namen seiner Enkelin beizulegen. Du wirst von selbst errathen, liebes Kind, daß deine Aufnahme in eine der angesehensten Familien des Reichs nicht wenig zu diesem Wunder beigetragen hat. Mein Vater will sogar, daß ich ihm nach der Hochzeit seine beiden Enkel zuführen, und daß sie aus seiner Hand das Brautgeschenk von 10,000 Gulden empfangen, das er ihnen bestimmt.

Was meine Stiefmutter betrift, so hat der Tod ihres Sohns, der ihre Plane zerstörte, ihren Haß gegen mich, wo nicht ausgelöscht, doch wenigstens hinter dem Mantel einer politischen Höflichkeit verborgen, der ich nicht trauen würde, wenn ich noch Ursach hätte, sie zu fürchten. Durch die Vermittlung des einzigen Freundes, der mir hier übrig blieb, hat mein Vater heute ein offenes Testament errichtet, wodurch er das vorige vernichtet, und mich zum Erben seines gesammten Vermögens einsezt, meiner Stiefmutter aber den Genuß der Hälfte desselben versichert. Die Willfährigkeit, womit ich diese Verfügung nicht nur billigte, sondern selber vorschlug, 163 hat das eigennüzige Weib so sehr überrascht und beschämt, daß sie mir nun sogar mit Achtung und mit einer niederträchtigen heuchlerischen Güte begegnet, wodurch sie die Spuren ihres vormaligen Betragens aus meinem Gemüthe zu vertilgen sucht. Sie bedarf dieses elenden Kunstgriffs nicht, um mich zu entwaffnen. Glükliche Menschen finden eine Wollust im Verzeihen, und durch dich, meine Lina, bin ich ja so glüklich, so überaus glüklich, daß ich alle meine ausgestandenen Leiden nur noch für einen schweren Traum halte, aus dem du mich erwekt hast.

Mein Vater will, daß ich beständig bei ihm wohnen, und die Aufsicht über seine Güter übernehmen soll. Ich bin ihm diese Aufmerksamkeit schuldig, die selbst die Klugheit mir anräth, und damit ich, wie er sagt, nicht nöthig habe, seinen Tod zu erwarten, um mein eigener Herr zu seyn, so tritt er mir von nun an eines seiner beträchtlichsten Güter ab. Es trägt mir weit mehr ein, als ich brauche, und giebt mir das Mittel, mich von meiner Verbindlichkeit gegen die belgischen Stände auf eine ehrenvolle Art loszumachen. Ich bin wirklich mit dieser Maasregel beschäftigt, und Uebermorgen hoffe ich meine Rükreise in den Schoos einer Familie anzutreten, deren Tugenden ich dein Glük und das selige Bestreben verdanke, mich ihrer Freundschaft würdig zu machen.

Lebe wohl, mein liebes Kind, sei bei diesen 164 wahrhaft großen Menschen die Dollmetscherin meiner Gefühle, und theile mit deinem edlen Bräutigam die zärtliche Umarmung deines treuen Vaters.

 
Aus Lina's Tagebuch.

Waldingen den 21ten April.

Nur gemeinen Seelen ist die Nachsicht fremd; nur ihnen kostet sie Ueberwindung. Mit welcher Güte sprechen nicht meine neuen Eltern von meinem Vater! Sie sehen nur seine ausgestandenen Widerwärtigkeiten, und diese sind in ihren Augen ein Schleier, der alle seine ehemaligen Fehler zudekt.

Mit welcher Rührung, mit welchem freudigen Wohlgefallen haben sie nicht seinen Brief angehört, und sein Betragen gegen seine Stiefmutter bewundert! nur bei dem Geschenke meines Großvaters waren sie gleichgültig; mir darf es nicht gleichgültig seyn; es ist das Pfand einer Versöhnung, das meinem Herzen keinen Wunsch und nur ein einziges bittersüßes Andenken übrig läßt.

Mein lieber guter Carl will mit Freuden die Reise nach Saalen mit mir vornehmen: O, jeder Tag zeigt mir seine trefliche Seele in einem neuen Lichte! Und seine Liebe, wie rein, wie bescheiden ist sie! Jeder Kuß, den ich ihm erlaube, ist ihm heilig, und lokt ihm eine Thräne ins Auge. Oft werfe ich mir meine Blödigkeit vor, die mich hindert, seine Zärtlichkeit zu erwiedern. Doch still! er wird einst 165 diese Blätter lesen; ich muß ihm mein Geheimnis nicht verrathen.

Den 22sten April.

Mein lieber Vater ist angekommen, und morgen wird er nach Mannheim abreisen, um meine Pflegemutter und Friederiken abzuholen. Ich gebe ihm einen Brief an unsere gute Wirthin mit, und er will ihn mit einem Andenken begleiten, das Madam Müller auswählen und überreichen soll. Ich will nicht, daß er jenen Gasthof betrete, der so manches unangenehme Bild in seiner Seele aufwecken würde.

Da nun der große Tag herannaht, so wollte Elise mich in eines ihrer prächtigen Gastzimmer verpflanzen. Ich habe mir's verbeten: aus dem prunklosen Stübchen, in welches ich als Dienstmädchen eintrat, will ich als Braut meines Carls an Gottes Altar gehen. Die Gute läßt mir meinen Willen; bald, o bald werde ich nur seinen Willen haben!

Den 27sten April.

Wie viele Ströme der Wonne fließen aus einer einzigen Quelle in mein Herz! Nie hat ein menschliches Auge mehr Freudenthränen geweint, als ich seit vierzehn Tagen. Gestern ersezten sie mir wieder in den Armen meiner Frida, und unserer Mutter die Stelle der Worte. Auch mein Carl drükte sie so gerührt, so liebevoll an sein Herz. Seine Eltern 166 empfiengen sie wie Glieder der Familie: des Obristen Auge verweilte mit Wohlgefallen auf Friederikens holdem Gesichte. Ei Bliz, liebe Müller, was haben Sie da für ein schmukes, braves Mädchen? Sie mögen nur auch die Mitgift in Bereitschaft halten; der Vogel ist flick.

Die arme Friederike erröthete; ich hielt ihr lachend meine Hand vor's Gesicht: der Obriste lachte mit. Plözlich nahm er ihre Mutter beim Kopfe, und küßte sie aus allen Kräften. Noch einmal tausend, tausend Dank, liebe Molly, für meinen kleinen Adjudanten hier; allein der Schelm ist mir desertirt; wo kriege ich nun einen andern? Ich drükte seine Hand an meine Brust: mit Erlaubniß, gnädiger Herr Obrister, ich lasse mich nicht so mir nichts dir nichts absezen. Ich bin nicht desertirt, sondern avancirt, und hoffe, Sie werden mich in Ihrem Dienste behalten: im Nothfalle wird mein Carl mich ablösen. – Ha, ha! im Nothfalle, rief er lachend; nun ja, übers Jahr um diese Zeit wird dieser Nothfall, wills Gott, eintreten. Dann wirst du statt der Kriegslieder, Wiegenlieder singen, und ich, wenn ich noch lebe, will ganz leise den Baß dazu brummen. Mein Gesicht flammte: er erbarmte sich meiner Verwirrung, und reichte mir seine Wange dar: küsse mich kleine Zauberin. – Schneller hat ihm wohl noch niemand gehorcht.

Heute hatten wir den Pfarrer mit seinem Neffen, 167 und das Ehrhard'sche Paar zu Gaste. Mit Vergnügen bemerkte ich, daß der Vikar kein Auge von Friederiken verwandte, und sich nach Tische lange mit ihr unterhielt. Er muß nicht wissen, daß Caroline von Saalen vom Eindruk unterrichtet ist, den Caroline Roland auf ihn machte; denn er begegnete mir mit der heitersten Offenheit. Ich suchte sie durch meine Zutraulichkeit zu unterhalten, und bat ihn um seine Freundschaft. Er war tief gerührt. Friederike gieng eben vorbei; ich faßte sie bei der Hand: hier, fuhr ich fort, habe ich eine Freundin, zu der ich mich selbst im Genusse des höchsten Glüks oft hinsehnen werde. Ich sagte die Wahrheit. Bisher wünschte ich sie blos um ihretwillen nach Waldingen zu verpflanzen: nun aber, da Waldingen meine Heimath geworden ist, habe ich das süße Recht, diese Verpflanzung auch um meinetwillen zu wünschen. Nie sah ich das Mädchen so liebenswürdig wie heute; sie mußte, ja sie mußte dem reinen Auge Arnolds gefallen.

Als unsere Gäste weg waren, unterhielten die beiden Väter und Carl sich vom Türkenkriege; Elise nahm ihre Freundin mit sich auf ihr Zimmer, und ich folgte meiner Frida auf das ihrige. Ich hatte noch keine Zeit zu einer besondern Unterredung gehabt. Unsere Herzen ergossen sich; wir erneuerten unsern Schwesterbund, und versiegelten ihn mit heiligen Thränen. Friederike hat bereits die 168 Erlaubniß, bis zu unserer Reise nach Saalen hier zu bleiben; diese Zeit muß ich benuzen, um meinen Plan auszuführen. O Gott, wenn es mir gelänge! Wie glüklich bin ich schon blos in dieser Hoffnung! Elise, die göttliche Elise, will alles anwenden, um sie zu erfüllen.

Den 28sten.

Morgen also, morgen ist der grose Tag, an dem ich dir, Allgütiger, angeloben werde, das seligste deiner Geschöpfe zu seyn. Auch das dankbarste deiner Geschöpfe will ich mich zu werden bestreben.

Mein Carl, mein edler Carl, sieht der feierlichen Stunde mit stillem, erhabenem Ernst entgegen. Wie schön unterscheidet sich diese Fassung von jenem profanen Leichtsinn, womit so mancher Verlobte zum Altar hingaukelt.

O mein Carl ist die reinste, beste Seele! Wo hätte ich seines gleichen gefunden? Er überläßt mir die Rente meiner Mitgift zum Nadelgelde; allein ich hoffe einen edlern Gebrauch davon zu machen. Elise hat fünfzig Malter Getreide unter die Tagelöhner des Dorfes austheilen lassen; denn eigentliche Arme giebt es hier keine. Von dir, du Einzige, will ich die Kunst wohlzuthun lernen. Doch, wo ist eine Tugend, die ich nicht von dir lernen kann?

Den 30sten.

So ist es denn wahr? ja ich bin sein Weib, das Weib des Hochgeliebten; seine Gefährtin auf der 169 großen Entdeckungsreise des Lebens, diesseits und jenseits der Sterne. Gott, Gott! gieb mir Kraft, mein Glük zu ertragen, und die schönen heiligen Pflichten zu erfüllen, die ich ihm angelobt habe.

Ich weiß nicht, wie mir der gestrige Tag verstrich. Ich sah nur ihn; ich hörte nur immer sein lautes seelenvolles Ja in meinen Ohren tönen; alle andere Gegenstände schienen mir nur wie durch einen silbernen Flor. Es waren liebliche Traumbilder, die mich umschwebten und mir Segen zulächelten.

Auch du, theure Vollendete, lächeltest mir Segen zu, das weiß ich. Hätte doch ihre Mutter das erlebt, sagte neulich mein guter Vater; und mir flüsterte am Altar eine süße Stimme zu: sie hat es erlebt! 170

 


 


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