Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 5. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Ewald und Lina.

Ewald war der einzige Sohn eines rechtschaffenen Kaufmanns, der zwar kein glänzendes, aber doch ein ansehnliches Vermögen besaß, das er blos seinem redlichen Fleiße zu danken hatte. Sein Sohn bezeugte schon als Knabe wenig Lust zur Handlung, und da sein Vater einen hellen Geist, und einen entschiedenen Hang zu den Wissenschaften bei ihm wahrnahm, so beschloß er, ihn studieren zu lassen. Der junge Ewald zeichnete sich unter allen seinen Mitschülern durch seine Lernbegierde aus, und wurde im achtzehnten Jahre für fähig erklärt, eine Universität zu beziehen. Er widmete sich der Rechtswissenschaft, und sein Vater sandte ihn nach Leipzig, wo er verschiedene Freunde hatte, denen er den Jüngling mit der zärtlichsten Sorgfalt empfahl. Ewald hatte bereits die Hälfte seiner akademischen Laufbahn mit Ruhm zurückgelegt, als eines Morgens einer der Freunde seines Vaters mit bestürtzter Miene in sein Zimmer trat, und ihm folgenden von Hamburg datirten Brief überreichte: »Das Glück, lieber Sohn, das bisher alle meine Unternehmungen begleitete, hat mir plötzlich den Rücken zugewandt. Der schreckliche Bankerot eines meiner hiesigen Correspondenten, mit dem ich meine meisten Geschäfte machte, hat mich um den grösten Theil 179 meines Vermögens gebracht. Ich bin hingereist., um wenigstens einige Trümmer aus dem Schiffbruche zu retten. Meine Bemühungen waren nicht ganz vergebens, und ich freue mich, dir beikommenden Wechsel von tausend Thalern übermachen zu können, der dich in den Stand setzt, deine Studien zu vollenden, und meine Rückkunft von einer langen Seereise zu erwarten, die, wie meine Freunde mir schmeicheln, meine Sachen wieder herstellen soll. Ich erlaube mir keine Klagen über meinen Unfall. Ich preise die Vorsehung, daß er mich in einem Alter betroffen hat, da ich Kräfte genug habe, das eingestürtzte Gebäude wieder aufzurichten. Auch darum preise ich sie, daß mein Unglück mich nicht einige Jahre früher traf. Ich würde die Stärke nicht gehabt haben, mich von deiner seligen Mutter zu trennen, und noch weniger hätte ich den Muth gehabt, ein täglicher Zeuge ihres Kummers zu seyn. Sey ein Mann, lieber Sohn, und vertraue der Vorsicht; sie wird in meiner Abwesenheit dich unter ihre Pflege nehmen, und deine Bemühung, ein brauchbares Mitglied der Gesellschaft zu werden, mit Segen krönen. Deine Zeugnisse, die deine Lehrer mir von deinem Fleiße und von deinen Sitten geben, bürgen mir für dein Schicksal, und lindern meinen Schmerz über die unermeßliche Entfernung, die mich auf einige Jahre von dir trennen wird. 180 Die Insel Curassao wird mein Aufenthalt seyn. Sobald ich an dem Orte meiner Bestimmung angelangt bin, werde ich dir Nachricht von mir geben. Lebe wohl, mein theurer Sohn, und empfange den besten Segen deines treuen Vaters!« Dieser Brief war ein Donnerschlag für den jungen Ewald. Er deckte ihn mit seinen Thränen, und mit seinen Küssen. Der Freund seines Vaters sagte ihm alles, was eine warme Theilnehmung ihm eingeben konnte, und verließ ihn nicht eher, als bis der Sturm, der in seinem Busen tobte, sich gelegt hatte. Ja bester Vater, sagte er, als jener weg war, ich will deiner Ermahnung folgen, ich will ein Mann seyn, und wenn du den Zweck deiner heldenmüthigen Reise nicht erreichest, so soll dieser Kopf, so sollen diese Hände dir ein sorgenfreies Alter verschaffen. Die Arbeit ist das sicherste Gegengift wider den Gram. Ewald studirte nun mit verdoppeltem Eifer, und vergaß darüber sein Unglück, nicht aber seinen Vater, dessen ersten Nachrichten er mit der zärtlichsten Unruhe entgegen sah. Nach vier Monaten erhielt er einen Brief, worin er ihm seine glückliche Ueberkunft nach Curassao meldete, und die Hoffnungen bestätigte, welche ihn zu dieser beschwerlichen Reise bewogen hatten. Nach zwei Jahren endigte Ewald seine akademische Laufbahn, und einer seiner Lehrer, der zugleich sein Freund war, verschaffte ihm eine 181 Sekretär-Stelle bei dem Grafen von S–, der auf seinen Gütern in Thüringen wohnte. Dieser ehrwürdige Greis, der im Harnisch grau geworden war, kannte die Menschen, und hatte Gefühl für das wahre Verdienst. Ewald ward im kurzem sein vertrautester Gesellschafter, und erwarb sich durch jene ungezwungene Geschäftigkeit, die nicht sowohl die Frucht einer feinen Lebensart, als eines gutartigen Naturels ist, die Gewogenheit seiner treflichen Gemahlinn, die von mittlerm Alter, und die Mutter eines einzigen Sohnes war, der als Rittmeister in Kaiserlichen Diensten stand. Ewalds Tage flossen auf dem Schlosse zu Lenzthal gleich dem heitern Bache dahin, der diesen reizenden Aufenthalt bewässerte. Sein Vater hatte ihn schon zweimal durch erwünschte Nachrichten von seiner Gesundheit, und von dem Fortgange seiner Geschäfte erfreuet, und der Graf hatte ihm die Aussicht zu einer anständigen Versorgung eröffnet, als die Erscheinung einer neuen Hausgenossinn den ruhigen Gang seines Lebens unterbrach. Seit dem Tode ihrer Schwester, die bei ihm wohnte, hatte die Gräfin sich schon oft eine Gespielinn gewünscht, die ihre Einsamkeit beleben, und den Genuß derselben mit ihr theilen könnte. Allein die Eigenschaften, die sie bei ihr suchte, hatten bisher ihre Bemühungen vereitelt. Sie verlangte eine junge Person von etwa zwanzig Jahren, 182 von reifem Verstande und geprüften Herzen, welche mit einer angenehmen Gestalt, einen heitern Muth, und die Vortheile einer aufgeklärten Erziehung verbände. Die Gräfin war würdig, eine solche Gesellschafterinn zu finden, und fand sie. Eine Freundin empfahl ihr die hinterlassene Tochter des Hofraths R. in G–, eines Mannes, dessen Andenken jedem Redlichen heilig war, und dessen würdige Gattinn seit seinem Tode in einer begnügsamen Dunkelheit lebte. Ausser Lina hatte sie noch einen Sohn, der einen jungen sächsischen Edelmann auf seinen Reisen begleitete, und seine Mutter durch seine Ersparnisse unterstützte. Kaum hatte Lina einen Monat auf dem Schlosse zu Lenzthal zugebracht, so wurde sie zu gleicher Zeit die Freundinn der Gräfinn und Ewalds Geliebte. Beydes mußte sie zu gleicher Zeit werden, weil die Eindrücke der sinnlichen sowohl, als der moralischen Schönheit, auf empfängliche Seelen eben dieselben, und blos in ihren Wirkungen verschieden sind. Die Gräfinn begnügte ihr diesen Eindruck durch eine edle Vertraulichkeit, und Ewald durch eine stille Verehrung, der sich eine täglich steigende Dose von Zärtlichkeit beimischte. Lina erwiederte das Wohlwollen ihrer liebreichen Gönnerinn durch eine wahrhaft-kindliche Ehrfurcht und Anhänglichkeit. Ewalds Betragen schmeichelte ihrem Herzen, dem sein Werth nicht 183 verborgen bleiben konnte, es hatte noch nie geliebt, und wußte nicht, daß das, was es für ihn fühlte, der erste Funke einer aufglimmenden Leidenschaft war, die in einem reinen Busen nie auf einmal in vollen Flammen ausbricht.

So wandelte Ewald und Lina einige Wochen lang in den Vorhöfen des Heiligthums der Liebe. Sie kamen einander immer näher und näher; es brauchte nur einen Augenblick, nur einen einzigen elektrischen Schlag, um ihre Herzen in eins zu verschmelzen. Dieser Augenblick erschien. An einem kühlen Sommerabend saß Lina in einer Laube des Schloßgartens, und sang Clarissens Lied an die Weisheit, nach Uzens treflicher UebersetzungDer Nacht getreuer Vogel schwirrt u. s. w. in ihre Harfe. Ewald belauschte sie, und zerfloß in Wonne. Als sie an die Mitte der 13ten Strophe kam, verstärkte sich ihr Ton, und sie legte einen hohen feierlichen Nachdruck in die Worte:

»Dir dankt ein häuslich Liebesband,
Ein stilles Leben auf dem Land,
Geheime Süßigkeit.«

Nun konnte sich Ewald nicht länger halten; er trat mit einem durch die Entzückungen seiner Seele verklärten Gesicht in die Laube, hielt die reizende Sängerinn auf ihrem Sitze zurück, den sie verlassen wollte, und sprach zu ihr: »Wollen Sie mir 184 erlauben, edle Lina, Ihren Gesang zu secundiren?« Es ist Gesang der Einsamkeit, erwiederte sie. »Nein, Lina, das Liebesband, dessen geheime Süßigkeit Clarissa preist, erfodert zwo vereinigte Seelen. Sie haben das Herz dieses himmlischen Mädchens, seyn Sie glücklicher als sie; nicht alle Liebhaber sind Lovelace.«

Ich glaube es, sagte Lina, ohne diesen Glauben würde ich . . . . . . »Was würden Sie?« – Nicht mehr glücklich seyn können.

Bei diesen Worten faßte Lina Ewalds Hand, und drückte sie zwischen die ihrige; schnell zog sie die unwillkührliche Verrätherinn ihres Herzens zurück, allein es war zu spät; Ewald hatte ihre Sprache verstanden. Er machte eine Bewegung, um sich ihr zu Füssen zu werfen: doch plötzlich raffte er sich zusammen. Nein, sprach er, dies thut auch ein Lovelace. Er sah Lina mit einem Blicke, der zu gleicher Zeit der Ausdruck des feierlichsten und des zärtlichsten Gefühls war, in ihr großes, geistvolles Auge, und hob die Hand empor. »Bei dem höchsten Geiste, den Clarissa anrief, schwöre ich, daß ich Lina liebe, und ewig lieben werde!«

Dieses sprach er in dem leisen feurigen Tone der Begeisterung, und Lina empfieng sein Gelübde, indem sie ihm jene Stelle aus der 7ten Strophe zuflüsterte: 185

»Mein Vorzug sey, von dir geliebt,
Inwendig schön zu seyn.«

Nun war der Bund geschlossen. Ewald und Lina traten in eine neue Welt, in der sie nur sich suchten, nur sich fanden. Allein, ihre Liebe zog sie von keiner ihrer Pflichten ab. Sie war vielmehr ein neues Band, das sie noch fester an die Personen knüpfte, in deren Hause der Himmel sie zusammen geführt hatte. Jeder Tag gewährte ihnen einige Augenblicke zu einer stillen Unterredung. Ihre Liebe war, was sie bei reifen veredelten Seelen immer ist, eine erhöhte Freundschaft. Oft beschäftigten sie sich mit Planen auf die Zukunft; aber sie zogen diese Zukunft nicht mit Gewalt herbei. Sie waren sich schon wirklich alles, und erwarteten ruhig den Augenblick, der den einzigen noch übrigen Wunsch ihrer Herzen krönen sollte. So verstrich ihnen der Sommer und der Herbst, und auch der Winter wäre ihnen so verstrichen, hätte nicht der plötzliche Tod des Grafen die selige Einförmigkeit ihres Lebens gestört. Beide Liebende vereinigten sich, um seine Wittwe durch die wärmste Theilnehmung an ihrem Verluste zu trösten. Diese hatte ihnen die Verbindung ihrer Herzen abgelauscht, und sich gemeinschaftlich mit ihrem Gemahl mit Entwürfen beschäftiget, die sie dem Ziel ihrer Wünsche nähern sollten. Nun aber war es der Gräfin nicht 186 mehr möglich, diese Entwürfe auszuführen. Ewalds Versorgung hieng jetzt größtentheils von dem Rittmeister ab, der als der einzige Erbe der väterlichen Güter nach Lenzthal eilte, um davon Besitz zu nehmen. Es war ein lebhafter und verwilderter junger Mann, her zwar die Laster seines Standes, aber keine von den Tugenden besaß, durch die sein Vater sich die Verehrung des Soldaten und des Bürgers erworben hatte. Kaum hatte er einige Tage auf dem Schlosse zugebracht, so heftete sein Auge sich auf Lina. Er vergaß über ihr seinen Verlust und seine Erbschaft, und benutzte die erste günstige Gelegenheit, um ihr seine Liebe anzutragen. Seine Blicke und seine Worte sagten ihr, was es für eine Liebe sey.

Lina antwortete ihm in einem Tone, der einen gemeinen Gecken abgeschreckt haben würde, aber einen versuchten Buhler, der an keine weibliche Tugend glaubte, nur noch lüsterner machen mußte. Er verfolgte sie in jedem Winkel des Schlosses, selbst ihr Zimmer schützte sie nicht vor seinen Nachstellungen. Lina verschwieg ihre Lage ihrem Geliebten. Sie befürchtete einen unangenehmen Auftritt, und hoffte, daß eine baldige Beförderung ihn und sie von einer Abhängigkeit befreien würde, deren Last sie nun erst zu fühlen begann. Auch der Gräfin verbarg sie ihre Verlegenheit; sie war ihr zu viel 187 schuldig, und liebte sie zu zärtlich, um ihr in ihrem Sohne einen niederträchtigen Verführer zu entlarven. Doch dieser verstellte sich zu wenig vor seiner Mutter, als daß sie nicht einen Theil des schändlichen Geheimnisses hätte errathen sollen. Die Gräfin kannte Lina; ihre Grundsätze noch mehr, als ihre Liebe zu Ewald, ließen sie nichts von ihr befürchten. Destomehr aber befürchtete sie von der Ausgelassenheit ihres Sohnes. Sie segnete in der Stille das edle Mädchen, das ihn und sie mit so vieler Schonung behandelte.

Endlich aber konnte Lina nicht mehr schweigen. Der Rittmeister hatte sie an einem schönen Wintermorgen, da sie in der Bogenallee des Schloßgartens frische Luft schöpfte, unversehens überrascht, und sie, als sie ihm entwischen wollte, mit Gewalt aufgehalten. Lina wehrte sich, und als er ihr einen Kuß rauben wollte, stieß sie ihn mit so vielem Nachdruck zurück, daß er ausglitschte, und in den Schnee fiel. Lina floh. Der Rittmeister fluchte, und lief ihr nach: »Ich weiß wohl, wer mir im Wege steht; der Schurke soll es mir mit seinen Ohren bezahlen.« Nun zitterte das gute Mädchen mehr für ihren Geliebten, als für sich. Sobald sie sich erholt hatte, eilte sie zu ihrer Wohlthäterinn, und bat um die Erlaubniß, ihre Mutter auf einige Wochen zu besuchen. Die Gräfin sah sie liebreich an, ihre 188 Augen füllten sich mit Thränen; sie umarmte Lina, indem sie einen tiefen Seufzer ausstieß. Ja, mein, Kind, sagte sie, du sollst reisen, und dein Ewald soll dein Begleiter seyn. Lina erröthete und küßte die Hand ihrer Beschützerinn, mit einer Inbrunst, die ihr alles sagte, was ihr Mund verschwiegen hatte. Sobald sie einen günstigen Augenblick fand, eröffnete sie ihrem Geliebten ihr Vorhaben. Sie konnte es nicht thun, ohne ihm zugleich ihre Bewegungsgründe zu entdecken. »Ich bemerke schon lange was vorgeht«, erwiederte Ewald, indem er ihre Hand an sein Herz drückte. »Ich schwieg, weil ich meine Lina kenne. Nur bei der Gartenscene, der ich aus meinem Fenster zusah, mußte ich mir Gewalt anthun, um nicht die Verwegenheit Ihres nichtswürdigen Verfolgers zu bestrafen.« Sie kamen überein, um sich desto ungezwungener unterreden zu können, die Reise nach G . ., welches fünf Meilen von dem Gute lag, in einem leichten Carriol zu machen, dessen Führer Ewald seyn sollte. Lina benachrichtigte ihre Mutter von ihrer Ankunft, und am dritten Tage war sie reisefertig. Der Rittmeister hatte ihren Entschluß bei Tische von seiner Mutter erfahren, und mit der größten Gleichgültigkeit angehört. Auch ich, sagte er nach einigen Minuten, werde auf ein Paar Tage einen Freund besuchen, und noch diesen Abend abreisen. Am 189 dritten Morgen machte sich Ewald mit Lina auf den Weg. Ihr Abschied von der Gräfin war zärtlich; sie drückte ihre junge Freundinn fest an ihr Herz, und sagte ihr halbleise: wenn es Zeit ist, werde ich dich, liebes Kind, wieder holen lassen. Die Reisenden hatten bereits die Hälfte ihres Weges zurückgelegt, als sie ein kleines Gehölz erreichten, durch das ihre Straße sie führte. Plötzlich kamen zween vermummte Reuter auf sie zugesprengt, wovon der eine den Pferden in die Zügel fiel, indeß der andere Ewalden mit gespannter Pistole befahl, sogleich auszusteigen. Ewald hatte auf allen Fall auch ein Paar Pistolen in die Wagentaschen gesteckt. Er ward aber zu schnell überrascht, um zu den Waffen zu greifen. Er versetzte seinem Gegner, ehe er sichs versah, mit seiner Peitsche einen so derben Schlag über die Hand, daß die Pistole im Augenblicke, da er sie abdrücken wollte, zur Erde fiel. Lina hingegen ergriff diejenige, die auf ihrer Seite stack, und feuerte sie mit männlicher Entschlossenheit auf den andern Reuter los, der die Pferde hielt. Er stürzte zu Boden. Sein Spießgesell griff nach seiner zwoten Pistole; weil aber seine Faust von dem Schlage halb gelähmt war, so streifte der Schuß bloß Ewalds Hut. Dieser lenkte plötzlich seitwärts, und jagte mit dem Carriol in gestrecktem Galopp davon. Es vergiengen einige Minuten, ehe die 190 bestürzten Reisenden sprechen konnten, und erst, als sie die Mörder ganz aus dem Gesichte verloren hatten, hielt Ewald die Pferde an, und umarmte die blasse Lina, die er seine Retterinn nannte, mit Thränen der Freude und der Zärtlichkeit. Das war auf mich gemünzt, sagte Lina. Gott! wenn der verwundete nur nicht todt ist. Mich dünkt, ich habe ihn erkannt, ob er gleich kein Wort sprach: die Stimme desjenigen, der Ewalden anfiel, war Beyden fremd. Vielleicht, sagte er, ist es der Freund, den der Nichtswürdige besuchen wollte. Traurig und nachdenkend setzten sie ihre Reise fort, und langten bei einbrechender Nacht glücklich in G. an.

Lina erzählte ihrer Mutter die Veranlassung ihrer Reise, und indeß Ewald die Pferde in den nächsten Gasthof führte, machte das liebenswürdige Mädchen sie mit seinen Absichten bekannt. Sie gestand ihr mit edler Freimüthigkeit ihre Liebe, und die Blicke der Mutter sagten ihr, ich kenne meine Lina; ich darf ihrer Wahl trauen. Als Ewald zurückkam, stellte sie ihn als ihren Geliebten ihr vor, und er ward als ein Sohn von ihr empfangen. Der Abend verstrich unter traulichen Gesprächen, und es war Mitternacht, als man sich trennte.

Ewald hatte versprochen, des folgenden Tages nach Lenzthal zurück zu kommen, und er machte sich 191 früh auf den Weg, weil er, um das fatale Gehölz zu vermeiden, lieber eine Meile umfahren wollte.

Bei seiner Rückkunft traf er die Gräfin in grosser Bestürzung an. Vor einer Stunde, sagte sie zu ihm, erhielt ich die traurige Nachricht, daß mein Sohn bei seinem Freunde, dem Lieutenant von M. auf der Jagd den linken Arm zerbrochen habe. Ewald erblaßte. »Es ist doch keine Gefahr dabei?« fragte er ängstlich. Man versichert mich nein, erwiederte die Gräfin; in vierzehn Tagen soll er die Reise nach Lenzthal ertragen können. Ewald benachrichtigte des folgenden Tages seine Geliebte von seiner Ankunft, und von dieser Unterredung, welche ihre gemeinschaftlichen Muthmassungen über den Vorfall im Walde bestätigte. Die Berichte von des Rittmeisters Gesundheit lauteten täglich befriedigender, und seine Mutter hatte bereits alle Anstalten zu seinem Empfange gemacht, als sie folgenden eigenhändigen Brief von ihm erhielt:

Gnädige Mamma!

Nun bin ich wieder in so weit hergestellt, daß ich meine Rückreise nach Lenzthal unternehmen kann; ich werde mich aber nicht eher dazu entschliessen, als bis ich gewis bin, daß ich den Sekretair Ewald nicht mehr dort antreffen werde. Der Mensch hat die Ehre, mir zu mißfallen, und ich ersuche Sie, gnädige Mamma, ihm in meinem Namen seinen 192 Abschied zu geben. Sie werden dadurch nicht nur mir, sondern ihm selbst den grösten Gefallen erweisen; denn wenn ich ihn fortschicken muß, so dürfte es dabei lange nicht so glimpflich hergehen, als wenn Euer Gnaden diese Mühe übernehmen. Ich finde es überflüssig, mich in eine weitere Erklärung einzulassen; genug, mein Entschluß ist gefaßt, und nichts in der Welt wird mich davon abbringen; es hängt also nur von Ihnen ab, gnädige Mama, ob und wie bald Sie Ihren Sohn wieder sehen wollen. Ich bin u. s. w.

Dieser Brief erschütterte die Gräfinn um so mehr, da sie ihren Sohn zu gut kannte, um von ihren Vorstellungen den mindesten Erfolg zu erwarten. Sie gieng selbst auf Ewalds Zimmer, der eben an Lina schrieb, und übergab ihm, mit Thränen im Auge, das Urtheil seiner Verbannung. Ewald las; kalte Verachtung war der Eindruck, den das Blatt auf ihn machte. Diese Nachricht, sprach er, kommt mir nicht unerwartet; so viel es mich auch kostet, eine Gönnerinn zu verlassen, die meine ganze Ehrfurcht besitzt, so wird mir doch dieser Schritt durch die Hoffnung erleichtert, daß ich durch meine Entfernung ihre Ruhe befördern werde. Ich kann ihn daher nicht zu frühe thun. Schreiben Sie, gnädige Frau, Ihrem Herrn Sohne, daß ich übermorgen verreise. Die Gräfin versicherte Ewalden, mit 193 gerührter Seele, ihrer ganzen Hochachtung, und fertigte ihm einen Abschied aus, der Beiden gleich viel Ehre machte. Ewald schrieb dieses alles an Lina, und meldete ihr, daß er an ihrer und ihrer Mutter Seite den Plan seines künftigen Lebens entwerfen wollte. Beim Abschiede gab ihm die Gräfin eine englische Brieftasche. »Sie enthält, sagte sie, ein Schreiben an den Minister N . . . in Wien. Er war der Freund meines Gemahls, und steht in großem Credit. Da ich Ihnen, lieber Ewald, meine Schuld nicht abtragen kann, so bitte ich ihn, sie zu übernehmen.« Der Gedanke, daß er seiner Geliebten entgegen reise, konnte die Traurigkeit nicht zerstreuen, womit der junge Mann Lenzthal verließ. Erst an den Thoren von G. ermunterte sich sein Geist, und er war wieder glücklich, als Lina ihn in ihre Arme faßte. Doch ihre Freude war nicht vollkommen, ein Zug von Schwermuth umwölkte ihre offene Stirne. Ach Lieber! sagte sie, indem sie ihn neben sich auf einen Sopha zog: »Ich bin Schuld an Ihrem Unglücke.« – Ich segne es, wenn es eines ist, weil ich es der Tugend und Liebe zu danken habe. – Gut, mein braver Sohn, unterbrach ihn die Mutter; auch mir sagt mein Herz, daß die Tugend und die Liebe Sie einst wieder glücklich machen werden. Allein was haben Sie nun vor? fragte Lina; wo wollen Sie hin? Hier ist meine Marschroute. Bei diesen Worten überreichte ihr Ewald seine 194 Brieftasche, aus welcher sie, nebst dem Empfehlungschreiben der Gräfinn, einen Wechsel von hundert Dukaten hervorzog. Daran erkenne ich das edle große Weib! rief der erstaunte Ewald; ihre Delikatesse ist mir unendlich mehr werth, als ihre Geschenke. Die Kunst zu geben, gehört unter die Privilegien schöner Seelen. –

Es wurde beschlossen, daß Ewald sich nur drei Tage, in G. aufhalten, und dann seine Reise nach Wien ungesäumt vornehmen sollte. Nach zehn Tagen langte er in dieser Residenz an. Das erste, was er an der Wirthstafel seines Gasthofes erfuhr, war der Tod des Ministers, dem er empfohlen war, und der am nämlichen Morgen begraben wurde. Diese Nachricht drückte den jungen Mann zu Boden. Zwey Tage verschloß er sich auf sein Zimmer, unentschlossen, was er anfangen sollte. Endlich besann er sich auf einige junge Edelleute, die er ehedem in Leipzig gekannt hatte. Er suchte sie auf. Zwey davon waren auf Reisen; der dritte wollte sich seiner kaum mehr erinnern, und der vierte war selbst in einer Lage, in der er fremder Empfehlungen bedurfte. Ewald gab noch nicht alles verloren. Da ich einmal hier bin, dachte er, will ich mich suchen bekannt zu machen; vielleicht soll ich meine Versorgung nur mir selber zu danken haben. Indessen gab er der Gräfinn und seiner Lina Nachricht von seinem Mißgeschicke. Beide konnten ihn blos beklagen. Doch goß die Zärtlichkeit seiner 195 Geliebten einen erquickenden Balsam in sein Herz. Ein ganzer Monat verstrich unter vergeblichen Bemühungen, und Ewalds Börse war schon weit über die Hälfte geschmolzen. Er beschloß daher, nach Thüringen zurück zu kehren, und in der Hofkanzley seines Fürsten einen Zugang zu suchen. Er nahm seinen Rückweg durch Böhmen und Sachsen. Hier griff ihn auf dem Postwagen ein heftiges Fieber an, das sein geheimer Gram und die üble Witterung ihm zuzogen. Er mußte in dem Posthause eines kleinen Städtchens liegen bleiben. Seine Krankheit nahm täglich überhand, und der Arzt, den man herbei rief, verzweifelte an seiner Genesung. Drei volle Wochen schwebte er zwischen Tod und Leben, bis endlich eine heilsame Krise ihn ausser Gefahr setzte. Zum Glücke war der Postmeister ein wackerer gutherziger Mann, der dem Patienten die sorgfältigste Pflege verschaffte. Allein so billig auch seine Rechnung war, so befand sich doch Ewald in der Unmöglichkeit, sie völlig zu bezahlen, und der Kummer, worein ihn dieser Umstand stürzte, verursachte ihm einen Rückfall, der seine Herstellung verzögerte. Endlich erholte er sich, und da er so viele Beweise von der Menschlichkeit seines Wirthes hatte, so beschloß er, ihm seine Verlegenheit zu entdecken. Gut, sagte der brave Mann, ich bin auch einst in der Fremde krank, und ohne Geld gewesen. Gott hat mich zu guten Leuten gebracht. Was jene an 196 mir thaten, will ich an Ihnen thun. Sie sind, wie Sie sagen, ohne Dienst. Ich fange an zu altern. Die Posten gehen stark, und ich habe dabei noch beträchtliche Speditions-Geschäfte mit Landwaaren. Wollen Sie mein Postschreiber seyn, und mir meine Bücher führen, so sollen Sie mir in sechs Monaten die vierzig Thaler abverdienen, die Sie mir schuldig sind. Ewald drückte seinem guten Wirthe die Hand, und so war der Tractat geschlossen. Schon am folgenden Tage machte er sich an die Arbeit, und ehe eine Woche vergieng, war sie ihm so geläufig, als ob er dabei aufgewachsen wäre. Die Furcht, seine Lina durch schlimme Zeitungen zu betrüben, denen er keinen Schein von Hoffnung beimischen konnte, hatte ihn bisher abgehalten, an sie zu schreiben. Nun that er es mit aller Schonung, die seine Liebe und eine gewisse falsche Schaam ihm eingab, die auch die edelsten Menschen nicht ganz unterdrücken können, wenn das Schicksal sie unter ihre Sphäre erniedrigt. Es war um die Leipziger Ostermesse, da er seinen Brief abschickte; seine Geschäfte giengen stärker, als jemals. Keine Nacht konnte er ganz ruhig in seinem Bette zubringen. Es geschah eines Morgens, da kaum der Tag graute, daß eine Herrschaft in einem verschlossenen Wagen vor dem Posthause anhielt, und ungesäumt frische Pferde verlangte. Sie waren alle auf der Straße. Ewald trat an den Schlag des Wagens, 197 um die Herrschaft zu bitten, die Rückkunft der Pferde in einem Zimmer zu erwarten. Er öffnete den Mund, aber sein Gruß starb auf seiner Zunge! Er sah seine Lina, die in den Armen eines schönen jungen Mannes schlief, der ihm ein Zeichen gab, leise zu reden, um sie nicht aufzuwecken. Ewald stund eine Minute, wie die Bildsäule des Schreckens, vor dem Wagen. Gott, ists möglich! rief er endlich, ach die Treulose! Lina fuhr auf, erblickte ihn, und sank halbohnmächtig an den Busen ihres Begleiters. Um des Himmels willen, rief dieser, was wollen Sie? Wer sind Sie? Fragen Sie Ihre Gefährtinn, erwiederte Ewald in dem trotzigen Tone der gekränkten Ehre und Liebe. Lina schlug die Augen auf: Ach Ewald, mein Ewald! rief sie. Bruder, es ist mein Ewald! Ihr Bruder? sprach Ewald, als ob er aus einem schrecklichen Traume erwachte. Ja ihr Bruder, rief der Fremde, indem er den Schlag öffnete. Ewald stürtzte hinein, ergriff Linas Hand: ach vergieb, vergieb, meine Lina! Ich habe nichts zu vergeben, versetzte sie mit himmlischer Freundlichkeit; ein feindseliger Dämon hat meinen Ewald geneckt. Sie streckte ihre Arme nach ihrem Geliebten aus, und ein Kuß versiegelte seine Begnadigung. Engel! rief er, mehr konnte er nicht sagen. Er führte die Reisenden in ein besonderes Zimmer. Lina stellte ihm ihren Bruder vor, der durch den Vater seines Eleven eine ansehnliche Stelle in 198 Dresden erhalten hatte, und nun seine Schwester abholte, um seiner Hochzeit mit der Tochter eines reichen Kaufmannes beizuwohnen. Sie müssen mit, sagte Albert; so hieß dieser Bruder. Ihre Gegenwart wird meine Freude und die Freude meiner Schwester vollkommen machen. Lina war vor der Ankunft seines letzten Briefes von G. verreist. Ewald erzählte ihr seinen Inhalt, und trug nun kein Bedenken, die Gründe beizufügen, die ihn in dem Posthause fest hielten. Diesen Anstand wollen wir heben, sprach Albert. Wir bleiben heute hier, und morgen müssen Sie uns begleiten. Er gieng zum Postmeister, tilgte seine Rechnung, und bot ihm eine Entschädigung an, die der ehrliche Alte ausschlug. Am folgenden Morgen verließ Ewald seinen Pflegevater mit der innigsten Rührung, und vergaß nun an der Seite seiner Geliebten und seines neuen Freundes alle seine Widerwärtigkeiten. Alberts Schicksal war ihm eine Bürgschaft für das seinige, und als er mit Lina die Braut vom Altar zurückbegleitete, flüsterte ihm das holde Mädchen mit einem Händedruck ins Ohr: auch wir werden einst so glücklich seyn. Ewald war es so sehr, als er es seyn konnte. Allein seine Theilnahme an den häuslichen Freuden, die ihn umgaben, und die herzliche Freundschaft, die er im Zirkel der Familie seiner Lina genoß, konnten ihm die Ungewißheit seines eigenen Schicksals nicht lange verbergen. Seine 199 fehlgeschlagene Hoffnung, und das Stillschweigen seines Vaters fiengen allmählig an, einen düstern Schleyer über seine Seele zu verbreiten. Er schrieb nach Hamburg, und die Antwort war unbefriedigend. Er schrieb nach Holland, und die Antwort blieb aus. Mir ahnt etwas, sprach er einst zu seiner Geliebten. Könnte ich nur nach Amsterdam reisen; dort, nur dort können meine schreckliche Zweifel gelöst werden. Lina sprach mit ihrem Bruder, und dieser bot ihm mit der edelsten Art die Mittel an, seine Reise zu bewerkstelligen. Er verschob sie nur so lange, als es nöthig war, sich dazu anzuschicken, und langte ohne besondern Zufall glücklich in Amsterdam an. Des folgenden Tages gieng er aus, um den Correspondenten aufzusuchen, der ihm bisher die Briefe seines Vaters zugefertigt hatte. Er hoffte, ihn auf der Börse zu erfragen. Indem er, von Furcht und Hoffnung hin und her getrieben, durch eine volkreiche Straße schlich, die zu der Börse führte, hörte er sich aus einem Kaffeehause bei seinem Namen rufen. Es war ein ehrwürdiger Greis, der unter einem offenen Fenster stand. Er gieng auf ihn zu, vor ihm her gieng ein Fremder, den er nicht im Gesichte sehen konnte, und der einen Augenblick früher, als er, den Alten erreichte. Sie haben mich gerufen, mein Herr, sprach Ewald. Verzeihen Sie, ich rief hier diesen Herrn. Nun sah Ewald dem Fremden ins Gesicht, und beide riefen zugleich: mein 200 Vater! mein Sohn! sie sanken sich in die Arme. Ihre Thränen sagten, was Worte nicht sagen können: und der alte Correspondent, der herbei gelaufen kam, vollendete die Wonneszene. Als Vater und Sohn wieder zusammenhängende Worte sprechen konnten, sagte jener: meine Unfälle sind geendigt; die Vorsicht hat mir viermal mehr wieder gegeben, als sie mir entzogen hatte. Bald nach meiner Zurückkunft langte dein Brief hier an; ich bat aber meinen Freund, ihn nicht zu beantworten, weil ich dich überraschen wollte. Ewald ruhte mit seinem Vater einige Wochen in Amsterdam aus, und benachrichtigte seine Lina von dem über alle Erwartung glücklichen Ausgange seiner Reise. Mein Vater, sagte er, segnet unsere Verbindung, und will im Schooße seiner Kinder den Rest seiner Tage verleben. Seine Ungeduld, die Geliebte meines Herzens zu umarmen, kann nur der meinigen weichen. In vierzehn Tagen sind wir in Dresden. Zum erstenmal war der Pinsel der Liebe kein Schmeichler, sprach der entzückte Vater, als er am Abend nach seiner Ankunft zwischen Ewald und Lina auf einem Canapee saß, und beider Hände zwischen die seinigen drückte. Du hast mir zu wenig, viel zu wenig von ihr gesagt. Kinder, ich gehe nicht von hier weg, bis eure Verbindung vollzogen ist, Ich gebe Euch nur so lange Aufschub, bis Ihr Eure gute Mutter von G. herübergeholt habt. Das sey 201 unsere letzte Trennung auf Erden. Dann wollen wir uns einen Wohnplatz aussuchen, wo wir unsere Unfälle vergessen, und der ganzen Welt, nur nicht den Unglücklichen, unbekannt leben können. Keine Stadt soll uns in ihre Mauern einsperren. Ein stilles angenehmes Landhaus im großen Garten der Natur soll uns in seinem Schatten verbergen. Eure Mutter soll ihre Tage zwischen ihrem Sohne und ihrer Tochter theilen, und Albert und seine Gattinn sollen jedes Jahr die Frühlings- oder Herbstmonate bei uns genießen. Wissen Sie wohl, unterbrach ihn hier Albert, daß Ihr Landhaus bereits gefunden ist? Der Rittmeister, den Sie vermuthlich aus Ewalds Geschichte kennen werden, hatte bei seines Vaters Tode schon so viel alte Schulden, und hat hier im letzten Carneval so viel neue dazu gemacht, daß der Rittersitz Lenzthal von seinen Gläubigern verkauft wird. Einer meiner Freunde, der selbst eine beträchtliche Summe an ihn zu fordern hat, betreibt die Sache, und wenn Sie den bereits gebotenen 50,000 Thalern noch einige Tausend zulegen wollen, so sehe ich den Handel als geschlossen an. Ewald weiß, was das Gut trägt, und er und Lina können Ihnen seine herrliche Lage beschreiben.

Ewald, der nichts von den verfallenen Umständen des Grafen wußte, hörte seinem Schwager mit stummem Erstaunen zu: Gott! welche Katastrophe, aber auch welche Aussicht! O bester Vater, Sie 202 müssen das Gut kaufen. Es ist auch sechzig tausend Thaler werth, und für uns – hier küßte er seine Lina – ist es mehr als ein Fürstenthum. Es ist der Geburtsort unserer Liebe . . . . . . . Ich verstehe dich, mein Ewald, rief Lina voll Entzücken! Ja wohl, diese Aussicht geht in ein Paradies. Lenzthal kann die Freistätte unserer Wohlthäterinn werden, bei der wir dort unsere Freistätte fanden. Recht so, meine Tochter, sagte der alte Ewald, indem er ihr die Wangen streichelte. Ich gebe Ihrem Bruder eine unbeschränkte Vollmacht, nur muß der Kauf geschlossen seyn, bis Ihr von G. zurück kommt; denn Lenzthal soll Euer Heirathsgut werden. Das Brautpaar verreiste nach G. – und ungeachtet Lina's Mutter auf die frohe Szene des Wiedersehens vorbereitet war, so war doch ihr Herz mehrere Tage zu enge für die seligen Gefühle, die es bestürmten.

Albert betrieb seine Geschäfte mit einem Erfolge, der um desto weniger Schwierigkeiten fand, da der Rittmeister seit kurzem seinen Major in einem verrätherischen Duell erlegt, und allen Credit seiner Familie nöthig hatte, um, statt zum Schwerdte, blos zu einer ewigen Gefangenschaft verurtheilt zu werden.

Ewald erhielt in G. Nachricht von dem geschlossenen Kaufe, und eilte mit seiner Braut nach Lenzthal, um der Gräfin ihren beiderseitigen Lieblingsplan mitzutheilen. Sie fanden sie in tiefe Betrübniß versenkt. Doch blitzte ein Strahl der 203 Freude über ihr Gesicht, als sie das junge Paar in das Zimmer treten sah. Mit inniger Theilnahme hörte sie die Nachricht von ihrer nahen Verbindung, und gab ihnen den Segen einer Mutter. Endlich sagte sie: Ich würde Sie bitten, mich recht oft in Lenzthal zu besuchen, wenn ich es nicht nächstens verlassen müßte.

Ewald. Ich hoffe, Sie werden es nie verlassen.

Gräfinn. Wissen Sie nicht, daß das Gut verkauft ist?

Ewald. Das weiß ich, kennen Sie den Käufer?

Gräfinn. Ich kenne ihn noch nicht, das ist aber für mich ganz einerley.

Ewald. Nicht so ganz, gnädige Frau; der Käufer ist mein Vater, und das Gut ist unsere Mitgift. Wenn wir glücklich darauf leben sollen, so dürfen, so können Sie es nicht verlassen.

Lina. Nein, das können Sie nicht; Sie werden Ihre Wohlthaten gegen uns noch dadurch krönen, daß Sie sich denjenigen Theil Ihres Schlosses, der Ihnen am bequemsten ist, zu Ihrer Wohnung auswählen, und uns die süße Ehre gönnen werden, Ihnen wieder das zu seyn, was wir Ihnen in vorigen Zeiten waren.

Die Gräfinn weinte an Lina's Busen. Ich würde, sagte sie, mich vor Ihnen, und vor mir schämen, wenn ich mich lange besänne, Ihr Anerbieten anzunehmen. Ja, meine Freunde, wir wollen beisammen leben. Dieser Gedanke heitert meine 204 Zukunft auf. Nun weiß ich, daß ich einst in den Armen der Freundschaft sterben werde.

Ewald und Lina kamen von Lenzthal so vergnügt nach G. zurück, als ob sie nun erst durch die Gräfinn Eigenthümer des Gutes geworden wären. Einige Tage hernach reiseten sie mit ihrer Mutter nach Dresden, wo man sie mir Ungeduld erwartete. Ihre Hochzeit wurde in der Stille gefeiert, kein rauschender Tanz entweihte die heilige Szene, kein Bastard der Musen verdarb die Harmonie des Festes durch seine schnarrende Leyer. Allein der alte Vater gab dem Geistlichen, der die Trauung verrichtete, fünfzig Carolinen, um sie unter die Hausarmen auszutheilen, und eine ähnliche Summe zum Brautschatz für zwei brave Waisen, denen es nur an einem kleinen Capital fehlte, um ein eben so glückliches Ehepaar als die Neuvermählten zu werden. Nun konnte es Vater Ewald nicht mehr in Dresden aushalten, und ehe acht Tage vorbei waren, gieng die Reise nach Lenzthal vor sich. Die glückliche Lina weinte an dem Halse ihrer Wohlthäterinn, und diese fand an ihrer Mutter und an dem alten Ewald ein Paar trefliche Seelen, mit denen sie gar bald ein enges Bündniß knüpfte.

Wer die Bildergallerie der Liebe und Freundschaft mit einem neuen Gemälde vermehren will, muß etwas Vorzügliches liefern können. Sonst thut er besser, er läßt den Vorhang fallen. 205

 


 


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