Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 5. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Der Findling.

Unter der blutigen Regierung des Schach Sefi, lebte in Persien Theodor, ein armenischer Kaufmann, der sich durch verschiedene Reisen nach Ormus, Cairo und selbst nach Venedig grosse Schätze, und durch seinen Umgang mit aufgeklärten Europäern seltene Kenntnisse erworben hatte. Seit zwei Jahren war er nach Ispahan zurückgekommen, wo er durch unglückliche Banquerotte einen grossen Theil seines Vermögens einbüßte! Es blieben ihm hundert Tomane übrigEin Toman ist ungefähr 30. Thaler., die er einzog und sich in einer angenehmen Gegend, eine Meile von der Hauptstadt, ein kleines Landgut kaufte, wo er in seinem vierzigsten Jahre anfieng sich selbst zu leben, und seine Zeit der Betrachtung der Natur, der Lesung einiger guten Bücher, und den Uebungen der Mildthätigkeit zu widmen. Die Armen der Gegend fanden an ihm, ohne Unterschied des Glaubens, einen Vater, und die weise Oekonomie, womit er seine Einkünfte verwaltete, setzte ihn in den Stand, keinen Nothleidenden ungetröstet von sich zu lassen. Er bauete selbst einen Theil seiner Aecker, und wenn er Hülfe brauchte, so drängten sich alle seine Nachbarn herbei, weil sie wußten, daß er seinen Reis und seinen Waitzen mit den Hungerigen theilte. Schon 170 drei Jahre lebte er in seiner seligen Einsamkeit, als er einst die kühle Abendluft in einem Wäldchen genoß, das zu seinem Gute gehörte. Auf einmal sah er durch den Flor der Dämmerung eine junge Sklavinn aus einem dichten Busche springen, und mit geflügelten Schritten davon eilen. Er näherte sich dem Busche, und fand in demselben einen zierlich geflochtenen Korb von Bast, in welchem ein reitzender Knabe lag, der lächelnd seine kleine Arme nach ihm ausstreckte. Theodor, der nie Vater war, fühlte eine namenlose Wallung in seinem Busen. Sein Herz klopfte hoch auf, und die heilige Stimme der Menschlichkeit hallte durch seine Seele. Er hob den Korb von der Erde und eilte so schnell mit seiner Beute davon, als ob er von einem mißgünstigen Räuber verfolgt würde. Als er in seinem Landhause ankam, war sein erstes Geschäfte, den holdseligen Findling näher zu besichtigen. Er war in feine Windeln gehüllt, seine Kissen und seine Decke waren von Seide, und an seinem Halse hieng die Hälfte eines zerbrochenen goldenen Ringes, auf welchem von einer ungeübten Hand die Worte eingegraben waren: »Alexis, der Sohn des F . . . . . Der Rest der Innschrift füllte wahrscheinlich die zweite Hälfte des Ringes, den Theodor in dem Korbe und im Anzuge des Kindes vergeblich suchte. Er verschloß dieses unvollständige Denkmal seiner 171 Abkunft mit gröster Sorgfalt, und machte eine Anstalt zur Verpflegung seines kleinen Gastes. Eine junge freundliche Bauerwittwe ward ihm zur Wärterin gegeben, und alles, was zum Unterhalt und zur Bequemlichkeit des Kindes dienen konnte, war schon am dritten Tage im Ueberflusse vorhanden. Theodor selbst trug es des Morgens und Abends in den schattichten Lauben seines Gartens umher, und wenn er sein Haus auf einige Stunden verlassen mußte, so sah man ihn nie anders als mit verdoppeltem Schritte zurückkommen; gleich der zärtlichen Mutter, die ihre schwellende Brust zu ihrem Säuglinge hintreibt. Unter einer so liebreichen Pflege konnte der kleine Alexis nicht anders als gedeihen, und in der That glich er einer aufsprossenden Blume, die jeden Tag neue Schönheiten entfaltet. Schon in seinem dritten Jahre war er der unzertrennliche Gefährte seines Wohlthäters, den er Vater nannte, und labte seine Seele mit seinem unschuldigen Geschwätze. Nun fühlte Theodor, daß der aufkeimende Verstand des Knaben einer geschicktern Wärterinn bedurfte, als die junge Bäurin war, die bisher seinen Körper besorgte. Seine Wahl fiel auf die Wittwe eines seiner Freunde, der in einem Schiffbruche Gut und Leben eingebüßt hatte: Irene, welche die Reitze ihres Geschlechts durch die dauerhaftere Vorzüge des Geistes und Herzens 172 erhöhte, nahm den Auftrag an, und ihre Verpflanzung unter Theodors Dach, machte ihn näher mit ihren Verdiensten bekannt. Die Pflegmutter des kleinen Alexis wurde die Gattin seines Wohlthäters, der den Knaben als den Urheber einer neuen Glückseligkeit betrachtete, die das Andenken aller seiner erlittenen Unfälle aus seiner Seele verwischte. Irene schrieb die Verbesserung ihres Schicksals ebenfalls dem holden Findling zu, und erfüllte mit rührendem Eifer ihren zweyfachen Beruf: die Liebe eines rechtschaffenen Mannes zu vergelten, und das Herz eines hoffnungsvollen Kindes zu bilden. Unaussprechlich liebte sie der Knabe, und wenn er an ihren Busen geschmiegt, mit ihren Locken spielte, so glaubte Theodor, den kleinen Liebesgott auf dem Schoose seiner Mutter zu erblicken. Nach zwei Jahren schenkte Irene ihrem Gatten eine Tochter, deren Geburt das Maas seiner häuslichen Glückseligkeit voll machte. Der kleine Alexis war darüber vor Freude trunken, und die geschäftige Liebe, die er der neugebohrnen Phöbe bezeigte, war ein neues Band, das seine Pflegeltern an ihn fesselte. Als er sein sechstes Jahr zurückgelegt hatte, fieng Theodor an, ihm gesunde Begriffe von der Schöpfung und ihrem Urheber, und von den Pflichten des Menschen beizubringen. Diesen Unterricht wiederholte und erneuerte er so lange und wußte ihn so glücklich 173 mit andern nützlichen Wahrheiten zu verbinden, daß der lehrbegierige Alexis mit dreizehn Jahren mehr sein Gefährte auf dem Pfade der Weisheit als sein Schüler war. Um diese Zeit begann seine Tochter der Unterweisung beizuwohnen, und sie that es mit eben dem Erfolge, womit ihre Mutter von jeher Theil daran genommen hatte. So bildete die Familie, ohne es zu wissen, eine Akademie des Schönen und Guten, welche bisweilen durch einen aufgeklärten griechischen Priester verstärkt wurde, den alle in hohen Ehren hielten, weil er sie mit dem Geiste der Alten bekannt machte. Dabei wurde die Handarbeit nicht versäumt, und Alexis legte sich selten zu Bette, ohne an der Seite seines Mentors die Erde angebauet, oder eines ihrer Geschenke eingesammelt zu haben. So wie die Kinder heranreiften, wuchs ihre wechselseitige Zärtlichkeit. Sie waren einander unentbehrlich, und oft wiederholten sie sich auf ihren traulichen Spaziergängen das feierliche Gelübde: nie wollen wir uns verlassen, kein Glück, kein Unglück soll uns von einander trennen. Alexis hatte sein sechzehntes und die reitzende Phöbe ihr zwölftes Jahr zurückgelegt, als Theodor beschloß – seinen Plan auszuführen, den er schon lange mit seiner Gattin entworfen hatte. Alexis pflegte seine erste Wärterin, die in einem benachbarten Dorfe wohnte, öfters zu besuchen. 174 Theodor gab ihr Vollmacht, ihr angelobtes Stillschweigen zu brechen, und dem Jüngling alles zu entdecken, was sie ihm von seiner Geschichte erzählen konnte. Dieser wußte zwar wohl, daß Irene seine Mutter nicht war; allein er hielt sich dennoch für Theodors Sohn, den eine erste Gattin ihm in der Fremde gebohren hatte, und Theodor wollte die Enthüllung dieses Irrthums lieber einer fremden Person überlassen, als selbst ein Geschäfte übernehmen, das ihm und dem Jünglinge gleich schwer fallen mußte. Als Alexis eines Abends mit verweinten Augen nach Hause kam und seinem Pflegvater ausweichen wollte, errieth dieser, was vorgefallen war; er gieng ihm mit offnen Armen entgegen. Wohin? mein Sohn, sprach er zu ihm. Ach, ich bin Dein Sohn nicht mehr! antwortete Alexis mit schluchzender Stimme, und die Farbe des Todes überzog seine Wangen. Du hörest auf es zu seyn, antwortete Theodor, um es auf immer zu werden, wenn Du meine Phöbe, die Du bisher als Deine Schwester geliebt hast, als Deine Braut lieben kannst. Alexis stürzte sprachlos zu Theodors Füssen, umarmte seine Kniee und konnte bloß die Worte hervorstammeln: o! das ist zu viel, weit mehr als ich wünschen durfte; nicht mehr der Kummer, aber die Freude wird mich tödten. Theodor hob ihn von der Erde 175 und eilte mit ihm in die Gartenlaube, wo Irene und ihre Tochter die ländliche Mahlzeit auftischten. Hier, sprach er, hier meine Phöbe bringe ich Dir Deinen Bräutigam; ich habe ihn für Dich gewählt, bist Du mit meiner Wahl zufrieden? Phöbe erröthete und verbarg ihr Gesicht in den Busen ihrer Mutter. Irenens Küsse weckten sie aus ihrer Betäubung, und das holde Geschöpf bedurfte keines Zuredens, um ihrem vermeinten Bruder den süssen Namen eines Geliebten zu geben. Der Tag ihrer Hochzeit wurde festgesetzt; allein der Tod des Königes und die Bewegungen der Hauptstadt nöthigten die Eltern, ihn um einen Monat zu verschieben. Endlich erschien der frohe Morgen, der ihre Wünsche krönen sollte. Der griechische Priester wurde berufen, um die Einsegnung zu verrichten. Er kam von einem Unbekannten begleitet, der einem fremden Kaufmann ähnlich sah. Heil Dir, Theodor, sprach der Fremde im Hereintreten, ich erscheine als ein Gast bei Deinem häuslichen Feste, wo ist der Bräutigam? Alexis näherte sich ihm mit einem ehrerbietigen Grusse; allein der Unbekannte schlug seine Arme um ihn und drückte ihn mit stummer Entzückung an sein Herz. Hierauf wandte er sich zu Theodorn: Ich bin der Vater des Findlings, für den Du mehr gethan hast, als ich für ihn hätte thun können: siehe da meine Beglaubigung. Hier 176 übergab er Theodorn die andere Hälfte des Ringes, den das Kind am Halse trug. Sie enthielt die Worte: »Fürsten Salomo von Georgien.« Theodor konnte nicht sprechen, und eine düstere Stille herrschte einige Augenblicke in dem Zirkel. Ja, meine Freunde, fuhr der Fremde fort: ich bin der unglückliche Regent von Gurgistan, den Schach Sefi zu sich berief, um ihn seiner Wuth aufzuopfern; ein Wunder hat mich gerettet, ich floh von Ispahan, und empfahl meinen Sohn einer treuen Sklavinn, die ihn dem edlen Theodor, dessen Tugend mir nicht unbekannt war, in die Hände liefern sollte. Ich lebte bisher in einem armenischen Kloster verborgen, der Tod meines Feindes hat mir die Freiheit wieder gegeben; allein ich bin weit entfernt, meine Rechte auf das Erbe meiner Vorfahren geltend zu machen. Mein einziger Wunsch ist, an der Seite meines Sohnes und seiner Wohlthäter in ruhiger Dunkelheit ein Leben zu beschliessen, das nur darum unglücklich war, weil ich mich zum Herrscher gebohren glaubte. Theodor und Irene und das junge Brautpaar waren um die Wette bemühet, ihrem erlauchten Gaste ihre Ehrfurcht und ihre Zärtlichkeit auszudrücken. Die Vermählung wurde vollzogen, und als man sich zu Tische setzen wollte, zog Salomo einen mit Perlen gestickten Beutel aus seinem Kaftan hervor. Hier, meine Kinder, 177 sprach er, ist das einzige Ueberbleibsel meines vormaligen Reichthums; nehmet diese Diamanten, sie sind eine Tonne Goldes werth, sie können Euch nicht reicher, aber glücklicher machen, indem sie Euch die Mittel verschaffen, die Wohlthätigkeit des treflichen Mannes nachzuahmen – dem ich die letzte und gröste Freude meines Lebens verdanke. Jetzt nahm der alte Priester das Wort: Du weißt, Theodor, daß ich Dich öfters besuchte: dieses geschah, um dem Fürsten Nachricht von seinem Sohne zu geben, ich allein wußte sein Geheimniß und den Ort seines Aufenthalts; ich habe ihn auch von der Verbindung seines Alexis unterrichtet, die er aber, ohne den Tod des Königs, zu spät würde erfahren haben. Immer frühe genug, um sie zu bestätigen, unterbrach ihn Salomo, und schlug hierauf mit Theodorn dem biedern Alten vor, die Colonie zu vermehren. Nein, sprach er, ich muß nach Ispahan zurück, ich habe Unglückliche zu trösten und Arme zu versorgen. Allein ich werde jeden Monat den Tribut Eurer Wohlthätigkeit bei Euch abholen. Salomo lebte im Schoose der Liebe und der Freundschaft von neuem auf. Seine Stirne erheiterte sich, seine Runzeln verschwanden, und er und Theodor waren noch viele Jahre die glücklichen Zeugen des Glückes ihrer Kinder. 178

 


 


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