Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 2. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Die hohle Eiche.

Ritter Berthold von Wildeck hatte mit Frau Adelinen, seiner Gemahlin, schon fünfzehn Jahre auf seiner Burg in der vergnügtesten Ehe gelebt. Zween Junker und drey Fräulein waren die Früchte dieses glücklichen Bandes, und wenn Berthold so mit Weib und Kindern des Sonntags um die runde Tafel saß, und einen Frischling, oder an hohen Festen einen Pfau mit ihnen verzehrte, und sie der Reihe nach ansah, dünkte er sich höher zu sitzen, als sein Nachbar der Habsburger, der kurz zuvor den Kaiserthron bestiegen hatte.

In einem solchen Augenblicke häuslicher Wonne, klopfte er einst Adelinen auf die Backen und rief: Liebes, frommes Weib, du hast mich zum glücklichsten Ehemann und zum glücklichsten Vater gemacht. Dafür wird dir unser aller Vater in seinem Paradiese lohnen. Da schlang Adeline ihm den Arm um den Hals, küßte seine bräunliche Wange und sprach: Mein trauter Berthold, ich bin nun schon so lange glücklich durch dich, daß ich nicht weiß, ob der Himmel noch eine neue Freude für mich hat. Der liebe Gott thut zu viel an mir, er wird mich noch verziehen.

Es kann auch noch anders kommen, versezte 78 Berthold, und dann wollen wir unser Kreuz einander tragen helfen, und unsre Kinder müssen nebenher gehen, und wenn es uns zu Boden drücken will, so werden sie alle Hand anlegen, um es uns leichter zu machen. Ja, das wollen wir, rief Engelbert der älteste Junker, der des Vaters Augapfel war, oder nein, wir wollen es lieber ganz auf unsere Schultern nehmen!

Engelbert war erst in seinem vierzehnten Jahre, allein er konnte schon des Vaters wilden Hengst bändigen und einem Rehbocke zu Wette laufen, und wenn er mit Bolzen nach der Scheibe schoß, so traf er immer ins Schwarze.

Berthold war nicht reich, ein Theil seiner Güter lag noch von seinem Vater her in fremder Pfandschaft. Da er aber seit seiner Heurath den Hof niemals und die Turniere nur selten besuchte, und Adeline eine gar trefliche Wirthin war, so herrschte in seinem ganzen Hauswesen ein Schein von Ueberfluß, den seine Freunde bewunderten und seine Neider mit scheelen Augen betrachteten.

Eines Abends, als es schon Dunkel war, brachte ihm der Thorwart ein zusammengerolltes Pergament, welches ihm ein Waldbruder zugestellt hatte, mit dem Befehl, es dem Burgherrn sofort zu übergeben. Berthold rollte es auf, und las darinn folgende Worte:

79 »Wenn Ritter Berthold von Wildeck nicht vor dem Feste Sanct Peters hundert Goldgülden bey dem Klausner Reimund am Walde niederlegt, so wird ihm seine Burg verbrannt werden, und wenn er vor oder nach Bezahlung des Geldes ein Wort von diesem Briefe sagt, soll er des Todes sterben.«

Berthold verschloß den Brief in seine Truhe, er hielt ihn für das Werk der Räuber, die schon einige Jahre lang in der Gegend manch Unbild stifteten, weil er aber weder Furcht hatte, noch Lust die Summe zu bezahlen, so kümmerte er sich wenig um die Drohung, und verbarg diesen Vorfall seinem Weibe, für das er sonst keine Geheimnisse hatte.

Die angesezte Frist erschien, und noch neun folgende Tage verstrichen, ohne daß die angedrohte Prophezeyung in Erfüllung gieng, allein in der Mitternachtsstunde des zehnten Tages, als der Ritter ruhig an der Seite seiner Adeline schlief, wurden sie durch einen gewaltigen Lerm aufgeschrekt, die Sturmglocke ward angezogen, der Thurmwart blies in sein Horn, und die ganze Burg stand in Flammen. Berthold konnte sich kaum mit seiner Gattin und seinen Kindern in ein abgesondertes kleines Gebäude retten, das seinem Hausgesinde zur Wohnung diente. Engelbert war im Hemde in 80 den Stall gelaufen und hatte den wilden Hengst herausgezogen, der ihm wie ein Lamm folgte. Adeline hatte mit ihrer ältesten Tochter die kleine nußbaumene Truhe ergriffen, die in ihrer Kammer stand, und darinn die Urkunden der Familie und einige Kleinodien verwahrt lagen.

Berthold ertrug sein Unglück als ein Mann. Seine fromme Gemahlin theilte seine Standhaftigkeit und flößte sie ihren Kindern ein. Der Schutt wurde weggeräumt, und ein Haufen Arbeitsleute war beschäftigt, Bertholds Anstalten zu einem neuen Bau ins Werk zu richten. Eines Tages ließ der Ritter sich seinen Hengst satteln, um in einem seiner Forste sich einige Eichen zu Balken und Sparren auszuzeichnen. Der Mittag erschien, und Berthold kam nicht wieder. Der Abend erschien, und er blieb noch immer aus. Adelinens Unruhe wuchs mit jeder Stunde, und sie stieg aufs höchste, als auch die Nacht verstrich, ohne daß ihr Gemahl zurückkam. Kaum graute der Tag, als sie ihre Knechte in der ganzen Gegend umher sandte, um Kundschaft von ihm einzuziehen, allein alle kamen wieder unverrichteter Sache zurück. Acht Tage lang ließ sie ihre Nachsuchungen wiederhohlen, und alle liefen fruchtlos ab. Adeline und ihre Kinder thaten nichts als Aechzen und Weinen. Der lezte Funke ihrer Hoffnung war erloschen. Endlich sprach 81 sie zu ihrer trostlosen Familie: ich will mich aufmachen und selbst euren Vater suchen, und wenn er noch über der Erde wohnt, so will ich ihn finden. Ich will mit, liebe Mutter, rief Engelbert, vergönnt mir, euch zu begleiten, und wenn ein Lindwurm meinen Vater in seiner Höhle bewachte, so will ich ihn aus seinen Klauen reissen. Nun öffnete Adeline die nußbaumene Truhe, um einige Kleinodien heraus zu nehmen, die ihr auf ihrer Pilgrimschaft zum Nothpfenning dienen sollten. Da fand sie in der Truhe den Brief der Räuber, las ihn und schauderte, aber plözlich erheiterte ein neuer Strahl der Hoffnung ihre Seele. Wenn er den Mordbrennern in die Hände gefallen ist, so wird der Klausner Reimund, von dem der Brief redet, mich auf ihre Spur bringen können, vielleicht halten sie meinen Berthold bloß gefangen, um ihm die hundert Goldgülden zum Lösegeld auszupressen. Adeline empfahl ihre Kinder der Frau des Burgwarts, die vormals ihre Amme war, und sie alle hatte erziehen helfen, und am folgenden Morgen wandelte sie vor Sonnenaufgang mit ihrem Engelbert nach der Klause des Einsiedlers, die vier Meilen von der Burg Wildeck entfernt lag.

In der zweyten Mittagsstunde erreichten sie die Klause. Reimund bewillkommte sie gar freundlich und gab ihnen seinen Segen. Adeline sagte 82 zu ihm: Ehrwürdiger Vater, ich komme zu euch. um das Urtheil meines Lebens oder Todes zu holen. Sie erzählte ihm ihr zwiefaches Unglück, und wies ihm das Schreiben der Mordbrenner. Gewiß, sagte sie, ist mein Gemahl in ihre Hände gerathen, und ihr könnt mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann. Reimund hob die Hände gen Himmel, Grauen und Entsetzen banden ihm die Zunge. Ists möglich, rief er endlich aus, daß das Gewand der Andacht zum Deckmantel des Lasters dienen kann! Vor einem Monat kam ein Waldbruder zu mir und sagte: Alter Vater, auf Sanct Peters Fest wird ein Ritter hundert Goldgülden bey euch niederlegen, die er zu einem Bußwerke bestimmt. Verwahret sie, bis ich sie bey euch abholen werde. Ich versprach es ihm. Acht Tage nach dem Feste kam er wieder, und als ich ihm sagte, daß ich nichts erhalten hatte, sprach er, Gott wird den Sünder dafür strafen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.

Diese Nachricht stürzte Adelinen in ihre Verzweiflung zurück. Der fromme Einsiedler bemühe sich, sie zu trösten, und wollte sie nöthigen, einige Speise zu genießen, allein vergebens. Sie that nichts als weinen und schluchzen, indem sie die Augen auf ein Crucifix heftete, das an der Wand hieng. Engelbert hingegen hatte sichs wohl 83 schmecken lassen, und indeß der Klausner seiner Mutter Trost zusprach, gieng er nach gehaltnem Mahle, vor die Zelle hinaus, um ins Freye zu sehen. Er schlich sich gedankenvoll dem Walde zu, der einige hundert Schritte weit entfernt lag. Hier sezte er sich unter einen Baum und weinte. Auf einmal ward er durch ein Geräusch erschrekt, das aus einem nahen Busche kam. Er sah sich um und erblickte einen jungen Fuchs, der wie ein Pfeil an ihm vorbey schoß und tiefer in den Wald hinein lief. Engelbert vergaß nun seinen Vater, und verfolgte das Thier durch Busch und Hecken mit so großer Behendigkeit, daß er mehr als einmal im Begriffe war, ihn zu erhaschen. Indessen zog ihn der schlaue Flüchtling immer tiefer in das Dickigt, bis er eine hohle Eiche ersah, in die er sich in eben dem Augenblicke verkroch, da Engelbert ihn mit einem aufgehobenen Stocke zu erreichen glaubte. Doch der kleine Jäger besann sich nicht lange. Die Oeffnung der Höhle war ziemlich weit, und der Baum von ungeheurer Dicke. Engelbert schlüpfte hinein, tappte auf allen Seiten um sich her, und als er nach hinten zu eine Vertiefung entdeckte, hoffte er da seine Beute zu finden. Allein kaum hatte er die Stelle berührt, so sank der Boden unter ihm ein, und er stürzte wohl zwey Lachtern tief in einen 84 finstern Abgrund hinab; wo er auf einige Augenblicke die Besinnung verlor. Als er wieder zu sich selbst kam, ergriffen ihn alle die Gefühle, die einen Lebendigbegrabenen bestürmen müssen, wenn er im schwarzen Schooße der Erde aufwacht, und sich von der ganzen Natur abgesondert findet. Er bebte, er schauderte, er wälzte sich auf dem kalten Grunde, und endlich brach er in ein lautes Geheul aus. Ein dumpfer Hall schien ihm aus einiger Entfernung zu antworten, er erschrack, aber vor Freude. Selbst das Gebrüll eines Löwen hätte ihn entzückt, auch der wäre ein lebendiges Geschöpf gewesen, und im Gebiete des Todes ist jedes lebendige Geschöpf uns ein Bruder. Er kroch nach der Gegend hin, wo der Laut herkam. Er wand sich durch einen engen Gang, dem Schachte des Bergmanns ähnlich, einige Ruthen vorwärts, und gelangte endlich an eine weite Höhle, in der ebenfalls die schwärzeste Finsterniß herrschte, wo er aber freyer Athem schöpfen und sich auf seine Beine erheben konnte. Ein tiefer Seufzer hallte ihm aus einem Winkel der Grotte entgegen. Ein Sterbender . . . . dachte Engelbert, und zitterte, und die Furcht preßte ihm einen lauten Schrei aus. Wer ist hier? Wer will Zeuge meines Todes seyn? sprach eine halbverloschene Stimme. Engelbert faßte Muth. – Ich, ich! sprach er; ach, 85 wo bin ich? Wer seyd ihr? – Großer Gott! versezte die Stimme, im Tone der erwachenden Ohnmacht, du schickst mir einen Engel, um mich zu stärken, und leihest ihm die Stimme meines Erstgebohrenen. Ach, mein Vater! rief Engelbert, das ist mein Vater! Ja er ists! Ach, mein Sohn, wie kömmst du hieher? Haben die Ungeheuer auch dich weggeführt. Engelbert stürzte sich auf seinen Vater: der allmächtige Zug der Natur riß ihn gerade zu ihm hin. Er hieng sich an seinen Hals, allein der Vater konnte ihn nicht umarmen. Seine Hände waren gefesselt und seinen Leib umschloß ein breites eisernes Band, das vermittelst eines Ringes in der Felsenwand befestigt war. O Vater, liebster Vater, schluchzte Engelbert, schon acht Tage läßt die Mutter euch suchen, und heute hat sie sich selber mit mir auf den Weg gemacht; wir konnten nicht mehr daheim bleiben. – Gutes Weib, guter Sohn, sprach Berthold; Gott, Gott! Allein wie kommst du in diese Mördergrube? Engelbert erzählte dem Vater sein Abenteuer. – O, mein Kind, dich hat unser Schuzgeist geleitet, um mich vom Hungertode zu retten und den Meinigen wieder zu geben. Nun erzählte auch Berthold, wie er von den Räubern gefangen und in diese ihre Höhle geschleppt worden. Sie fürchteten, daß ich die Einäscherung meiner Burg rächen 86 würde, und verdammten mich, ihnen in dieser abscheulichen Grotte als Knecht zu dienen. Wenn sie auf den Raub ausgiengen, legten sie mir immer Fesseln an. Des Abends kamen sie entweder alle vier oder doch zum Theil wieder. Seit vorgestern aber ist keiner mehr erschienen, und seit vorgestern habe ich keinen Bissen mehr genossen. Engelbert griff eilends in seine Reisetasche, in die er einige Aepfel von dem Tische des Klausners gesteckt hatte, zerschnitt sie, und schob sie dem Vater in den Mund. Gott vergelte dir dies Labsal, sprach Berthold, und weinte. Plözlich aber erbebte er durch alle Glieder. Ach Kind, Kind! rief er, fliehe, wer weiß, welchen Augenblick die Bösewichter zurückkommen. Ich fliehe nicht ohne euch, lieber Vater! entweder will ich euch erlösen oder mit euch sterben. Armer Knabe, du mich erlösen, ohne ein Werkzeug meine Bande zu brechen, oder auch nur diese Todtengruft zu erleuchten? – O ich habe ein Feuerzeug, lieber Vater, die Mutter gab es mir, wer weiß, sagte sie, wo wir es brauchen können. – Heil ihr, sprach Berthold, Heil der guten Mutter, ihre Vorsicht kann uns retten. Hier auf einem Tische zu meiner Linken steht eine Lampe, die schon gestern erlosch, und ein Krug mit Oel; um Gotteswillen stoße ihn nicht um!

In wenig Minuten brannte die Lampe, und 87 Engelbert sah nun mit grauenvollem Staunen das Innere der Höhle. Eine Menge Kostbarkeiten waren darinn aufgethürmt, und an den Wänden hiengen wohl zwanzig von Blut starrende Kleider. Doch sein Blick weilte nur eine Minute auf diesen Gegenständen des Entsetzens. Er fiel mit gieriger Hastigkeit auf einen großen eisernen Hammer, schlug damit das Schloß entzwey, das an den Fesseln seines Vaters hieng, und sezte ihn in Freyheit. Berthold warf sich auf seine Kniee, und hob seine geschwollenen Hände gen Himmel, dann schlang er seine Arme dem Knaben um den Hals und drückte ihn an seinen Busen. Sein Mund konnte nicht sprechen, aber sein Herz redete laut. Endlich gieng er mit seinem Sohne in eine kleine Seitenhöhle, die den Räubern zur Speisekammer diente. Hier erquikten sie sich mit einer Schaale Weins, wozu Berthold mit schüchterner Behutsamkeit einige Bissen Brods genoß. Er kannte die Gefahren des Hungrigen, der zu schleunig seinen Hunger zu stillen wagt. Komm, liebes Kind, laß uns fliehen, ehe meine Henker uns überraschen. Vater und Sohn bewaffneten sich jeder mit einem Schwerdt und mit einer brennenden Lampe. So krochen sie durch die enge Schlucht, die auf den Platz führte, wo Engelbert heruntergestürzt war. Eine lange Strickleiter hieng in eisernen Hacken an 88 der Wand, und über derselben lag auf einer durch ihre Mitte laufenden eisernen Stange eine Klappe, die sich von innen und außen auf- und zudrücken ließ. Berthold befahl seinem Sohn, voran zu gehen. Er that es ungern, und sah sich immer nach seinem Vater um, bis er den Ausgang erreichte. In der Höhle des Baumes erwartete er ihn, auch da noch fürchtete er den theuren Geretteten zu verlieren. Erst als er sein Haupt aus dem Abgrunde hervorragen sah, schlüpfte er zum Vorgemache des Gefängnisses heraus, und erweiterte die Oeffnung des Baumes, indem er mit seinem Schwerdte die morsche Rinde wegschnitt.

Als Berthold sich wieder über der Erde in Gottes schönem Garten befand, sank er unmächtig hin: die freye Luft und der Anblick der Sonne überwältigten seine Lebensgeister. Engelbert warf sich auf seinen Vater, küßte seine blassen Lippen, und rieb ihm die Schläfe mit frischer Erde. Er brachte ihn bald wieder zu sich, gab ihm seinen Stab, den er noch neben der Eiche im Grase fand, und so machten sich Vater und Sohn auf den Weg. Als sie einige Schritte zurückgelegt hatten, sprach Berthold: Laß uns mir unsern Schwerdtern den Zugang zu dieser Höhle bezeichnen, damit ich mit meinen Nachbarn mich wappnen und die Bösewichter überfallen möge. Von hundert zu hundert 89 Schritten hieben sie ein Stück Rinde von einem Baume weg, und gelangten nach einer halben Stunde an den Ausgang des Waldes, wo Engelbert seinem Vater von Ferne die Klause zeigte, in welcher er seine Mutter verlassen hatte.

Adeline hatte ihren Sohn nicht sogleich vermißt. Die tröstenden Gespräche des Einsiedlers hatten ihre Aufmerksamkeit von ihm abgezogen. Endlich sah sie sich nach ihm um, und fragte ängstlich: Wo ist Engelbert? – Er wird draussen im Grünen umherwandeln, oder im Schatten eines Baumes ausruhen, sagte der Klausner. Adeline schoß wie beflügelt zur Zelle hinaus, suchte den Knaben überall mit ihren Augen, und konnte nichts von ihm entdecken. In dem ganzen weiten Thale erblickte sie keinen Engelbert. Sie rief ihm mit ängstlicher Stimme bey seinem Namen, und er antwortete nicht. Sie lief mit gerungenen Händen bis an den Saum des Waldes und schrie mit verstärkter Stimme: Engelbert! Engelbert! und das Echo wiederholte bloß: Engelbert! Engelbert. Nun stürzte sie kraftlos zur Erde, schlug sich mit geballten Fäusten die mütterliche Brust, die von innen noch weit gewaltiger klopfte, und krümmte sich gleich dem zertretenen Wurme im Grase. Der Einsiedler eilte herbey, aber all sein Zureden war vergebens. Eine volle Stunde kämpfte sie mit 90 der Verzweiflung. Endlich versiegten ihre Kräfte. Sie sank in einen Todesschlummer, in dem der mitleidige Alte sie liegen ließ, weil er sie des Gefühls ihres Elendes beraubte.

Als sie nach einigen Stunden wieder erwachte, folgte sie dem Klausner mit wankendem Schritt und halbgeschlossenen Augen in seine Zelle. Sie sprach nicht, sie seufzte nicht, sie hörte nicht. Reimund leitete sie nach seinem Lager von dürrem Laub, und holte ihr einen Trunk Wassers, allein sie biß die Zähne zusammen und stieß ihm die Schaale aus der Hand.

In diesem Augenblick öffnete Engelbert am Arme seines Vaters die Thüre der Klause. Adeline sah sie starr an, fuhr auf ihrem Lager empor und schrie mit wilder Stimme: Hier sind sie beyde, sie kommen mich abzuholen in die Wohnungen der Todten. Wie blaß, wie eingefallen der arme Berthold aussieht! das macht, er lag schon länger im Grabe als sein Liebling; holder Knabe, noch als Leiche blühen Rosen auf deiner Wange. Berthold lief auf sie zu: Adeline, meine Adeline, ich lebe, wir leben beide: Engelbert ist mein Retter. Engelbert ergriff die kalte Hand seiner Mutter und erwärmte sie mit unzählbaren Küssen. Lange lag Adeline in den Armen ihres Gatten und ihres Sohnes, ehe ihre Sinne wiederkehrten, dann aber, 91 o dann hatte sie nur eine Empfindung, und diese war der höchste Triumph der ehelichen und mütterlichen Liebe. Sie verschlang ihren Gatten und ihren Sohn mit ihren Blicken. Ihr Mund konnte nur lächeln, indeß die Thränen der Wonne über ihre Wangen rieselten. Um ihre zuckenden Nerven abzuspannen, erzählte ihr Berthold, wiewohl mit all der Schonung, die ihr Zustand erfoderte, die Geschichte seiner Gefangenschaft, und Engelbert mußte die Geschichte seiner Befreyung beyfügen. Adeline hörte mit gefalteten Händen zu, als ob ein Herold Gottes ihr ein Festevangelium vorläse. Die Ankunft eines Pilgers, der den frommen Zirkel um ein Allmosen ansprach, riß sie aus ihrer Entzückung. Adeline reichte ihm ein Goldstück. Reimund fragte ihn, wo er herkäme. Aus Zürch, war die Antwort. Was bringt ihr neues? O neues genug, erwiederte der Waller. Vorgestern griffen vier Räuber in Pilgerskleidern hinter Lenzburg drey reisende Kaufleute an. Die Männer aber wehrten sich tapfer, und die Mörder wurden alle vier erschlagen. Heiliger Gott, das sind . . . rief Berthold, und unterbrach sich plötzlich. Als aber der Pilger weg war, sprach er zum Siedler: Das sind die Mörder, die mich gefangen hielten: sie verließen die Höhle als Pilger verkleidet, und verbargen ihre Dolche in ihren weiten Ermeln. 92 Ehrwürdiger Vater, die Bösewichter haben einen großen Schatz in ihrer unterirdischen Kluft, und ich allein und mein Sohn wissen sie zu finden. Rathet mir, was ist damit anzufangen? Der Einsiedler besann sich eine Weile, dann sagte er zum Ritter: Die Räuber haben euch eure Burg verbrannt und euch in Bande gelegt. Euch gehört daher von dem Schatze, dessen wahre Eigenthümer ohnehin mehrentheils todt seyn müssen, so viel zum voraus als ihr braucht, um eure Burg wieder aufzubauen. Den Rest mögt ihr in zween gleiche Theile sondern; die eine Halbscheid gebühret euch für eure ausgestandene Leiden: aus der andern wollen wir, wenns euch recht ist, ein Gotteshaus bauen für hilflose Waisen und arme Wittwen, das wird besser seyn, als wenn wir den Schatz dem Kaiser anzeigen, der ihn für sich behalten und seine Schranzen und Söldner damit bezahlen würde.

Berthold ließ sich den Rath des Klausners gefallen. Die Räuberhöhle ward im folgenden Tag ausgeleert. Reimund übernahm den Bau des Gotteshauses, und Berthold kehrte mit Adelinen und seinem Sohn auf Wildeck zurück, wo ihre Kinder sie mit dem Jubel der Unschuld empfiengen. Am Sanct Petersfeste des folgenden Jahres wurde das Gotteshaus und die Burg von dem frommen Einsiedler eingeweiht, und Adeline speißte und 93 tränkte an diesem Tage alle Armen des Gaues. Ueber die große Pforte ließ Berthold einen Fuchs am Fuß einer Eiche in Stein aushauen, und seine Enkel erzählten die Geschichte ihres Ahnherrn jedem fahrenden Ritter, der unter ihrem gastfreien Dache einkehrte. 94

 


 


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