Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Julie!« sagte meine Großmutter.
Sie starb, die wackere Matrone, als ich 19 Jahre zählte, und das ist schon lange her.
An dem Abend aber, von dem ich erzählen will, saß sie blühend und frisch, eine kaum 50jährige Frau, an ihrem Spinnrade und sah auf ihr lebhaftes und flüchtiges Enkelkind – nämlich auf mein damaliges Ich, das sich mit merklichem Widerwillen an einem Strickstrumpfe abmühte.
»Großmutter!« antwortete ich und ließ die lässigen Kinderhände, der Unterbrechung froh, in den Schooß sinken.
»Du bist nicht fleißig, mein liebes Kind.«
»Ach, Großmutter, stricken ist sehr schrecklich, ich wollte man ginge ohne Strümpfe, oder man ließe die Knaben welche stricken, die sie doch auch tragen müssen.«
Die Großmutter lächelte.
»Knaben müssen andere Dinge thun und erlernen.«
»Bessere,« sagte ich sehr verdrießlich, sie lesen den ganzen Tag und lernen von den Sternen am Himmel und den Blumen auf der Erde. Mein Bruder kann jetzt schon alle Sterne nennen.
»Das macht Dich wohl sehr glücklich, liebe Julie.«
»Mich? ei wahrhaftig! Welches Glück hätte ich, wenn August klug wird und ich dumm bleibe?«
»Aber Deine Strümpfe, mein Kind, für wen strickst Du sie?«
»Für den Vater zum Geburtstage, liebe Großmama, ich will nur fleißig stricken, der Vater freut sich doch sehr über jede Arbeit, die ich ihm mache.«
»Siehst Du, meine Tochter, ein Mädchen arbeitet und schafft immer zur Freude oder zum Besten Anderer, während die Knaben für sich, für ihre Ausbildung oder ihr Fortkommen sorgen. Denke immer daran bei den kleinsten und mühsamsten Arbeiten, die man Dir aufträgt, auch Gott, auch die Engel schaffen für Andere, und Anderen Glück und Freude geben, durch eigne Mühe und Arbeit, ist das Schönste, was der Mensch kann; oder meinst Du, daß es schöner sei, klug, als gut zu sein?«
Ich hatte mein Strickzeug längst wieder in die Hände genommen und strickte eifrig und mit glühenden Wangen, wohl eine Stunde lang.
Die Großmutter ließ ihre Uhr repetiren, sie schlug 6 und ¾.
»Wie ist das Wetter?« fragte sie, sich an das mit dem Tischzeuge eintretende Dienstmädchen wendend.
»Nicht zu kalt und klarer prächtiger Mondschein.« war die Antwort.
»Wohl! so werde ich Dir heute noch ein Vergnügen machen, Julie! Du hast es verdient, denn Du bist fleißig gewesen bei einer Arbeit, die Dir nicht zusagt.«
Ich sprang fröhlich auf.
Wir aßen unser einfaches Nachtessen, und als das Dankgebet gesprochen, durfte ich mich in Mantel und Mützchen hüllen, wie es ein Gang in den Christtagen erfordert.
Es war windstill und klar, der Mond goß sein Licht silbern über den Schnee auf den Straßen und Dächern.
Wir gingen nach der heiligen Geistgasse und betraten ein Haus, das, wie ich wußte, einer Verwandten meiner Großmama gehörte, einer bejahrten Jungfer, in der ganzen Stadt Cousine Rosinchen genannt.
Ich hatte dies Haus bisher nur als einen dunkeln ernsten Ort gekannt, auf dessen winkligen finstern Treppen der Widerhall wohnte.
Heute glänzte es von Lichtern und fröhliche Kinderstimmen tönten bis in den unabsehbar hohen Flur, dessen Wände, von oben bis unten mit Porzellan-Fliesen getafelt, schon oft Gegenstand meiner kindischen Neugierde gewesen.
Jede dieser Fliesen zeigte ein kleines in blau gemaltes Bild, und ich glaube unter den Tausenden, die die Wände bedeckten, waren nicht zwei, die das Gleiche vorstellten.
Da sah man Gegenstände aus dem alten und neuen Testament, neben Darstellungen zu Paul und Virginie und Geßners Idyllen, Mythologische Bilder neben Illustrationen zu Rabners Satyren, Rothkäppchen und Aschenbrödel, neben Don Quixote und dem hinkenden Teufel.
All diese Bilderchen, um derentwillen ich oft halsbrechende Kletterpartien in der dämmerigen Beleuchtung angestellt hatte, die das große Flurfenster auch selbst in Sommertagen über diesen Raum ergoß, strahlten jetzt von hellem Kerzenlicht beleuchtet, daß der weiße glasirte Grund der Fliesen lustig wiederspiegelte.
Im Hintergrunde des Flurs waren mehrere breite Stufen, die zu einer großen, sonst stets verschlossenen Flügelthür führten. Heute stand diese Thür offen und heller Lichterglanz und lautes Stimmengeräusch ergoß sich aus derselben.
Auf der obersten, eine Art Estrade bildenden Stufe saß an einem kleinen Tisch ein zwerghaft verkrüppeltes Wesen, bucklig mit dickem Kopfe und schielenden Augen.
Beata war's, eine der unglücklichen Schwestern von Cousine Rosinchen.
Meine Großmutter bezahlte an sie einige Groschen und sie verabfolgte uns dafür zwei Marken; die eine ähnliche Zwergin, Renata, die andere Schwester Rosinchens im Innern des Zimmers gegen zwei andere vertauschte.
Ich kannte diese beiden Unglücklichen lange, die ganze Stadt kannte sie. Zwillingsschwestern und einander zum Verwechseln ähnlich, glichen sie sich, wie man sagt, eben so sehr im Charakter und waren beide gleich tückisch, auffahrend und bösartig. Das Zimmer, dessen Eingang diese beiden Gnomen hüteten, war hoch, geräumig und hell erleuchtet.
Ein Vorhang von bunter Seide theilte es in zwei Theile.
Der, welchen wir betraten, war an den Wänden mit Tischen eingeschlossen, und auf diesen standen in aller Pracht und Herrlichkeit des Christabends Hunderte, vielleicht Tausende von Puppen, Staatsdamen, Polichinells, Türken, Wickelkinder, Juden, Kindermuhmen, Schäferinnen, Gärtnermädchen, ja Hunde, Affen, Katzen und Mäuse.
Der ganze freie Raum war voll Kinder und Kinderwärterinnen; die zum Theil aus Stühlen und Bänken vor dem Vorhange saßen, zum Theil sich auf dem schmalen Gange vor den Tischen hin und wieder drängten.
Der helle Ton einer Klingel, dem nach wenigen Augenblicken eine sanfte Musik folgte, brachte Schweigen in die muntere Gesellschaft fesselte die Aufmerksamkeit Aller auf den Vorhang.
Er begann sich zu regen, theilte sich dann langsam zu beiden Seiten und enthüllte den geblendeten Kinderaugen ein Bild, das jetzt noch in heitern Träumen bisweilen vor meine Seele tritt.
Es war, was man ein Quem pastores nennt, eine Anbetung der Hirten; aber das Bild des göttlichen Kindes und seiner holdseligen Mutter war von so zauberhafter Schönheit, strahlte in der abwechselnd rosig, golden, purpurroth und azurnen Beleuchtung in solchem himmlischen Glanze, daß mein Kinderherz überfloß von Wonne und selige Thränen meine Wangen netzten.
Endlich schienen Wolken grau in grau das Bild zu verdecken und allmälig, ehe ich wußte wie mir geschehen, sah ich nichts anders mehr, als den buntseidenen Vorhang. Auch die Musik war verstummt und wieder umtönte mich das Geräusch der Stimmen, welches mich beim Eintritt empfangen.
Großmama war aufgestanden und ging mit mir nach den Tischen, hinter welchen – ich wußte nicht wie sie dahingekommen, – meine alte Freundin Cousine Rosinchen stand.
Sie feilschte und handelte mit den Anwesenden, die für den Werth ihrer Marken sich Puppen aussuchen durften, und sah dabei so blaß, so still und so sanft aus wie sonst, wenn sie am großen Fenster ihrer Hangelstube Entresel. einsam an ihrem großen Stickrahmen saß.
Auch meine Großmama suchte sich eine Puppe aus, eine recht hübsche Schäferin, die ein wundervolles Lamm mit einem Vließ von weißer Baumwolle, an einem grünen Bändchen führte.
Ehe ich mich recht erholen konnte, war ich aus dem Zimmer, aus dem gefließten Flur gekommen, hatte die monderhellten Straßen durchschritten und befand mich zu Hause bei Vater, Mutter und Bruder.
Jahre entflohen im raschen Fluge.
Ich erlebte manches Christfest in Freude und Schmerz, sah manche glänzende Weihnachtsausstellung in glänzendern Orten als mein Vaterstädtchen.
Als 17jähriges Mädchen besuchte ich dies wieder.
Es war hoher Sommer und die liebe bekannte Gegend prangte in ihrem schönsten Schmuck.
Großmutter war älter geworden, ihr Haar war silbern, ihre schlanke feine Gestalt gebeugt, aber ihr Herz und ihr Geist hatten nicht gealtert, und immer noch strahlte ihr hellblaues Auge licht und liebevoll, wenn sie auf ihr Kind blickte.
Der alte Herr Meyer und die Frau Doctorin Hart sagten mir, ich sei ganz das Ebenbild der Großmama und ich hob stolz den Kopf bei diesem Lob, das für mein Herz der Superlativ alles Schmeichelhaften war.
Großmutter wohnte jetzt in der heiligen Geistgasse, dem alten Hause von Cousine Rosinchen schräg gegenüber und ich konnte diese am großen Fenster ihrer Hangelstube, wie sonst, an ihrem großen Stickrahmen sitzen sehen.
Sie schien nicht älter geworden.
Eben so schlank, eben so bleich, eben so mild und eben so sauber als vor 8 Jahren; saß die alte Jungfer über ihre Arbeit gebeugt, den langen lieben Tag, und verließ Abends auf eine Stunde ihr einsames Haus, um am Flußufer entlang ihren Spaziergang zu machen, der allemal auf dem St. Annen-Kirchhof endete.
Ich sahe ihr einsames Haus, denn die beiden zwerghaften Zwillingsschwestern waren im vergangenen Winter wenige Tage hinter einander gestorben.
Am Sonntagabende ging ich mit der Großmama die alte Verwandte besuchen.
Der Flur war still und dunkel, das Tönen der Thürklingel weckte den Widerhall auf der einsamen Treppe.
Ein einzelner Sonnenstrahl hatte den Weg gefunden in den stillen Raum, und er tanzte und hüpfte über zwei Porzellanfliesen, auf deren einer die Tochter Japhets und auf der andern die 7 thörichten Jungfrauen abgemalt waren.
Wir gingen die ziemlich steile Treppe hinauf und klopften an die kleine Thür der Hangelstube.
Eine milde Stimme rief: »Herein!«
Cousine Rosinchen rief uns entgegen.
Ich betrachtete das stille, einsame Wesen jetzt mit andern Augen als in der Kinderzeit.
Früh hatte das Leben mich selbst schon hart angefaßt und ich begann die Kämpfe zu ahnen, zu welchen es auch andere, ja vielleicht alle Menschen verurtheilt.
Cousine Rosinchen trug noch Trauer für ihre Schwestern.
Sie reichte mir die Hand, die bleich und fast durchscheinend zart, doch warm war, und die meinige sanft und herzlich drückte. Ich setzte mich ihr gegenüber an das große Fenster der Hangelstube.
Die Häuser in meiner Vaterstadt haben nämlich größtentheils jenen Baustyl, den man den hanseatischen nennen könnte.
Sie sind hoch und schmal, kehren die Giebelseite nach der Straße und haben, in der Mitte ihrer Fronte eine Flügelthür, an jeder Seite ein Fenster, in der Form eines Kirchenfensters. Das eine dieser Fenster erhellt den großen Hausflur, der durch zwei Etagen geht, das andere befindet sich mit der untern Hälfte in dem kleinen Seitenzimmer, das bei den reichen Kaufleuten der Vorzeit als Portierloge diente, mit der obern in dem darüber befindlichen Entresol, die Hangelstube genannt.
In den Ober-Etagen giebt es meistens nur Schüttungen, statt der Fenster, nach der Straße zu mit Lucken versehen. Der Fußboden all dieser Räume hat eine bewegliche Klappe und innen am Dachfirste ist eine Winde angebracht, mit einem starken Seil und Hacken, um die im Flur aufgestapelten Kaufmannsgüter nach oben, oder aber von dort nach unten zu schaffen.
Die eigentlichen Wohn- und Gesellschaftsräume dieser seltsamen Häuser liegen nach hinten hinaus.
Von dieser Beschaffenheit war auch Cousine Rosinchens Wohnhaus.
Ein uraltes Gebäude, in welchem ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hatten, ohne besondere Veränderungen daran nöthig zu haben. Die jetzige Bewohnerin war die Letzte eines alten Geschlechts von Bürgern, die einen geehrte Namen in Elbing hinterlassen.
Denn in Elbing spielt die kleine Geschichte, die ich hier erzähle, und dort lebt wohl noch mancher meiner Zeitgenossen, der Cousine Rosinchen, ihre Weihnachtsausstellungen und ihre verkrüppelten Schwestern gekannt hat.
»Wie geht es Ihnen, mein liebes Kind?« fragte Rosine mich, als wir Platz genommen.
»Gut! Cousine«, sagte ich heiter, »ich bin nun wieder unter Freunden und Verwandten, wieder in dem lieben alten Elbing und es däucht mich ein Traum, daß ich in der Fremde und unter fremden Menschen manchen Tag zubringen mußte. Es lebt sich schwer unter Fremden, liebe Rosine.«
»Ja, ja,« entgegnete sie mit Milde, »die lieben Unsrigen sind uns ans Herz gewachsen, und in der Heimath ist uns am wohlsten. Ich habe das Haus meiner Väter nur auf Stunden, meinen werten Geburtsort keinen Tag meines Lebens verlassen.«
»Da waren Sie glücklich, beste Cousine, vorzugsweise glücklich.«
»Meinen Sie, liebes Kind? ich habe oft das Gegentheil geglaubt, aber jetzt bin ich auch Ihrer Ansicht, in fremden Ländern unter Menschen, die ich nicht von Kind auf gekannt, würde ich doch wohl manchen Kummer gehabt haben, der mir hier erspart blieb.«
Sie hatte bei diesen Worten ihr zart bleiches Gesicht erhoben, ihre Augen ruhten auf einem Bilde, das über dem altmodischen Rohrkanapee an der Wand hing.
Es war das Portrait eines Mannes von etwa 28 Jahren, das gepuderte Haar, der Zopf, die ganze Kleidung zeigten, daß seine Jugend mit der Rosinens zusammengefallen sein mochte.
Der Horizont meiner eigenen Gefühlswelt war jetzt bereits so erweitert, daß ich ahnen konnte, welche Rolle das Original dieses Bildes in der Geschichte Rosinens gespielt haben mochte.
»Cousine Rosinchen,« sagte meine Großmutter, die ebenfalls das Bild betrachtet hatte, »haben Sie in neuer Zeit wieder gute Nachrichten aus Portorico?«
»Die besten, meine liebe Cousine, die besten. Gott hat mir für mein Alter ein großes Glück aufgespart. Ich werde« – sie zog bei diesen Worten ihr Taschentuch hervor und trocknete einige rasch vordringende Thränen, – »in diesem Herbste den einzigen Sohn meines Freundes sehen. Herr Stauding schickt ihn hierher, sich in der deutschen Sprache zu vervollkommnen und Handelsverbindungen mit der lieben Vaterstadt anzuknüpfen. Gott weiß, wie mir das Herz voll wird, wenn ich denke, daß in dem alten Zimmer, wo vor 90 Jahren Ferdinand wohnte, jetzt sein Ebenbild, sein lieber Sohn, so jung, so brav und so hoffnungsvoll als er einst war, leben wird.«
»Cousine Rosinchen,« sagte meine Großmutter, die Hand der alten Jungfer drückend, »ich freue mich von ganzem Herzen über das Ihnen zu Theil werdende Glück, Gott segnet die Guten schon in diesem Leben und ich kann mir ganz genau vorstellen, welche Freude Sie empfinden, ja ganz meine liebe Verwandte.«
Rosine erhob die milden Augen mit dankbarem Blick zu meiner Großmutter.
»Das kann auch Er,« erwiederte sie mit zitternder und leiser Stimme. »Er, der so fern er mir auch ist, mich auf der ganzen Welt am besten kennt, und stets den richtigen Beweggrund meines Thuns erkannt hat. Der alle meine Schmerzen mit mir trug, und unter all meinen Leiden mit litt, obschon seit den fernen Tagen der Jugend der Erdball zwischen ihm und mir lag. Er weiß, daß der Anblick seines Sohnes das höchste Glück ist, was mir zu Theil werden kann, und daß die Jugend seines Kindes zu pflegen zu erfreuen und zu überwachen, für mich Ersatz sein wird, für Mutterehre und Mutterfreude.«
Sie schien einige Augenblicke mit sich zu kämpfen, dann blickte sie noch einmal mit in Thränen leuchtenden Augen zu meiner Großmutter auf und sagte schüchtern:
»Sie verwundern sich nicht, wenn ich Ihnen seinen letzten Brief zeige, es verlangt mich manchmal recht sehr von ihm und der Vergangenheit mit einem guten Menschen zu sprechen, ich bin seit dem Tode meiner Schwestern so ganz allein.«
Sie zog bei diesen Worten aus der Tasche ihres Kleides eine kleine Schreibtafel, von altmodischer Form, öffnete sie und langte einen eng mit blauer Dinte geschriebenen Brief hervor.
Meine Großmutter hatte die Brille nicht bei sich.
»Darf ihn Julie uns laut vorlesen?« fragte sie.
Cousine Rosinchen nickte ihr Ja und ich nahm das feine Blättchen in die Hand, das Gefühle über den halben Erdkreis getragen, die ein Menschenleben hindurch gedauert.
Ich las.
Portorico, d. 11. April 18–.
»Meine herzliebe und theure Jugendfreundin!
Die Zeit ist nun wieder da, wo ich Ihnen einige Nachricht von mir geben darf.
Das Schiff, das diesen meinen Brief mitnehmen soll, wird in 10 Tagen segelfertig sein, in einigen Monaten ist es unter dem Schutz des Allmächtigen in dem Hafen von Danzig und dann noch wenige Stunden und Sie haben diese Zeilen in ihren vielgeliebten Händen.
Meine werthe liebe Rosine! was ist Zeit und Raum für die menschliche Seele?
Eben ein Nichts, denn wenn Sie diese Zeilen lesen werden, so sind zwei Jugendfreunde, zwei Herzen, die sich immer verstanden, beisammen.
Gott segne Sie, meine geliebte Freundin und gebe Ihnen jeden Tag der Gegenwart und Zukunft das stille und erhabene Glück, das Ihre Vergangenheit so schön verklärte, und das aus jedem Ihrer theuern Briefe, selbst aus denen, da unsere Herzen noch voll vom ganz neuen Schmerz der Trennung waren, mir wie Sonnenschein entgegenstrahlt.
Meine liebe Freundin, wie ich diese Zeilen niederschreibe, da ist mein Ich weit, weit von hier.
Zeit und Raum sind auch für mich versunken.
Ich sitze in der kleinen Hinterstube, in dem Hause, das die Heimath unserer glücklichen Jugend war. Vor meinen Augen sehe ich den Hof mit dem Fliederbaum, im Zimmer die alten lieben Stühle und das kleine Kanapee und an der Wand die Kupferstiche, den Wasserfall von Tivoli und den Golf von Neapel, den Ihr seliger Herr Vater mir einst, – es werden in diesem Winter 30 Jahre sein – zum Christfeste verehrte.
Ach, meine sehr liebe Rosine, wenn wir jung und glücklich, wie wir damals waren, – vor diesen Bildern standen, da dachten wir nicht, daß Eins von uns immer weilen würde in dem stillen Hause, während das Andre weit, weit hinaus über die Ferne, die sie uns vorzauberten, ziehen würde und sich eine Heimath suchen unter der Palme Westindiens.
Und wenn uns Jemand das gesagt, wenn wir die traurige Prophezeihung geglaubt, würden wir das wohl geglaubt haben, daß trotz diesem jedes von uns ein zufriedenes Alter in Dankbarkeit gegen Gott erleben würde, daß wir das Dasein ohne einander ertragen, ja uns desselben erfreuen würden.
Die Vorsehung, meine Freundin, ist ebenso allgütig als allmächtig.
Sie knüpft an getreue Pflichterfüllung den Lohn herzlicher Zufriedenheit und läßt in dem Kampf und der Mühe die Kraft erstarken.
Was Gott, d. h. die Pflicht von uns fordert, das können wir thun und sollen es thun, und wenn wir es gethan haben, so werden wir, – wie anders dies uns auch geschienen, – nicht Elend, sondern Glück für uns erwählt haben.
Ueberdies, meine innigst geliebte Jugendfreundin, die echte und wahrhaftige Liebe ist etwas Ewiges und Unzerstörbares, sie dauert wie die unsrige fort, trotz Zeit und Raum, trotz Trennung und Entsagung.
Zwei Herzen, die sich innigst erkannt und in Gott geliebt haben, die lieben einander für ewig, wenn auch ihre Vereinigung erst jenseits der Grabespforte im ewigen Lichte stattfände.
Meine liebe theure Rosine! Ihr letzter Brief am 9. October – unserem einstigen Verlobungstage beendigt, – kam mir zu Händen durch den Capitain Gervais, Schiff L'aigle, am 22. Februar dieses Jahres.
Ich sehe daraus, daß Sie noch immer die sind, die Sie waren, obschon 26 Jahre der Trennung Ihre Körpergestalt, wie die meinige, wohl verändert haben mögen.
Noch immer sind Sie das liebevolle Herz, das nur an das Glück Anderer und an die eigenen Verpflichtungen denkt, noch immer der feste Charakter, der mit unwandelbarer Treue nur das Gute will, noch immer der geniale künstlerische Geist, der in meiner Jugend so oft mein Entzücken, meine Bewunderung erregte.
Ihre prächtige Stickerei habe ich erhalten: wieder die Arbeit aller Freistunden Ihres Jahres.
Sie schmückt mein Zimmer, das einem Tempel ähnlich sieht, in dem Ihrem lieben sanften Bilde alle Verehrung gezollt wird, die der Heiligen meines Herzens zukommt.
Allerliebste Freundin, ich danke Ihnen.
Sie verlangen mehr von meinem Leben, recht viel davon zu wissen.
Es ist von dem, was man in der Heimath führt, natürlich sehr verschieden. Die Hitze des Klimas, das Gleichbleiben der Tageslänge machen andere Wohnungen, andere Kleidung, andere häusliche Einrichtungen nöthig, dennoch bleibt das Herz des Menschen unter allen Zonen unverändert, und so stellen Sie sich Ihren Jugendfreund auf der Veranda seiner luftigen Wohnung in der Nanckingjacke und mit dem breiten Strohhut des westindischen Kaufmanns auf dem ergrauten Haar, noch als ganz denselben vor, der, Sie liebend und verehrend, vor 26 Jahren von Ihnen schied.
Doch nicht ganz denselben – nein nicht ganz.
Die Liebe ist geblieben, aber bitterer Schmerz, der mir damals die Brust zernagte, der mich ohne Ihre Sanftmuth und Religiosität mit Gott hätte hadern lassen, der ist vergangen, meine liebe Rosine.
Gott weiß es, ich bin ein glücklicher und zufriedener Mann, gesegnet in meiner Familie, in meinem Geschäft, gesegnet vor allen dadurch, daß das heiligste Gefühl meiner Jugend auch das heiligste Gefühl meines Alters geblieben ist.
Herzliebe Rosine, meine gute Frau grüßt Sie viel tausend Mal.
Sie liebt und verehrt Sie, wie ich Sie liebe und verehre.
Wäre Sie der deutschen Sprache mächtig, so würde Sie Ihnen dies selbst schreiben, aber Sie sendet Ihnen eine Bitte mit mir vereinigt, an deren Erfüllung wir beide nicht zweifeln, ja von der ich glaube, daß sie Ihnen Freude machen wird.
Mein Sohn, mein einziges Kind, soll diese Gegend verlassen. Sie wissen, daß in seinen Adern noch ein Rest farbiges Blut fließt, wie man hier lächerlicher Weise sagt, denn das Blut der farbigen Leute ist nicht anders, denn das unsere.
Meine Frau ist eine Quadronin, d. h. die Enkelin einer Negerin, die ihre Mutter noch als Sklavin gebar.
Der Großvater meiner Frau, ein englischer Kaufmann, verließ aber sein Kind nicht, adoptirte es und vererbte ihr sein ganzes Vermögen.
In diesem seltsamen Lande aber ist derjenige, der auch nur entfernt von der verachteten schwarzen Raçe abstammt, ein geringerer Mensch, gleichsam wie der Paria in Indien oder etwa der Jude in unserer Heimath.
Dies wünscht meine Frau für ihren Knaben zu vermeiden, und unterzieht sich in ihrer tiefen Mutterliebe der Trennung von ihm, um ihm in einem andern Lande vollständiges bürgerliches Recht und bürgerliche Ehre zu geben.
Ich wünsche ihn in der Heimath meiner Jugend unter Ihren Augen zu wissen.
So wollen wir denn zur günstigen Jahreszeit den Ferdinand hinüber nach Europa senden, nach Preußen, nach meinem lieben Elbing, in die Umgebung meiner eigenen Jugend.
Meine liebe Rosine, lassen Sie ihn meine Stube bewohnen, unverändert, wie Ihre Liebe sie erhielt, lassen Sie ihn auf meinem Bett schlafen, wo ich die glücklichsten Träume meines Lebens geträumt habe.
Nicht wahr, das thun Sie?
Er spricht deutsch, soll sich aber in dieser Sprache vervollkommnen, Handelsverbindungen mit den alten Häusern Roskampf und Marchand anknüpfen, und dann, so hoffe ich, sich ein deutsches Mädchen zur Hausfrau suchen, helfen Sie ihm dabei, theure Freundin meiner Jugend! Ach warum haben Sie keine Tochter, nicht einmal eine Mündel.
Herzliebste Freundin, ich sage Ihnen jetzt Lebewohl. Meinen nächsten Brief bringt mein Knabe Ihnen.
Bedürfen Sie denn immer noch so wenig, so gar nichts, liebe Rosine? Giebt's nicht mehr Arme, denen Sie Segen bringen könnten?
Ich erinnere Sie nicht mehr daran, daß meine Vollmacht für Sie unumschränkt ist; der liebt nicht vollkommen, der nicht unbedenklich aus liebender Hand zu nehmen weiß, und Ihre Liebe ist eine vollkommene, ich verlasse mich darauf.
Gott segne und schütze Sie, und grüßen Sie die Schwestern.
Unverändert und unveränderlich
der Ihrige
Ferdinand Stauding.«
Ich kann unmöglich sagen, welche Gefühle dieser lange Brief in meiner jugendlichen Seele aufregte.
Er erschien mir wie der Blick in ein Panorama, das fremde Gegenden, vergangene Zeiten vor mir herauf zauberte.
Ich sah den Schreiber desselben als Jüngling in dem alten dunklen Hause, neben der blühenden Tochter desselben, in unschuldiger Jugendliebe. Ich sah den Abschied zwischen diesen Beiden, sie in der öden Einsamkeit des Zurückbleibens, ihn auf den Wogen des Meeres, das Herz von Sehnsucht, die Segel vom Winde geschwellt.
Ich sah ihn arbeitend, ringend in dem fernen Lande, sah ihn träumend unter Palmen von der Geliebten und der Heimath.
Sie unter ihren kranken Schwestern.
Sah ihn als den Gatten einer weit unter ihm stehenden Frau, sie einsam verblühend in unablässiger Arbeit für andere.
Ich fühlte die Sehnsucht dieser beiden Seelen; mir war, als sähe ich sie einander von den fernsten Enden der Erde zuwinken, und mit Thränen im Blick die Arme nach einander breitend und meine Thränen begannen zu fließen. Ein zarter Arm schlang sich um meinen Nacken, ich fühlte, daß Cousine Rosinchen das weinende Kind an ihre Brust zog.
»Du warst gestern so ergriffen, mein liebes Kind, von dem Briefe des Herrn Stauding, Du kanntest wohl die Jugendgeschichte unserer bejahrten Verwandten noch nicht?«
»Nein, beste Großmama.«
Das war das erste Gespräch zwischen uns am folgenden Morgen, und zwar ward es schon geführt als ich mich noch ankleidete.
»Ja! das ist eine trübe Geschichte und ein Beweis mehr, welcher erhabenen Großthaten ein echtes Weib fähig ist, meine liebe Tochter.«
Besuche kamen und gingen.
Für den Nachmittag war mit einigen meiner Gespielinnen aus der Kinderzeit ein Spaziergang nach Weingarten, Demblitz und Vogelsang verabredet.
Eine Schaar lustiger Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren versammelte sich bei uns, wir gingen singend durch die grünen Wälder.
Auf dem Thunberge waren die süßen Kirschen reif.
Der ganze Berg ist nämlich mit Kirschbäumen bepflanzt, ein Wald von Kirschen. Ich meine, ich habe sie nie so groß und süß gegessen, als dort.
Da saßen wir lange im dichtesten Schatten plaudernd und lachend, wir saßen unter einer prächtigen Buche am Waldesrand, wo man die Aussicht auf ein grünes Thälchen hat. Rings verschließen es dicht bewaldete Hügel. Ein Bach rauscht lustig hindurch, ein Brückchen von Birkenstämmen führt über denselben.
Nicht weit von der schönen Buche ist ein dichtes Gebüsch von Eichenaufschuß, darunter blüht im hohen Sommer das Pflänzchen, das wir als Kinder Tag und Nacht nannten, ich glaube es heißt Dulcamara, ein kleines Kraut mit fast schwarzen Blättern und orangeschattirten rachenförmigen Blüthen.
Unter diesen Eichenbüschen hatte ich als Kind mit meinem Bruder und einer längst verstorbenen Freundin oft gespielt. Es war unser Lieblings-Spielplatz gewesen, und jenes Pflänzchen erinnert mich stets, wo ich es auch finde, an die Kindheit.
Jetzt blühte es wieder, ich ging mir einen Strauß davon zu pflücken.
Leise flüsterte der Wald in den Eichenbüschen, von fern her tönte der Gesang meiner Gespielinnen.
Glücklich allein ist die Seele, die liebt.
Die Eichen schienen mir kleiner zu sein als sonst, sie waren nicht so rasch gewachsen, als das junge Mädchen, und doch wie viel älter mochten sie sein als ich. Wer mochte alles schon unter ihren Zweigen gespielt und geträumt haben.
Eine große Eiche steht mitten unter dem jungen Ausschuß, ich lehnte mich an ihren Stamm und blickte in ihre grün wehenden Zweige.
Dicht neben mir waren Buchstaben in den Eichenstamm geschnitten, vor langer Zeit wahrscheinlich, denn sie waren ausgewachsen und kaum noch kenntlich. Ich versuchte sie zu entziffern und fand die Namen: Ferdinand und Rosine.
Kein Zweifel, ich stand unter einem Baum, der einst, – ach lange vor meiner Geburt – diesen beiden durch das Leben getrennten Menschen in einer glücklichen Stunde seinen Schatten gegeben.
Sein Haupt umschattete jetzt die Palme Westindiens, und sie saß daheim in dem stillen dunklen Zimmer, gebeugt über den Stickrahmen.
»Glücklich allein ist die Seele, die liebt« ertönte der Gesang meiner Freundinnen.
Abends saß ich mit der Großmama vor der Hausthür. Diese öffnet sich nämlich bei den seltsam gebauten Häusern meiner Vaterstadt, nicht etwa gleich auf die Straße, sondern auf einen unbedeckten Vorbau, der bedeutend über die Straße erhöht, meist mit zweifarbigen Quadern ausgelegt und mit einem eisernen mit Messingknöpfen verzierten Gitter umschlossen ist. Meistens beschattet ein Baum diesen eigenthümlichen Platz und erst über eine Treppe gelangt man auf die Straße.
Cousine Rosinchen kam von ihrem Spaziergange heim, grüßte uns freundlich und setzte sich an das Fenster, wo sie immer zu sitzen pflegte.
Sie trug einen Strauß Tag und Nacht in ihrer Hand. – Ob sie wohl die Eiche mit den verwachsenen Namen besucht hatte?
Ich erzählte der Großmama von derselben. Ihr war sie schon bekannt: dort hatten Ferdinand und Rosine die ersten Versicherungen ihrer Liebe getauscht.
Gott, vor so langen, langen Jahren!
»Siehst Du, mein Kind, das ist ein Herz wie es Gott vom Weibe fordert und eine Liebe, die ihm gefällt,« sagte die Matrone.
»Eine geopferte Liebe?« antwortete ich traurig.
»Die Liebe ist nicht geopfert, mein Kind, sie lebt fort und rankt sich zum Himmel auf, von wo sie stammt; nur ihr irdisches Glück ist auf dem Altare der Pflicht zum Opfer gebracht worden und solche Opfer gefallen Gott wohl.«
Cousine Rosine, weißt Du, ist mit großen Ansprüchen geboren.
Ihr seliger Vater war ein reicher Mann, ihre Mutter brachte ihm noch bedeutendes Vermögen zu.
Damals hatte Elbing einen großen Handel.
Der alte Fritz hatte an der Montauer Spitze ein Zollamt angelegt und jedes Schiff das polnischen Weizen oder Holz oder russischen Talg und Juchten nach Danzig die Weichsel hinauf bringen wollte, mußte einen hohen Impost zahlen, während die Nogath vermittelst des Kraful Kanals mit unserm Elbingflusse verbunden ward und die Verschiffung der polnischen Producte hierher, dadurch ermöglicht wurde.
So zog sich der Handel Danzigs natürlich in unsere Stadt und es gab hier viele, viele reiche Leute.
Rosine war ihrer Aeltern einziges Kind und Abgott.
Sie lernte was kein anderes Mädchen lernen durfte, französisch, englisch, malen, sticken.
Vor allen hatte sie viel Geschick zur Malerei.
Zur Zeit portraittirte man viel mit Pastellfarben, sie verstand diese Kunst meisterhaft.
Ihre Mutter starb in ihrer Kindheit und ein Jahr nach ihrem Tode heirathete der Vater ein sehr schönes aber armes Mädchen.
Die junge Frau brachte anderes Leben in das stille. Haus. Sie liebte Aufwand und Vergnügen.
Es war sehr glänzend dort drüben, aber die kleine Stieftochter lebte nur für ihren Unterricht und für ihren Vater.
Im ersten Jahre der neuen Ehe waren die Zwillingstöchter geboren.
Die jungen Frau bekümmerte sich um die Kleinen nicht mehr als um das Stiefkind, sie bekamen Ammen, Wärterinnen und ihre beste Pflegerin und Freundin war eben die ältere Schwester.
Ich weiß nicht, ob die armen Kinder in Folge früher Vernachlässigung verkrüppelten, aber früh schon war ihre Mißgestalt sichtbar.
Die Mutter schien das nicht sehr zu grämen, sie führte ihr Leben fort.
Rosine fing an in der Einsamkeit ihrer Hangelstube zur Jungfrau heranzureifen, als die Stiefmutter den Wunsch aussprach, ihren einzigen viele Jahre jüngern und wie sie ganz armen Bruder als Lehrling in die Handlung ihres Gatten zu bringen.
Der junge Ferdinand Stauding ward Hausgenosse in der Familie und früh, sehr früh entspann sich zwischen ihm und Rosine eine Neigung, die die Stiefmutter in Betracht von Rosinens großem Erbe auf alle Weise begünstigte.
Dazumal ward Danzig preußisch, der Zoll bei der Montauer Spitze ward aufgehoben und der polnische Handel ging seinen natürlichen Weg über Danzig.
Die Kaufleute unserer Stadt begannen ihren Aufwand zu beschränken.
Nicht so Rosinens Vater.
Das Leben ging dort fort und die buckligen Töchter begannen auch heranzuwachsen und Aufwand zu machen und eines Tages fand man den Hausherrn todt in seinem Bette.
Ob ihn der Schlag gerührt, ob er Gift genommen, Gott wußte es, die Welt vermuthete das Letztere.
Es brach nun ein Bankerott aus.
Ferdinand arbeitete Tag und Nacht, etwas für seine Schwester und für seine Nichten aus dem Nachlaß zu retten.
Nur das alte Haus und die geringern Möbel blieben übrig und Rosinchen gab ihr ganzes mütterliches Vermögen her, die Ehre ihres verstorbenen Vaters aufrecht zu erhalten.
Darüber veruneinigte sie sich sehr ernstlich mit der Stiefmutter, die durchaus darauf bestand, daß das Vermögen unangetastet bleiben müßte, wegen ihrer Zukunft.
Cousine Rosinchen setzte nach harten Kämpfen ihren Willen durch, sie war eben mündig geworden zu der Zeit, aber sie schwur sich selbst und der Asche ihres armen Vaters, den heiligen Eid für ihre Schwestern zu leben und zu sorgen mit allen ihren Kräften.
Ein Jahr darauf starb die Stiefmutter, und früher schon hatte Ferdinand Stauding Elbing verlassen und eine Stelle als Supercargo auf einem Schiffe angenommen, das nach Westindien ging.
Cousine Rosinchen fing an für Geld zu arbeiten, sie gab Unterricht und lebte ein Leben des Fleißes und der Aufopferung.
Wenig bringt die Arbeit eines Mädchens ein und Rosinchen hatte zwei kranke arbeitsunfähige Schwestern zu ernähren.
Sie versuchte allerlei und kam auf manches hübsche Neue, so auch auf die Christausstellungen und den Handel mit den Puppen, was ihr manchen Thaler brachte.
Ferdinand Stauding war sterbenskrank nach Portorico gekommen, dort erbarmte sich seiner eine reiche Mulattin, die mit Schiffsmaterialien handelte.
Sie nahm den deutschen Commis in ihr Haus und endlich in ihr Geschäft.
Er hatte jenseits des Oceans eine Heimath und einen Erwerb gefunden.
Er schrieb nun an seine Braut und bat sie ihm dorthin zu folgen, und ein zwar nicht glänzendes aber freundliches Loos mit ihm zu theilen.
Ach die Arme war durch eine unzertrennbare Kette, durch die Pflicht gegen ihre unglücklichen Schwestern an die Heimath gefesselt, sie sagte ihm das, und sagte ihm Lebewohl für dieses Leben.
Einige Jahre darauf machte die Mulattin ihn zu ihrem Geschäftsführer und gab ihm ihre einzige sehr reiche Tochter zur Frau.
Er schloß diese Ehe vielleicht mehr noch um die kränkelnde Freundin seiner Jugend unterstützen zu können, als mit Rücksicht auf Geld und Gut, und von da ab nahm sie liebevoll wie es ihr geboten wurde, was ihr und den Schwestern, denen sie ihr Leben gelobt, dies Leben leichter und freundlicher machen konnte, aber sie hörte darum nicht auf zu arbeiten, sie gönnte dem Geliebten ihrer Jugend das Glück, ihr Gutes zu thun, aber sie nahm seine Wohlthaten nicht als ein Mittel zur Untätigkeit, sondern nur als eine Erleichterung ihrer Last.
So haben diese beiden Menschen ihr Leben vollbracht.
Die Lebensaufgabe Rosinens ist jetzt gelöst, denn ihre Schwestern schlafen in der Erde.
Jetzt kommt noch für sie das Glück in Gestalt des Jünglings, indem sie die erneute Jugend des Vaters lieben wird.
O Gott ist gut, und das Leben des Tugendhaften ist nie arm an Freude.
Sie schwieg, ich schaute hinüber nach dem stillen Fenster der einsamen alten Jungfer; Harfentöne erklangen hinter demselben, und der Nachtwind trug den leisen Gesang einer zarten Stimme zu mir herüber. Ich kannte das Lied wohl, das alte Lied, das meine Mutter so oft gesungen, dessen sanfte Schlußworte lauten:
O gliche dies Bild meinen Tagen,
Gerne wollt' ich den blutenden Stich
Der neidenden Dornen ertragen
Wäre jegliche Rose für Dich! –
Acht Jahre später mußte ich meiner Gesundheit wegen zu meinem Bruder nach Königsberg.
Mein Gatte brachte mich nach Dirschau.
Meine beiden Kinder hatten mich mit ihm begleitet, ich war im Postbüreau eingeschrieben, erwartete aber den Wagen auf der Weichselbrücke mit den Meinen.
Es war Nachmittags 4 Uhr und köstliches Wetter.
Meine kleine Louise weinte über den Abschied.
Eduard warf Steinchen in's Wasser, und tröstete sich damit, daß er bei ihr bliebe und die Mutter bald wiederkäme.
Mir ward die Trennung unsäglich schwer, und ich drückte die Thränen mit Gewalt hinab, die immer wieder und wieder sich aus dem Herzen in die Augen drängten, obgleich eine Freundin bei den Meinen blieb, und ich meine Kinder unter ihren Händen so wohl als in meiner Anwesenheit aufgehoben wußte.
Die Post rasselte heran.
Ich küßte meine Kinder, gab Friedchen und meinem Manne die Hände, und sprang in den Beiwagen, wo ich meinen Sitz hatte.
Ein junger Mann machte mir artig Platz, der Wagen fuhr davon, ich sah die wehenden Tücher der Kinder, antwortete ihrem Gruß und drückte mich in die Ecke und das Taschentuch in die Augen.
»Madame,« sagte nach einiger Zeit mein Reisegefährte mit einem etwas fremden Dialect, »Sie betrüben sich wohl sehr über die Trennung von Ihrer Familie, doch ist es ja nur eine vorübergehende.«
Ich blickte auf und blickte in ein freundliches Gesicht, das mir bekannt erschien.
Dunkles Haar umrahmte Züge, die sehr schön aber von einer etwas eigenthümlichen Färbung waren.
Den Mund zierten blendend weiße Zähne, und das Haar war kurz und sehr dicht gelockt.
Wo sah ich nur schon ein solches Gesicht?
Er betrachtete mein verwundertes Aussehen und sagte mit einiger Schüchternheit:
Madame halten meine unerwartete Anrede vielleicht für zu dreist?
O, mein Herr, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich aus traurigen Gedanken erweckten und freue mich eines theilnehmenden freundlichen Reisegefährten.
Madame, Sie sind sehr gütig. Auf allen meinen Reisen ist es Grundsatz von mir gewesen, mich mit meinen Gefährten wenigstens auf den Plauderfuß zu setzen, das ist sehr angenehm, dürfen Sie glauben. Madame sollten das auch zu ihrem Grundsatz machen.
Ich reise nicht viel, mein Herr. Sie werden auf der Brücke auch wohl gesehen haben warum?
Er nickte, lächelte und sagte:
Ich aber bin ein Zugvogel, eben jetzt komme ich von Havre, oder wenn Sie wollen, ich komme von Portorico und ich gehe in Handelsgeschäften für meinen Vater nach Warschau.
Da haben sie aber einen Umweg gewählt.
Ich gehe über Elbing. Es ist der Geburtsort meines Vaters und dort hoffe ich noch eine theure Freundin, oder wenn sie nicht mehr ist, ihr Grab zu besuchen.
Herr Ferdinand Stauding, sagte ich sehr erfreut und das Bild aus Tante Rosinchens stiller Hangelstube stand lebhaft vor meinen Augen.
Junior, entgegnete er mir, unser Haus in Portorico heißt Stauding und Sohn.
Lebt Cousine Rosinchen noch? fragte ich eifrig.
Ich hoffe es kaum. Sie war bei meiner letzten Anwesenheit schon kränklich, sehr hinfällig sogar, und in diesem Frühjahr ist ihr Brief an mich und meinen Vater ausgeblieben.
Ich hatte eine sehr angenehme Reise in der Gesellschaft und unter dem Schutze des jungen Westindiers.
Auf der Post in Elbing erwartete mich eine Jugendfreundin, bei der ich wohnen wollte, denn meine gute Großmutter war lange todt.
Am folgenden Morgen besuchte ich ihr Grab auf dem St. Annen-Kirchhof.
Ich hatte an dem kleinen Hügel gebetet und ging in dem Baumschatten auf und nieder, da fand ich mich plötzlich vor meinem Reisegefährten.
Seine Augen waren feucht, er stand mit entblößtem Haupt an einem kleinen Eisengitter.
O Madame sagte er, so treffen wir uns hier an dem gemeinschaftlichen Reiseziel Aller und bei der Ruhestätte der trefflichsten Freundin.
Ich blickte nach der kleinen Tafel über dem Gitter. Es war das Familienbegräbniß von Cousine Rosinchen mit goldener Schrift, die in verschiedenen Stadien des Verbleichens sich befand, standen an der Tafel die Namen ihrer rechten Mutter, ihres Vaters, ihrer Stiefmutter und Schwestern, ganz unten ihr eigener noch in frischem Glanze.
Der Sohn ihres Jugendgeliebten hatte an ihrem Grabe gebetet.
* * *
Druck von
Ferber & Seydel
in Leipzig.