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Novelle aus den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts.
Ein lichter Julitag hing klar und goldig über der sommergrünen Erde und spiegelte sein lächelndes Antlitz in den zitternden Wellen des Meeres. Goldene Sternchen tanzten auf dem Wasser und blendeten das Auge, das ihrem Gefunkel zu folgen versuchte. Mitten durch sie hin, eine silberne Furche hinter sich zurücklassend, glitt ein Nachen, flach und rundlich gebaut, einer Nußschale ähnlich, welche Kinder auf einem Becken schwimmen lassen. Der leise Südostwind war gerade stark genug, um das kleine lateinische Segel zu füllen, und deshalb saßen diejenigen, welche das Schifflein sonst durch Ruder zu bewegen pflegten, ruhig mit in einander geschlagenen Armen auf den Bänken. Seltsam genug, obwohl in jener Gegend ganz bekannt und gebräuchlich, waren die Schiffer Frauenzimmer und zwar in diesem Falle vier junge, schlanke und kräftig aufgeschossene Mädchen. Sie trugen faltige Röcke von dunkelrothem Flanell, die um die Hüften noch durch einen Riemen empor geschürzt, die muskelstarken nackten Beine bis zum Knie sehen ließen und eng anschließende Jacken von blauem Tuch, über dem Busen fest zugeschnürt. Die Hemdärmel aufgekrempelt und aus den durchgängig blonden und reichen Haarflechten schwarze tiefe Hüte. Nur eine hatte diese eigenthümliche Kopfbedeckung abgenommen, und bot ihr frisches, rosiges Gesicht den Sonnenstrahlen, dem Hauch des Windes und den Blicken eines jungen Mannes, der an den Bord des Fahrzeuges gelehnt, die kräftige und ebenmäßige Gestalt des Mädchens in ein kleines Taschenbuch zeichnete. Das Aeußere dieses Mannes contrastirte gewaltig mit dem des Schiffermädchens, klein mit feinen orientalischen oder doch mindestens südlichen Gesichtszügen, die blendend weiße Stirne von dunkeln Locken umkräuselt, schien er ein Wesen ganz anderer Art, als die rüstigen, breitschultrigen Dirnen, deren Wangenrosen auf dem bräunlichen Grunde einer der Luft und den Sonnenstrahlen alle Zeit ausgesetzten Haut erblühten.
»Nun, sind Sie fertig, Herr Baumeister,« sagte endlich das große Mädchen, halb geschmeichelt und halb verschämt, »es thut einem so wunderlich, sich von einem vornehmen Herrn immer und immer anstarren zu lassen.«
»Werde nicht ungeduldig, Rahel,« entgegnete der Zeichner, »Du sollst auch gleich selbst sehen, wie Du aussiehst. Hübsch genug, wahrhaftig, ich müßte aber hier neben Dich noch meine kleine Figur hinzeichnen, und auf irgend eine Weise bemerklich machen, daß Du 5 Fuß 8 Zoll groß, und folglich zum Gardisten tauglich bist.«
Das Mädchen lachte.
»Es ist mancher Gardesoldat kleiner als ich,« sagte sie mit einigem Stolz, die »große Rahel kennen alle Leute, und wenn's einmal dahin kommen sollte, daß der König ein Regiment Mädchen ausheben ließe, da möchten überhaupt bei uns die besten Recruten zu finden sein.«
Das kleine Fahrzeug war indeß immer rüstig vorwärts geglitten und näherte sich einer flachen sandigen Küste. Ein Fischerdorf, eine kleine Kirche, ein Fichtenwald, und an der Spitze der Halbinsel ein schlank in die blaue Luft ragender Leuchtthurm wurden sichtbar. Die Mädchen setzten jetzt die Ruder ein und schoben das flache Fahrzeug so weit als möglich auf den Ufersand. Als es fest lag, sprangen alle vier in's Wasser, stellten sich in eine Reihe nach dem Ufer hin aus, und diejenige, welche sich die große Rahel genannt hatte, ergriff ohne viele Umstände den jungen Zeichner, reichte ihn ihrer nächsten Gefährtin zu, die ihn der folgenden gab, bis die Letzte ihn endlich auf den Dünensand niedersetzte, ohne daß seine modischen blank gewichsten Stiefeln dem Meerwasser zu nahe gekommen. – Er lachte, schüttelte sich ein wenig, nahm dann aus einer grünseidenen Börse einen blanken Thaler, warf ihn hoch in die Lust, und sagte, ihn wieder auffangend: diesen theilt ihr für die Fahrt ihr Mädchen, einen zweiten soll Rahel haben, wenn sie mir außer ihrem Bilde noch einen Kuß giebt.
Das Mädchen warf den Kopf zurück, setzte mit einem schnippischen Blick den Hut auf und sagte:
»Behaltet nur Euer Geld, Herr Baumeister, die Helaschen Mädchen verkaufen Fische, ihre Küsse aber geben sie entweder nur aus gutem Willen oder gar nicht weg.«
Ein Gelächter beantwortete diese Rede. Es kam aus dem Munde eines alten Weibes, das auf einem umgekehrten Boot am Ufer im wärmsten Sonnenscheine saß. Die Alte trug die gewöhnliche Kleidung der Weiber dieser Gegend: den rothen Rock, das blaue Mieder, die dicht am Halse anliegende Hemdkrause; aber sie trug auch feste, glänzende Lederschuhe, weiße, sehr reinliche Garnstrümpfe und um den Kopf, statt des schwarzen Hutes, ein hochrothes dreizipfliches Tuch, so geschlungen, daß es vorn dicht über dem grauen, glattgestrichenen Haare anlag und hinten eine Art Krause bildete, die leicht auf den Nacken niederfiel. Dieser auffallende Kopfputz umrahmte ein leichenblasses, scharfes und kluges Gesicht mit tiefliegenden schwarzen Augen. Schmale bleiche Lippen bedeckten kaum das Gebiß einzeln stehender, sehr wohl erhaltener Zähne, die diesem kranken Antlitz einen eigenthümlichen, raubthierartigen Ausdruck gaben. Die Alte spann Hanf und bediente sich dazu eines längst veralteten Werkzeuges. Sie hatte den Rocken im Mieder stecken und drehte mit der kleinen, welken Hand die Spindel, die lustig neben ihr auf dem Sande tanzte. Rahel erschrak sichtbar beim Anblick dieser seltsamen Figur.
»Was macht Ihr hier, alte Ilse? Was habt Ihr hier mit Eurem Teufelslachen die Leute zu erschrecken und zu verzaubern?« sagte sie heftig.
»Still, meine Puppe, still, kleines Liebchen,« entgegnete die Angeredete mit einer heiseren Stimme; »soll ich nicht lachen, wenn die große Rahel sagt, sie verkaufe nur Fische, nicht Küsse? Die alte Ilse hat gute Augen und Ohren; sie weiß, was alle Leute hier zu Markt tragen, und hat es eher als heute bemerkt, daß Mädchen von Hela sich an den Teufel verkauften, der keineswegs als brüllender Löwe, sondern entweder als geschnürter Soldat oder als reisender Maler, oder meinetwegen mit Priestermantel und Käppchen umherging.«
Eine glühende Röthe übergoß das Gesicht des Fischermädchens und färbte für einen Augenblick sogar Rahel's Stirn und die sichtbaren Theile ihres Nackens. Ihre blauen Augen blitzten vor Zorn und sie ballte einen Moment lang die Faust gegen das alte Weib.
»Hexe, alte, boshafte Hexe!« sagte sie ingrimmig, indem sie ihr verächtlich den Rücken kehrte. Die Alte lachte von Neuem und rief der Abgehenden nach: »Hab ich's getroffen, mein Töchterchen?«
Der junge Baumeister stand ein Weilchen befremdet ob der seltsamen Scene auf dem Dünensande. Die Mädchen hatten leere Fischkörbe, Netze, Ruder, einige aus Danzig mitgebrachte Victualien und zuletzt auch sein eigenes hübsches Felleisen und die gestickte Reisetasche auf dieselbe Weise wie seine Person aus dem Boote geschafft, das nun leer neben 12 bis 14 ganz gleich gebauten Fahrzeugen auf dem Sande lag und von den Meereswellen mit leisem Geplätscher bespült ward. Dann gingen sie lachend ihrer Wege und bald stand er der Alten allein gegenüber, die ihn mit ihren dunkeln, unheimlichen Augen fixirte.
»Giebt's hier einen Krug oder ein Wirthshaus, gute Mutter?« redete er sie freundlich an.
»Ich bin Eure Mutter nicht, junger Mensch, und keines Menschen Mutter, weder hier noch sonst wo, ich bin Elisabeth Wunder, die alte Ilse genannt, und ein Wirthshaus giebt's hier auch nicht, d. h. solch' Wirthshaus, wie Ihr es braucht und meint. Denn wo giebt es ein Fleckchen auf Erden, und trennte es das Meer aus hundert Meilen von der ganzen übrigen Welt, auf das zwei Tage im Jahr Mannsleute hinkommen, wo der Teufel nicht einen Krug hinbaute. Hier ist auch ein Krug, natürlich! Sind doch den Winter durch hier Männer genug zum Saufen und Kartenspielen; aber für einen feinen Herrn wie Ihr, ist so ein Krug keine Herberge.«
»Ich will auch dort nicht herbergen, Frau Ilse, ich denke nach dem Leuchtthurme hinunter zu gehen und dort manchen Tag zu bleiben, ich möchte im Kruge nur einen Schnaps und einen Bissen Brot haben, und einen Menschen, der mein Gepäck trägt und mir selbst den Weg durch die Fichten weist, denn ich bin ganz fremd hier, ich will jede Gefälligkeit gern bezahlen.«
Die Alte betrachtete den Sprecher eine Weile mit zusammengekniffenen Augen.
»Wenn Ihr bezahlt, sagte sie dann gedehnt, so könnt Ihr hier wie in der ganzen Welt alles haben, was die Meute ihr eigen nennen, ja die Leute selbst, nur können die Leute hier nicht viel ihr Eigenthum nennen, und sie selbst sind auch nicht viel werth, junger Mensch, darum bezahlt nicht zu theuer, Ihr mögt handeln, um was Ihr wollt, sei es der Kuß einer Dirne oder ein frisch gefangener Aal. Wollt Ihr mir ein Viergroschenstück geben, so trage ich Euch selbst Eure Sachen herunter nach der Bliese und gebe Euch in meinem Hause einen guten Schluck Machhandel (Genever) und eine Ecke Brot.«
Der junge Mann, eines jener Gemüther, die die Poesie, welche das eigene frische Herz erfüllt, auf alle Gegenstände, mit denen sie in Berührung kommen, übertragen, fand ein eigentümliches Interesse in der Unterhaltung mit dem alten Weibe.
Er ging daher rasch auf ihre Bedingungen ein, sie aber stieg von dem Bootskiele herunter, steckte den Rocken fester in den Gurt ihres Rockes und die Spindel in dessen unermeßliche Tasche, nahm das Gepäck des Baumeisters und schritt ihm voran nach dem Fischerdorfe, das man die Stadt Hela zu nennen gewohnt ist, und das dicht vor ihnen lag, beschienen von den schrägen Strahlen der Abendsonne. Der leichte Flugsand der Düne glühte unter den Füßen der Wandernden und hinderte ihr Vorwärtskommen. Leere Muscheln und brauner Tang lagen zerstreut umher, und die grünen noch feuchten Fäden des kaum aufgeworfenen Seegrases wickelten sich um die Füße des Jünglings.
»Nehmt's weg, thut's fort, sagte die Alte, die ihm zusah. Es thut nicht gut, sich das Zeug anhängen zu lassen. Es ist wie Haar, gerade wie nasses langes Frauenhaar, das hängt sich einem auch so an und wickelt sich fest um Finger und Füße. Ich sage, es thut nicht gut, wenn sich einem das nasse Haar eines Ertrunkenen so um die Hände wickelt, man kann's nicht loskriegen, nimmer nicht, man fühlt's noch nach Jahren an den Händen. Wie alt seid Ihr, Herr?«
Diese Frage kam so plötzlich, schloß sich an etwas so Widriges so höchst unerwartet an, daß ein unwillkürlicher Schauder das Herz des Jünglings bei derselben bewegte.
»Warum wünscht Ihr das zu wissen, gute Mutter?« war seine natürliche Gegenfrage; die Alte sah ihn aber zornig an und sagte:
»Hört! merkt's Euch, ich bin nicht Eure Mutter, bin keines Menschen Mutter; ich bin Ilse Wunder, ein altes Weib wohl, wie Ihr sehen könnt, aber keine alte Frau; denn zum alten Weibe machen einen die Jahre, die langen Winternächte, wo der Sturm an die Läden pocht und an der Thür rüttelt, und die langen Sommertage, wo der Sonnenschein wie glühende Nadeln den Kopf sticht und der salzige Wind die Zunge am Gaumen dörren läßt, zur Frau aber macht des Pfarrers Amen! ich bin keine Frau.«
»Nun verzeiht, Ilse Wunder, entgegnete der Baumeister, es ist gut, wenn man sich gegenseitig kennt, ich kenne Euch nun und werde Euch nicht mehr durch eine unrichtige Anrede ärgern. Ihr aber, Ihr seht mich so an, als kenntet Ihr mich schon lange, da Ihr mir bisher doch ganz fremd ward.«
»Wollte Gott, ich kennte Euch erst seit heute,« murmelte die Alte vor sich hin, riß sich dann aber plötzlich wie aus dumpfen Träumen empor und sagte: »Meint Ihr, es sei hier auf ganz Hela ein Mensch, ob Kind oder Greis, der nicht schon wüßte, daß Ihr der neue Baumeister seid, den die königliche Regierung schickt, die Bliese wieder schmuck und blank zu machen? Auch daß Ihr Georg Krone heißt, wissen wir alle und daß eine Schwester mit Euch oder bald nach Euch herüber kommen wird, und daß die eine schöne, feine Dame ist, ganz vornehm und niedlich, seht, das wissen wir Alles, was meint Ihr dazu?«
»Nun, Ilse Wunder, nichts anderes, als daß der alte Bliesenwärter Schwan eine Plaudertasche ist, und daß Euch Weibern hier im Sommer, wo die Männer in See sind, doppelt die Zeit lang wird, und daß Ihr Euch daher doppelt gern von dem einzigen zurückgebliebenen Mann Geschichten erzählen laßt.«
Die Alte lächelte, und fast hätte man dies Lächeln humoristisch nennen können. »So, das meint Ihr also? und nicht, daß die alte Ilse eine Hexe ist, und daß ihr grauer Kater oder ihr Spinnrocken ihr Neuigkeiten erzählt? Nun, laßt's gut sein, Ihr könnt Recht haben, aber hier ist mein Haus, nun tretet ein in Gottes Namen.«
Die niedere Hütte der Alten glich in allen Stücken denen ihrer Nachbarn. Klein, von Holz erbaut, mit einem Ziegeldache, das an einer Seite weit tiefer als an der andern heruntergehend, in der niedern Hälfte der Wand eine zweite kleinere Thür zu einem im Hause selbst befindlichen Stalle für eine Kuh anzubringen erlaubte, haben diese Fischerhütten alle ein seltsam schiefes und ungemüthliches Aussehen. Sehr kleine Fensterchen mir grell angestrichenen dicken Laden machen sie noch unheimlicher, und der tiefe Sand und die durch das ganze Dorf hindurch aufgerichteten Gerüste zum Trocknen der Flundern, die einer Reihe Galgen so ähnlich sehen, als kleine Jungen ihren erwachsenen Brüdern, tragen natürlich nichts dazu bei, das Fischerdorf oder die Stadt Hela zu einem reizenden Aufenthalt zu machen.
Georg Krone machte diese Bemerkung auch, als er mit der alten Ilse in die niedere Thüre ihres Hauses trat. Hier aber überraschte ihn die Reinlichkeit und Nettigkeit, ja der Geschmack, mit dem der ärmliche Hausrath geordnet, und alles darum und daran aufgeschmückt war. In dem kleinen Flur waren Fichtenzweige gestreut, die in der Hitze einen lieblichen sommerlichen Waldduft ausströmten. Die Thür der Küche stand offen und ließ an den Wänden viel blankes Zinn- und Kupfergeschirr und manchen Topf und manchen Teller von englischer Arbeit sehen, wie die Matrosen sie nach ihrem speciellen Geschmack zu Geschenken für ihre Schwestern oder Liebchen in London und Liverpool auszusuchen pflegen. Die Stube selbst aber war aufgeputzt mit tausend Dingen, die ersichtlich von den fernsten Enden der Welt stammten. Ein hohes Bett mit Gardinen von großblumigem englischen Zitz nahm die Mitte der längsten Wand ein, die hoch übereinander gehäuften Betten und Kissen, mit ähnlichem Stoff überzogen, waren unbefleckt, statt des Betttuchs aber lag unter ihnen ein sogenannter Vorstecker von weißem Schirting, besetzt mit einer breiten gewebten Spitze, auf dem mit rothem Garn in Zeichenstich der Name Elisabeth Wunder zierlich ausgenäht zu lesen war. Auf einer alten hochbeinigen Lade von Nußbaum stand ein ziemlich kostbarer Satz englischer Porcellain-Tassen, eine Theekanne und ein Sahnetopf. Cocusnüsse, Hummerschalen, Brausemuscheln hingen an Schnüren von der Decke herunter. Stühle und Tische schienen jeder einem andern Orte zu entstammen und erweckten in der Seele des jungen Baumeisters die Erinnerung, daß man ihm die Helenser als arge Strandräuber geschildert. Ganz auffallend und seltsam aber erschien ihm eine Decke von verblichenem hochrothen Tuch, mit einer ehemals sicherlich prachtvollen Stickerei in Gold, Silber und schwarzer Seide. Sie lag über einem kleinen Tisch mit geschweiften Beinen. Ein Spiegel hing darüber, und da derselbe sich nur mit der untern Leiste an die Wand lehnte, mit der obern aber ziemlich vorbog, so konnte Georg diese Decke zweimal erblicken, einmal in der Wirklichkeit und einmal als Spiegelbild, und immer war es ihm, als hatte er diese zierlichen Arabesken und Schnörkel, diese Weinblätter, Eicheln und Planken schon früher oder nur träumend gesehen. Auf dem Kaminsimse aber stand – es war kein Traum, sondern Wirklichkeit, das wohlgetroffene Bild des jungen Architecten in Oel sehr fein gemalt. Der vergoldete altmodische Rahmen war an einigen Stellen beschädigt, das Bild selbst dagegen vollkommen erhalten, nur gehörte der kurzschößige, blaue Werther-Frack, die gelbe Weste, das Manschettenhemd vergangenen Jahren an.
Die alte Ilse zog von der Ecke am Ofen einen einst kostbaren Lehnsessel von fast schwarzem Mahagoni, mit erblichenem Plüsch beschlagen, dessen viertes verloren gegangenes gedrehtes Mahagonibein durch ein grobgearbeitetes fichtenes ersetzt war, nöthigte ihren Gast zum Sitzen, schloß einen Schrank auf, nahm daraus eine Korbflasche und ein dickes Gläschen, ein Brod, ein Einlegemesser mit einem Griff von Schildpatt und hieß ihn zulangen, während sie noch einmal hinausging. Der junge Mann ergriff das Messer und las auf einem silbernen Schildchen am Hefte desselben den Namen: Jacques Dubois. Wunderlich! wo hatte er nur den Namen schon gehört? er klang ihm so unsäglich bekannt. Wo um Gotteswillen war er denn hingerathen? War diese Alte die Frau Holle und ihr niederes Stübchen der Spiegel der Erinnerung? Gehörten die seltsamen traumartigen Bilder, die an seinem Geist vorüberschlüpften, seit er sich hier befand, einem längstverflossenen Dasein, oder knüpften sie sich nur an etwas Vergangenes aus den Tagen der Kindheit? Er konnte sich darüber keine Rechenschaft geben und saß noch tief in Gedanken versunken, den Namen auf dem Messerhefte anstarrend, als Ilse mit geräucherten Aalen auf einem saubern Teller eintrat.
»Nun, was beseht Ihr das Ding in Eurer Hand so?« sagte sie halb ängstlich und halb ärgerlich.
»Wem mag dies Messer wohl gehört haben?« es ist nicht Euer Name, der darauf steht, entgegnete der Baumeister. Das Gesicht der Alten veränderte sich bei diesen einfachen Worten des Jünglings, die bleichen Wangen wurden erdfahl und die eingesunkenen Augen schienen gänzlich zu erlöschen. Sie stand einen Augenblick starr, dann riß sie das Messer aus Krones Hand und sagte mit dumpfem Tone:
»Fragt die Nixen und den Meermann, neugieriger Junge, die werdens Euch erzählen, die wissen gar viel von all' denen, die den Leuten auf Hela das Meublement zu liefern pflegten in alten bessern Zeiten. Das Messer, das da? Ei nun; einst hielt es eine blaubleiche Hand krampfhaft gepackt, und eine frische und kräftige, braune Hand brach die kalten Finger auseinander. Es wäre Schade gewesen, tausend Schade um die schöne Klinge und das Heft mit den Hirschen und Rehen darauf. Das sind Jahre her, lange öde Jahre. Ich sagt's ihm damals, fass' nicht die Hand des Ertrunkenen, Thomas, er zieht dich nach oder schlägt dich todt … Jetzt liegen Sie alle beide tief im Meeresgrunde, tief unten, wo die Nixen in Korallengärten spazieren geh'n und der Meermann dem Schwertfisch Zaum und Gebiß anlegt, daß er sein stattliches Roß sei. Das Messer? wollt Ihr's kaufen, Herr Baumeister? gebt mir einen blanken Gulden dafür und steckt's ein. Es ist ein schönes Messer und ein starkes Messer.«
»Ich will Euch einen Thaler geben, Ilse, wenn Ihr mir sagt, wie lange das Messer in Eurem Besitz ist und mir genau erzählt, wie Ihr dazu kamt,« entgegnete der Baumeister, dessen Interesse an der Alten sich mit jeder Minute steigerte.
Ilse setzte sich wieder und schien gleichsam in sich hinein zu schauen.
»Ein Thaler! ein Thaler ist viel Geld,« sagte sie nach Art aller allein lebenden Personen laut denkend; »wenn ich aber das Messer, das Thomas so oft in seiner Hand gehalten, für einen Gulden weggeben wollte, warum sollte ich nicht für einen Thaler die Geschichte von dem Franzosen erzählen, vielleicht kriege ich sie so ganz aus dem Kopfe, wenn ich sie erzähle. Ein Thaler! gut! daß ist schon wieder ein vierteltausend Ziegelsteine. Her mit dem Thaler und ich will Euch erzählen von Zeiten und Tagen, die vergangen sind.«
»Aber laßt uns hinausgehen, am Strande spricht sich's am Besten vom Meer. Ja, da liegt es ruhig, wie eine schlafende Prinzessin, in seinem Mantel von Silbertressen und blauer Seide, wer möchte es nicht lieb haben? Sonne, Mond und Sterne putzen ihm den schönen Mantel bald mit Goldfunken, bald mit ihren eigenen schönen Porträts. Es schläft und athmet ruhig, wie ein Kind im Traume. Traut ihm nicht, seid auf Eurer Hut! Es schläft und träumt nicht immer, es wird erwachen und dann steht es auf und tobt fürchterlich und gräßlich, schlimmer, wie das wildeste Thier, schlimmer, wie ein Toller.«
Die Alte hatte mit diesen Worten den Baumeister hinausgeführt hinter das kleine Haus in eine Art von Gärtchen, wo dem sandigen Boden durch Ueberreste von Fischen, moderndes Moos und den kostbaren Dünger der Kuh einiges Leben gegeben war. Luftig grünte ein Beet Petersilien, einige Zwiebeln steckten ihre glänzend grünen Schäfte stolz empor, Pfefferkraut und Majoran standen in voller duftiger Blüthe; an dem Schotenbeete reiften mehrere bevorzugte Individuen ihres Geschlechts zur künftigen Saat, und die Stangenbohnen bildeten den Miniatur-Park dieses wenig künstlichen Gartens. Um dieses kleine grüne Fleckchen zu schützen, war es von allen Seiten mit einem Zaun von dicht aufeinander gehäuften Reiserzweigen umgeben, den man dort sehr bezeichnend einen Sandfang nennt. Dicht an der Hüttenwand lebte eine Birke, deren schlanker weißer Stamm und zartes Blattgekräusel in dieser Oede unbeschreiblich schön erschien und im Herzen Georgs eine Art von Freundes-Theilnahme erweckte. Unter ihren Zweigen stand eine Bank und hieher führte ihn die Alte, immer noch leise vor sich hinsprechend und murmelnd, bald von dem Meer und seinen Tücken, bald von dem Thater und den mancherlei Dingen, die man dafür haben könne.
Hier setzten die so verschiedenen Gefährten sich nieder. Die Sonne war untergegangen und die silberne Mondsichel hatte sich allmälig vergoldet. Groß und ernst lag die Spiegelfläche des Meeres vor ihnen und außer dem leisen gleichmäßigen Rauschen des Elementes störte kein Laut die tiefe, feierliche Stille. Georg blickte mit einem Gefühl von Ruhe und Glück um sich und in sich. Seine Gedanken schweiften in allen Fernen seiner heitern Vergangenheit, und nirgends fand er in seiner Brust einen wunden Fleck. Selbst die Schmerzen seines Lebens, der Bankerott seines so wackern redlichen Vaters, der ihn und seine junge Schwester aus reichen Erben zu armen Kindern machte, der Tod seiner beiden Eltern, die sich in wenigen Tagen in die Ewigkeit nachfolgten, hatte nichts Gallenbitteres in der Erinnerung für den Jüngling. »Die Schuld nur hat das Recht, uns weh' zu thun!« und die Seele Georgs war nicht nur frei von jeder groben Schuld, sondern auch fast rein von jeder gemeinen Regung. Mit dem lebhaftesten Sinn für alles Schöne und Gute, für Natur und Kunst, für Poesie und Gerechtigkeit begabt, war ihm der Kampf des Lebens nicht schwer geworden. Lange Zeit das einzige, wohlerzogene, hochgeliebte Kind reicher Eltern, setzte die Geburt eines Schwesterchens den zehnjährigen Knaben in eine Art von Extase für diesen neuen, seinem Herzen gebotenen Gegenstand der Liebe. Die kleine Selma erwuchs zu einem so holden Geschöpf, daß diese leidenschaftliche Bruderliebe bei dem Heranwachsenden Knaben durch die unbeschreibliche Lieblichkeit des Schwesterchens gerechtfertigt erschien. Talent und Neigung zogen den begabten Jüngling zu der edelsten und ernstesten aller Künste, zur Architektur, und er hatte bald genug Grund, diese Berufswahl zu segnen, denn als sie ihn in Stand gesetzt, sein täglich Brod auf ehrenhafte und der Welt nicht unnütze Weise zu erwerben, brach der Bankerott seines Vaters aus. Er war zum Theil die Folge trauriger Handelsconjuncturen in England, zum Theil die der polnischen Revolution des Jahres 30.
Der alte Krone schloß seine Bücher als blutarmer aber grundehrlicher Mann, denn es lebte Niemand, der an ihn etwas verloren hätte, seine Gläubiger waren alle befriedigt, aber sein schönes Haus am langen Markte, seine Villa in Pelonken mit dem herrlichen Garten, das alte Familiensilber und der kostbare aber längst aus der Mode gekommene Brillantenschmuck seiner Gattin, waren der Rechtschaffenheit zum Opfer gebracht. Georg war nun die Stütze der Seinen; der Jüngling arbeitete mit Anstrengung aller seiner Kräfte, bald als Geometer, bald als Bauführer, gab Unterricht in der Mathematik, bildete Feldmesser, ja er verwendete sein hübsches Zeichentalent mit Glück als Porträtmaler und erwarb so viel, daß die Familie Krone keine Lebensbequemlichkeit entbehren durfte, und daß die Kindheit der kleinen Selma, weder der Freude noch der Erziehung entbehrte. – Ihn segnend mit heißer Liebe legten seine Eltern sich zur ewigen Ruhe nieder und hinterließen ihm als ihr schönstes Vermächtniß die Sorge für die reizend erblühende Selma. Er war 25, die Schwester 15 Jahre alt, als sie die theure Mutter zum Grabe geleiteten, das dicht neben dem frischen Grabhügel des Vaters gegraben war. Weinend lagen die Geschwister einander in den Armen. Georg küßte die zarte Stirn seiner Schwester und schwur mit den Lippen auf dieser heiligen Stelle weilend in seinem Herzen den Eid, dem jungfräulichen Kinde, Vater und Mutter zu ersetzen.
Er hatte Wort gehalten. Drei Jahre waren seit jenem traurigen und erhabenen Moment verflossen, sie hatten Selma zur reizenden prächtigen Jungfrau, den Baumeister Krone zum geschicktesten und gesuchtesten Architecten gemacht. Die Geschwister hatten sich keinen Tag getrennt, und an jedem in Fleiß und Heiterkeit erlebten Abende hatte Selma dem Bruder die reine Stirn zum Kusse geboten und ihm gesagt: Segne mich, Georg, für Vater und Mutter, damit ich unter dem Schutze der Engel schlafen kann, und nie, nie hatten des Bruders Lippen die Stirn der Schwester berührt, ohne zu fühlen, daß nur die Engel ganz würdig des holden Mädchens seien. Heute hatten die Geschwister sich auf einige Tage getrennt. Georg wollte erst sich seinen neuen Aufenthaltsort, die öde und einsame Halbinsel Hela, ein wenig ansehen, ehe er es ganz bestimmt zugab, das Selma ihm dahin folge. Sollten ihrer dort zu viele Beschwerden und Entbehrungen warten, so war er gesonnen, die drei Sommermonate hindurch, die ihm die Beaufsichtigung der kunstvollen und zum Theil gefährlichen Reparaturen an dem Leuchtthurme kosteten, lieber der Gesellschaft der Schwester zu entbehren.
Gleich beim Anblick dieser eigenthümlichen Gegend war es ihm aber geworden, als ob hier auf dieser Düne, die das Meer von aller Welt abscheidet, für ihn etwas Großes, Eigentümliches bereit liegen müsse. Als ob hier in der Einsamkeit Gottes Finger sichtbar in sein Geschick eingreifen würde, ja als ob er nicht zum ersten Mal diese Sandflächen, diesen stillen duftigen Kiefernwald, diese Fischerhütten, diese niedere Kirche und diesen hohen Leuchtthurm sähe. Selbst die Fischermädchen, die ihn herüber gebracht, und besonders die große Rahel, waren ihm bekannt vorgekommen, er hatte sie gesehen, er hatte mit ihnen schon gesprochen, wann? wo? das wußte er nicht; wie ein Traum, wie ein Nebel lag eine Erinnerung hinter ihm, nach der er zurückzuschauen versuchte und deren körperloses Wolkenbild ihm immer wieder entschwebte und in Luft zerfloß.
Die alte Ilse war ihm besonders interessant; an Bildung und Geisteskraft ersichtlich über ihren Gefährtinnen stehend, schien sie diesen ein Gegenstand des Hasses und der Furcht zu sein. Diese Frau hatte gelitten, gefühlt, das empfand er in ihrer Nähe; fast hätte er sich geneigt gefunden, sie zu lieben, wenn nicht ein gewisses unbeschreibliches Etwas, ein Gefühl von Schauder und Grauen sich zwischen ihn und sie gestellt hätte. So saß er denn jetzt an ihrer Seite in dem kleinen Garten, der trotz seiner Armuth in dieser dürftigen Natur eine Oase schien, und blickte auf seine leise murmelnde und rechnende Gefährtin.
376 Thlr. 18 Sgr. 9 Pf. und dazu noch 5 Sgr. für das Essen und 1 Thlr. wenn ich ihm erzähle, das macht, das macht – ja, und er ist Baumeister, er kann ja bauen, Er! O es wird wahr werden, nun wird's! Christus Sohn Gottes! es wird wahr werden, und wenn sie den Sand auf das Herz und den Kopf der alten Ilse schütten, dann wird es gethan sein, was ich versprochen und geschworen, und mein Herz wird im Tode leicht sein, und die Gedanken, die fürchterlichen Gedanken werden meinen Kopf nicht mehr füllen, es wird geschehn! –
Ein leises Geräusch weckte die Alte aus ihren Träumen. Sie fuhr empor und schien mit allen Sinnen zu lauschen.
Ein Nachen glitt über das stille Wasser. Ein einzelner, sehr großer und schlanker Mann handhabte die Ruder und ließ mit Geschicklichkeit das kleine Fahrzeug auf den Sand gleiten. Dann wartete er eine Weile, benutzte einen Augenblick, da ein vorüberziehendes Wölkchen das Mondlicht dämpfte, und stieg langsam ein Bein nach dem andern vorsichtig über den Rand des Fahrzeugs stellend, ins Wasser.
Die Alte legte ihre hagre Hand auf Georgs Arm und drückte ihn leise, um ihm Stille einzuschärfen. Sie beide saßen ziemlich im Schatten des Gebäudes und mußten dem Gelandeten wohl nicht sichtbar sein, während sie jede seiner Bewegungen vollkommen beobachten konnten. Er sah sich ein Paar Augenblicke schnell und ängstlich um, schritt dann sehr rasch über den Dünensand und verbarg sich so sehr als möglich im Schatten der Hütten. Aber das scharfe Auge der Alten verfolgte ihn überall und sie zeigte die vorbeischlüpfende Gestalt Georgen jedesmal mit dem Finger, wenn dieselbe an einem mondhellen Fleckchen sichtbar wurde. Endlich bog die Erscheinung um die Ecke eines Häuschens, aus dessen Ladenausschnitt ein Lichtstrahl erglänzte.
Elisabeth Wunder richtete sich nun zu ihrer ganzen bedeutenden Höhe empor und sagte: So! das wird ernsthaft! der Vater auf dem Meere, die Mutter in der Stadt – die Dirne ist heut allein und der Teufel berückt sie mit Geld oder schönen Worten, gleichviel – und da draußen auf dem blauen Meere schaukelt Einer, der Tag und Nacht an sie denkt, und wenn der Wind pfeift und saust, sich mehr um die Angst seiner Rahel, als um sein eignes Leben und Sterben kümmert. Plötzlich wendete sie sich zu Georg. Sie schien vor ihm zu erschrecken und sagte dumpf: Ah! Du bist wieder da, schwarzes Gespenst! 24 Jahre, die Du dort unten in der glänzenden Tiefe liegst, haben Dein Gesicht nicht zu Schlamm gemacht, und Deinen schwarzen Augen nicht ihren Glanz genommen, Du bist da und siehst mich an, als ob Du lebtest.
Ich lebe ja auch, Ilse! antwortete Georg, der Alten seine warme und frische Hand darbietend, ich lebe ganz durchweg und wollte die Geschichte des hübschen Messers von Euch hören, aber Euch beschäftigt der Mann, der in den Rachen dort landet, mehr als Euer Versprechen.
Die Alte schien ihre Erinnerung zu sammeln. Richtig, sagte sie, Ihr seid der neue Baumeister, und seht der schaurigen Gestalt, die mich verfolgt im Wachen und Schlafen, nur so ähnlich; Ihr seid die Wahrheit und Wirklichkeit des schrecklichen Bildes! Ihr werdet der alten Ilse zur Ruhe und Erlösung verhelfen, und es wird alles wieder gut werden, alles, alles, denn im Himmel wird Thomas bei mir sein. – – Im Himmel? oder auch in der Hölle, wer weiß? Aber nicht wahr, die Barmherzigkeit Gottes ist tiefer und grundloser als das tiefe Meer? und Reue und Buße sühnen alle Sünde?
Stille! sieh da, er kommt zurück. Abgeblitzter Sünder, Schuft und heuchelnder Pfaffe! warte, das soll Dir nicht so ganz ungestraft hingehen, wenigstens sollst Du die Angst kennen lernen, nichtsnütziger Kerl! und vor Ilse Wunder, die heuchlerischen Augen niederschlagen.
Sie sprang hastig auf, ergriff Georgs Hand und führte ihn, der dem seltsamen Weibe nicht widerstrebte, durch eine kleine Schlupfecke im Zaune hinaus auf die Düne, wo sie im hellen Mondlichte plötzlich einem großen schlanken Mann gegenüber standen, der mit seinen sehr kleinen Kopf, den tiefliegenden blitzenden Augen und den eigenthümlichen Wendungen seines Körpers an eine Schlange erinnerte, die sich zum Sprunge auf die Spitze ihres Schwanzes emporrichtet. –
Ei! siehe da! mein heiliger Herr Pfarrer, sagte Ilse, mit so merklichem Hohn im Tone, ihre Stimme, daß der Angeredete erschrocken zusammenzuckte. Ihr kommt sicherlich von einer gottseligen Handlung, habt Ihr etwa eins Eurer 8 oder 9 Sacramente in das Haus des Gottlieb Walter getragen. Habt Ihr seine Tochter, die hübsche Rahel, die fast so groß ist als Ihr, zu Eurem Glauben bekehrt, oder hat sich die verstockte Sünderin nicht bekehren lassen? Rudert heim Hochwürdiger nach Heisternest und vergeßt nicht, daß die alte Ilse Wunder allwissend ist und eine arge Hexe, die Euren Bekehrungseifer kennt und durch bösen Zauber stört. Ein glühender Strahl schien aufzublitzen im Auge des Verhöhnten.
Alte böse Hexe, Strandräuberin, alte Mordschwester, sagte er mit einem grimmigen Zischen der Stimme, wer heißt Euch mir nachforschen? wer heißt Euch meiner schuldlosen Zuneigung für Rahel Walter einen schlimmen Grund unterlegen? laßt mich meine Wege gehn und kümmert Euch nicht um mein Thun und Treiben, sonst könnte mir es am Ende einfallen, mich um das Eure zu kümmern, und das würde Euch wahrlich übel bekommen. Hört Ihr? fort mit Euch, wer ist der Junge, der Euch begleitet, er kann mich heimrudern. Komm mit mir, Bursch, Du sollst für die leichte Fahrt einen Thaler haben und meinen Segen und bei Deiner ersten Fahrt im See ein Kirchengebet für Dich besonders in unserer Kirche.
George befand sich in einer unangenehmen Lage. Er stand offenbar einem Manne gegenüber, der den gebildeten Ständen angehörte, höchst wahrscheinlich dem katholischen Priester aus dem nahen Stranddorfe Heisternest, und es war ihm peinlich, Zeuge davon zu sein, wie dieser auf bösen Wegen ertappt worden. Er selbst, ein Jüngling von reinen Sitten und festen edeln Grundsätzen, empfand allerdings einen Abscheu gegen die schmutzigen Schleifwege des Lasters und eine herzliche Verachtung gegen diejenigen, welche sich diese gleichsam zu Spaziergängen erwählen. Aber er wußte auch, wie viel Festigkeit oft dazu gehört, der Versuchung zu widerstehen, er wußte, daß ihn besonders der Blick auf seine holde, schuldlose Schwester von vielem zurückgehalten, was die männliche Jugend unserer Tage unter die ihrer männlichen Würde zukommenden Freiheiten rechnete und er fühlte Mitleid mit der Beschämung des ihm in so schlechtem Lichte Gegenüberstehenden. Rasch entschlossen trat er daher an das hellere Mondlicht und sagte mit Höflichkeit:
Es ist mir unangenehm, mein Herr, daß ein Zufall mich zum Zeugen eines Gesprächs macht, das Ihnen peinlich zu sein scheint. Der Geisteszustand der alten Frau hier ist sicher nicht von der Art, daß ihre Worte Sie besonders kränken oder aufregen sollten, ich aber bin ein Mann, und wie ich hoffe, ein Ehrenmann, und welchen Grund Sie auch haben mögen, Ihre nächtliche Spazierfahrt zu verbergen, an mir werden Sie sicherlich keinen Verräther finden.
Der Angeredete zog mit einer linkischen Artigkeit den Hut.
Ah! mein Herr, sagte er mit deutlich erkennbarer Sonntagssprache, ich bin erfreut, in Wahrheit, ich bin sehr erfreut, hier gleich Ihre schätzbare Bekanntschaft zu machen. Sie sind wahrscheinlich der Herr Baumeister, welcher die Ausbesserung und Verbesserung des Leuchtfeuerthurms hier leiten und beaufsichtigen soll.
Ein schönes Amt allerdings, ein erhabnes Amt, der Welt nützlich und der Schifffahrt und dem Handel. – Ich, ich bin Ihnen zu dienen, nur der Priester hier, auf dieser unwirthbaren Erdscholle in Heisternest, ich bin, ich bin – ein Hirte, der seine Heerde liebt, und hier an diesen von Gott vergessnen Ort, ein verirrtes Lamm in den ewigen Schafstall zu leiten, sich bestrebt. Ich meine die Tochter des Bootsführer Walter, deren Mutter aus meinem Dorfe und allerdings nicht eigentlich katholisch, aber doch, Sie verstehn mich, mein Herr, niemand möchte ein kleines Lamm aus seiner Heerde verloren gehen lassen, niemand, der sich ein guter Hirte zu sein bestrebt. So habe ich denn, – so hin ich denn – Sie verstehn mich schon, mein geehrter Herr Baumeister, Sie –
Ich verstehe Sie in der That ganz und gar nicht, Herr Pfarrer! unterbrach Georg diesen verlegenen Sermon, doch kann es auch darauf durchaus nicht ankommen. Kehren Sie in Gottesnamen in Ihr Kirchspiel zurück und rechnen Sie, was auch geschehn sein mag, auf die Verschwiegenheit eines Ehrenmannes und einer alten kranken Frau.
Er verbeugte sich kalt und wollte sich entfernen. Der Priester indeß hielt ihn mit einigem Ungestüm zurück und sagte: Ich bitte, ich bitte ganz ergebenst mein Herr Baumeister, lassen Sie Sich warnen, lassen Sie Sich rathen, diese Frau ist ja keineswegs so krank oder schwach, als sie zu glauben scheinen. Sie ist ein tückisches, boshaftes, verleumderisches Ding, man sagt, sie sei eine Hexe. Gebildete Menschen wie Sie und ich glauben daran nicht, daß sie indeß mehr weiß als andre Leute, daß sie mehr sieht als gewöhnliche Menschenaugen sehen können, daß sie den Wind bespricht und böses Wetter machen kann, wenn Einer in See ist den sie haßt, das ist wahr, so wahr wie das Evangelium. Sie ist auch sonst noch eine ganz schlechte Kreatur, man sagt – hier neigte er sich an Georgs Ohr und dämpfte seine Stimme zum leisesten Flüsterton, – sie hat einen Mord auf ihrem Gewissen! –
Georg wollte sich abwenden von dem verleumderischen Pfaffen, als er plötzlich die Hand der Alten schwer auf seinem Arm fühlte. Die Eiseskälte dieser Hand machte sich ihm durch seine Kleidung hindurch fühlbar, und als er sich zu ihr wendete, sah er sie wanken. Die blassen Lippen des armen Geschöpfs flatterten wie im Fieberfroste, hörbar schlugen ihre Zähne aufeinander, er fühlte, sie würde zu Boden sinken und streckte die Arme aus, um sie aufzufangen.
Während dessen war der Priester davongeschlichen und Georg vernahm, wie in einem Traume, den leisen Schlag der Ruder des Forteilenden.
Allein auf der Düne mit der in Krämpfen liegenden Unglücklichen fühlte er doch die Unmöglichkeit, fortzugehen um Hilfe zu holen. Sie konnte sterben indeß, und das würde sein Gewissen für ewig beschwert haben. Seine ganze Kraft zusammenraffend, nahm er die Leidende daher in seine Arme und schritt mit ihr über den Flugsand der Düne, der kleinen Hütte zu, die sie vor Kurzem verlassen hatten. Mitternacht mußte längst vorüber sein, er sah dies an der Stellung des großen Wagens, und ein heiliges Schweigen herrschte in dieser ihm so fremd erscheinenden Natur. Wie er dahin schritt, gebeugt unter der Last, des in seinen Armen zitternden Körpers, allein mit dem ewigen Himmel und dem ewigen Meer zur Beihilfe für ein leidendes Menschenwesen nur auf seine eigene unzulängliche Kraft gewiesen, war in seiner Seele ein tiefes Gefühl der Andacht. Es war ein Gebet um Hilfe und Beistand von Gott, und Mitleiden mit dem, wenn auch vielleicht durch Schuld leidenden Menschenwesen, für das er seine Kräfte aufwendete, und das ihm in diesem Moment gleichsam zum Repräsentanten der ganzen, durch Schuld leidenden Menschheit wurde.
Er hatte die Hütte erreicht, die Alte auf den Lehnstuhl gelegt, und bemühte sich die verloschene Flamme in dem kleinen Leuchtkamin anzuzünden, als er, in nicht zu weiter Ferne Menschenstimmen im Freien lustig singen hörte. Es waren Frauenstimmen und er glaubte die Stimme Rahels darunter zu erkennen. Er wollte das Fensterchen öffnen, um nach Hilfe zu rufen, aber Ilse hatte sich indeß erholt. Matt richtete sie sich empor und sagte:
»Laßt nur Herr Baumeister und seid tausend Mal bedankt, Ihr habt an mir wie ein Sohn gehandelt, für Euch möchte ich gerne die Mutter Ilse sein; aber Euern Thaler verdienen und Eure acht Groschen, das kann ich nun nicht; denn ich kann Euch weder erzählen wie und wo ich zu dem Messer gekommen, noch Euch Euer Gepäcke nach dem Leuchtthurm tragen. – Geht jetzt in Gottesnamen den Mädchen nach, die zum Fischen ausziehen, sie werden Euch den Weg weisen und morgen bringe ich Euch Eure Sachen und verdiene, wenn ich kann das schöne Geld, es wird mir sonst nicht so leicht etwas zu verdienen. Nicht wahr? Ihr werdet mir den Thaler nicht entziehen, weil Ihr die Geschichte etwas später zu hören bekommt.« »Zuerst Mutter Ilse,« entgegnete Georg milde, »will ich noch etwas bei Euch bleiben, und sehen, daß Ihr zur Ruhe kommt. Der Thaler entgeht Euch nicht, da habt Ihr ihn, der Morgen graut schon und vom Schlafen ist bei mir nicht mehr die Rede, denn wer weiß, wie es auf der Commissions-Stube des Leuchtthurmes mit Bett und Schlafstätte bestellt ist.«
Die Alte schob das ihr gebotene Geld zurück: »Behaltets bis es verdient ist.« »Herr!« sagte sie fest, »Ich danke Euch für Euren guten Willen, mich zu pflegen, aber ich bedarf dessen nicht. Seit 24 Jahren bringe ich nun die langen schlaflosen Nächte mit meinen Gedanken und Erinnerungen allein zu und die Krämpfe kommen und gehen, ohne daß eine Nachbarin es weiß, oder ein Mädchen mir eine Tasse Thee kocht. Der Mensch gewöhnt sich an Alles. Euer Bett auf der Bliese ist längst gelüftet und gut überzogen. Der alte Bliesenwärter Schwan erwartet Euch seit Abends, denn er weiß ja, daß die große Rahel mit Walters Boot Euch über's Wyk schaffen wollte. Die Frau Schwan hat Euch Flundern gebraten und einen Salat hergerichtet und neue Erdäpfel dazu, die mit Euch in einem Boot aus Danzig gekommen; das wird nun alles kalt, und unschmackhaft sein, aber das Bett bleibt immer gut. Geht mit Gott, junger Mensch, und nehmt das Messer und das Bild vom Kamin da oben, ich schenke Euch beides nicht, es gehört Euch zu.«
George schüttelte noch einmal der alten Frau die Hand, wünschte ihr gute Gesundheit und verließ sie um seine neue Wohnung aufzusuchen.
Draußen empfing ihn der Hauch der Morgenfrühe. Das Meer schien munterer zu plätschern als am Abende.
Der östliche Horizont trug einen breiten Saum von Purpur und Gold. Die Sterne erloschen allmälig. Der Tag, ein lächelndes Kind, schien mit neckischen Händchen den Vorhang am Himmel ein wenig zu lüften, den die sorgsame Nacht aufgespannt, um den Schlummer aller Kreaturen zu schützen, und mit rosigen Wangen und munteren Augen dahinter hervor zu gucken, ob er nun wohl bald aufstehen und sich regen dürfe. Georg schritt rüstig vorwärts, die Düne entlang, der Gesang der Mädchen leitete ihn. Er ging dem immer heller erglühenden Morgenröthe entgegen, und als er ziemlich am Ende der Landzunge den Platz, wo die Mädchen ihre Netze aufzogen, erreichte, beleuchteten die ersten Strahlen, des den Horizont berührenden Sonnenballes, ein Schauspiel eben so eigenthümlicher als reizender Natur.
Acht Mädchen, schlanke kräftige Gestalten, die große Rahel an ihrer Spitze, hatten sich an lange Seile gespannt, die mit einem breiten Tragegurt über Busen und Schultern befestigt waren, und zogen langsam vom Meeresufer rückwärtsschreitend ein langes Netz aus dem Wasser. Tausende von sehr kleinen Fischchen sprangen und zappelten in den Maschen des zum Bersten gefüllten Netzes; ihre Schuppen glänzten wie Silber in den ersten Morgenstrahlen, die große Felder von Schillergold auf den glatten Meeresspiegel malten.
Auf der Düne lag das Frühlicht wie ein rosiger Flor, die Spitzen der Kiefern erglänzten von seinen Strahlen und die Spiegelfenster des Leuchtthurms warfen sie funkelnd zurück. Näher schreitend erkannte Georg an dem laut und heiter erschallendem Gesange der Mädchen ein geistliches Lied, das in einem besonders lebhaften Tempo gesungen wurde, und endlich verstand er auch den Text, der wundervoll zu dem hellen Morgen und dem Geschäfte der Fischerinnen paßte; zuerst unterschied er die Schlußworte einer Strophe:
In wie viel Jammer und Noth,
Hat nicht der gnädige Gott,
Ueber dich Flügel gebreitet.
und dann einen neuen Vers:
Lobe den Herrn und seinen erhabenen Namen,
Lobet ihn Alle, die von ihm das Leben bekamen
Er ist dein Licht!
Seele vergiß es ja nicht
Lob ihn in Ewigkeit, Amen!
Das Amen der jugendlichen Stimmen verhallte, wie ein Glockengeläute in der frischen und milden Morgenluft, Himmel und Meer schienen darin einzustimmen, und auch Georg sprach es in seiner Seele nach, als er den Mädchen einen guten Morgen bietend, neben ihnen stand.
Jetzt erst wurde er gewahr, daß auch ein Mann bei dem Fischzuge war. Ein 50ger, groß und schlank, mit einen Gesicht, auf dem die Wetter aller Zonen unseres Erdballs, einige Spuren zurückgelassen zu haben schienen. Er war barfuß wie die Mädchen und seine Beine braun und rauh, ließen die am Knie zusammengebundenen Leinwandhosen unterwärts nackt. Seine übrige Kleidung bestand aus einem groben aber reinen Hemde und jenem großen, seltsam geformten, aber gegen Wind und Wetter schützenden Hute, der auf allen Bildern und in allen Weltgegenden den Fischern gehört, und von ihnen Südwester genannt wird.
Der alte Seemann schritt auf Georg zu, sobald er seiner ansichtig wurde, und reichte ihm eine Hand entgegen, an Form und Farbe einem irdenen Teller nicht unähnlich. »Willkommen auf Hela, mein geehrter Herr Baumeister,« rief er mit dem breiten und rauhen Dialect der Strandbewohner, »und wenn ich sage willkommen, so heißt das willkommen, müssen Sie wissen, denn ich bin, wie Sie mich hier sehen, Rolph Peters, der Bürgermeister hierorts. Mädchens laßt das Kichern, und schafft die Breitlinge in's Boot, wir können noch einen Zug thun, ehe es Zeit wird, nach Danzig abzulegen. Eilt Euch und thut nicht, als ob Ihr Knochen von Zuckerkraut hättet, Ihr leichtsinnigen Dinger. Man muß schaffen und die Hände rühren so lange man lebt.«
Er that bei diesen Worten einen gewaltigen Zug aus der kurzen Pfeife, die er zwischen den Zähnen hielt, stemmte die Arme in die Seiten, stellte sich mit ausgespreizten Beinen, breit wie der Koloß von Rhodus, dicht an das Wasser, so daß feine Kräuselwellchen ihm die nackten Zehen benetzten, und schaute von oben herab auf die Mädchen, die tiefgebückt unter der schweren Fischlast, die Boote, deren Bord sich dadurch allmählig tiefer in's Wasser senkte, mit der zappelnden lebendigen Masse füllten.
Schweigend unterwarfen sich die arbeitenden Weiber dem, was der Herr der Schöpfung ihnen zu befehlen geruhte. Der Bürgermeister von Hela aber erbot sich, den Herrn Baumeister nach der Bliese zu führen.
Der Fichtenwald, den die Wandernden jetzt betraten, ließ das Meer bald nur noch wie ein blitzendes Netz von Silber erscheinen, aber sein Athem blieb hörbar und fühlbar, der kräftige frische Hauch desselben, der der Luft am Strande eine eigenthümliche Würze verleiht.
»Aber mein Herr Baumeister,« begann Meister Peter nach kurzem Schweigen, »was in aller Welt hat denn die alte Ilse mit Euch die Nacht durchgemacht? Ist's denn wahr, daß sie sich um Mitternacht jung hexen kann, und dann noch trotz ihrer Jahre den Mannsleuten nachläuft?« Er zog bei diesen Worten den Nasenwärmer aus dem Munde, spuckte weit aus und ließ ein sehr kräftiges: Pfui! als Zeichen seiner höchsten Mißbilligung hören.
»Solche Thorheit wird ein alter Mann, der so weit gereist ist, als Ihr, doch wohl nicht glauben,« entgegnete etwas aufgeregt Georg.
»Warum nicht Herr, warum nicht? In St. Thomas war eine Mulattin, eine so alte garstige Hexe, als jemals eine den Besenstiel bestieg und zur Nacht bezauberte sie den jüngsten und schmucksten Matrosen, und in Archangel kannte ich selbst ein altes finnisches Weib, die den Männern etwas in den Branntwein mischte, daß sie ihnen jung und frisch vorkam. Die alte Ilse ist aller Teufelskünste voll, das könnt Ihr glauben und reich ist sie Herr! reich wie ein Jude. Sie hat die Rollen harter Thaler, ja und auch Goldstücken in einer alten Schiffskiste liegen, die mit einem Zauberschloß zugesperrt ist, das von selbst aufspringt, wenn sie ein Hexenwort sagt. Das Teufelsweib ist eine Schande für unsere Stadt und wenn der Pfarrer nicht wäre, der immer und immer ihre Kante hält, obgleich sie nie in die Kirche und nie zum Abendmahle geht, so hätten sie unsere jungen Burschen schon voriges Jahr getaucht, als sie einen verfluchten Sturm braute, der bald unseren Häringsbooten den Garaus gemacht hätte.«
Georg Krone wollte sich eben ereifern über den Unsinn, den der Herr Bürgermeister von Hela sehr ernsthaft zu glauben schien, als er plötzlich erschrocken zurück fuhr. Lupus in fabula, die alte Ilse nämlich, trat leibhaftig hinter einer Fichte hervor, drohte dem Schwätzer sehr ernsthaft mit dem dürren Arme und sagte zornig:
»Ihr Narr, Ihr alter Wallfisch Ihr! was Euer dicker dummer Kopf nicht begreift, das schreit Ihr für Teufelskunst aus. Was würde das Thier nur sagen, sähe er die Wagen ohne Pferde und die Schiffe ohne Segel sich bewegen, die jetzt in der Welt von klugen Leuten erdacht sind?« Sie sprach dies mehr für sich, als zu den Beiden, ging dann rasch durch den Wald vorwärts und war bald hinter den Bäumen verschwunden. »Seht Ihr's! seht Ihr's nun, daß sie eine Hexe ist, der alte Teufelsbraten der,« schrie der erschrockene und entrüstete Fischer. »So was hat kein Mensch jemals erlebt und ich glaube, jetzt ist sie wieder hinter uns, und hört was man sagt und schimpft die Leute aus, die von ihr die Wahrheit reden. – Ja! und da ist nun die Bliese! ganz blitzblank sehen die Fenster aus in der schönen Morgensonne. Nun ich weiß die Zeit noch, da dort oben ein großer Kohlenkessel brannte als Seeleuchte. Mein Vater war damals Bürgermeister in Hela, und die Fischer mußten die Kohlenschiffe, die der Hafen-Bau-Inspector aus Fahrwasser herschickte, ausladen und die Kohlen nach der Bliese tragen; denn damals wie jetzt war kein anderes Zugvieh hier unter uns, als des Feuerwärters Ochse, der doch nur wenig allein schaffen konnte. Der Teufel plagte den verstorbenen Bauinspektor, daß er die Kohlen immer erst Martini oder so herum schickte.«
»Aber mein Vater legte ihm den Uebermuth; er schrieb ihm einen Brief, der sich gewaschen hatte, d. h. er ließ ihn vom Schulmeister Grundmann schreiben und wir unterschrieben ihn mit unseren Handzeichen. Ich war damals Vogt trotz meiner jungen Jahre und der Brief war gut.«
Der Alte hatte sich Angesichts der Lichtung, auf welcher ein Hügel den schlanken Leuchtthurm trägt, an einen Fichtenstamm gelehnt und perorirte mit erhobener Stimme:
»Wir Bürgermeister, Rathsmänner und Vogt der Stadt Hela thun dem königlichen Bau-Inspector zu Neu-Fahrwasser kund und zu wissen, daß wir nicht mehr gesonnen sind, die Kohlen um Martini oder noch später in Empfang zu nehmen, wo wir mit Stiefeln zu 8 Rthlr. das Paar in's Wasser gehen müssen, und mag die königliche Bau-Inspection die Kohlen, wenn sie dieselben nicht zur rechten Zeit schickt, künftig auch selber lossen.«
Actenmäßig.
So hatte mein Vater schreiben lassen auf einen großen weißen Bogen; ich machte meine drei Kreuze ganz unten links als der jüngste, und der Schulmeister schrieb darunter Handzeichen des Rolph Peters; von da an wurde es anders. Gleich im nächsten Jahre war das neue Blickfeuer gebaut von einem Herrn aus Berlin, Sewerin hat er geheißen und soll ein feiner und braver Herr gewesen sein.«
Ich war dies Jahr und das nächste gerade am Cap und kriegte keinen kleinen Schreck, als ich bei der Heimkehr, statt des gewohnten rothen Kohlfeuers, mit einmal das Leuchten sehe, das kommt und verschwindet wie eine Stalllampe, die ein Mädchen mit dem Rockzipfel bedeckt, damit ihre Mutter nicht sieht, daß ihr Liebster neben der Kuh steht. Na und da ist der alte Schwan! Er hat uns gesehen und kommt uns mit schuldiger Achtung schon entgegen.«
In der That kam ein Greis mit silberweißem Haar so eilig, als es seine Jahre erlaubten, auf sie zugeschritten. Er grüßte ehrerbietig, bedauerte sehr, daß der Herr Baumeister eine so schlechte Nacht habe zubringen müssen, erzählte, daß Ilse Wunder Felleisen und Reisetasche bereits abgeliefert, auch ein altes Bild und ein schönes Matrosenmesser, das beides der Herr Baumeister wohl von ihr erstanden haben müsse, da er (Schwan) es sonst als Ilsen's Eigenthum gekannt, als zu des Herrn Effecten gehörig, an ihn abgegeben habe. »Sie forderte von mir für das Tragen der Sachen 5 Sgr., die der Herr Baumeister mit ihr dafür accordirt habe. Nun ich gab sie ihr, denn es ist mißlich, der Alten etwas zu verweigern; sie thut einem stets einen Schabernak dafür, und oft einen recht bösen.«
Georg frühstückte mit dem Alten und seinem eben so alten freundlichen Mütterchen in dem kleinen Wärterhäuschen am Fuße des Leuchtturmhügels. Hier war alles so sauber, so zierlich und behaglich, wie es bei geringem Einkommen durch Fleiß, häuslichen Frieden und Unkenntniß aller Ueberfeinerung gemacht werden kann.
Das Mütterchen im blauen leinenen Rocke, den sie selbst gesponnen, gefärbt und genäht, erschien, eine erneuerte Auflage der sanften Baucis, der Bliesenwärter Schwan indeß, war durchaus kein Philemon. Ein alter durchwetterter Matrose hatte er die strenge Schiffsdisciplin, an die er selbst gewöhnt war, unter seinem Dache eingeführt und übte sie unnachsichtig gegen seinen Hund Wiedu, seine beiden Katzen, Mietz und Murres und gegen eine alte lahme, ganz gezähmte Krähe, Namens Matz; Peitsche, Riemchen und Ruthe waren die verschiedenen Zwangs-Instrumente, die er gegen diese Untergebenen in Anwendung brachte, und sie hingen in einer Reihe an der Stubenthür. Auch der Ochse und die beiden Kühe standen unter dem Regimente des Alten. Ausgenommen davon war aber seine Frau, die trotz ihrer stillen Weise, die unumschränkte Herrschaft des Hauses führte. Auf ihr Geheiß scheuerte der gestrenge Herr Kessel und Kanne, putzte die kleine Lampe im Zimmerchen blank wie einen Spiegel, und saß demüthigst mit seiner Tabackspfeife entweder bei seiner Leuchte oder vor der niedern Hausthür, den Hauptstolz der kleinen Mutter Schwan, ihre weißen Fenstergardinen respectirend. Mutter Schwan übernahm die Sorgen für Georgs Essen und er befand sich wohl dabei. Sie filtrirte ihm das brackige Wasser des Brunnens durch einen Sandstein, die Milch ihrer Kühe, der einzigen auf der Halbinsel, die keine Fischabgänge fressen durften, war wohlschmeckend, sie backte vortreffliches Brod, sorgte für Gemüse, das die Mädchen aus Danzig mitbringen mußten, und nicht selten gab es einen Braten von einem der äußerst schmackhaften Schafe, die wild auf der Halbinsel umherstreifen, und nur jährlich einmal nach der Lammzeit zusammengetrieben werden, damit die Eigenthümer die Lämmerchen mir ihrem Stempel zeichnen können.
Den Tag über war Georg ernstlich beschäftigt; die Vorarbeiten für den Bau, der bedeutender werden mußte als er es anfangs geglaubt, nahmen seine ganze Zeit in Anspruch. Wenn aber der Abend sich über Land und Meer niedersenkte, saß er entweder mit den Alten plaudernd auf den langen Gerüstbäumen, die bereits auf dem Platze vor dem Leuchtthurme am Boden lagen, oder erging sich auf der Düne. Wer das Leben der Natur versteht und das Leben der Menschen erkennt, der ist nie einsam, führt ihn auch das Geschick, wie jetzt den jungen Krone, auf die entlegenste Küste, wohin die Civilisation mit ihrem Gefolge von Zerstreuungen noch nie den seidenbeschuhten Fuß gesetzt.
Georg versenkte sich in der Morgenfrühe oder in der Abendstille gern in das Gefühl der Abgeschiedenheit, welches das Rauschen des Meeres, das Säuseln des Waldes, das Ziehen der Wolken in der Menschenbrust erregen; ebenso gern aber beobachtete er auch mit scharfem Blick den Menschenkreis, unter dem er lebte. Ein minder Gebildeter würde sich unter diesen Fischern und alten Matrosen, unter diesen nur halb bekleideten Weibern und Mädchen leicht für ein Geschöpf anderer Art gehalten haben; Georg Krone aber besaß Verstand genug, um das rein Menschliche auch ohne die Hüllen der Convenienz erkennen zu können, und Poesie genug, um sich für alles rein Menschliche lebhaft zu interessiren.
Die alte Ilse kam ihm manchen Tag nicht wieder zu Gesicht. Sie hatte an jenem Morgen, da er sie flüchtig im Walde sah, ihre Hütte verlassen und eine ihrer unbegreiflichen Wanderungen angetreten, von wo sie, wie ganz Hela wußte, oft in Monaten nicht zurückzukehren pflegte; Niemand hatte eine Vorstellung davon, wo sie sich dann aufhielt, und die abenteuerlichsten Märchen erzählte man sich hierüber.
Es hieß, sie verstände sich unsichtbar zu machen und sie sei gar nicht so fern, als man glaube. Auch behauptete man, sie gehöre zu jenen graulichen Wesen, die der Volksglaube Währwölfe nennt, und streife als ein solches Ungeheuer während ihrer Abwesenheit in der Welt umher.
Einige meinten auch, sie verwandle sich in einen der großen Steinadler, die oft mit majestätischem Fluge über die Halbinsel hinziehen und auf der Höhe bei Nirhöhl nisten.
Georg fragte häufig nach der alten Frau und klopfte mehr als einmal an ihre Thüre, aber Niemand antwortete; die Kuh versorgten die Nachbarn nach der Reihe, keineswegs aus nachbarlicher Theilnahme, sondern aus Furcht vor dem bösen Auge der Alten und zum Theil auch auf Veranlassung des greisen Predigers, der stets der Beschützer Ilsens gewesen war.
Georg war fast schon zwei Wochen auf Hela. Er kannte alle Leute und wurde von Allen gekannt, nur dem Prediger hatte er noch keinen Besuch gemacht; der Greis war krank und seine Gattin wich nicht von seinem Bette.
Die Sehnsucht nach seiner Schwester lag indeß bei Arbeit und Ruhe schwer und schmerzlich auf der Brust des jungen Mannes. Selma schrieb ihm fast täglich, aber er entbehrte doch ihren lieben Anblick, den heitern sanften Ton ihrer Stimme, er entbehrte den Kuß auf ihre Stirne, den Händedruck, wenn sie ihn lächelnd begrüßte. Er entbehrte das Sonnenlicht seines Lebens und mehr als ein Mal sprach er es gegen den alten Feuerwärter und dessen Mütterchen aus; die beiden alten Leute hatten den sehr geehrten Herrn Baumeister tief in ihre Herzen geschlossen und bestrebten sich in jeder Weise ihm das Leben freundlich zu machen. Vater Schwan führte ihn zu Fischzügen und zeigte ihm den streifenden Adler und die verstecktesten Schwanennester. Oft, wenn die Beiden zusammen durch den Wald oder über den Dünensand schritten, begegneten ihnen ganze Rudel wilder Widder, die den Kopf mit den großen gebogenen Hörnern tief niedergesenkt, vorbeigalloppirten. Sie sahen die schöne Schwanenmutter mit ihren unansehnlichen Kindern, still über die krystallklaren Wellen schiffen, und niedertauchen nach den Seesternen, die wie kleine silberne Nachen zu Tausenden das Meer bedeckten. Saßen sie zusammen vor der Bliese, wo das Mütterchen mit ihrem Strickstrumpfe ihnen Gesellschaft leistete, da erzählte der Alte gern von seinen Abenteuern als Matrose, vom Wallfischfang an den Küsten von Spitzbergen, und von dem Tanz der Neger auf den westindischen Inseln. Schwan war nicht auf Hela geboren, auch das Mütterchen nicht, und beide hielten sich deshalb und wegen des königlichen Postens, den der Mann bekleidete, für bedeutend vornehmer als selbst den sehr stolzen Bürgermeister Ernst Peters, und setzten im Rang nur den Herrn und die Frau Prediger über sich, von denen sie stets mit tiefer Ehrfurcht sprachen. Indeß war die Halbinsel und ihre Bewohner, für diese beiden Menschen der Inbegriff der Welt, und sie kannten Alle und Alles was sich in dieser Welt bewegte.
Oft versuchte es Georg, das Ehepaar zum Sprechen über Ilse Wunder zu bringen, aber in diesem Punkte überwand die abergläubische Furcht die natürliche Plaudersucht der Alten.
»Lassen Sie es nur, Herr Baumeister!« oder: »Stille! darüber ist nicht gut reden,« war nebst umständlichen Berichten über die Teufelskniffe der Hexe Alles, was er aus Beiden herausbrachte.
Ein regnischer Sonntag versammelte endlich die Drei, als die Bauten schon in vollem Gange waren, und mehr als 100 junge Handwerker und Arbeitsleute die stille Halbinsel lebhaft machten, in der kleinen Putzstube der Mutter Schwan. Georg hatte einen Punsch gebraut, denn ein eiskalter Südostwind pfiff über das Meer hin und verwandelte sein bläuliches Wasser in sprühend grüne Schaumwellen.
Der Leuchtthurm zitterte sichtlich vom Toben des Windes und die Fichten beugten ihre Häupter, als wollten sie den vorüberziehenden Geisterkönig respectvoll grüßen.
»Das ist so ein Wetter für Ilse,« sagte Mutter Schwan, »und ich wette, sie kommt heute plötzlich zum Vorschein.«
»Ja, das ist ihr Wetter!« meinte der Alte, mit den Augen blinzelnd; »sie versteht's auch zu machen, und hat es manchem guten Schiff nachgeschickt, das davon nicht mehr erzählen wird.«
»Noch ein Glas, Freund Schwan!« sagte Georg einschenkend, »und wenn Ihr ausgetrunken habt, so erzählt mir, woher Ihr wißt, daß Ilse Wunder das Wetter zu machen versteht.«
»Ihr glaubt doch nicht, Herr Baumeister,« meinte das Mütterchen, »und man soll mit Ungläubigen nie von solchen Dingen sprechen; aber ich fürchte mich Euretwegen, denn gewiß, sie hat's Euch angethan! Seht, wir sind jetzt 24 Jahre hier beim Leuchtfeuer, wir waren noch hier zur Zeit der Kohlen und haben den ganzen schweren Bau mit durchgemacht, und der Herr Geheimrath hat so mit uns manchmal gesessen, wie Ihr heute, – er verachtete geringe Leute nicht. Aber die Ilse Wunder, an die werden wir denken; sie hat uns den Willkomm hier schön versalzen! Das hat sie, Gott weiß es!«
»Aber damals muß Ilse doch noch jung gewesen sein!« sagte Georg.
»Jung? Ach, die ist wohl niemals jung gewesen! Als wir auf Hela landeten im Jahre 15, da sah sie aus wie heute; sie hatte, wie jetzt, das rothe Tuch über die weißen Haare geknüpft, und stand am Strande im tobenden Winde. Ich sehe noch den rothen Tuchzipfel dem Hexenweibe wie Flammen um den Kopf fliegen! Der Wind hatte uns 24 Stunden draußen auf dem Wyk herumgetrieben; die Segelstange und das Steuer waren zerbrochen, unser Bischen Betten und Sachen waren durchweicht vom Seewasser. Die Mädchen – das waren damals Rahel's Mutter, die wohl in Heisternest geboren, aber fünf Jahre alt schon zu ihrem Ohm hier nach Hela gekommen ist und die Mutter der Tine Schulz und zwei, die schon todt sind – lagen betend auf den Knien, keines konnte mehr das Ruder führen. Da sagte die Mutter der Tine Schulz: »Sieh, Rahel, da ist Deine Schwägerin; wie die aussieht, als ob die Thränen ihr das Gesicht durchgefressen hätten!« – »Was redest Du da?« schrie die alte Rahel erbost, »glaubst Du, daß mein Schwiegervater Walther im Leben ja gesagt hätte, wenn auch Thomas nicht hier im Angesichte von uns Allen hätte sterben und verderben müssen? Sie ist ein hergelaufenes Ding, aus Heisternest, hat in der Stadt gedient und nicht ein Flundernetz, das sie ihr eigen nennen könnte.« – Die Ilse war indeß mit den Strümpfen und Schuhen in's Wasser gelaufen. Die Wellen schlugen ihr mehr als einmal über den Kopf, aber sie warfen sie nicht. Sie schrie und rang die Hände. »Ihr, Ihr seid da,« lamentirte sie, »und er hat sterben müssen!« Meine Frau sah sie besonders grimmig an und schrie auf sie ein: »Du hast Deinen Schatz neben Dir, und er steht da gesund und frisch und Thomas liegt unter den kalten Wellen!« – Aber, was wahr ist, ist wahr! Sie trug meine Frau durch die Spritzwellen und setzte sie im Trocknen auf den Sand. Wie die aber nun ihr danken wollte, ordentlich und manierlich, da ballte sie ihr die Faust entgegen und schrie sie an: »Schweig' mit Deinem albernen Dank; ich hätte Euch Alle lieber in den Grund blasen mögen!« – Sehen Sie Herr, sie gestand's selbst ein, daß sie das Höllenwetter gemacht habe!«
Während der Alte noch immer eifrig erzählte und sich von Zeit zu Zeit mit einem roth carrirten englischen Taschentuche die durch den Punsch und Eifer erhitzte Stirne trocknete, hatte sich die Stubenthüre leise geöffnet, und ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit war unhörbar wie ein Lichtstrahl eingetreten.
Die drei saßen mit dem Rücken nach der Thüre in der Kaminecke um den Tisch mit der dampfenden Bowle und erblickten daher die liebliche Erscheinung auch nicht sogleich.
In der That, sie erschien wie der Lichtstrahl, die holde Jungfrau, die elfenleicht vorwärts schlüpfte.
Nicht sehr groß, aber so schlank, daß sie größer erschien, als sie eigentlich war, trug diese Gestalt, die durch ihre Biegsamkeit an einen Blumenstengel erinnerte, ein Köpfchen, um das sich hinten eine schwere hellblonde Flechte dreifach wickelte, während Locken, gesponnenen Goldfäden gleich, sich um die reine Kinderstirne kräuselten, Angst und Freude hatten das holde Gesichtchen hoch geröthet, und auf der glühenden Wange zitterte eine Thräne, obgleich um Auge und Lippe jetzt das Glück lächelte.
Sie war hinter Georgs Stuhl getreten, hatte ihre Hände auf seine Augen gelegt, und küßte, sich niederneigend, seine schwarzen Locken und fragte unter Thränen lachend:
Wer bin ich?
Der Baumeister sprang wie vom Blitze getroffen auf, und schlang seine Arme heftig um das neckende Kind.
Selma! mein Engel, meine Selma, mein Abgott, Du hier Du?! mein Gott! rief er mit dem Ausdrucke eines beinahe wilden Entzückens.
Seine Knie und Hände zitterten sichtlich und er mußte sich tödtlich erbleichend niedersetzen, um nicht umzusinken. »Bruder! mein Bruder!« rief das junge Mädchen, »ich habe Dich erschreckt, statt Dich zu erfreuen. Mein Georg! vergieb mir und erhole Dich wieder und sei nicht böse, daß ich ohne Dich nun einmal nicht mehr leben konnte.«
Sie hatte sich vor ihm in lieblicher Verwirrung auf die Knie geworfen und seine Hände in den ihrigen haltend zog sie sie unter tausend Liebkosungen an ihre Lippen.
Er konnte nicht sprechen, er wollte sie emporheben, um sie an seine Brust zu schließen, aber sie setzte sich auf seinen Schooß, schlang die Arme um seinen Nacken, und seine Stirne, seine Augen, seine Haare mit Küssen bedeckend, bat sie nur immer wieder und wieder »sei nicht böse mein Georg! schilt mich lieber, aber erhole Dich nur und vergieb meinen Kinderstreich, bald wäre es mir selbst übel bekommen, und ich habe Angst genug ausgestanden und Abenteuer zu viel gehabt auf meiner großen Seereise.«
»Und in diesem Wetter warst Du auf dem Wasser?« fragte Georg sich ermannend, indem er mit einer hastigen Bewegung, die Arme seiner Schwester von seinem Nacken lösend, aufsprang und mit bleicher Stirne und seltsam glühenden Augen im Zimmer auf und ab schritt.
»O Du bist mir sehr, bist mir ernstlich böse, mein Georg,« rief Selma, flehend ihre Arme nach dem Bruder streckend, »ich habe Dich nie, nie noch so gesehen. Vergieb mir nur, vergieb mir, ich bitte Dich und laß mich bei Dir bleiben; ich sterbe ohne Dich, glaube mir das.«
Georg hatte sich gefaßt. Er ergriff die Hände seiner Schwester und streichelte sie mit einem väterlichen Wesen.
»Ich habe Dir nichts zu vergeben, theures Kind,« sagte er milde, »und frage mich nie, was mich heute so seltsam aufregte, ich könnte Dirs durch nichts begreiflich machen. Ich freue mich unsäglich Deiner Gegenwart, aber der Gedanke an die Gefahr, in der Du schwebtest, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, regt mir das Herz in der tiefsten Brust auf. Auch sind in diesem einsamen Orte keine Vorkehrungen zu keinem Empfang getroffen, wo wirst Du schlafen, liebes Mädchen?«
»Ei, Georg! ich habe mein Bett und unseren großen Schirm mitgebracht, der unsere Bettchen trennte, als meines noch für ein Puppenlagerchen passiren konnte; ich bleibe ganz und gar bei Dir.«
»Um Gotteswillen nicht,« entgegnete der Bruder tonlos und von neuem erbleichend. Selma erröthete bis zur Schläfe und wendete sich gekränkt und eine Thräne verschluckend ab, indem sie leise sagte:
»O! ich hatte mich auf dies Wiedersehen so sehr gefreut, ich hatte, als ich im Wasser zu sterben meinte, Gott gebeten, mich nur noch ein Mal Dein liebes Gesicht sehen zu lassen und mir dann Leiden oder Tod zu geben nach seinem Willen. Das Leid kommt und kommt in gar schrecklicher und ungewohnter Gestalt, es kommt als meines geliebten Georgs Zürnen.«
Das alte Ehepaar hatte die Geschwister mit richtigem Tacte allein gelassen, und das Mütterchen besorgte eilig alles Nothwendige für den neuen Gast, den sie nach der beschwerlichen und gefährlichen Seereise recht hungrig und müde glaubte.
Zeugenlos stand daher Georg seiner holden Schwester gegenüber.
Er näherte sich ihr zitternd wie ein Verbrecher.
»Selma,« sagte er dann mit einer Stimme, deren Klang Worte nicht schildern, »verkenne mich nicht, hörst Du Mädchen, um des barmherzigen Gottes Willen, um der Liebe unserer Eltern Willen, sprich kein Wort mehr von meinem Zürnen. Ich zürne Dir nicht! wie könnte ich das auch, armer Engel, aber mir ist etwas Entsetzliches geschehen, etwas, das gegen Dich, Du arme süße Unschuld, auszusprechen schon ein Verbrechen wäre.«
»Bete für mich, meine theuere Schwester! Kennst Du das Wort des Psalmisten: Schaffe in mir Gott einen neuen und gewissen Geist. Dies Wort, dies schließe in Dein Früh- und Abendgebet ein, wenn Du Deines Bruders gedenkst, hörst Du Selma.«
Eine große Thräne hing eiskalt an den dunkeln Wimpern des Jünglings, indem er sprach.
Er trat an's Fenster, lehnte die Stirne an die kleinen Scheiben desselben, und während seine Augen hinaus sahen in den tobenden Kampf der Elemente, blickte sein Geist noch immer in den unergründlichen Abgrund seines eigenen Menschenherzens.
Selma weinte heftig!
Vater Schwan trat indeß ein und deckte den Tisch mit dem einzigen Damasttuch, das sein Mütterchen besaß.
Er stellte das beste Salzfaß von englischem Zinn in die Mitte der kleinen Tafel und schmückte dieselbe mit dem höchsten Prachtgeschirr seines Besitzthums, der Obstschale von gepreßtem amerikanischen Glase, in dem hier freilich in Ermangelung des Obstes großmächtige Zuckerstücke lagen. Dann kam die Butterbüchse mit der Rose als Handgriff auf dem Deckel, Theegeräth in allen Farben des Regenbogens, selbst gesalzene Heringe, geräucherte Wurst, städtische Kartoffeln, denn die in Hela gezogenen haben einen eigenthümlichen sehr unangenehmen Geschmack, kurz das Beste und in der besten Gestalt, das der Haushalt dieser Schwane zu geben vermochte.
Der Eintritt der Hausfrau, die vielfachen Bewillkommnungen des lieben Gastes lösten allmälig die Beklemmung von Georgs Brust. Er fand seine Besinnung wieder, er fing an zu scherzen und seine Freude über das Wiedersehen der Schwester in harmloser Weise auszudrücken.
Selma aber konnte den Frieden nicht wieder finden, eine schmerzliche Angst, um den geliebten Bruder, dessen früheres Verhalten ihr fürchterlich vorkam, während seine jetzige Heiterkeit ihr gezwungen erschien, lag auf ihrer Seele. Sie betrachtete ihn von Zeit zu Zeit mit sorgenvollen Blicken und hatte die Frage der Mutter Schwan nach der Art ihrer Reise schon zwei Mal überhört.
Georgs Stimme weckte sie endlich; auch er fragte nun:
»Aber wie kamst Du denn hierher, Selma?«
Sie besann sich eine Weile und antwortete dann:
»Seltsam genug und fast wie auf Faust's Mantel. Gestern um diese Zeit dachte ich zwar mit heißer Sehnsucht an Dich mein Bruder, aber nicht an die Möglichkeit einer Fahrt hierher. Heute Früh um 5 Uhr weckte mich unsere Wirthin, und eine alte große und hagere Fischerfrau, die an meinem Bette stand.«
»Wenn es Ihnen Ernst ist, sagte die erstere und Sie durchaus nach Hela zu ihrem Herrn Bruder wollen, Jungfrau Krone, so ist hier Jemand, der Sie gut hinbringen will. Ich rieb mir die Augen, ich hatte eben von Dir geträumt, Georg, daß Du mich laut, laut riefest.«
»Ja,« sagte ich gleich ganz fest, »ich will mit. Ich hatte schon lange die nöthigsten Sachen zusammengepackt, um mit der ersten Gelegenheit hinüber zu stiegen.«
»Die Alte half mir nun die Betten in den Bettsack schnüren, die Wirthin rief einen Träger, und mit her 7. Schute fuhr ich mit der Helenserin und meinem ganzen Gepäck nach Neu-Fahrwasser.«
»Es rührte sich kein Lüftchen und war recht schwül, die Fischerfrau trug mein Gepäck in ihr Boot, ich selbst blieb beim Zollinspector Wundsch und bei der lieben Pauline, und erst gegen 6 Uhr Nachmittags rief mich meine Reisegefährtin. Es war noch hübsch, aber Herr Wundsch warnte vor der Fahrt, und meinte, das Wetter würde sich ändern. Nun ich wäre gefahren, und wäre Feuer vom Himmel gefallen, ich bangte mich zu sehr, zu sehr nach Dir, mein Georg.«
»Ein wenig Angst ward mir aber doch, als ich in das Schiffchen stieg, das mir viel kleiner, als alle andern Hela'schen Boote schien, und noch sonderbarer kam es mir vor, daß ich mich mit der Alten allein fand.«
»Wo sind Eure Gefährten, Mütterchen,« fragte ich.
»Sie zeigte mit dem kleinen Ruder zu dem Himmel und auf das Wasser, und sagte: sie werden gleich kommen.«
»Ich meinte nun, sie warteten an der äußersten Spitze des Hafendammes, und ließ mich ruhig hinaus rudern. Kaum aber waren wir im offenen Meere, so zog die Alte ein Segel auf, setzte sich ans Steuer, und fing an mich nach tausend Dingen zu fragen.«
»Nach Dir, nach unsern Eltern, und unter andern auch nach der kleinen silbernen Kette und dem Pfeifchen, das Du mir schenktest; weißt Du noch die kleine Kette, die der Vater durchaus nicht mit unter das Familiensilber legen wollte, als es verkauft wurde, und die Du immer früher um den Hals trugst, bis ich sie Dir abbettelte. Sie besah das Kettchen sehr genau, und sagte dann leise murmelnd: »Ja! ja! es geht nun zu Ende, nun gehts!« es klang recht gräulich.«
»Unterdeß war aber ein Wind aufgesprungen, und die Wellen fingen an furchtbar zu toben. Die Alte stand hoch aufrecht am Steuer und pfiff noch immer, wie die Matrosen zu thun pflegen, nach dem Winde.«
»Unser Schiffchen flog wie ein Pfeil durch's Wasser, auch ward ich nicht seekrank, und die Alte war gut zu mir, und schützte mich vor den Sturzwellen durch ihren Mantel. Erst am Ufer hier ward die Fahrt schlimmer, wir konnten nicht landen, und die Leute am Ufer, die alle zusammen liefen und schrieen, kamen uns nicht zu Hilfe. Wir mußten weit herumfahren, und in einer kleinen Bucht ließ die Alte das Schiffchen auf den Sand laufen, dann aber führte sie mich einen weiten und recht beschwerlichen Weg bis hierher, und versprach mir gegen 2 Thaler Bezahlung für Reise und Alles, auch noch mein Gepäck nach der Bliese zu schaffen, und nicht wahr, liebe Mutter Schwan, Sie behalten mich als Gast in ihrer kleinen Wohnung, und ich will Ihnen eine recht artige Tochter sein.«
Alle Einrichtungen zu Selmas Bequemlichkeit wurden rasch getroffen. Sie schlief im Hause Schwans, und richtete sich auch für den Tag ein.
Nur in den Mittagsstunden und Abends waren die Geschwister beisammen, und auch dann waren sie selten allein.
Auf der Seele Georgs lag seit jenem Wiedersehen seiner Schwester ein tiefes bitteres Leid. Ein Leid, das er sich selbst zur Schuld anrechnete, und die gedrückte Stimmung des Bruders theilte sich allmälig der Schwester mit.
Die selige Ruhe der Beiden, in dem tiefen und festen Bewußtsein geschwisterlicher Liebe und Treue, war gestört.
Vergebens fragte sich Selma was sie verschuldet habe, daß der geliebte Bruder sich sichtlich von ihr zurückzog. Ihn selbst durfte sie nicht mehr darnach fragen, denn jede solche Frage erregte eine Art von Fieber in ihm, und ließ ihn Tagelang finster und trübe die einsamsten Plätze der Düne suchen. Dort ging der unglückliche Jüngling, ein entsetzliches Geheimniß in tiefer Brust bergend, verzweifelnd umher. Das herbstlicher werdende Toben der Wellen stimmte wohl zu dem Toben seines Busens.
Was ihn drückte? konnte er es Gott klagen, konnte er es dem lichten Auge der Sonne zeigen, durfte er es hinein schreien in die brausende Brandung? War es schon ein Verbrechen, oder sollte es erst ein solches werden! Nie! nie! Er hatte noch eine Wahl, einen Ausweg, eher wollte er die Bahn des Todes betreten, als sein verbrecherisches Gefühl zur entsetzlichen That werden lassen.
Es war Ilse gewesen, welche Selma durch Sturm und Brandung nach Hela gebracht hatte, und Georg fing fast an, den Aberglauben der Helenser über die Alte zu theilen.
Es führte selten zu etwas Guten, was Ilse unternahm.
Ihn hatte ihr Thun zur fürchterlichen Selbsterkenntniß gebracht.
Ilse hatte sich nicht mehr auf dem Leuchtthurm sehen lassen, seit sie, am Morgen nach Selmas Ankunft, das Gepäck in Georgs Abwesenheit an diese abgeliefert und ihr Geld in Empfang genommen hatte.
Das Völkchen auf Hela hatte indeß beim Beginn des Herbstes eine große Freude. Der »Onkel,« eines der größten Schiffe der Danziger Rhederei, war von seiner Fahrt nach Havannah glücklich heimgekehrt. Die Mannschaft war abbezahlt worden, und unter derselben befanden sich auch einige Helenser. Philipp Meinert war darunter, der Schatz der großen Rahel, ein hübscher Bursche und tüchtiger Seemann.
Wenn Georg in der Abendstunde allein am einsamen Strande wanderte, traf er nicht selten das schlanke Brautpaar, und Beide grüßten ihn dann freundlich.
Wenn Rahel mit ihren Gefährtinnen beim Abladen der Baumaterialien beschäftigt war, stand Philipp am Ufer, die Daumen unter dem Tragriemen seiner Leinwandhose, und sah seiner Braut zu, die, die stärkste von allen Mädchen, 20 ja 25 Ziegelsteine im Tragekasten auf ihrem Rücken durchs Wasser, und über die Dünen von den Schiffen nach dem Leuchtthurme trug.
Wohlgefällig betrachtete er diese Riesenkraft, sie war ein Kapital mehr in seiner künftigen Wirtschaft, denn hier, wo die Männer bis zu einem bedeutenden Alter alle Seeleute sind, bleibt alle Arbeit, wie schwer sie auch sei, den Weibern überlassen, und man muß die Hela'schen Frauen bei der Arbeit gesehen haben, um zu erkennen, wie wenig das Prädicat »schwaches Geschlecht« ihnen gebührt. Georg, der gewandt und geschickt, aber keineswegs besonders stark war, sah hier oft Kraftäußerungen, die Rappo oder Franke auf die Dauer schwerlich nachgeahmt hätten. Und bei diesen sauern Arbeiten lachten und schäckerten die Mädchen, bespritzten sich mit Meerwasser, und neckten einander auf jede erdenkliche Weise. Die große Rahel diente besonders oft dem Witze der andern als Stichblatt.
Es waren die Nachstellungen des katholischen Priesters in Heisternest, die ihr mancherlei Plagen zuzogen, und Georg konnte bemerken, daß Philipp bei den Neckereien über diesen Punkt keineswegs gleichgültig blieb. Seine dunkeln Augen fingen an zu glühen, seine Faust ballte sich, doch galt diese Wuth nicht dem Mädchen, daß er in seiner Weise innigst zu lieben und zu schätzen schien.
Die Mitte des September war herangekommen. Die Abende wurden langer, der Sturm tobte wilder über die einsame Halbinsel und der Bau am Leuchtthurme näherte sich seinem Ende, als an einem Morgen auf dem Zimmerplatze sich das Gerücht verbreitete, der Priester in Heisternest sei Abends in seiner Wohnung von einem Währwolfe überfallen, den keine seiner Beschwörungsformeln zu bannen vermocht, und von diesem gespenstigen Unholde sehr derb abgeprügelt worden, so derb zwar, daß er krank, ja fast dem Tode nahe in seinem Bette liege. Georg glaubte diesen Währwolf zu kennen. Der Matrose Philipp Meinert war am Abende dieser Geistererscheinung in Heisternest mit seines Vaters Boot allein auf den Steinbuttenfang gefahren, und erst am grauenden Morgen zurückgekehrt.
Der junge Baumeister gönnte dem Heuchler die verdiente Züchtigung, und schwieg, aber es war ihm peinlich, daß man auch bei dieser Geschichte Ilsens Namen nannte. Es giebt gewisse unglückliche Individuen, auf deren Schultern gewöhnlich die allgemeine Meinung eines Orts jedes Vergehen bürdet. Ilse war seit Jahren für ihren Lebenskreis ein solches gewesen. Die alte blasse Frau mit der reinlichen Kleidung, der stolzen Körperhaltung, den außergewöhnlichen Kenntnissen, die ein großes Geschick, vielleicht auch eine große Schuld von den Gefährten ihres Standes unterschied und trennte, war der Gegenstand des allgemeinen Hasses. Die Hexe von Hela galt auch für den Währwolf von Heisternest. Georg hatte sich lange bemüht, die Alte noch einmal aufzufinden.
Das Matrosenmesser und das seltsame Portrait, das sie ihm geschenkt, waren noch immer nicht bezahlt; auch hätte er gern gewußt, woher das Messer mit dem Namen, der ihm so bekannt erschien, stamme. Fast jeden Tag und zu den verschiedensten Tageszeiten ging Georg nach der Hütte der Alten; immer fand er sie leer, obgleich es im Dorfe bekannt war, daß Ilse anwesend sei.
An einem Sonntage Abends, wo es dem Jünglinge schwül und dumpf im Zimmer neben Selma geworden, wo das Gefühl eines unerhörten, ungeträumten Elends ihm die Brust zugeschnürt hatte, wo das tobende Blut und das nagende Gewissen ihn hinaus trieb, lief er abermals den Waldweg hinab nach dem Dorfe.
Die nebelfeuchten Fichtenzweige schlugen ihn mit kalten Todtenhänden. Das Wasser rauschte ihm Geschichten zu, von denen, die ihre heißen Schmerzen in seinem kühlen Schooße begraben hatten. Der Nachtwind heulte lange Klagelieder über das Weh und die Schuld der Menschheit. Georg lief wie ein gejagtes Wild. Er floh vor sich selbst; aber er fühlte, daß er dem Feinde, der ihm die Brust zernagte, nicht entfliehen könne.
Ilsens Hütte, an die er angeklopft, war wieder leer. Georg ging nach dem Kirchhofe. Der stille Gottesacker mit den Hügeln ohne Blumen und Gras hatte ihn immer angezogen. Seit Jahrhunderten schliefen hier Menschen, von Geschlecht zu Geschlecht, an denen die Ereignisse ihrer Zeit spurlos vorübergegangen, die der Einfluß der Civilisation nicht berührt hatte, die nach ihrer Vater Weise lebten und starben. Und doch wie ähnlich waren diese Naturmenschen ihren Brüdern in den Städten! Alle Leidenschaften, alle Fähigkeiten, alle Wünsche und Täuschungen bei diesen wie bei jenen gleich; denn suchten nicht diese wie jene das Glück, und nahmen dafür seine Bastardschwester, das Vergnügen! Georg stand auf dem Kirchhofe, der Wind spielte mit dem losen Sande der Grabhügel, der Mond schaute bisweilen mit lächelndem Antlitz aus den Wolken herab, die wie die wilde Jagd an ihm vorüberzogen, in grotesken, abenteuerlichen Gestalten.
Ein Mondstrahl zeigte dem Jüngling, daß er nicht allein sei; auf einem der Hügel, nahe an der Kirche saß zusammengekauert eine menschliche Gestalt – Ilse Wunder.
»Ich habe lange auf Euch gewartet, junger Mann,« redete die Alte ihn an. »Es ist Zeit, daß wir abrechnen, denn meine Tage – ich weiß es – sind gezählt. Kommt, setzt Euch zu mir auf des Thomas Bett. Mit diesen meinen Armen habe ich ihn aus dem Wasser gezogen; zu spät, zu spät! eine kalte Leiche! Er hat mich nicht nachgezogen, wie es die Ertrinkenden sollen, die man auffischt. O, wie oft habe ich diese Arme zu ihm emporgestreckt nach dem Himmel, daß er mich nachziehen möge! Umsonst, mein Tag war noch nicht gekommen. Ich mußte Jacques Dubois Sohn wiedersehen; ich muß ihm Alles sagen, so hat der Geist mir befohlen, dann wird die Ruhe kommen – die Ruhe! Doch erst die Strafe. – Kennt Ihr mich, Knabe?«
»Ihr seid Ilse Wunder,« entgegnete Georg.
»Wann saht Ihr mich zum ersten Male?«
»Als ich vor drei Monaten hier landete.«
»Pah!« sagte die Alte, »George Dubois, ich habe Euch auf diesen Armen getragen durch Sturm und Wellen, – ich, damals ein junges und hübsches Mädchen.«
Die alte Frau schwieg und versank eine Weile in dumpfes Brüten.
Georg hatte stets geglaubt, daß ihr Geist ein wenig wirr sei, jetzt schien ihm dies zur Gewißheit zu werden. Dennoch ergriff sein Herz ihre Aeußerungen mit glühendem, wildem Interesse. Wenn sie wahr waren! Gott, Gott, dann war von seinem Herzen die Last genommen, die es bis zum Wahnsinn, bis zum Selbstmord drückte; denn er war nicht mehr ein Ausgestoßener, schlimmer als Kain, dann verwandelten sich seine sündigen Fieberträume in menschliches, reines Glück.
Er blickte zum Himmel auf. Der Mond stand silbern zwischen lichtgesäumten Wolken, und am Rande des Horizontes erhob sich in seiner Schöne Orion, der holde Geist der nordischen Winternacht, deß liebes Gefunkel dem Knaben, dem Jüngling, dem reifenden Manne oft in's Fenster geleuchtet, bei angestrengtem Studium oder treuer Arbeit für die Seinen.
Die Liebe Gottes, an der er in der Angst der Schuld, im Rasen einer unerhörten, und unnatürlichen Leidenschaft zu zweifeln begonnen, lächelte mild aus tausend Sternen ihm zu.
Er faßte die Hand der Alten, sie war kalt und schwer. »Ilse, theure Ilse, liebe, liebe Mutter, was sagtet Ihr?« rief er außer sich. Sie sah ihn groß und stier an, dann raffte sie sich zusammen und sprach feierlich: »Hört, ich will Euch von Jaques Dubois' Messer erzählen.«
»Wißt Ihr was Liebe ist, junger Mensch, Ihr, der noch nichts liebte als eine Schwester?« Georg schrak zusammen, das Wort der Unglücklichen erklang ihm wie die Posaune des Gerichts.
Sie achtete nicht auf ihn, sie fuhr, in ihre Erinnerungen versenkt, zu sprechen fort.
»Liebe ist das Feuer in unseren Adern, das uns hinreißt zum Bösen oder zum Guten, wie's eben unser Schicksal will. Liebe ist die Fluth in unserm Herzen, die unaufhaltsam alle Felder und Wiesen und Gärten mit ihren wilden Wassern überströmt, oder mild, sie nur grünen macht.«
»Liebe ist der Wind, der das Schiff des Lebens je und nachdem, an's Ziel oder in den tiefen Abgrund treibt.«
»So hab' ich sie gefühlt! Damals ein armes junges Kind, das mit nackten Füßen über den Dünensand schritt.«
»Wißt, ich bin ein Kind der Liebe!« Hier dämpfte sich die Stimme der Alten zum leisen Flüstern. »Meine Mutter war die Tochter des verwitweten Schulmeisters, des Vorgängers vom Vorgänger des heutigen. Sie ward die Wirthschafterin des damaligen Pfarrers in Heisternest. Ich ward in der Stadt drüben geboren. Gute und kluge Leute zogen mich auf bis zu meinem eilften Jahre. Ich lernte lesen und schreiben, fein nähen und stricken, dann kam ich zu dem Pfarrer. Die Nichte seiner Wirthschafterin hieß ich vor den Leuten und lebte noch zwei Jahre wie ein vornehmes Kind. Da starb der alte Mann. Sie trugen ihn hinaus auf den Kirchhof, der Sand rollte auf den fichtenen Sargdeckel, die Glocken läuteten.«
»Wir weinten bitterlich. Unsere guten Tage waren vorbei, denn bald mußten wir das Pfarrhaus dem Nachfolger räumen und in einer Fischerhütte Zuflucht suchen.«
»Ich gewöhnte mich leichter als Ihr denken möchtet an das neue Leben. Wir waren blutarm, denn der Mann, den ich nicht Vater nennen durfte, war ohne Testament plötzlich gestorben, und seine Verwandten kamen und nahmen mit sich Tisch, Stuhl, Bett und Topf, selbst die Blumen die ich sorglich gezogen hatte.«
»Nun, ich war jung und gesund; ich lachte bald eben so fröhlich wie sonst. Da starb auch meine Mutter; meine Pflegeältern in Danzig waren weit weg gezogen, ich wußte nicht einmal den Namen ihres Wohnortes.«
»Ich war allein in der Welt.«
»Ich verdingte mich als Magd bei dem Großvater der starken Rahel, einem reichen Fischer in Heisternest, dem einzigen nichtkatholischen in dem großen Stranddorfe. Er hatte seine einzige Tochter als Kind schon zu seinem Schwager nach Hela gegeben, damit sie hier vom Prediger confirmirt würde. Ich mußte oft den weiten Weg über die Dünen in allem Wetter machen, um der fernen Tochter des Hauses einen Leckerbissen oder ein neues Band zu bringen, das der Vater aus der Stadt mitgebracht. Meine Hände und Füße bluteten von den Anstrengungen, aber ich war stolz und schämte mich das zu sagen und arbeitete für zwei. Ich konnte bald alles was die Fischermädchen können, und viel, wovon sie keine Vorstellung haben, denn ich vergaß nicht, was ich in meinen frühern bessern Leben erlernt, und übte es in Stillen.«
»Mit 15 Jahren lernte ich den Thomas kennen, den Bruder von Rahel's Vater, dem schmucksten Burschen und besten Matrosen von der Halbinsel. Er war in l'Orient von französischen Männern gepackt worden und hatte drei Jahre auf einem Kriegsschiff gedient. Auch konnte er lesen: deutsch und französisch. Er war schön, gut und klug.«
Wieder verstummte die Alte eine Weile, das Meer rauschte leise, es klang wie ferner Sang der immer deutlicher zu werden schien.
Sie horchte auf. »Jesus, mein Gott!« schrie sie dann, »es trifft alles zu; alles, alles; jetzt, jetzt bald werde ich Thomas wiedersehen. Hört Ihr's, hört Ihr's, das sind die Schwäne, sie singen fortziehend ihr Abschiedslied. Ich bin alt geworden im Elend und Verzweiflung, aber heute hörte ich es zuerst. Das, das ist meines Thomas Versicherung, daß wir zu einander kommen werden. Er hat es mir so versprochen mit seinem ehrlichen Handschlag: wenn die Schwäne singen mein Mädchen, dann sollst Du meine Frau werden trotz allem und allem. Ach, er meinte im nächsten Herbste, aber 24 Herbste sind verflossen, indeß und ich habe die Schwäne nicht singen hören. Wir werden uns wiedersehen, Thomas, wir werden ewig bei einander sein, ob auch die Bosheit und der Geiz der Menschen, ob auch eigene Schuld und Gottes Strafgericht uns auf dieser Erde getrennt haben; die Zeit ist um, die Schwäne haben gesungen und Gott kommt, ein Vater der verzeiht.«
»Still! ich erzähle Euch weiter. Der Herbst kam, der mich zu Thomas Frau machen sollte, das war der Herbst 1812. Die Franzosen waren damals nach Rußland gegangen. Die alle hier auf Hela kümmerten sich nicht darum; doch Thomas und ich, wir sprachen wohl davon und daß französische Schiffe im Danziger Hafen trotz der Wachsamkeit der Engländer gesehen worden; denn Thomas fürchtete, die Franzosen möchten ihn erkennen und wieder mitnehmen.«
»Er wollte nun hier in Hela bleiben, hatte er doch Geld genug, er kaufte das Häuschen, worin ich jetzt noch wohne und richtete es ein und ich mußte hineinziehen, trotz seines Vaters Wüthen, der mich eine Bettlerin, einen Bastard und eine Katholische schalt. Er gab seine Einwilligung nicht zu unserer Trauung und ohne die durfte ja der Priester nicht sein Amen über uns aussprechen. Da that ich die erste Sünde, und schwer genug fiel sie auf meine Seele, ich wohnte mit Thomas zusammen. Wenn Du nur nicht katholisch wärest, sagte er, wenn ich Abends auf seinen Knien saß, mein Vater sagte doch wohl ja und wir wären gleich unter unseren Verwandten. So that ich die zweite Sünde, ich ging zum Abendmahl in die Kirche hier, in die protestantische und verläugnete den Glauben meines Vaters und meiner Mutter. Und schwer genug fiel auch dies auf meine Seele.«
»Aber der alte Walther hieß mich eine Bettlerin und schwur, ich sollte nicht eher seine Schwiegertochter werden, bis ich so viel im Vermögen habe, als die Braut seines zweiten Sohnes, die Mutter der großen Rahel, die Tochter meines ehemaligen Brotherrn.«
»Da kam der Satan und ich unterlag der Versuchung der Hölle.«
Sie schwieg von Neuem. Dann raffte sie sich zitternd empor. »Habt Ihr den Sturm heulen hören über diesen Dünen in einer Octobernacht? Habt Ihr das Wetter krachen hören über dem tobenden Meere und all' den wilden Graus, übertönt durch das Geschrei einer verlorenen Schiffsmannschaft? – – Ich habe das gehört. Ich konnte nicht schlafen und zitterte, denn ich dachte, die Welt ginge unter meiner Sünden wegen.«
»Thomas sprang auf und lief hinaus und ich ihm nach. Dort lag das Schiff, wo ihr heute noch den schwarzen Kiel aus dem Sande hervorragen seht, dort! zwei Möven sitzen jetzt darauf und der Mond läßt ihre weißen Federchen erglänzen. Das Schiff war geborsten, die Maste längst gekappt, wir sahen die Menschen mit den eindringenden Wellen ringen. Niemand rührte sich im Dorfe, denn sie wußten, am andern Morgen gab's reiche Ernte am Strande und sie meinten ja in ihrer Gottlosigkeit, wenn der Pfarrer Gott bitte, den Strand zu segnen, so bitte er nicht um gesegneten Fischfang, sondern um reiches Gut von gestrandeten Schiffen. Die Strandräuberei hielten sie und halten sie noch für ihr gutes Recht. Ich wußte das anders, und auch Thomas.«
»Wir standen am Ufer, es bebte unter unseren Füßen vom anprallenden Wogenschwall; bis an die Hütte spritzte der weiße Schaum, und eines und das andere von Koffern und Gerätschaften schwamm schon an's Ufer und blieb fest im Sande liegen. Ich zog weiter hinauf mit gierigen Händen, was in meinen Bereich kam: hier fand ich ja vielleicht, was mich zu Thomas Frau machen konnte.«
»Er badete muthig ins Wasser, trotz der rasenden Wellen. Ich rief ihm zu, ich flehte ihn an, zu bleiben.«
»Es kommen Menschen, antwortete er mir, und ging, so weit Manneskraft dem Elemente zu trotzen gestattet.«
»Da schwammen sie heran: blasse Gesichter und bunte Kleider, schwarze Haare und gebrochene Augen – französische Seeleute, die Angesichts des Feuers hier in der wilden Nacht verunglückt waren. Das Boot war umgeschlagen, das sie an's Ufer hatte tragen sollen, es schwamm kieloberst am andern Morgen an's Land.«
»Zuletzt kamen Zwei. Sie hatten die Arme um einander geschlungen und langes nasses Haar wehte über die Stirn des Einen. Ein Weib war es in Männerkleidern, ihr Haar wickelte sich um Thomas Hand, als er sie und den Mann an's Ufer zog. Er hatte das Messer in der Hand und eine schwere Geldkatze um den Leib geknüpft; sie – o sie hatte im Tuche an ihrer Brust ein noch athmendes Kind.«
Die Alte blickte wild um sich und schwieg, wie horchend, eine Weile.
»Stille,« flüsterte sie dann, »rief nicht einer da: Mörderin!? – Nein, nein, es war der Wind. Hört mir jetzt zu, gut zu, daß Ihr versteht, was ich sage. Ich, mit diesen verfluchten Händen hier, ich habe, die Geldkatze und das Kind dem Sterbenden abgenommen. Hört Ihr's? O, Gottes Gerichte sind gerecht! Alle Leiden die mich trafen und aller Haß und aller Hohn, die mich zermalmten und zerschmetterten, sie waren verdient! Und mit diesem Fuße, der nicht verdorrt ist auf all' den öden Wegen, die er hernach gewandelt, hab' ich den noch Athmenden einen leisen Stoß gegeben, und wieder einen, daß die nächste Welle über sie hinweggehen und sie wieder hinabziehen konnte in den wirbelnden Wasserschlund.«
»Thomas war am anderen Ende, als ich's that, und er raufte sich das Haar, als er sah, was geschehen. Er war unschuldig, und er hat gebüßt für meine That. Denn ein Jahr darauf und kaum ein Jahr, da strandete sein Schiff, das ihn zur Heimath und zur endlichen Heirath trug, an derselben Stelle, dort, wo auf dem schwarzen Schiffskiele die weißen Möven sitzen, und ich trug seine kalte Leiche auf diesen meinen Armen in das Haus, das den Herrn ausgeschmückt erwartete. – Da kniete ich neben ihm die lange, öde Nacht. Das Geld des Franzosen brannte wie funkelndes Feuer in der Kiste, in die ich es gethan, und in Thomas kalte Hand schwur ich einen Eid, mein Haupt nicht eher zur Ruhe zu legen, bis ich zu diesem verfluchten Gelde so viel durch ehrliche Arbeit gesammelt, daß ich ein Gotteshaus nach dem Glauben meiner armen Mutter, den ich abgeschworen, erbauen könnte, und in der Nacht, da ich den Schwur gethan, war mein braunes Haar grau geworden; die Angst und die Verzweiflung hatten aus dem jungen Weibe eine Greisin gemacht.«
»Jetzt ist meine Zeit vorbei und die Erlösung durch die Strafe naht.«
»Georg Dubois, Sohn, dessen Eltern ich gemordet, tödte mich und sei gesegnet!«
»Unglückliches Weib,« sagte der Baumeister ermannend, und der Thränen gewaltsam Herr werdend, die seine Augen immer und immer wieder von Neuem füllen wollten; meine Vergebung, ja meine ganze Theilnahme hast Du, und kannst Du beweisen, daß ich der bin für den Du mich hältst, so nimmst Du die schwerste Last, die eine Menschenbrust je gedrückt, von mir, und mein Segen soll Dich begleiten auf Deinen ferneren Wegen. Gern will ich auch, wenn Dich das freut und tröstet, meine ganze Kraft und Kunst zur Erfüllung Deines Gelübdes anwenden. Liefere mir die Beweise, daß ich nicht der Sohn des wackern Krone, daß ich nicht Selma's Bruder bin und suche einen Platz zur Erbauung des Gotteshauses, und möge die Vergebung des Sohnes dessen, den Du verkommen ließest, Dich trösten und stützen. Vergebe Gott Dir und mir, wie ich Dir im Namen meiner Eltern, die vom Himmel auf uns niedersehen, vergebe.«
Elisabeth Wunder war aufgesprungen und hatte sich zu den Füßen Georg's geworfen.
»Legt Eure Hand auf mein elendes Haupt,« sagte sie heiß weinend, »und laßt mich meine Lippen darauf drücken. Ehret und heget das Bild Eures Vaters, das die See mir zugeworfen am Morgen nach meinem Verbrechen. Die Beweise Eurer Geburt liefert Euch der Prediger hier, aus dessen Krankenzimmer dort die kleine Lampe flimmert.«
»Für mich sind sie ausreichend und werden es für Jeden sein. Dem Prediger, einem sanften Jüngling zu jener Zeit, übergab ich Euch und ein silbernes Bootsmannpfeifchen von französischer Arbeit, das am Halse des etwa zweijährigen Kindes hing, daß ich vom Busen der Mutter nahm.«
»Einen Platz aber für mein Kirchlein habe ich mir längst ausgesucht; es soll am Strande in meinem Geburtsdorfe stehen, wo ich oft als Kind gebetet habe. Der morgige Tag wird schön werden; kommt, ich bitte Euch, Nachmittags dort über See hin, Ihr werdet mich da finden.«
»Jetzt aber geht zum Pfarrer und holt Euch die Beweise Eurer Geburt.«
Sie stand auf und ließ ihn allein, indem sie, einem Schatten gleich, zwischen den Gräbern verschwand.
Eine Minute lang glaubte Georg zu träumen. Ein unaussprechliches Gefühl von Glück füllte seinen Busen.
Gerechtfertigt vor Gott und den Menschen war seine heiße, brennende Leidenschaft für Selma, denn kein Band des Blutes vereinte ihn mit der süßen Gespielin seiner Jugend.
Außer sich schritt er an das Bett des kranken Geistlichen; von ihm mußte die Bestätigung kommen und er empfing sie vollständig.
Der Greis, der jetzt dem Tode entgegen ging, hatte der unglücklichen Ilse das gerettete Kind abgenommen und ein halbes Jahr in seinem Hause behalten. Dann hatte es die kinderlose Familie Krone, die damals erst, nach aufgehobener Belagerung, aus Dänemark nach Danzig zog, als ihr eigenes angenommen und gerichtlich adoptirt, und selbst die viele Jahre darauf erfolgte Geburt eines eigenen Kindes hatte sie diesen Schritt nie bereuen lassen.
Georg erkannte aus traumhaften Erinnerungen im Hause des Predigers bald die Spielplätze seiner frühen Jugend. Tausend Erinnerungen wurden in ihm wach und klar, und die Brust geschwellt von heißer Seligkeit trat er am andern Morgen in das Stübchen Selma's.
Er fand sie weinend vor dem Bilde seines Vaters, das sie ihm genommen und zog mit glühender Liebe, deren Natur er nun nicht mehr zu verheimlichen brauchte, das theure Mädchen an seine Brust.
Sie schauerte unter seinen Küssen und erwiederte sie kaum.
Erst als sie Alles wußte, löste sich ihre bange Brust, aber die Thränen die sie vergoß, waren Freudenthränen.
»Deine Schwester nicht mehr, aber Deine liebende Braut, Deine treue Gattin, nur Dein auf ewig, Georg,« sagte sie milde. »Bei Dir ist das Glück und nur getrennt von Dir fühle ich Leiden.«
Ein herrliches Herbstwetter begünstigte am andern Morgen die Fahrt des Baumeisters und seiner reizenden Braut nach dem Stranddorfe. Vater Schwan rüstete sein Boot und Philipp und Rahel halfen rudern, denn kein Lufthauch schien die Segel zu füllen.
Georg und Selma saßen lächelnd Arm in Arm auf der Bootsbank und die große Rahel fand es viel hübscher in den Beiden ein Liebes- als ein Geschwisterpaar zu sehen.
Die Schiffenden plauderten auch von dem Priester auf Heisternest.
»Der wird auf eine Weile kein helasches Mädchen mehr belehren wollen,« sagte Philipp mit lautem Lachen. »Meine Rahel hier hat ihn mit einer Ohrfeige heimgeschickt, und wo die hinschlägt, na, da –« er sah sich halb ängstlich, halb neckend nach der kräftigen Braut um.
Aber sie stimmte in den Scherz nicht ein und sagte ernsthaft: »Na, Du hast's ihm als Währwolf auch gut eingetränkt. Aber, bei Gott! das war nicht Recht, denn erstens muß man den Teufel nicht an die Wand malen, und wer weiß, ob nicht Nachts einmal ein wirklicher Währwolf zu mir oder zu Dir kommt und uns straft für solchen dummen Spaß, und dann auch die alte Ilse, sie hat's doch immer gut mit mir und Dir gemeint, wenn sie dem Teufelspfaffen aufpaßte, und auf die ist sein ganzer Grimm gefallen. Er hat so viel Spuk- und Hexengeschichten von dem armen Weibe erzählt, daß die zurückgekehrte junge Mannschaft in Heisternest geschworen hat, sie zu tauchen und zu schwemmen, wenn sie sich noch einmal dort sehen läßt. Das arme alte Ding thut doch eigentlich Keinem etwas zu Leide, und wenn sie eine Hexe ist, so wird Gott sie richten und der Teufel sie finden.«
»Schau doch einmal hin, Philipp,« sagte Georg, »es giebt einen Fischzug in Heisternest, sieh' nur die Boote dort und höre das Geschrei.«
Die Ruderer wandten die Köpfe um und fuhren erschreckt zusammen.
»Sie halten Wort, die Bursche aus Heisternest,« sagte Philipp erblassend, »dort schwemmen sie die alte Ilse, seht Ihr den rothen Rock aus dem Wasser auftauchen? und das Kopftuch jetzt? und nun hebt sie den Arm. Es muß bald aus mit ihr sein, mit dem armen Weibe.«
»Rudert als gälte es das Leben,« schrie Georg außer sich, »wir müssen sie retten, wir müssen der Unglücklichen beistehen, die so wenig eine Hexe ist als Ihr, Philipp, der Teufel. Rettet ein Menschenleben! Das Gericht wird diesen Frevel fürchterlich bestrafen; nicht blos das Gericht! Gott der Herr, der nicht will, daß man ein Geschöpf seiner Hand also quäle.«
Selma sank auf die Knie in zitternder Angst, und die Rudernden strengten alle ihre Kräfte an.
In wenigere Minuten war die Stelle erreicht, mehrere Boote mit kräftigen, sonnenverbrannten Männern gefüllt, ruhten auf dem spiegelglatten Wasser.
Wildes Geschrei erfüllte die Luft.
An langen Seilen hatten sie die unglückliche Greisin an Armen und Beinen befestigt und versuchten es nach einem alten Aberglauben, ob die Hexe schwimmen könne. – Eine Weile trugen die weiten, faltigen Kleider das Opfer über dem Wasser. Als diese indeß getränkt voll waren, zogen sie sie hinab, und dann zogen die Bursche an den Seilen sie wieder empor, das unglückliche Geschöpf die Todesangst des Ertrinkens tausendfach fühlen lassend.
Philipp und Rahel ruderten auf Georgs Befehl zu ihr hin, Georg, ein rüstiger Schwimmer, half die Elende empor ziehen. Philipp zerschnitt die Seile, die sie fesselten und Rahel legte sie sanft auf den Boden des Bootes.
Selma und Georg waren neben ihr niedergekniet; sie erhob ihren blassen Kopf und Georg lehnte ihn an seine Brust. Sie schlug die Augen auf; sie erkannte Georg, deutete mit dem fast gelähmten Arm nach dem nahen Ufer und sagte: »Dort neben der Fichte!« dann raffte sie sich noch einmal auf und flüsterte: »Vergebung, Strafe, Versöhnung, und Gott ist barmherzig!« – und dann ging noch im leisen Gemurmel der Name ihres Jugendgeliebten über ihre Lippen.
Die Hexe von Hela hatte ausgeathmet, das letzte Opfer eines veralteten, fast vergessenen Aberglaubens in unserem civilisirten Vaterlande.
Georg und Selma begleiteten sie zum Grabe an Thomas Walters Seite. Sie selbst kehrten auf Georgs dringenden Wunsch, erst als Gatten im späten Herbst nach Danzig zurück.
Die Zeitungen aller Länder erzählten unter mancherlei Hohn, daß man in Preußen auf der Halbinsel Hela noch im neunzehnten Jahrhundert eine Hexe »getaucht« habe. – Eine gerichtliche Commission untersuchte die Sachlage.
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