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Der Staatsgefangene.


Die Welt ist groß, sehr groß! Die Zahlenverhältnisse, die gewisse Raumgrößen bezeichnen, erregen Schwindel.

Wie groß ist die Entfernung von der Sonne bis zu dem äußersten neu entdeckten Planeten, wenn man sie in deutschen Meilen ausdrücken wollte, wie viel Quadratzoll Land enthält der preußische Staat! Wie viel Kubikfuß Wasser das Becken der Ostsee! – Und wie groß ist erst ein einziges Menschenherz, das so viel Jammer, Haß und Zorn in sich fassen kann, daß durch denselben die ganze Schönheit der Natur, die ganze des Weltalls verdeckt wird. – –

Diesen Maßstab angelegt, ist nichts größer als die Festungen und Gefängnisse, denn in ihnen schlagen der Menschenherzen Viele, die angefüllt sind, mit Unermeßlichkeiten von Weh, und je kleiner der materielle Raum ist, den der Kerker einnimmt, desto größer ist wohl die dunkle Fluch des Elends in den Herzen seiner Bewohner.

Am Ausfluß eines breiten majestätischen Stromes liegt irgendwo eine Festung, so klein, daß sie von dem Thurm ihrer Citadelle mit ihren grünen Wällen wie ein reizendes Spielzeug aussieht.

Blumenbeete, zierlich geordnet, erfüllen den innern Raum, eine mächtige Linde, von einer Bank umschlossen, wächst und blüht vor dem Eingang des 8- oder 10 eckigen bombenfesten Gebäudes, und ein Tischchen mit einer Sandsteinplatte steht in ihrem Schatten.

Alle untern Fenster des grauen Gebäudes zieren schneeweiße Gardinen, zwischen denen schwebende Ampeln von rothem Thon üppige Schlingpflanzen enthalten, welche bedeutsames Zeichen der Natur – sich hervorwinden an Licht und Lust und ihre blühenden Ranken an die klaren Fenster drücken.

Die Wälle bilden um das Alles einen grünen Ring, der nur bestimmt scheint, sich schützend auszubreiten, zwischen diesem Asyl häuslichen Friedens, stillen Genügens und der wilden, friedenlosen Welt. Der Strom, der silbern um ihren gemauerten Fuß wogt, er erinnert an jenes Flehen unseres Dichters; denn seine Welle scheint ja nur bestimmt, ein Heiligthum des Glücks, ein Paradies des Friedens zu schirmen.

Und über dem Allen liegt golden und duftig die Frühe des Sommermorgens. Thautropfen funkeln in den Moosen des Blumenparterres, Bienen summen in den Zweigen der Linde, ein Goldammerpärchen hüpft auf der Lehne der Bank umher und zwei Bachstelzen baden die weißen Brüstchen in dem Becken des Springbrunnens.

Vier Uhr Morgens! Alles schläft jetzt noch, was Mensch heißt, im Umkreis dieser grünen Wälle, selbst die Wachtposten an dem tiefen, gemauerten, tunnelartigen Thore lehnen, sich halb träumend auf ihre Gewehre.

Es sind alte graubärtige Invaliden, deren verwitterte Gesichter zu Vorbildern für Sanscardieu und Bataille dienen könnten. Daß sie nicht denken und nur im Schlaf träumen, ist deutlich auf den leeren Stirnen zu lesen, aber der Schlag der nächsten Stunde rüttelt sie auf, es ist die Ablösungszeit. Heraus! ruft der Alte auf dem Posten, mit lautem, gleichsam rollenden Schrei und – plötzlich wird es lebendig in dem Innern der Wälle.

Denn diese Wälle, so grün überwogt von weichem Grase, diese Wälle, auf denen zwei weichvliesige Schäfchen und eine Ziege mit ihren lustigen Zicklein weiden, sind kasemattirt und die Wohnungen von 86 Gefangenen! –

Die vermoosten Thüren dieser unterirdischen Kerker werden geöffnet und ihre Bewohner treten heraus ins Licht der Sommersonne. Das Gerassel ihrer Ketten bildet einen grellen Mißton, in der Harmonie, die wir so eben zu beschreiben versuchten. Das Licht Gottes fällt klar und rein auf ihre Gesichter und es könnte auf keinen finstereren, keinen schrecklicheren Gegenstand fallen.

Lassen wir sie! – Sie stellen sich auf, je drei und drei neben einander. Die alten Soldaten der Garnison laden vor ihren Augen Kugeln in ihre Gewehre. Ein Trommelwirbel! Soldaten und Sträflinge entblößen die Häupter zum Morgengebet, dann vertheilt ein Beamter die Brodrationen, ein Soldat kommandirt: marsch! und der Zug setzt sich in Bewegung, vorauf Soldaten! Soldaten an den Seiten! Soldaten schließen ihn!

Ich sprach von 86 Gefangenen. In der zweifarbigen Kleidung der Sträflinge verließen nur 85 das Thor der Festung, um in freier Luft zu arbeiten, der. Fehlende stand am Fenster seiner Kasematte und blickte träumerisch hinaus, nicht ins Freie, sondern in den äußern Raum seines Gefängnisses.

Es war ein junger Mann und er hatte ein schönes geniales Menschenantlitz.

Die Kerkerhaft fing eben an, seine Stirn und Wange gelblich zu färben, wie vergrabenes Elfenbein. Dunkle Locken ringelten sich um die weiße blau geäderte Hand, auf die er seinen schweren und matten Kopf gestützt hatte. Er fror und hüllte sich in einen alten grauen Mantel, der zu Füßen über sein Lager geworfen war.

Plötzlich schien es ihm einzufallen, daß ja sein Fenster, trotz der dicken Eisengitter, die es außen überkreuzten, sich nach innen öffnen ließe.

Er riß es auf und warm strömte nun die Sommerluft in das eisige Gemach.

In demselben Augenblick öffnete sich ihm gegenüber leise ein Fenster in dem Citadellengebäude.

Eine feine Hand schlug die Gardine zurück und ein junges auffallend hübsches Mädchen, in einem Morgenmantel von hellblauem Percal, begoß die Blumen auf dem Fensterbrett. Ich sage ein junges Mädchen! nach den Begriffen ältlicher Herren unserer Zeit, mochte die Dame indeß nicht mehr jung sein, denn sie zählte bereits 22 Jahre. Schön aber war sie gewiß und ihre Schönheit prangte in üppigster Blüthe.

Sie lehnte sich weit hinaus, überblickte das Blumenparterre unter ihrem Fenster und lächelte, weil sie bemerkte, daß sie gestern Abend ihr Buch und ihr Arbeitskörbchen, unter der Linde vergessen hatte.

Während die junge Dame in tiefen Zügen, die in ihr Zimmer strömende Sommerluft trank, öffnete sich hinter ihr die Thür und eine zweite Dame trat bei ihr ein; der auch wir das Prädikat ältlich geben müssen.

Guten Morgen, liebe Helene! sagte die Letztere mit einer ungemein wohlklingenden Stimme, und wie hast Du geschlafen die erste Nacht in Deinem gewölbten, bombenfesten Zimmer?

Die Angeredete wandte ihre strahlenden Augen der Sprecherin zu und sagte:

Vortrefflich gnädigste Frau, Dank Ihrer zärtlichen und gastfreundlichen Fürsorge. Die Heimath, die Sie der Verwaisten mit so großer Freundlichkeit geboten haben, erscheint mir wie ein Paradies, oder erschien mir wenigstens so, setzte sie mit verändertem Tone hinzu, bevor ich den Auszug der armen Gefangenen mit ansah – ich gestehe, der Anblick beklemmte mein Herz.

Du wirst Dich daran gewöhnen müssen, mein Kind, der Mensch gewöhnt sich gottlob an Alles.

Anfangs als ich mit dem Obristen hierher zog, war mir das auch schrecklich, jetzt kann ich's mit Gleichgültigkeit ansehn, es geht ja nicht anders.

So lange es Verbrecher giebt, müssen auch Strafen sein und bei uns sind die Gefangenen bei weitem nicht so schlimm dran, als z. B. die Galeerensclaven in Frankreich, oder die Zellengefangenen und viele andere Verbrecher, in anderen Ländern. Sie arbeiten in freier Luft, haben täglich warme Kost, warme Kleidung, reinliches Lager und Du magst glauben mein Kind, daß mein guter Aarhorst thut was möglich ist, um ihre Lage zu erleichtern. Aber willst Du nicht mit uns frühstücken, bestes Kind, der Obrist sieht es stets ungern, wenn beim Frühstück eins der Familienmitglieder fehlt.

Helene warf noch einen raschen Blick in den Spiegel. Ihr Negligée sah sauber aus und stand ihr vortrefflich, das dunkelbraune Haar quoll so üppig und weich unter dem Spitzenhäubchen hervor, und das Gesicht war so frisch und rein, daß sie das Auge des Obristen nicht zu scheuen brauchte. –

So folgte sie denn der Hausfrau durch einige hallende Corridors und trat in einen weiten, hellen Saal, den das Morgenlicht gleichsam in einem goldnen Strom badete.

Auch hier waren die Fenster geöffnet und in ihren tiefen Mauernischen standen kleine, weiße Sophas; an einem derselben der Kaffeetisch wohl geordnet und der leise Pfiff der Maschine bewies, daß der Kaffee so eben fertig geworden.

Die ganze Einrichtung des Gemachs bürgte für den Geschmack und den häuslichen Sinn der Hausfrau.

Alles stand darin am rechten Orte und zum Gebrauch bereit, der Eintretende mußte fühlen, daß wirkliches häusliches Glück in diesen überwölbten Räumen wohne und die kriegerischen Vorrichtungen, die man aus jedem Fenster sah, erschienen fast wie hübsche Decorationen nur aufgestellt, das Bild des häuslichen Friedens durchs den Gegensatz zu verschönern.

Und in der That, seit langen Jahren waren diese Kanonen nicht anders als zu Freuden oder Signalschüssen abgebrannt worden, und selbst die kriegerischen Unruhen des Augenblicks hatten keinen Einfluß auf den tiefen Frieden unserer kleinen Festung.

Man schrieb nämlich zur Zeit, die ich hier zu schildern versuche, 1831 und Polen stand unter den Waffen. Preußen hielt sich neutral, wie wir Alle wissen, doch hinderte diese Neutralität nicht, daß auf dem Strom, an dem die kleine Festung liegt, viele Schiffe leise dahinglitten, beladen mit Munition, – Waffen! und Speisevorräthen, für die russische Armee.

Die Wimpel und Flaggen wehten im Hauche der Morgenluft und sahen weiß und rosig, von fern aus wie Sträußchen spanischer Wicken. Sie verschönerten die herrliche Landschaft recht sehr; – für diejenigen die sich gewöhnt hatten, nur mit den Augen, nicht mit dem Herzen zu sehen.

Die junge Dame, welche die Obristin Aarhorst, Helene genannt hatte, gehörte leider nicht zu der Zahl derselben. Sie sah die Wimpel der Schiffe hinter den Wällen der Festung vorbeigleiten, mit einem Gefühl von Schmerz, das ihr die Brust zusammenschnürte, und ihr glänzend blaues Auge ward von einer Thräne verschleiert, die warm aus dem Herzen hervorquoll, gerade in dem Augenblick, als durch eine der Bogenthüren die stattliche, militärische Gestalt des Festungscommandanten eintrat. –

Obrist Aarhorst war in voller Uniform, er trug auf seiner Brust den Orden pour le merite, das eiserne Kreuz erster Klasse, einen Adlerorden und verschiedene andere Sterne und Kreuze, welche die Verfasserin dieser Novelle, nicht einmal zu nennen weiß, die aber darum nicht minder Zeichen einer ehrenhaften Gesinnung bei ihrem Inhaber sein konnten.

Die Obristin, die Gattin des stattlichen Soldaten, sah neben ihm etwa aus, wie der bleiche Mond, neben der eben am Himmel glänzenden Sommersonne. Sie mochte ihm an Jahren fast gleich sein, und so schön der Frühling auch gewesen, der Herbst des Weibes naht früher, als der des Mannes, und Clara von Aarhorst hatte einen thränenfeuchten kalten Lebensfrühling, einen gewittervollen Lebenssommer gehabt.

Alles an ihr war Milde, jene süße Milde, die dich umweht wie Veilchenduft, und doch lag Festigkeit in ihrem Wesen wie in dem des Gatten.

Helene kannte das Geschick des Ehepaars, es hatte ihr stets wie das Gestirn der Dioskurn auf dem Lebenswege vorgeleuchtet.

Clara Gräfin von Bartenstein war die jüngste Tochter eines vornehmen Hauses, das große Besitzungen und noch größere Schulden hatte. Die Güter der Familie waren Mannlehn und verebten auf dem einzigen, erstgebornen Sohn, die 3 Töchter waren bestimmt unverehlicht zu sterben, damit das Vermögen, das Jede zu ihrer Nutznießung empfing, bei ihrem Tode wieder zur Gesammtmasse fiele. So trat denn die Aelteste in ein protestantisches Fräulein-Stift, die Zweite war Hofdame und die kleine Clara blieb noch zu Hause bei ihren hochadligen Eltern. Man gab ihr eine ausgezeichnete Erziehung, d. h. sie lernte Französisch durch ihre Bonne, die zugleich Kammerjungfer der gnädigen Mama war. Der ehemalige Hauslehrer des Herrn Sohnes unterrichtete sie in verschiedenen theologischen Wissenschaften, – er war zur Zeit Pfarr-Adjunct auf dem Gute, das die Herrschaft bewohnte – auch im Lateinischen. Zwei Stunden mußte sie täglich im Fußbrett stehen, um eine gute Körperhaltung zu bekommen, eine dritte im Ahnensaal einen Korb auf dem Kopf tragend auf und ab spazieren, zu eben demselben Zweck.

Und damit füllte sich, wenn wir die Minuten dazu rechnen, in denen sie herunterschlüpfte, zur alten Haushälterin Frau Fichtemann, der ganze Tag des Kindes, der angehenden Jungfrau aus. –

Frau Fichtemann, die Wittwe vom Vorgänger des Amtmanns, unterrichtete das junge Mädchen auch, denn von ihr lernte sie spielend kochen, nähen, stricken, spinnen, plätten und fälteln und es waren frohe Stunden, die Comtesse Clara bei der lieben Fichtemann weilen durfte, denn sie fühlte in ihrer Gesellschaft sich zwanglos und angeregt.

Das war nun gerade im Jahre 1813 und Clara war nur ein Jahr älter als das Jahrhundert.

Die Freiwilligen rückten aus, der Erbsohn des Grafen Bartenstein gründete eine Freicompagnie und der einzige Enkel der Frau Fichtemann trat in dieselbe. Es war Hermann Aarhorst.

Seine Kenntnisse, seine schöne Figur, seine Verwandtschaft mit der lieben Fichtemann, sicherten ihm eine Fähnrichsstelle und der 17jährige Jüngling, mit dem glatten, fast mädchenhaften Gesicht, sah gar stattlich aus in der hübschen Uniform. Einige alte Unteroffiziere waren die Exerzier-Aufseher der Compagnie, und Hermann Aarhorst, den seine Gewandtheit und sein guter Wille sehr bald zu einem vollkommen einexerzierten Rekruten machten, konnte ihnen bei der Dressur der Förster, Jäger und Reitknechtsöhne sehr bald beistehen. Er ward des auch noch jugendlichen Compagnie – Chefs rechte Hand, und kam viel in die Gesellschaft der hochgräflichen Familie.

Da war denn nun die reizende, eben aufknospende: Clara, so schön und für den jungen, bürgerlichen Fähnrich, so unerreichbar wie der Morgenstern. –

Auch bei der Großmutter sah er das reizende Gestirn häufig und dort war das schöne Sternbild, eben nur ein bildschönes, blutjunges Mädchen und so kindgut, so froh, so engelsfromm.

Hermann Aarhorst war noch in dem Alter, wo man die Sterne vom Himmel holen zu können wähnt – und so kam es denn, daß einst, – es war am Tage vor dem Abmarsch der Freicompagnie, er im Park, auf der umbuschten Insel, – wo Troll, der große Wachtelhund des verstorbenen Grafen unter einem Marmorgrabe liegt – die junge Clara im Arm hielt, an seine Brust drückte, und ihr Treue schwor, Treue im Leben und Tod. – Clara aber gab ihm Schwur und Kuß, – denn wir können nicht leugnen, daß der Erstere von dem Letzteren begleitet war – zurück und eröffnete sich dadurch eine lange Reihenfolge von Marterjahren; denn die armen Kinder waren belauscht worden, von der kammerjüngferlichen, französischen Bonne, und Ihro Gnaden die Frau Gräfin von Bartenstein war außer sich, als sie von dem horreur pflichtschuldigst durch die Bonne unterrichtet ward, denn erstens durfte Clara nie heirathen des Vermögens wegen, und zweitens war der Fähnrich Aarhorst, der bürgerliche Enkel der lieben Fichtemann.

Selbst die martervollsten Jahre entfliehen aber, und Clara's Jugend entfloh auch nach und nach. Der Krieg ward beendet, Napoleon erst nach Elba, dann nach St. Helena abgeführt, der alte Graf starb und der junge trat in dessen Stelle.

Die Gräfin Mutter zog vom Stammschloß nach ihrem Wittwensitz, weil der Sohn eine etwas zu wilde Wirthschaft trieb. Das Vermögen der Mutter, das Vermögen, das gesetzlich den Schwestern zustand, floß in lustigen Strömen ins Meer des Nichts oder der Reue (ich weiß nicht, in welches dieser beiden unredlich verwaltete, und übel verwendete Goldfluthen zu strömen pflegen), und eines Tages, stürzte der Graf von Bartenstein bei einem Pferderennen, blieb mit dem Fuße im Steigbügel hangen, ward von dem wilden Pferde über die weite Rennbahn geschleppt und kam am Ziel derselben als Sieger an – eine gräßlich zerschellte Leiche. –

Nun erbten die Grafen Bartenstein zweiter Linie die Güter.

Die verwittwete Gräfin und deren Töchter hatten dem Gutsherrn, für ihre Kapitalquoten quittirt und diese Quittungen lagen wohlgeordnet, unter den sonst sehr ungeordneten Papieren des Seligen.

Drei arme Comtessen und die arme Gräfin Wittwe Bartenstein, lebten eine Zeit lang sehr zurückgezogen in Berlin, von einer Pension, die Friedrich Wilhelm der Gütige ihnen gab, und die jüngste derselben machte eine gute Partie, denn sie heirathete schon 28 Jahre zahlend, den Obristen Aarhorst, einen wackern Soldaten und sehr geachteten Mann.

Zwar wußte man nicht, ob er der Familie des Grafen Aarhorst angehörte, aber man glaubte es in einigen Kreisen, da er nach Art des sehr alten Adels, kein »von« vor seinem Namen setzte.

Clara begleitete den Gatten, der ihr treu, treu im Leben und Tod geblieben, nach jener kleinen Festung, deren Commando er übernommen hatte.

Sie hatte ihm hier im ersten Jahre ihrer Ehe eine Tochter geboren, die Hermine getauft und meistens Comtesse Mienchen genannt wurde. Sie blieb ihr einziges Kind, und in der dunklen grauen Citadelle wohnte Glück; das einzige, das irdisch seinem Ursprung nach, und doch klar und lauter ist, als stamme es vom Himmel – das häusliche.

In der Zeit der Armuth – es war nicht die unglücklichste ihres Lebens, – hatte Clara in Berlin die Hülfe eines Arztes bedurft. Der Zufall hatte gewollt, daß ein solcher eben ihr Hausgenosse gewesen und mit der Zeit der Hausfreund der armen und verwaisten, vornehmen Familie geworden war. Der Mann führte den ungewöhnlichen Namen Müller, war verheirathet und hatte ein einziges, reizendes Kind, die kleine Helene.

Sie wurde die Freude der drei alternden Comtessen und Claras Liebling. Unter ihren Augen und zum Theil von ihr erzogen, wuchs sie zur blühenden, prächtigen Jungfrau, nahm schmerzlich Abschied von der fortziehenden Gattin Aarhorst's und folgte ihr, auf ihren Ruf nach jener Festung, ein Jahr nach dem Tode ihres Vaters, zwei nach dem ihrer Mutter.

Helene Müller war frei, wohlhabend, schön und hatte ein stolzes edles Herz, sie liebte die Obristin Aarhorst als ihre einzige Freundin, fast als eine Mutter und wollte gern dieser die abgeschiedene Einsamkeit ihres Aufenthalts versüßen, ihr die kleine Hermine erziehen helfen und in ihrer Nähe und Gesellschaft glücklich sein. –

Wir kennen jetzt ungefähr die 3 Personen, die sich am Kaffeetische in jenem sonnenhellen Zimmer, der grauen Citadelle zusammenfanden.

Ein Kind gesellte sich zu ihnen, ein blondes lächelndes Elfchen, Comtesse Mienchen, und sie war ein Sonnenstrahl mehr, in dem sonnigen Raume. –

Die Oberstin schenkte ein und erfüllte die Obliegenheiten der Wirthin mit aller Grazie und Anmuth einer vornehmen Dame, denn die Gewöhnung der Kinder höherer Stände an eine gute Haltung, an ein stets anständiges und geregeltes Benehmen, zeigt sich eben in reifern Jahren, als jenes unbegreifliche und unnachahmliche Etwas, das wir vornehmen Anstand nennen. Obrist Aarhorst ersetzte denselben, wenn er ihm fehlte, durch seine militärische Haltung und Helene war eines jener bevorzugten Wesen, die keiner Vorschule bedürfen, um überall und immer anmuthig zu erscheinen.

Die Reveille hat Sie wohl geweckt, liebes Kind, sagte der Obrist zu seiner neuen Hausgenossin, während er Kaffee trank.

Nein, Herr Obrist, ich war schon auf und angekleidet und öffnete nur das Fenster, als die traurige Schaar der Gefangenen sich versammelte, um an die Arbeit zu gehen.

Halten Sie diese Menschen nicht für allzu unglücklich, man muß an das Leben derselben einen andern Maßstab anlegen, als an das unsere, um es richtig beurtheilen zu können.

Helene erröthete stark! Wie das! Warum Herr Obrist? fragte sie mit Lebhaftigkeit, sind diese Menschen nicht Menschen, ausgestattet wie wir mit allen Fähigkeiten zu Glück und Genuß, mit all dem brennenden Sehnen danach wie wir? Und wenn ein Unschuldiger, ein Vinzent de Paula darunter wäre? und das ist ja doch wenigstens nicht unmöglich, o ich –

Sachte, sachte! meine kleine rasche Philosophin, sagte Aarhorst ihr lächelnd die Hand auf die Schulter legend. Kennen Sie das Sprüchwort: »Gewohnheit wird zur andern Natur?« Fast alle diese Unglücklichen gehören den niedrigsten Ständen an. Sie erwuchsen im Schmutz, hungernd, frierend, ohne alle Kenntniß der höhern Bedürfnisse und Genüsse des Lebens. Hätten Sie, wie ich, viel unter Bauern und Tagelöhnern gelebt, Sie würden wissen, daß Wahrheit in jener Geschichte von dem Bauer liegt, der sich als höchsten Lebensgenuß träumte, braune Butter aus einem Bierglase trinken zu dürfen, und von den drei Matrosen, von denen jeder einen Wunsch aussprechen sollte, wo denn der Erste sich allen Tabak auf der Welt, der Zweite allen Rum auf der Welt wünschte, so daß dem Dritten, der nun nichts Wünschenswerthes mehr kannte, nichts übrig blieb, als sich noch ein klein Bischen mehr Rum als sein Maate zu wünschen. –

Unsere Baugefangenen, Fräulein Helene, haben warme, trockne, reinliche Schlafstellen, vollständig satt zu essen, ganze und reinliche Kleidung, und ihren Kräften angemessene Arbeit. Glauben Sie mir, 99 unter hundert haben es besser, als sie es gewöhnt sind.

Und die Ketten! sagte Helene, ein wenig eingeschüchtert, und der Verlust der Freiheit?

Das ist ein sehr imaginärer Verlust! Sind unsere Soldaten, ist der alte Marketender dort, sind unsere beiden jungen Offiziere, bin ich selbst viel freier als die Baugefangenen? Wir Alle müssen ausharren hier, innerhalb dieser grünen Wälle, bis unsre Zeit vorüber ist, und ich theures Kind werde diesen Ring wohl erst nach meinem Tode verlassen, denn es gefällt mir unsäglich in dieser Beschränkung, – er drückte dabei die Hand seiner Gattin und sah lächelnd auf sein blühendes Kind –. dann aber fuhr es wie ein leichter Schatten über sein Antlitz. – Der Unglücklichen, liebe Helene, giebt es in diesen Mauern nur zwei.

Der Eine ist ein verstockter Verbrecher, Dieb, Mordbrenner, Räuber, der seit seinem letzten Fluchtversuch krumm geschlossen, in der dunklen Thorkasematte liegt. Der Andere – da sehen Sie hinaus, den blassen Mann dort, den halte ich für unglücklich, es ist ein politisch Gefangener, jedenfalls ein Mensch von Geist und Bildung. Er ist zu lebenslänglicher Einkerkerung in unsern Kasematten verurtheilt.

Helene blickte auf, der Bezeichnete stand auf dem Walle, er trug einen fadenscheinigen Ueberrock von hellem Sommerzeuge und eben so abgetragene Beinkleider, dunkle sehr üppige Locken ließen sein bleiches Gesicht noch bleicher erscheinen. – Er stand an einer Lavette gelehnt und starrte hinaus ins Weite, vermuthlich aufs weite freie Meer.

Das ist ein Unglücklicher, liebes Kind, sagte der Obrist. – Helenens Augen füllten sich schon mit Thränen.

Er heißt Holm, fuhr Aarhorst fort und hat als Student der Medizin sich in verbotene Verbindungen eingelassen. – Ich kenne die Anklagen gegen ihn nicht genau, jedenfalls aber entschuldigt ihn seine. Jugend. Als er eben seine Studien beendet und sich als Arzt in Köln niedergelassen hatte, brach das Verhängniß über ihn herein. Er war verlobt, da man ihn nach dem Ehrenbreitenstein führte. Die Eltern des Mädchens trennten die Verbindung. Er ward zum Tode verurtheilt, und zu lebenslänglicher Haft begnadigt. – Als ich das Commando dieser Veste bekam, saß er bereits 2 Jahre. – Die Instructionen seinetwegen sind sehr streng, und zudem ist er blutarm und muß sich mit den 5 Sgr. täglich, die er als Gefangener von Staatswegen bekömmt, seinen ganzen Unterhalt besorgen.

Der Obrist erzählte das so ruhig, es war eben eine Geschichte wie sie oft im Leben verkömmt, aber vor Helenens Seele rollte er durch dieselbe ein Bild des herzzerschneidendsten Kummers auf. Der blasse Mann stand immer noch an der Lavette gelehnt und starrte hinaus in's weite freie Meer.

Armuth, gebrochne Treue, Einsamkeit, verfehlte Lebensbestimmung, grausam zerstörte Jugendträume, das Alles lag auf der Menschenseele, die still ein bleiches, festes Antlitz dem Meere zuwandte.

Helene hätte hinauseilen und den armen Gefangenen an ihr heiß klopfendes Herz ziehen mögen und sagen: komm laß Dich trösten, Du Vereinsamter, laß Dich erfrischen, Du Bleicher, durch den warmen Hauch einer theilnehmenden Menschenbrust. –

Sie that das Alles nicht, welches Weib, dürfte dem aufquellenden Gefühl Worte leihen, es hat nur die Erlaubniß durch Thränen zu sprechen und diese quollen heiß unter des Mädchens dunklen Wimpern hervor. –.

Zwei Morgenstunden, zwei Nachmittagsstunden und im Sommer noch 2 Abendstunden, durfte Dr. Holm, an der Luft auf den Wällen der Festung zu bringen.

An eine Flucht von hieraus war nicht zu denken, denn überall fiel die Mauer steil, in das tiefe Bett des Stromes. Schildwachen standen gähnend aber achtsam an den Vorsprüngen der Wälle und zumal, wohin hätte er fliehen sollen, ohne Paß, ohne Kleidung, ohne Freunde und ohne – Geld. Auch dachte er nicht an Flucht, was hatte das Leben ihm zu bieten, hatte er doch weder Eltern noch Geschwister und seine frühere Braut war die Frau eines reichen Materialwaarenhändlers geworden.

Bleiern hing die Zeit über dem Unglücklichen und selbst der Sonnenschein verlor für ihn seinen belebenden Reiz, selbst das Grün der Bäume, der weite Blick ins Freie hatte nichts Tröstendes, nichts Aufregendes mehr für ihn. – Es ist das ein Zustand, den alle langer Gefangenen durchzumachen haben, eine Art von Krankheit, sehr schmerzlich, aber nicht immer zerstörend, und Holm war 28 Jahre alt und von kräftiger Körperconstitution.

Er ahnete nicht, daß wenige Schritte von ihm ein Herz schlug, welches sich in dem Wunsch, ihn zu trösten, ihn aufzurichten, fast verzehrte. Helene war bereits 14 Tage im Hause des Obristen, und der Staatsgefangene hatte das blendend schöne Mädchen nicht, einmal bemerkt. Auch bemerkte er nicht, daß die Marketenderin, bei der er für 3 Groschen täglich speiste, ihm schon seit vielen Tagen weit bessere, weit reichlichere Nahrung vorsetzte, Er aß nicht, weil er Hunger fühlte, sondern weil die Speise vor ihn hingesetzt war. Bücher, Schreibmaterialien waren dem Unglücklichen versagt, ein Klavier konnte er sich nicht anschaffen, weil ihm dazu die Geldmittel fehlten. Er dachte daran, daß er einst – vor langer Zeit, als er noch in der Welt lebte – gern Klavier gespielt hatte, denn eben trug man einen schönen Flügel über den Grasplatz ins Schloß. Ob seitdem Stunden oder Minuten vergangen waren, Holm wußte es nicht, als die Töne des Instruments ihn plötzlich wie ein electrischer Schlag berührten.

Es war sicherlich eine Meisterhand, die über die Tasten glitt und eine volle reine Altstimme sang:

»Mit den Wolken möcht' ich fliehen,
Mit dem Sonnenstrahl,
Mit dem Sommerlüftchen ziehen
lieber Berg und Thal! –
Wohin? Wohin?
Ist ein Plätzchen auf Erden,
Wo das blutende Herz mag ruhig dir werden,
Weißt du einen Ort, wo dein Kummer schweigt,
Wo Freude ihr lächelndes Antlitz dir zeigt,

Möchte mit der Schwalbe fliegen
Hoch im blauen Raum,
Mit der Lerche gern mich wiegen
Auf dem schlanksten Baum.
Warum? Warum?
Wird dein Weh dich verlassen,
Wenn die Winde des Himmels dich tragen und fassen,
Wirst du in Lüften, auf Bergeshöhn
Die Spur des Glücks, des ersehnten, erspähn?

Dürft' ich mit dem Schifflein gleiten
Uebers Wasser klar!
Könnt ich mächt'ge Schwingen breiten,
Stark wie Falk und Aar!
Wem? Wem?
Im ziellosen Schweifen
Wirst du nimmer die fliehende Wonne ergreifen,
Dich führt zum Glück kein Flügel, kein Boot,
Die Lieb' ist das Glück und die Lieb' ist todt!«

Holm verstand jedes Wort, jede Sylbe des Gesanges, den der Flügel des Seewindes ihm zutrug. Sein Herz schlug heftig, krampfhaft; ein Gefühl, daß er seit seiner Kindheit nicht gekannt hatte, das ihm jetzt in der gräßlichen Eintönigkeit seiner Gefangenschaft ganz fremd geworden war, überrieselte weich und warm seine Seele, er lehnte den Kopf an das Eisengitter seines Kerkerfensters und – weinte. –

Helene aber war neben dem Klavier auf die Knie gesunken, auch sie weinte. Seit langer Zeit hatte sie nicht gesungen. Ihr Gesang war einst die Freude ihres Vaters gewesen und seit seinem Tods hatte es ihr eine Art von Unrecht geschienen, zu singen. Heute klangen ihr selbst die Töne ihrer Brust so fremd und wunderbar. Möchten sie die Macht der Töne Davids haben, dachte sie, und blickte hinüber nach dem bleichen Gefangenen, der – sie wußte nicht, wie es gekommen – der Mittelpunkt ihrer Gedanken geworden war, seit sie sich in der Festung befand.

Als Helene am andern Tage den frühen, frischen Morgen an ihrem Fenster begrüßte, stand der Gefangene an den seinen und grüßte tief verneigend die junge Sängerin.

Welche stolze, glanzvolle Schönheit, dachte er, wahrlich, am Fenster der alten düstern Festung erscheint sie wie ein Brillant im schwarzen Sammtgrunde seines Bestecks.

Wer ist die schöne Dame? fragte er, als Mittags ihm der Marketender in Begleitung des alten Schließers sein Essen brachte.

Weiß nicht, entgegnete das dürre Männchen sichtlich verlegen, aber essen Sie nur, Herr Doktor, lassen Sie sichs schmecken, ein junges Huhn mit Schoten und Krebsschwänzchen und eine gute Milchsuppe, Zimmt und Zucker darauf – essen Sie nur.

Holm lächelte, aber wie hangt denn nur mein Essen mit der Dame drüben zusammen? Gar nicht, Herr Doktor! Gar nicht! Die Dame ist wohl reich und eine Verwandte, oder so etwas von der Frau Gräfin.

Der Gefangene aß, welche Empfindungen würden sein Herz bewegt haben, wenn er gewußt, geahnet hätte, daß die gute Speise, die ihn erquickt, eine Gabe der Barmherzigkeit – nein der innigsten Theilnahme aus der Hand des schönen, jungen Mädchens sei, deren Gesang ihn so tief erregt hatte.

Das Klavier ward die Stimme, mit der Helene zu ihrem bleichen Nachbar sprach.

Holm öffnete das Fenster, sobald der erste Ton desselben an sein Ohr drang.

Noch hatten diese beiden Menschen, deren Leben in einander zu fließen begann, kein Wort gewechselt, ihre Gedanken und Gefühle begegneten sich auf den Flügeln der Töne.

Helene arbeitete mit der Obristin häufig unter dem Dache der Linde. Holm konnte diese Stelle des Festungsplatzes nur in einer sehr unbequemen Stellung von seinem vergitterten Fenster aus sehen, aber er stand stundenlang ganz vorn über gebogen und betrachtete den blühend schönen Mädchenkopf, die feine kleine Hand, die sich bei einer Nähterei so rasch bewegte. Es war eine Beschäftigung, eine Zerstreuung für den armen Gefangenen, und das schöne Bild belebte seine Träume.

Denn Holm träumte wieder oft stundenlang mit wachen Augen, er träumte von seiner frühern Braut und wie ihm zu Muthe sein würde, wenn sie ihn genug geliebt hätte, um Kerkerhaft und Einsamkeit mit ihm zu theilen, wie ihm zu Muthe sein würde, wenn neben ihm eine liebevolle Hand waltete, für ihn sorgte, dächte – – Es hat Frauen gegeben, dachte er, die ihre Gatten in den Kerker begleiteten, sie erretten aus den entsetzlichen Banden, ja selbst vom Henkerstode, oder Alles mit ihnen theilten, und dies Mädchen, dort am Fenster der alten Citadelle, sie sieht aus, als ob sie für einen geliebten Gatten dasselbe thun, mit ihm Alles theilen könnte. Welche sanften, tiefen, dunkelblauen Augen, welch ein entschlossener Mund, diese Züge sind nicht blos schön und reizend, sie sind belebt, beseelt, dies Weib ist ein Mensch!

Was Helene dachte und träumte – wir können es nicht so genau sagen, vielleicht war es etwas ähnliches, denn sie las in jener Zeit die Geschichte von Hugo Grotius Flucht und sang besonders gern die alte Ballade von der Gräfin von Nidda. Ja, als sie einst an der Seite des Obristen das lange dunkle Thorgewölbe durchschritt, sagte sie lächelnd zu ihm:

Würde die Frau Gräfin wohl die Kraft haben, Sie den weiten Weg vom innern Thor durch den bedeckten Gang zu tragen?

Sie wird's wohl kaum nöthig haben, entgegnete – Aarhorst, wir leben in tiefem Reichsfrieden und sollte der Franzmann oder der Russe, so lange ich hier kommandire, sich an diese alten Mauern legen, so würde ich im äußersten Falle eine Lunte in die Mine tragen, deren dunkeln Eingang sie dort an jenem Strebepfeiler sahen.

Und die Gräfin und Mienchen? fragte Helene mit leisem Frösteln.

Sie würden mich begleiten, wenn sie sich freiwillig dazu entschlössen, der Tod ist kein Uebel.

Mit einem geliebten Gatten sterben, der seine Pflicht thut, indem er die Veste, die er nicht mehr halten kann, in die Luft sprengt, dachte Helene –. ja das ist ein schöner, ein des Weibes würdiger Tod, aber noch schöner muß es sein, wie die Gattin Labedojèr's sich aufzuopfern, um den Geliebten zu befreien. Mit dem Gatten sterben, ist menschlich schön, für ihn sterben, himmlisch groß! Und während sie das dachte, stand vor ihren innern Augen das Bild des jungen Gefangenen so deutlich, so lebendig, als wäre es gemalt auf dem Goldgrunde des Abendhimmels, von dem die düstre Festungspforte, die sie durchschritt, ein Stück einrahmte.

Es ward Helenen nicht schwer, dem Unglücklichen, für den sie sich so lebhaft interessirte, tausend Wohlthaten zu erweisen, deren Urheber er nicht ahnen konnte. Sie war nicht arm, für ihre Verhältnisse sogar reich. Obrist Aarhorst war ihr Vormund und sie empfing so viel von ihren Zinsen, als sie zu heben wünschte. Wie erfinderisch war sie nicht, Mittel und Wege zu ersinnen, um in Holms Hände diejenigen Gegenstände zu spielen, von denen sie glaubte und wußte, daß sie ihm nothwendig seien. Der alte magere Marketender und seine kugelrunde Frau waren ihre Gefährten und Mitverschworenen dabei. Bald waren es feine Hemden, die die alte Frau Hausmann für wenige Groschen von Jemandem gekauft hatte, der sie aus Noth verkaufen mußte, welche Holmen zu einer Zeit angeboten wurden, da er des Weißzeugs dringend bedürftig war. Frau Hausmann erbot sich, mit der Zahlung zu warten, monatlich 15 Groschen auf Abschlag anzunehmen, sie hatte das Geld dafür schon lange bezahlt und es mache ihr weiter nichts aus. Bald war es eine Flasche Wein, die der Schließer dem Herrn Doktor für einen ärztlichen Rath brachte, immer aber etwas, das eben, wie direkt vom Himmel fallend, das nächste, dringendste Bedürfniß des Verlassnen und Vergessnen befriedigte. – Holm war schon lange kein eigentlich Unglücklicher mehr, seine materiellen Bedürfnisse waren befriedigt und er fand ein lebhaftes Interesse an dem Aufenthalt, zu dem er verurtheilt war.

Helenen zu beobachten, ihr bei einem Spaziergänge auf dem Walle zu begegnen, stundenlang an einen Kanonenlauf gelehnt, in einem vorspringenden Winkel des Walles auf ihren Gesang zu lauschen, das waren Beschäftigungen, Herzensaufregungen für den einsamen Gefangenen, und der ist ja nicht mehr einsam, der glückliche Gedanken zu Gesellschaftern hat.

Leise überspann indeß der Herbst die Gegend mit seinem bunten Goldnetze.

Helene fand sich wie eine Tochter im Hause des Obristen geliebt. Münchens erster Unterricht, den sie leitete, Lectüre, Blumenzucht und Musik füllten ihre Stunden. Sie gehörte zu den weiblichen Herzen, die des äußerlichen Schaulebens der großen Welt nicht bedürfen, weil ihre innere Welt reich und groß, ihr Seelenleben tief genug für die Einsamkeit ist.

Von Holm wagte sie selten zu sprechen, sie glaubte, sie scheue sich, die Wohlthaten, die sie dem Gefangenen erzeigte, an ihre Freunde verrathen zu sehen, aber es war noch eine andere ächt weibliche Scheu, die Scheu, ein Gefühl zu verrathen, das von dem Mitleid nur das Gewand geborgt hatte und das bereits tief in der jungfräulichen Brust lag.

Es war ein warmer, schöner Septembertag, die Obristin, Helene und Mienchen saßen zusammen unter den Linden. Aarhorst las die Zeitung, die Damen arbeiteten und das Kind spielte mit den von Zeit zu Zeit schon aus den Gipfeln der Bäume niederfallenden goldnen und purpurfarbigen Blättern. Aber das kleine Wesen hatte einen Theil seiner sonstigen Lebhaftigkeit verloren. Matt hing das Köpfchen auf die Brust nieder, die Augen hatten einen sonderbaren Glanz, sie hustete bisweilen und lehnte sich an der Mutter Knie. Der Abend kam früh und brachte düstere Seenebel und wilden Wind. Helene lag um Mitternacht noch wachend in ihrem Bett und horchte dem Sturm, der in den Rauchfängen raste und sonderbar durch die engen Corridors pfiff. Da öffnete sich die Thür ihres Zimmers, es war Klara, die todtenbleich eintrat und tonlos sagte:

Komm zu mir, Helene, ich fürchte, mein Kind stirbt.

Eilig warf diese einen Morgenmantel über und folgte der bebenden Mutter an das Bett der kleinen Hermine.

Sie lag im Fieber, bewußtlos und mit fliegender Brust, aus der der Athem seltsam pfeifend hervordrang und von Zeit zu Zeit erschütterte ein Husten, keinem menschlichen Tone, sondern dem Gewinsel eines Hundes ähnlich, die kleinen Glieder.

Der Obrist hielt das Kind in seinen Armen, auch er war bleich, seine ganze Seele schien in dem Blick zu liegen, den er auf sein sterbendes Kind warf.

Neben dem Bette saß schlaftrunken und berauscht der alte Compagnie-Chirurg der Festung.

Es ist nichts mit ihm, sagte Aarhorst tief ergriffen, dem Trunkenbold können wir das Leben unseres Kindes, unseres Engels nicht anvertrauen und lieber sterbe Hermine nach Gottes Willen hülflos, als daß ich sie tödten lasse von der zitternden Hand dieses Berauschten.

Der rothnasige, stark nach Branntwein riechende Diener Aesculaps, versuchte sich in militärischer Haltung aufzurichten.

Betrunken, ich betrunken, gurgelte er, bitte, gnädiger Herr, Frau Gräfin wollte ich sagen – Sie kränken mich in meinen Funktionen, ich kann, ich werde können alle meine Funktionen – hier – überall – die Soldaten – die Baugefangnen –

Die Rede erstarb ihm auf den Lippen, die verglasten Augen fielen zu.

Und es ist 3 Stunden, bis ich einen Arzt aus D. holen kann, sagte verzweifelnd der Obrist. Ehe das Thor geöffnet, die Zugbrücke niedergelassen werden kann, vergeht auch Zeit und eine Minute kann über unser Kind entscheiden.

Aber Herr Obrist, wandte Helene ein, Sie haben einen Arzt in nächster Nähe, Doktor Holm.

O das spricht Gott aus dir, mein Kind, rief Klara.

Ich rufe ihn, sagte Helene eifrig, denn Sie können die Kleine nicht aus den Armen lassen und die Frau Gräfin wird ihr Kind auch nicht verlassen wollen, ich glaube der Schließer wird meiner Versicherung, daß Sie mich senden, Glauben schenken.

Eilen Sie, eilen Sie, war die Antwort und Helene schritt in die Nacht hinaus nach dem Zimmer des Schließers, der ihr, als sie ihm die Sachlage berichtet, eilig vorleuchtete nach der Kasematte des Gefangenen.

Der Alte öffnete mit seinem rostigen Schlüssel die Thür, die moosig und feucht den feuchten Kerker verschloß. Das Licht seiner Laterne warf einen matten, gelben Schein auf den Fußboden und beleuchtete grell bald ein Stückchen der grünlichen stockigen Wand, bald den einen hölzernen Stuhl und zuletzt das Bett, auf dem der blasse Mann träumte. Helene stand neben dem Lager, das durch ihre Großmuth nicht mehr ärmlich zu nennen war, das Licht der Laterne fiel von unten auf ihr schönes Gesicht und malte etwas Geisterhaftes in diese sonst so frischen Züge.

Erwachen Sie, Holm, man bedarf Ihrer drüben bei dem Obristen als Arzt, sagte sie eifrig und ich glaube, daß Sie nicht nur dort hülfreich sein, sondern jetzt Ihre eigene Lage wesentlich verbessern können.

Der Gefangene öffnete die tiefen dunklen Augen, das Bild, das seine Träume verklärte, stand so plötzlich, so unerwartet neben seinem Bette, daß es ihn wie ein Schauder durchzuckte. Es war ihm, als sei eine Gestalt zu ihm getreten, jener dunkeln, unbekannten Welt angehörend, deren Dasein wir bald ahnungsvoll glauben, bald zweifelnd ableugnen.

Helene, Fräulein – – um Gottes nullen, sind Sie es wirklich? und was führt Sie hierher? sagte er mit bebender Stimme und noch einmal setzte das junge Mädchen ihm die Umstände auseinander, die sie zu ihm geführt.

Der alte Schließer ließ seine Leuchte stehen und wartete neben der zitternden Helene in dem Gange, wo nur das leise Niedersinken der Wassertropfen an der Steinmauer die tiefe grabesartige Stille unterbrach, bis Holm heraustrat und Helenens eiligen Schritten zum Krankenbette des Kindes folgte.

Können Sie hier helfen, mein Herr, sagte der Obrist, der jetzt nur noch Vater war, mit bebender Stimme und Holm antwortete, nachdem er die kleine Kranke genau betrachtet und ihren Puls geprüft hatte:

Ich hoffe es, wenn Sie mir vertrauen wollen. Er ließ sich nun von dem berauschten Wundarzte das Aderlaßbesteck geben, schickte Helenen nach dem Apothekenzimmer, 6 Blutegel zu holen und hatte, bis diese ankamen, bereits dem Arme der Kleinen eine Tasse Blut entzogen.

Die Egel wurden an den Kehlkopf gesetzt und die Wirkung von Holms Anordnungen war augenblicklich und höchst beruhigend. Mienchen versank in einen sanften Schlaf, der Husten, der pfeifende Athem hörte auf, bald standen klare Schweißtropfen auf dem silberhellen Kinderstirnchen und am nächsten Abend schon konnte das liebliche, kleine Geschöpfchen das Bett verlassen. Der Tod hatte nur angeklopft an die Brust der Eltern. Holms rechtzeitiges Einschreiten hatte ihnen den schönsten Theil ihres stillen Glücks erhalten.

Von jetzt ab war der Staatsgefangene geehrter Hausfreund in der Familie des Obristen.

Auf Aarhorst's Verwendung wurden ihm Bücher, Schreibmaterialien etc. gestattet. Er bekam ein Zimmer mit reizender Aussicht, das zur Wohnung des Obristen gehörte, Helenen's Klavier stand in demselben zu Holm's Gebrauch. Zwar durfte er die Festung nicht verlassen, aber in ihrem Ringe ging er frei umher, ein Glücklicher anfangs, ein Seliger etwas später, denn in Helenen's Liebe erschloß sich ihm eine Welt voll Wonne, die sein Herz um so reicher erfüllte, als sie auf den Zustand tiefsten Seelenleidens folgte.

Ein Jahr hatte seinen Kreislauf vollbracht, Holm studirte mit höchstem Eifer Chemie, Physik, Botanik, und brachte Stunden süßer Wonne neben Helenen in dem Zimmer der Gräfin zu. Dort saßen sie bald zusammen am Flügel, oder über eine Zeichnung gebeugt, oder sie spielten mit Mienchen, die an Beiden mit gleicher Innigkeit hing, oder man las und in jedem Worte der Dichtung fanden sie Stoff für ihre Träume, für ein Glück, das zu ätherisch war, um von steter Dauer sein zu können.

Im Herbste 31 hatte Polen seinen Kampf ausgekämpft, viele polnischen Insurgenten-Offiziere betraten den preußischen Boden und ergaben sich der Gnade des Königs. Die Festungen füllten sich mit diesen armen Flüchtlingen, denen bis auf weiteres dieselben zu Aufenthaltsörtern angewiesen wurden und auch Obrist Aarhorst erhielt eine Schaar dieser Gäste. – Die meisten waren verwundet und ihr Einzug durchs das düstere Festungsthor war ein tief betrübendes Bild.

Der Obrist war seinen neuen Gästen entgegengegangen und empfing die bleichen Männer an der dunklen Thüröffnung in voller Gallauniform, die glänzend gegen die zerschoßne mit Blut befleckte der Eintretenden abstach.

Frau von Aarhorst hatte Befehl gegeben, Brühen zu kochen, Wein zu wärmen, Limonaden und andere Kühltränke zu bereiten.

Helene hatte das Alles geordnet und stand nun am Fenster und sah den traurigen Zug eintreten. –

Es befand sich in demselben einer der Führer der Revolution, wir wollen ihn Malachowsky nennen. Er war schwer verwundet und blutige Tücher umhüllten noch seine Stirn und sein Kinn, zwischen denen das todesblasse Gesicht mit den tiefschwarzen Augen geisterhaft hervorsah. –

Ein Krakusen-Offizier trug den Arm in der Binde, ein Andrer hatte einen Hieb über die Schulter. –

Der vornehmste Offizier des Zuges war General Michalsky, ein schöner Mann von reiferem Alter, er war leicht an der Hand und am Fuße verwundet und stützte sich auf einen Stock und den Arm seines Adjutanten, Hauptmann Drewenzky, der bildschön, in der ganzen Kraft der Gesundheit, der einzige Unverwundete des Zuges war. –

Holm stand hinter Helenen, am Fenster ihres Zimmers. Sein dunkles Auge glitt nachdenkend über die Schaar der neuen Gefangenen, denn als solche mußten die Polen doch jedenfalls betrachtet werden, obgleich sie nicht so genannt wurden.

Helene hatte die Hände fest in einander gefaltet, ihre Wangen waren bleich geworden, bei dem Anblick der Leidenden aber ihre Augen flammten.

Holm legte seine Hand leicht auf ihre Schulter und sagte:

Ich möchte Ihre Gedanken lesen, Helene!

Weiß ich sie selbst doch kaum zu entwirren, entgegnete sie. Mitleid, Theilnahme und – und, – ja daß ichs recht bezeichne, eine Art von Neid, wogen in mir. Zuerst möchte ich alle diese Wunden waschen und verbinden, alle diese zerschlagenen und zerschossenen Glieder weich betten, diese zersprungenen Lippen tränken. Dann, sehen Sie, ist mirs als ob das materielle Elend da vor meinen Augen nichts sei. Diese blutigen Lenden, diese fieberhaften Augen, was sind sie neben dem Walten einer großen Idee, tief in unserer Brust. Sie Alle, diese Männer kämpften und leiden, für etwas, das ihre Seelen bis zum Ueberfließen, bis zum gänzlichen Vergessen des eigenen Ich's erfüllt – für ihr Vaterland, für ihre Nationalität. Geschlagen und zerschlagen wie sie sind, – blicken Sie in ihre Augen, Holm, da ist überall noch ein Funke Begeisterung unter der Asche des Elends zu finden und ich beneide sie – es sind Manner und sie durften für die Gefühle ihrer Seele kämpfen, es sind nicht Deutsche und der Götterfunke der Begeisterung durfte wenigstens einmal auflodern in ihnen und zu etwas mehr werden, als einem lyrischen Gedicht, – zu einer That an der sie untergehn!

O Helene, sagte Holm, wie hart sind Sie gegen die Männer Ihres Vaterlandes! Sind wir nicht auch der Begeisterung, der Erhebung fähig?

Sie schüttelte traurig den Kopf, nein! Ein Deutscher ist der Begeisterung, der Aufopferung fähig, zehn, hundert vielleicht! Nicht das Volk, nicht Alle, und ich weiß auch warum das so ist.

Angenommen daß es so wäre, so läge das warum nur in der Zerstückelung unseres Landes, wir sind Preußen, Badner, Bayern etc.

O nicht doch, nicht doch, das deutsche Männerherz kann sich nicht mehr begeistern, weil das deutsche Weiberherz nicht zu lieben weiß, rief sie heftig!

Wie Helene?

Oder giebt es jetzt noch ein Mädchen, das im Manne etwas anderes liebt, als ihren Ernährer, giebt es ein Weib das ihrem Gatten in Noth und Elend folgte, nicht weil sie muß, weil das elendeste Loos neben ihm immer noch besser für sie ist, als das was sie sich selbst bereiten könnte, sondern weil sie will, weil das, wofür er kämpfte, wofür er litt, auch ihr des Kampfes, des Leidens werth scheint, ein Weib das liebt, weil es den Geliebten verstand? Giebt es eine Mutter, die ihres Sohnes Herz, durch ihre begeisternde Lehre zu begeistern fähig wäre? Giebt es eine Gattin die fähig wäre ihrem Gatten zu sagen: thu Deine Pflicht, auch wenn Hunger, Kummer und Elend, für uns die Folge davon wäre, giebt es eine Braut, die –

Sie unterbrach sich, ihr lebhaftes Wort, hatte die Seite berührt, die in Holms Herzen nachtönen mußte?

Sprechen Sie weiter, theure Helene, sagte er, ihr in die flammenden Augen blickend, Sie thun mir nicht weh, Sie erfüllen im Gegentheil mein Herz mit Entzücken! Ich kann Ihnen sagen, ich, Eduard Holm, es giebt ein Mädchen das lieben kann, weil es versteht, es giebt Eines das als Gattin, jedes denkbare Opfer der Pflicht ihres Gatten bringen könnte, Eines das ihre Söhne durch ihr Mutterwort zu begeistern fähig wäre und dies Mädchen, dies Einzige bist Du, Du meine, meine Helene!

Er hatte sie heftig an seine Brust gepreßt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und als sie den glühenden Kuß fühlte, den er ihr in den weißen übergebogenen Nacken drückte, erhob sie das Haupt und bot ihm die blühende Lippe, das schwimmende Auge.


Und wie nun, wie nun meine Helene? sagte Holm 14 Tage später, an einem Herbstabend voll Sturm zu ihren Füßen in dem Stübchen sitzend, das sie ihr eigen nannte.

Bist Du nicht glücklich Eduard?

Ich bins, aber die Zukunft Helene! mein Leben soll nutzlos, thatenlos in diesen Mauern verfließen, was kann ich Dir bieten?

Dich selbst, Dein Ich, Deine Seele, Dein lebendigstes Fühlen, Dein heiliges schönes Wort, bedarf ich mehr?

Kann ich Dir als meinem Weibe Brod geben, von den 5 Rth. die mir der Staat giebt?

Eduard, ich habe 14 000 Thlr. Vermögen und bin künftiges Jahr mündig.

Willst Du Dein Leben, Dein schönes, mit allen Reizen geschmücktes Leben in dem Kreise dieser kasemattirten Wälle vertrauern?

Ich bin eine einsame Waise, die Welt ist für mich öde, außerhalb dieser Mauern, denn nur da wo ein Weib geliebt wird, blühen ihm die Blumen des Lebens.

Und der Obrist, Dein Vormund, wie wird er den Entschluß dem Gefangenen angehören zu wollen, aufnehmen?

Hoffentlich günstig, doch kann er mich im entgegensetzten Falle, höchstens noch ein Jahr abhalten, meinem Herzen zu folgen und bis dies Jahr verflossen ist, können wir allenfalls schweigen. Man beobachtet uns jetzt gar nicht, die Anwesenheit der Polen nimmt alle Theilnahme der Familie Aarhorst in Anspruch.

Holm seufzte, ein Jahr, ein langes Jahr, schweigend eine Liebe verbergen, die jeden Nerv seines Lebens spannt und erfüllt, und wenn dies Jahr verflossen, das Glück in der Gestalt Helenens annehmen, immer nur nehmen ein ganzes Menschenleben hindurch, ohne einmal geben zu können. Es war ein Gedanke, so bitter, daß er einen Wermuthgeschmack dem ganzen, vollen Becher seiner Liebesseligkeit beimischte.

Seine Thätigkeit als Arzt wurde vielfach von den verwundeten Polen in Anspruch genommen, in Allen fand er gebildete Manner, angenehme Gesellschafter, die sogar in ihrer besondern und peinlichen Lage, die Pflicht der Höflichkeit, keinen Augenblick aus den Augen ließen. Jeder von ihnen schied mit einer edlen Humanität, das Kerkermeisteramt des Obristen, von seiner Person. Nie erlaubte sich einer in Aarhorst's Gegenwart, die Lage, in die man durch Preußen versetzt war, zu beklagen, oder die Preußische Gastfreundschaft anzuklagen. Ein Achselzucken, ein leichtes Kopfschütteln, war Alles was sie sich gestatteten, aber für die mannichfache Pflege, Hülfe und Unterstützung, die Aarhorst und Clara ihnen aus eigner Menschenliebe zu Theil werden ließen, waren sie enthusiastisch dankbar.

Je mehr sie körperlich genasen, desto heitrer wurden die Winterabende am Kamin des Obristen, an dem sich mit der Theestunde, der größte Theil des Menschenkreises versammelte von dem wir hier gesprochen.

Das schöne junge Mädchen war bald der Mittelpunkt, der Magnet desselben geworden und mit oft stechendem Schmerz sah Holm, Helenen die Artigkeiten hinnehmen, die ihr von der Ritterlichkeit der Polen gezollt wurden.

General Michalsky war ihr besonderer Verehrer.

Ich habe eine Tochter, so jung und fast so schön, wie Fräulein hier. Ich habe keine Nachricht viele Monate von Weib und Kindern. –

Und Helene beugte sich auf die bleiche Hand des Armen, als wollte sie nach der wiederkehrenden Kraft der Finger sehen, aber es war nur um die Thräne zu verbergen, die heiß aus ihrem Auge quoll. –

Der Schwerverwundete lag größten Theils noch zu Bette, Holm hatte seine Kopfwunden besonders durch lange Vernachlässigung gefährlich gefunden. Drewenzky, der Adjutant des Generals, war während des Tages viel um ihn. Helene besorgte die kühlenden Tränke, die Umschläge, und war nicht selten in seinem Zimmer, um irgend einen Liebesdienst bei dem Kranken zu verrichten.

Es ist etwas eigenthümlich tröstendes in der Menschennatur, daß Mitleid mit dem Leidenden, alle Meinungsverschiedenheiten beinahe ausgleicht.

Obrist Aarhorst, der eifrige, preußische Soldat, der Alles, was von Seiten seiner Regierung geschah, unbedingt billigte, brachte große Geldopfer, um ihr Loos in den Mauern seiner Veste, auf jede mit seiner Soldatenpflicht vereinbare Weise zu erleichtern, und die beiden zu seiner Familie gehörigen Damen standen ihm ebenso wie sein erster Gefangener Dr. Holm, darin mit allen ihren Kräften bei.

In der Mitte des Winters erhielt General Michalsky Nachricht von seiner Familie.

Es war seiner Gattin gelungen, sich mit ihren Kindern nach Dresden zu flüchten. Man hatte einige Trümmer des einst sehr bedeutenden Vermögens gerettet.

Auch die Fürstin von P., eine Tante Malachowskys, war in Dresden und bald kamen bedeutende Geldsendungen an die Polen, die ihr Loos wesentlich verbesserten, und es möglich machten, daß die Barmherzigkeit der Familie des Commandanten jetzt mehr Sache des Herzens, als der Börse blieb. –

Drewenzky war der Einzige, der nie Mangel gelitten und stets noch genug besessen hatte, seine unglücklichen Kameraden zu unterstützen.

Seine Familie hatte bedeutende Besitzungen im Großherzogthum Posen und von dort her, erhielt er Geldsendungen, auch versuchte man es, seine Freiheit von der Gnade des Königs von Preußen zu erhalten.

Es herrschte in der kleinen Festung so viel Aufregung, so viel geschäftiges Leben und Treiben, und selbst so viel gesellige Lust, daß der Winter Flügel zu haben schien.

Die langen Abende versammelten alle Gesunden im größten Saale der Citadelle.

Er war hoch gelegen, eine massive Säule trug das etwas gedrückte bombenfeste Gewölbe. Den ganzen Raum des mittleren Thurmes einnehmend, war er achteckig von Form und hatte in jeder der 8 Wände ein Bogenfenster tief in die Mauer eingelassen und nur aus kleinen Scheiben bestehend. Aber diese kleinen altmodischen Fenster boten Aussichten, nach den verschiedenen Umgebungen der schön gelegenen kleinen Festung, denn sie überragten, da die Citadelle schon auf einer Höhe lag, die Wälle.

Hier sah man das weite freie Meer, den nahen Hafen mit den abgetakelten Schiffen, dort den dunklen Wald, und den Fluß, hier wieder eine Hügelkette, gekrönt mit stattlichen Landhäusern. Jeder Fenstersitz von dunkelrothen schweren Gardinen umrahmt, war ein eignes kleines Gemach, in dem man sich behaglich einrichten konnte, zu einsamen Träumen, oder gemüthlichen Plaudern. –

In der Mitte des Saales stand ein schöner Patent-Flügel, ein Kronleuchter hing über ihm und gewöhnlich war dort der Sammelplatz der Gesellschaft, während Einzelne sich in den Fensternischen zu traulichem Gespräch absonderten.

Helenens schöne Stimme trug nicht wenig zur Belebung dieser Abendunterhaltungen bei, auch die Polen waren größtentheils musikalisch und bald ward Laute, Flöte, Cello oder Geige mit mehr oder weniger Meisterschaft behandelt, hier hörbar. Man führte Conzerte auf, Holm dirigirte, die Frau Gräfin präsidirte in der Nähe des ungeheuren Porzellan-Ofens, an dem saubern Theetisch mit der ihr eigenen Grazie und Lieblichkeit und Obrist Aarhorst spielte die zweite Violine mit solchem Eifer und solchem Anstande, daß Niemand auf die Idee gekommen wäre, er sei hier eigentlich kraft seines Amtes die erste.

Aber welche Masse von Gedanken, welche Wogen von Gefühlen, überflutheten diese Töne in der Brust der verschiedenen Menschen. Die stille Verzweiflung der Polen hatte so verschiedene, so tausendfache Nuançen und doch wogte die Musik sie alle auf Augenblicke hinweg und gab dem allgemeinen Gefühl des Genusses, der reinen Befriedigung Raum. Besonders wenn Helene sang.

Diese Stimme, klar wie ein thaufrischer Morgen, schlug an alle Herzen wie ein Aufruf zum Glück. Sie kannte viele alte Musik, d. h. alte Melodien, die jetzt längst in Vergessenheit gerathen sind, aber ihren Zauber nicht verloren haben und sang sie gern. –

Die Polen verlangten von ihr polnische Lieder und sie suchte alle hervor, die sie im Gedächtniß behalten. General Michalsky stand hinter ihr, neben ihr Drewenzky.

Singen Sie mir Polnisch Fräulein, flüsterte der Alte ihr zu.

Ich weiß nichts mehr Herr General!

Kennen Sie nicht die Melodie, sagte er und spielte mit einem Finger die Melodie einer alten Polonaise. Eine Fluth von Erinnerungen stürmte auf das junge Mädchen ein. Diese Melodie hatte ihr Vater oft und oft gesungen, als sie noch ein kleines Kind war, selbst die Worte des deutschen Textes kamen ihr wieder ins Gedächtniß und erst einmal leise die Melodie versuchend, sang sie dann mit ihrer schönen reinen Stimme:

Auf Koseiusko's Söhne!
Auf zum Kampf für Recht etc.

Anfangs horchten die Polen, dann drängten sie sich näher und näher zum Flügel und plötzlich fielen Alle mit aufgeregter Stimme ein, und die polnische National-Hymne erklang weit in die stille Winternacht. hinaus.

Aarhorst hatte schweigend das Zimmer verlassen. Holm trat hinter Helenens Stuhl und flüsterte ihr zu, daß sie einen Mißgriff begangen.

Sie stand vom Clavier auf und ging in das Fenster, wo sie gewöhnlich ihren Sitz hatte, Drewenzky folgte ihr nach und trat zu ihr hinter die Gardine.

Der Mond stand am Himmel, wilde Wolken flogen vom Winde getrieben über den Horizont und versteckten ihn oft so, daß er sein Dasein, nur durch den Goldrand zeigte, mit dem er seine abziehenden Feinde schmückte.

Das Meer, das man von hier aus sehen konnte, schäumte und von Zeit zu Zeit versilberten die Mondstrahlen die Kämme der empörten Wellen.

Helene blickte hinaus, auch Drewenzky that es.

Er sprach fertig deutsch, hatte mehrere Jahre auf einer deutschen Universität studirt und war als Besitzer eines kleines Gutes bei Lissa auch Unterthan des Königs von Preußen.

Das ist ein schöner Anblick, mein Fräulein, sagte er im Flüsterton. Mondschein und Wolken, Mondschein über dem empörten Meer, das ist die Liebe mitten im Gewühl, im Sturm und Leid des Lebens. –

Sie haben Recht, antwortete Helene und dachte an Holm, aber dessen Leben glich nicht dem empörten Meer, es war öde geworden, still und unbeweglich wie ein Teich. Was war das Leid all dieser Verbannten vom Glück Verlassenen gegen das ihres Freundes, sie hatten doch Aufregung, Furcht, Hoffnung, Spannung, sie hatten eine Zukunft und läge diese auch in Amerika's Urwäldern. Eduard hatte nichts, nichts als die Wälle dieser kleinen Festung und – ihr Herz. O daß es ihn zu beglücken, zu befriedigen ausreichte.

Sie hatte nicht gehört was Drewenzky zu ihr sprach; er stand neben ihr mit erregten Mienen und störte sie aus ihren Träumen, in dem er ihre Hand ergriff.

Fräulein, theuerste Helene, ich bin nicht reich, ich habe Ihnen nichts zu bieten, als ein Herz und eine Heimath, aber wenn Sie meine Seele verstehn, wenn Sie den vom Vaterlande Verbannten durch ihre Liebe trösten, wenn Sie sein kleines Haus verschönern wollen durch Ihre Gegenwart, Ihre ordnende Hand, dann hätte diese traurige Revolution, mir wenigstens eine Welt von Glück geschenkt.

Helene glaubte zu träumen, Sie zitterte; offenbar waren diese letzten Worte nur eine Fortsetzung von dem, was sie überhört hatte. Ihr! großer Gott, Ihr! galt diese Erklärung eines wackern Mannes. Es kam Ihr schon wie eine Trübseligkeit vor, daß sie sie angehört hatte.

Sie legte die zitternde Hand auf Drewenzky's Arm und sagte trübe:

Kein Wort mehr, armer Freund, es ist Sünde, daß ich so viel hörte, denn mein Herz, meine Seele, mein Leben ist nicht mehr mein eigen, es gehört einem Menschen, dessen einziges Besitzthum es auf Erden ist.

Holm trat in diesem Augenblick den Beiden näher, ihr Blick winkte ihn zu sich und ihm die Hand reichend, sagte sie: Eduard wir sind es diesem Manne schuldig, es offen auszusprechen, daß wir einander angehören.

Am andern Morgen erschien Holm frühe in Helenens Zimmer, er war sehr bleich, aber ruhig und setzte sich, ohne ihr die Hand zu geben, in einiger Entfernung von ihr nieder.

Was hast Du lieber Freund, was ist Dir begegnet? fragte sie besorgt.

Helene, sagte er mit Fassung, ich habe überlegt und ich habe gefunden, daß ich unedel, unmännlich selbst handle, wenn ich Dein junges und blühendes Leben an mein verwelktes knüpfe. Ich habe Dir nichts zu bieten, keine Zukunft, keine Hoffnung, denn meine Begnadigung wäre die einzige Hoffnung, die ich hätte und mit ihr müßte ich mir eine Zukunft erst erringen.

Sei frei meine Freundin, werde anders wie glücklich, ich kann Dich nicht fliehen und diesen Ort verlassen, geh' Du hinweg und laß mir bei meinem öden Geschick wenigstens die Gewißheit, halb und halb wie ein ehrlicher Mann an Dir gehandelt zu haben, denn ich hätte nie, nie mir das Glück gestatten dürfen, das ich bis heute genoß, das Glück von Deinem Besitze auch nur zu träumen.

Großer Gott, Eduard, sagte sie mit schwimmenden Augen, mit gefalteten Händen, was hab' ich denn gethan, daß Du mich von Dir weisest, womit hab' ich Dir Grund zu dem Glauben gegeben, daß für mich fern von Dir, irgend ein Glück vorhanden sein könnte. Bin ich nicht mehr dieselbe Helene, deren Leben, Lieben, Muth und Ausdauer Du so oft dein Eigenthum, Deinen Stolz genannt hast?

Holm blickte zu Boden.

Dich liebt ein Mann von Herz und Ehre, theure Helene.

Ich weiß das und bin stolz darauf, Eduard!

Drewenzky kann Dir Stellung, Lebensberuf, Geld und Gut, Heimath und Heerd bieten.

Eduard! Dein Wort ist keine Prüfung meiner Treue, ich lächle über Dich und den falschen Männerstolz, der es Dir in den Mund legt, ich brauche nicht Geld und Gut, nicht Heimath und Heerd, nicht Stellung und Lebensberuf – ich habe das Alles in Dir. So lange mein Herz Dir zum Glücke, oder auch nur zum Troste genügt, so lange meine Liebe, mein Besitz ein lichter Punkt in Deinem Leben ist, so lange bin ich reich, stolz, glücklich. Möchte doch Gott mich prüfen und mir Armuth und Noth neben Dir zu ertragen geben, wenn mir nur das Bewußtsein bleibt, daß ich Dein Herz erfülle, wie gern wollte ich arbeiten für unser täglich Brod, aber etwas muß geschehn, Aarhorst und meine theure Clara sollen heute noch erfahren, daß wir einander angehören.

Er schloß sie in seine Arme, er drückte sie an seine Brust. Sie war glücklich, denn sie fühlte sich geliebt. –

Es ist seltsam, daß Personen, die selbst der eignen Liebe große Opfer gebracht haben, so selten geneigt sind, bei Andern zu schützen und zu respectiren. Frau von Aarhorst hatte eine Fluth von Einwendungen gegen Helenens Verhältniß zu Holm und der Obrist war förmlich empört darüber.

Unmöglich, Helene, unmöglich! sagte er. Jung, schön, geistvoll und für Ihre Verhältnisse reich, wollten Sie ihr ganzes Leben an einen Mann binden, der bürgerlich todt ist.

Ist es nicht eben die Liebe, dieser Himmelsgast, entgegnete Helene sanft, die selbst in den Kerker des Verbrechers noch einen Strahl höhern, reinern Lichtes wirft, und Holm ist kein Verbrecher, sondern im schlimmsten Fall ein irregeleiteter Schwärmer.

Wir wollen darüber nicht streiten, mein liebes Kind, nur davon ist die Rede, daß Sie nicht einmal berechtigt, geschweige denn verpflichtet sind, einem Menschen anzugehören, der nur noch das Leben einer Pflanze in diesen Mauern führt.

Die Liebe sichert ihm seine Menschenwürde in ihrer ganzen Ausdehnung.

Ich glaube nicht einmal, daß die Gesetze unseres Landes ihm gestatten werden, sich zu verheirathen, liebste Helene.

Aber das wäre ja unmöglich, der Gedanke ist schon schauderhaft, giebt man dem Gefangenen doch das Abendmahl, gestattet dem schwersten Verbrecher den Besuch des Gotteshauses, wie könnte man ihn hindern, das heilige Band der Ehe zu schließen.

Mein Kind, aus tausend Gründen, die Frau eines Gefangenen hat keinen Platz in dieser engen Veste. Die Kinder aus einer solchen Ehe dürften möglicher Weise dem Staate zur Last fallen, ich weiß es nicht genau, aber ich glaube es.

Ich werde mit dem Pfarrer darüber sprechen und mit einem Rechtsanwalt.

Jedenfalls entgegnete Aarhorst fest, nicht vor dem Moment, da ich Ihnen Rechnung über meine Vormundschaft gebe, mit meiner Bewilligung wird diese Ehe nicht geschlossen.

Helene erhob sich und ging in ihr Zimmer.

Ihr Herz bebte in heftigster Empörung.

O Welt, o Menschen! dachte sie, wie wenig wißt Ihr die Gefühle des Herzens zu würdigen. Der Obrist, den sie sonst hoch verehrt, töchterlich geliebt, schien ihr plötzlich ein Tyrann, fast ein Nichtswürdiger. Die eintretende Klara fand sie mit glühenden Wangen, mit schlagenden Pulsen.

Folge uns, mein Kind, sagte die mütterliche Freundin, folge uns und brich ein Band, das für beide Theile nicht zum Glück führen kann, wie? oder glaubst Du wirklich, daß Holm für immer Ruhe, Trost und Zufriedenheit finden könnte in einer Verbindung, in der er nur Wohlthaten annehmen müßte, wo er stets sich als den Empfangenden, als den Geduldeten betrachten müßte, das ist ein widernatürliches Verhältniß, liebe Helene.

Er würde allerdings glücklicher sein im Besitz der Freiheit und meiner Liebe. Dann könnte er als Mann arbeiten für seine Familie, schaffen und wirken. Aber ich kann ihm die Freiheit ja nicht schaffen, so soll ihm wenigstens meine Liebe bleiben, bleiben für immer und unter allen Verhältnissen, selbst wenn ich nicht gesetzlich seine Gattin werden könnte. Auf den Staat, auf diejenigen, die dem Schuldlosesten, dem Heiligsten, der Liebe zweier Herzen hindernd in den Weg treten, fiele die Schmach einer ungesetzlichen Verbindung, nicht auf mich.

Clara blickte der Tieferregten sanft und traurig in die Augen und sagte:

Ach, meine liebe Helene, du weißt nicht, wie das Leben so anders ist, als du träumst. Jeder Mensch kann, wenn er will, die Leidenschaft besiegen. Man erträgt schon Leid, Einsamkeit, Kummer, aber den Spott der Welt, die Beschimpfung, das Gefühl des Ausgestoßenseins, was Alles ein Weib trifft, das in ungesetzlichen Verbindungen lebt, das erträgt sich kaum, oder man muß das Ehrgefühl zu unterdrücken verstehen, und ich glaube, das könntest du nicht, nie, unter keinen Verhältnissen!

Folge deinen Freunden, die es gut mit dir meinen, überlaß Holm seinem Geschick, er wird sich trösten und er muß sich trösten, er selbst wird dir die Freiheit geben, wenn er ein Fünkchen wahres Ehrgefühl hat. Heirathe den wackern Drewenzky und bewahre dir Ehre, Ruhe, Freiheit und Zufriedenheit. Das gewöhnliche Leben ist viel mächtiger, als wir glauben, das ist wie ein Wasser, das immer gleichmäßig fortrinnt, Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende. Die Leidenschaften und ihre Aufregungen gleichen einer Ueberschwemmung, sie kommt mit fürchterlicher Macht, verläuft aber, wenn sie ausgetobt hat und läßt nur Moder, Graus und Kröten zurück auf dem Platz, über dem sie gefluthet.

Folge nicht den Eingebungen der Leidenschaft, man bereut das stets, der Pflicht und dem Herkommen zu folgen, darf uns nie reuen.

Helene war ruhig geworden.

Verwechseln Sie nicht zwei Begriffe, die sich oft, ja meist feindlich entgegenstehen, gnädigste Frau, sagte sie mit Kälte, Pflicht und Herkommen, ich werde das Herkommen verletzen und meine Pflicht thun, denn meine Pflicht ist Treue gegen meinen Freund.

Es begann jetzt ein eigenes Dasein in der Ringmauer der kleinen Festung.

Aarhorst entfernte mit ruhigem Anstande den Staatsgefangenen aus seinem Familienkreise und versuchte zwischen ihm und seinem Mündel eine feste Schranke zu ziehen.

Holm blieb Arzt der Familie und der Obrist sicherte ihm dafür ein Honorar, das seine ärmlichen Verhältnisse sehr erleichtern mußte. Er hatte es dem jungen Manne mit Festigkeit und Würde erklärt, daß er in eine Verheirathung seiner Mündel mit ihm nie willigen würde und daß er daher das halbe Jahr, bis sie mündig sei, ihrer gegenseitigen Annäherung jedes in seinen Kräften stehende Hinderniß in den Weg legen würde.

General Michalsky dagegen protegirte eine Liebe, deren Beobachtung ihm Zerstreuung gewährte und, ohne es zu wissen, ward Mienchen das Bindeglied zwischen Helene und Eduard, da sie, Beide sehr liebend, stets Einen oder den Andern aufsuchte.

Drewenzky erhielt um diese Zeit die Erlaubniß des Königs, sich auf sein in Preußen gelegenes Gut begeben zu dürfen und benutzte dieselbe nach einem herzlichen Abschiede von seinen Leidensgefährten und der Familie des Obristen und einem andern von Helenen unter 4 Augen, über den sie nie sprach, der aber ihre Seele tief bewegte. Die Liebe, die ein edles Weib zurückweist, macht ihr vielleicht mehr Schmerz, als dem Zurückgewiesenen, mindestens fühlt sie die Schmerzen, die sie bereitet, tief und ins Leben greifend, der Biene gleich, die den Stich, den sie verursacht, meistens mit dem eignen Leben bezahlt.

Malachowsky starb nach schweren Leiden an einer Hirnentzündung, die ihn in Folge seiner Wunden ergriff. Man begrub ihn still, ohne Sang und Klang, den Abkömmling von hundert Fürsten, den Helden von 20 Schlachten – er hatte gegen die bestehende Ordnung gekämpft. Und sein Tod war ein Glück für ihn, denn er wäre an Rußland ausgeliefert worden.

Die preußische Regierung rüstete ein Schiff aus, das die Polen, die sich unter ihren Schutz begaben und nicht vom Kaiser begnadigt wurden, nach Amerika führen sollte.

Dreihundert polnische Edelleute, zum Theil in Begleitung ihrer Gattinnen und Kinder, nahmen diese Gunst Preußens an und schifften sich am Bord des Ackels, im Hafen von Neufahrwasser, ein. Das Schicksal dieser Auswanderer ist bekannt, sie zwangen mit bewaffneter Hand Capitain und Steuermann, sie an den Küsten Frankreichs auszusetzen, dort sind sie, der französischen Barmherzigkeit anheimfallend, gestorben und verdorben.

General Michalsky war nicht unter ihnen. Er hatte Begnadigung erhalten und begab sich nach Dresden zu Gattin und Kindern, und von den lebhaften Gästen blieb keiner mehr in dem stillen Ringe der Festung, wo jetzt Helene und Holm einander so nahe und doch getrennt durch stete Beaufsichtigung lebten.

Helenens Geburtstag, an dem sie 24 Jahre und folglich mündig wurde, war im Mai 1833.

Am Tage vorher hatte sie den Geistlichen der Festung, der aber nicht im Ringe derselben, sondern außerhalb im Dorfe lebte, besucht und ihn gefragt, ob nach den Gesetzen des Landes eine Ehe zwischen ihr und Holm zulässig sei.

Obrist Aarhorst hatte früher schon mit ihm Rücksprache genommen, seine Antwort war zweideutig. Er wisse es nicht, er glaube es kaum, jedenfalls würde die Genehmigung des Festungs-Commandanten zur Trauung eines Gefangenen unerläßlich sein und Herr von Aarhorst halte es in diesem besondern Falle durchaus für seine Pflicht, diese zu verweigern.

Helene schrieb an Juristen, der Eine sagte, es könne ihr nichts im Wege stehen, der Andere das Gegentheil.

Herr von Aarhorst, mit dem sie jetzt ernstlich sprach, ward heftig.

Sie sehen nicht ein, wie gut wir's mit Ihnen meinen, bethörtes Mädchen, sagte er zuletzt, aber bei meiner Ehre versichere ich Ihnen, daß ich meine ganze Autorität aufbieten werde, um die Trauung dieses Gefangenen zu verhindern, da ich auf Sie jetzt nicht mehr entscheidend einwirken kann.

Wort gegen Wort, Herr Obrist, bei meinem Glauben, bei meiner Seligkeit, versichere ich Ihnen, daß ich dem Mann, den ich liebe, angehören will, und wenn der Wille aller Könige der Erde sich zwischen mich und ihn würfe, entgegnete sie mit flammenden Wangen, das Zimmer verlassend.

Clara hielt die Tieferregte zurück, Helene, Mädchen, armes, liebes Kind, rief sie weinend, mein Mann hat schon seit Wochen an den König geschrieben, dringend um Holms Begnadigung gebeten, er hat ja gegen den Mann nichts, im Gegentheil, er ist ihm werth, aber er bedenkt die Verhältnisse, an die du nicht denkst.

Ich danke Ihnen, Herr Obrist, sagte Helene stolz, aber ich bedarf weder Ihrer noch des Königs Gnade, um glücklich und rechtlich zu sein.

Ihr Herz schlug sichtbar, als sie ihr stilles Zimmer betrat, in welchem Holm sonst wohl stundenlang bei ihr geweilt hatte. Ihr ganzes Ich war in fluthender, wilder Bewegung. Nicht blos ihre Liebe, auch ihr Rechtsgefühl, auch ihr Stolz forderten jetzt ihre Verbindung mit Holm, und da stand er drüben, gelehnt an den Kanonenlauf, wie in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft und sah bleich und mit trüben Blicken zu ihr hinüber.

Sie eilte hinaus, wie sie war. Er sah sie die Stufen hinaufsteigen, die zur Wallpromenade führten und ging ihr entgegen.

So weißt Du es schon, arme Helene, sagte er düster, des Obristen Gnadengesuch ist abgeschlagen, man soll in 6 Jahren über mich berichten, dann vielleicht –

Wir bedürfen nicht der Gnade des Obristen, nicht der Gnade des Königs, wir fordern nur unser menschliches Recht, rief sie außer sich. Was verlangen wir denn? daß wir Einander angehören dürfen, nichts weiter, und wer kann mir das wehren! Ich habe nicht Eltern, nicht Geschwister, nicht Verwandte, mein Ich ist mein Eigenthum und ich will es Dir geben, weil ich weiß, daß neben Dir, neben dem Einsamen, Gefangenen, Traurigen mein Platz auf Erden ist.

Holm zog sie an sein Herz. Mädchen, theures, stolzes Mädchen, sagte er gerührt. Du bist eines bessern Looses werth, als hier zu verkümmern und doch ist, was Du Dir erwählt, schön und groß, ich will Deiner würdig werden, indem ich Dich dankbar anbete.

Aber es war vergebens, dem Obristen seine Zustimmung zur Trauung seines Gefangenen abzufordern.

Ich habe gethan, was ich konnte, für diese beiden Menschen, indem ich an Se. Majestät schrieb, sagte er, und nicht blos weil ich mein Wort gegeben habe, diese Vereinigung wo möglich nicht zu dulden, sondern auch weil ich das Elend, die späte Reue Helenens mit voller Gewißheit voraussehe und immer noch gern hindern möchte, gestatte ich die Trauung nicht.

Nun machte der Geistliche Einwendungen.

Er dürfe einen Gefangenen nicht trauen ohne die Bewilligung des Herrn Obristen, er kenne seine Befugnisse in dieser Hinsicht nicht genug.

Helene mußte alle Gänge selbst machen, alle nöthigen Schreibereien selbst besorgen, denn Aarhorst gestattete dem Gefangenen keinen Briefwechsel mehr, – er hatte das Recht dazu.

Sie wandte sich an Juristen, man zuckte die Achsel, der Fall sei einzig in seiner Art, noch nicht dagewesen, man wisse nicht, man wolle sehen, übrigens sei der Commandant als humaner Mann bekannt, er müsse seine Gründe haben.

Helenens Situation war eine der grausamsten, in die ein weibliches Wesen kommen kann.

Eine getraute Gattin kann um die Vereinigung mit ihrem Gatten, in welcher Lage derselbe sich auch befinden möge, solicitiren, betteln, Himmel und Erde in Bewegung setzen, man wird ihre Handlungsweise lobenswerth und achtbar finden.

Die Frau eines Vatermörders hat bei ihrem Manne Tage und Nachte im Samenburger Zuchthause zugebracht und 2 Monate nach seiner Hinrichtung noch einem Kinde das Leben gegeben.

Helenens Flehen, ihre Gänge, Briefe, fand man lächerlich, man bespöttelte ihre Liebe für den Gefangenen, ihren Wunsch, als seine Gattin sein Loos theilen zu dürfen.

So verflossen wieder Monate, und mit dem Winter kam über den unglücklichen Mann ein neues Leiden, in der Gestalt eines schmerzvollen rheumatischen Fiebers.

Er hatte wieder eine Kasemattenwohnung beziehen müssen, weil Obrist Aarhorst ihn nicht unter einem Dache mit Helene wünschte. Zwar war diese etwas besser als die vorige, zwar hatte er durch Helenens Vorsorge Bücher, Möbel, Betten und ihr Klavier bei sich, aber feucht war die Wohnung doch und grüner Schimmel wuchs an den Wänden trotz alles Heizens und Lüftens.

Helenens Stimmung war düster, sie ging nicht zu Tisch, nicht Abends zu der Familie Aarhorst, sondern saß einsam auf ihrem einsamen Zimmer.

Ohne ihren festen Willen, in Holms Nähe zu bleiben, würde sie das Haus des Obristen verlassen haben, jetzt aber verstand sie die ganzen und halben Andeutungen Aarhorsts nicht, nach Berlin oder einer andern großen Stadt zu ziehen, und als die Gräfin ihr mit Milde und weinend sagte, ihr Gatte wünsche, daß sie fortginge, Holms wegen, entgegnete sie fest und ernst.

Seinetwegen eben bleibe ich, gnädigste Frau, und wenn Sie mir die Thür weisen, so werde ich auf den Steinen an der Pforte schlafen, und weisen Sie mich aus der Festung, auf dem nächsten Punkt des Erdbodens, wo Ihres Gatten Macht aufhört.

Clara wußte nur zu gut, daß Helene Wort halten würde, sie kannte ihren eisernen Willen von Kindheit an, und es blieb Alles wie es gewesen.

Der alte Marketender hatte außer seinem Schenkzimmer und seiner Schlafkammer noch ein kleines Stübchen mit einer Kammer, es war mehrmals im Sommer vermiethet gewesen an Personen, die das nahe Seebad gebrauchten und diesen stillen Ort dem geräuschvollen Hafenstädtchen vorzogen.

Im Winter stand diese kleine Räumlichkeit leer. – Helene miethete sie. Es war, so zu sagen, neutraler Grund, hierher durfte Holm kommen, wenigstens in seinen Promenadenstunden, hier war sie nicht unterm Dache des Obristen.

Liebevoll schmückte sie den kleinen Raum mit Allem, wovon sie glaubte, daß es dem Freunde erwünscht sein möchte.

Sie kaufte einen Stehflügel, der den Platz nicht zu sehr verengte, ein zierliches Ecksopha. Sie brachte ihre Blumen hierher, und am Weihnachtstage war sie zum erstenmal einige Stunden mit dem leidenden Freunde hier vereint.

Bis hier reichte des Obristen Macht nicht, die Vermiethung des Zimmers konnte er nicht hindern, sie war contractlich dem Marketender gestattet.

Er konnte Holm seine Promenadenzeit nicht rauben, nicht beschränken, wenn er sie nur im Raume der Festung zubrachte.

Er konnte Helenen nicht ausweisen, denn welchen Grund hätte er dazu gehabt, Helene war die Freundin seiner Gattin, seine mehrjährige Hausgenossin, ein unbescholtenes Mädchen.

Freilich hörte ihre Unbescholtenheit jetzt auf.

Die alten Soldaten lachten, wenn sie den Doktor Holm in die Behausung des Marketenders treten sahen und sagten Zoten.

Die Obristin besuchte Helenen nicht und ließ sie nicht vor.

Hermine wächst heran, sagte sie zu ihrem Gatten, und man kann ein junges Mädchen nie genug behüten vor dem Anblick der Leidenschaft und ihrer traurigen Folge, einem unsittlichen Lebenswandel.

Helene Müller war eine Ausgestoßene, sie wäre eine Heldin genannt worden, hätte sie Holms Namen vor seiner Einkerkerung geführt.

In ihrem Hause und Herzen wohnte aber dennoch das Glück. Es breitete seine purpurgoldnen Flügel aus zwischen ihr und der Welt.

Die Stunden, da sie den Mann, dem sie so viel geopfert, um sich hatte, waren durchglüht, durchduftet von reinster, gegenseitiger Liebe, und war er fern in seinem einsamen Kerker, so arbeitete sie für ihn, ihm jeden Augenblick zu erleichtern, ihm jede Bequemlichkeit, jeden Genuß zu verschaffen, den seine Lage gestattete.

Sie interessirte sich lebhaft für die Gegenstände seiner Studien und strebte sie sich zu eigen zu machen. Sie trieb mit Eifer Musik, singen konnte er sie hören, auch wenn er in seinem Kerker war, ihre volle Stimme tönte über den kleinen Raum zu ihm hin. Sie nähte, sie strickte für ihn. Ihr ganzes Ich ging auf in dem Wunsche, ihn zu beglücken.

Und der Gefangene, der bürgerlich Todte, war glücklich in dem Besitz eines liebenden, hingebenden Weibes.

Obrist Aarhorst hielt sein Wort, er hatte die Trauung verhindert, dem ernsten entschiedenen Willen eines liebenden Weibes hatte er keine Fessel anlegen können.

Und es vergingen Jahre!

Holm war im Wissen und Wollen vorgeschritten in der einsamen Festung. Helene hatte die Welt vergessen, die hinter ihren Mauern lag. Sie lebten für Einander für Wissenschaft und Natur; denn die Natur ist auch im begrenztesten Raume, Morgen- und Abendroth vergoldet den Himmel überall. Die Pracht des Sternenhimmels deckt auch den kleinsten Fleck der Erde mit einem Mantel von Gold und Azur, und überall, wo der Mensch steht, sieht er sich im Mittelpunkt des Weltalls.

Es war Pfingsten des Jahres 1838. Helenens kleines Zimmer war mit Blumen geschmückt, die Sonne schien lachend und goldig in die erblindeten Fenster, welche blendendweiße Filetgardinen, die Winterarbeit Helenens, zierten.

Die Kaffeemaschine stand auf dem gedeckten Tisch und daneben Holms Lieblingskuchen, den Helene besonders gut zu backen verstand.

Seit einem Jahre hatte sie außer ihrem Zimmer noch einen Ort in der Welt, an dem ihr ganzes Herz hing. Einen kleinen grünen Hügel auf dem Kirchhof der Festung. Ein zweijährig Kind schlief darunter. Ein junger Apfelbaum stand zu Häupten desselben und eine Porzellanplatte an seinem Stamm trug den einen Namen: Eduard.

Dorthin ging Helene, wenn die Sonne sank, und Holm in seinem einsamen Kerker studirte, um zu weinen.

Den Obristen und Clara sah sie nur von weitem.

Es vergingen oft Monate, ohne daß sie eine andere Menschenstimme hörte, als die ihres Gatten und die Stimmen der alten Leutchen, die sie bedienten und unsäglich liebten.

Sie sah das Aus- und Einrücken der Baugefangnen, das Exerzieren der alten Invaliden, den Wechsel von Sommer und Winter, es schienen ihr gleich nothwendige, von Naturgesetzen abhängige Ereignisse zu sein.

Etwas Träumerisches, etwas Dunkles und Schweres lag auf ihrer Seele und verschwand nur in Holms Nähe, an dem sie jetzt mit tausendfach stärkeren Banden hing, als zur Zeit, da sie, um ihm anzugehören, alle andern Banden brach, die sie ans Leben geknüpft hatten.

Die Stunde, in der Holm zu kommen pflegte, hatte geschlagen, Helene zählte die Minuten bis zu seinem Eintritt – er kam nicht.

Der Zeiger der Uhr rückte von Punkt zu Punkt vor, der Hammer hob sich – es war eine Stunde verflossen von denen, die ihr gehörten.

Eine entsetzliche Angst bemächtigte sich ihrer, war er krank, todt – würde im erstern Falle Aarhorst, der sie fast zu hassen schien, ihr den Eintritt in Eduards Kasematte gestatten?

Tausend sorgenvolle Gedanken fuhren durch ihren Kopf.

Da öffnete sich die Thür, Eduard trat ein!

Er war bleich, seine dunkeln Augen schienen Feuer zu sprühen, seine Lippen zuckten.

Sie wollte ihm entgegenfliegen, ihn ängstlich fragen, was ihm begegnet, aber ungestüm warf er sich an ihre Brust.

Frei, frei! Helene, ich bin frei! war Alles, was sich dem erregten Herzen entwand, und erst als eine Thräne brennend heiß dem Männerauge entquollen und sich mit den strömenden Thränen der Freundin gemischt hatte, beruhigte sich der Aufruhr seiner Seele.

Jetzt trennt uns nichts mehr, nichts mehr in der Welt, mein treues, mein geliebtes Weib, Du meine Trösterin, meine einzige Stütze! war der erste Gedanke, dem Holm nach dem Niedersinken des heftigsten Freudenrausches Worte gab, und Helene trug dies Wort mit dankbarer Liebe in ihrem Herzen.

Holm verdankte seine Begnadigung dem Regentenwechsel. Es war bei seiner Thronbesteigung eine der ersten Handlungen Friedrich Wilhelm des Vierten gewesen, allen politischen Gefangenen die Freiheit wiederzugeben.

Auf Helenens Rath und Wunsch wählte Holm Danzig zu seinem künftigen Aufenthaltsort.

Ein bedeutender Arzt war eben gestorben und es war zu hoffen, daß ein Mann von Holms Kenntnissen und angenehmem Wesen sich dort in Kurzem einen passenden Wirkungskreis eröffnen könne.

Die kirchliche Trauung Helenens und Holms war immer noch nicht vollzogen, als sie nach Danzig abgingen. Es sind in Preußen bei einem solchen Acte stets eine Menge von Formalitäten zu beseitigen. Die Einwilligung der Eltern der Verlobten, oder ihre Todtenscheine müssen herbeigeschafft werden. Eine dreimalige Bekanntmachung ihres Vorsatzes, sich zu verheirathen – die sogenannte Aufbietung, muß von der Kanzel herab bekannt gemacht werden, sowohl an ihrem Wohnorte, als auch an dem letzten Orte, wo sie sich mindestens 7 Monate aufgehalten haben.

Holm hatte bei ihrem Umzuge nach Danzig eine kleine anständige Wohnung in der Vorstadt Neugarten für Helene gemiethet, er selbst bezog ein Paar möblirte Zimmer in der Stadt und begann seine Visiten zu machen.

Die Idee dieser Trennung war von ihm ausgegangen. Du kannst nicht bei mir wohnen, liebe Helene, sagte er, es würde meinem Rufe schaden, und als Arzt muß ich schon der öffentlichen Meinung ein Opfer bringen.

Sie hatte darauf keine Antwort, aber es war der erste stechende Schmerz, der ihre Brust durchzog, es war das Brandmal der Unehrlichkeit an ihrer Stirn, auf das seine Hand zuerst zeigte.

Seltsame Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft. – Es schadete dem Doktor Holm keinen Augenblick, in der Achtung seiner neuen Mitbürger, daß es bekannt war, eine schöne und junge Dame habe auf der Festung mit ihm in wilder Ehe gelebt und befinde sich auch jetzt seinetwegen in Danzig. –

Er war gern gesehn, wo er sich zeigte, er war sehr bald sogar der Mann nach der Mode.

Helene dagegen war eine Ausgestoßene, die Dienstmädchen am Brunnen ihr gegenüber zischelten und lachten, wenn sie sich am Fenster zeigte, Niemand würde den Besuch der »Schönen des neuen Doktors« angenommen haben, Niemand zeigte ihr Achtung oder Theilnahme.

Holm brachte die meisten seiner Freistunden bei ihr zu, aber er hatte der Freistunden nur sehr wenig. Er gab und empfing Krankenbesuche und hatte bald einen Kreis von Bekanntschaften.

Landpartien wurden gemacht, eine Meerfahrt verabredet, es gab Gesangvereine, musikalische Kränzchen. Helene war allein! Tage lang, Abende lang allein mit dem trüben Bewußtsein, daß es nicht so sein dürfte, daß es jetzt an Holm sei, ihr Opfer für Opfer zu bringen, ja daß es für ihn kein Opfer sein müsse, seine Zeit bei derjenigen zu verbringen, deren Ein und Alles er war. Sonderbarer Weise galt Holm für einen reichen, wenigstens sehr wohlhabenden Mann. Seine Garderobe, seine ausgezeichnete Wäsche, ein Solitär den er in einer Tuchnadel trug, – er war ein Erbe von Helenens Vater – und die Geldsummen über die er bei einem bedeutenden Handlungshause zu verfügen hatte, gaben ihm diesen Ruf.

Zwar wußten die Herren Heidtveld und Compagnie, daß dies Geld dem Fräulein Helene Müller gehöre, und daß Dr. Holm von dieser nur gerichtlich autorisirt war, ihre Zinsen in Empfang zu nehmen, aber Niemand fand das wahrscheinlich – Helene Müller galt für ein unterhaltendes Mädchen, und der Doktor für einen rechtschaffenen Mann, der sie nicht verließ. –

Wenige Tage schon nach seiner Uebersiedelung nach Danzig, traf Holm einen Bekannten, dessen Wiedersehen ihm Freude machte, General Michalsky. Er bewohnte mit seiner Familie ein Landhaus in Langefuhr und lud seinen ehemaligen Leidensgenossen mit großer Freundlichkeit dahin ein.

Helene plättete seine Wäsche zu dieser Fahrt, sie weitete ihm die neuen Glaceehandschuhe und bürstete seinen Hut.

Als er ihr Abschied nehmend einen Kuß gab, sagte sie:

Grüß den General, lieber Eduard, wenn Du Dich nicht schämst, mich in seiner Gegenwart zu nennen.

Er sah sie an, sie war sehr bleich und mager geworden, seit ihrem Aufenthalt in Danzig.

Du bist ein Kind Helene! Wenn ich Deinen Namen vor fremden Ohren nicht nenne, so unterbleibt dies, weil er mir zu heilig dazu ist und Du meine Freundin mußt dies ja wohl wissen.

Sie streichelte sein dunkles lockiges Haar. Du bist gut Eduard, aber die Welt ist böse, setzte sie seufzend hinzu, als er hinwegeilte. –

General Michalsky's Familie bestand aus seiner Gattin und 3 Töchtern. Sein einziger Sohn war in der Schlacht bei Praga geblieben. –

Frau von Michalsky, eine große, stolze, noch schöne Dame, war das Muster einer Mutter und auch als Hausfrau anmuthig und würdig. –

Leonie, die älteste Tochter eine stolze, prächtige Schönheit machte auf Holm einen überraschenden Eindruck.

Sie hätte fast zu groß scheinen können, wenn nicht eine außerordentliche Zartheit und Schlankheit der Glieder, ihrer Gestalt eine Biegsamkeit verliehen hätte, die alles Unweibliche entfernte. Ihr Haar, das sie gescheitelt um die schöne Stirn trug, war dunkelblond reich und seidenhaft und ihre braunen Augen besonders im Niederschlagen entzückend.

Sie war höchstens 22 Jahre alt und ihr ganzes Wesen atmete eine tiefe Schwermuth, die wie ihre Familie oft aussprach, dem Unglück ihres Vaterlandes und dem Andenken ihres heißgeliebten, ältern Bruders galt.

Als Holm der schönen Leonie vorgestellt wurde, erröthete und erbleichte sie abwechselnd und kämpfte sichtlich gegen ihre hervorbrechenden Thränen. Es ist nicht zu leugnen, daß Holm, als er später allein war, sich eben so lang mit der Schönheit als mit der eigenthümlichen Verwirrung seiner neuen reizenden Bekanntin beschäftigte. –

Helenen erzählte er wenig von den Menschen mit denen er lebte, ich werde Dich bald unter sie führen, sagte er nur, und Du wirst sie Alle mit Deinen Augen sehen und durch Deinen weiblichen Scharfblick, vielleicht häufig mein Urtheil berichtigen. Von Leonie's großer Schönheit sprach er aber doch, und neidlos hörte sie Reize preisen, die den ihrigen so unähnlich waren. Ich freue mich die schöne Polin kennen zu lernen, sagte sie lächelnd und will sie recht betrachten, Anzug, Manier und Bewegung studiren, um mir einzuprägen, was Du idealisch schön nennst und wenn es sein kann, es nachzuahmen. –

Das dürfte Dir schwer werden, Helene, rief Holm etwas vorschnell, Du warst und bist außerordentlich schön, aber Du bist ein schönes Weib, ein reizender Körper, von dem ich weiß, daß eine schöne edle Seele ihn bewohnt.

Leonie's Körperlichkeit erscheint nicht wie die Wohnung, nur wie der Schleier der Seele, man wähnt, daß die Fittige nur verdeckt sind, die jeden Moment den Seraph nach oben führen könnten.

Helene warf einen fast entsetzten Blick auf den Sprecher, doch Holm fügte scherzend hinzu, indem er sie schmeichelnd an seine Brust zog, ich könnte mir Leonie nicht vorstellen in den Armen eines Mannes, Liebe gebend und empfangend, aber ich wünschte sie gemalt zu sehen, schwebend über der Erdkugel, uns armen Sündern Vergebung verkündend. Helene mußte lächeln, als er ihren Kopf empor hob, wie nach einer himmlischen Erscheinung zu sehen, und dabei schnell einen heißen Kuß auf den halb offnen Busen drückte.

Holm ward häufig in den Familienkreis des Generals gezogen.

Michalsky fand an dem jüngern Freiheits-Enthusiasten großen Geschmack, und so verschieden auch die Ansichten des aristokratischen polnischen Edelmanns, und des deutschen Demagogen sein mochten, sie trafen in dem einen Punkt zusammen, in der Unzufriedenheit mit dem Jetzt, mit der bestehenden Ordnung.

Die Generalin fand, als Leonie, die dies im ersten Augenblick bemerkt hatte, sie darauf aufmerksam machte, eine große Ähnlichkeit zwischen Holm und ihrem verstorbenen Sohn Bogeslav, und freute sich zu hören, daß er auch diesen Namen trüge.

Thekla und Hortensia, die jüngern Töchter hörten ihm gern von Schönberg, von seinen Studentenjahren, von seinen frühern Reisen erzählen, und so war Niemand im Hause, der ihm nicht wohl wollte.

Er selbst interessirte sich am meisten für die schwärmerische Leonie, die in ihm das Ebenbild ihres dahingeschiedenen Bruders zu vergöttern begann. Was auch Holm sagte und that, es erinnerte sie Alles an Bogeslav, und oft hingen ihre Augen thränenvoll an den Zügen, die sie an eine glücklichere Vergangenheit mahnten.

Holm musicirte und las häufig mit ihr und mit Entzücken nannte die Jungfrau in mancher stillen Stunde, den gefährlichen Fremden ihren wiedergefundenen Bruder. Es ist nicht zu leugnen, daß dies eigenthümliche Verhältnis; für Holm etwas sehr Anziehendes hatte. Doch war er sich gewiß bewußt, daß Leonie keine leidenschaftliche Liebe in seiner Brust entzünden könne, und hielt es daher nicht für nöthig mit Helene darüber zu sprechen.

Die Todtenscheine und Alle sonst zur Trauung nöthigen Papiere waren immer noch nicht angekommen und er begann recht ungeduldig zu werden.

Doch hielt er es jetzt selbst für nöthig, seine Freundin seltner zu besuchen, um auf ihren Ruf keinen neuen Makel zu werfen.

Die Generalin äußerte sich darüber bisweilen im Kreise ihrer Familie, denn wie viele Damen ihres Alters und Charakters wußte sie stets sehr genau, was ihre Bekannten eben thaten und ließen.

Der junge Mann, sagte sie, jetzt wieder in anständiger Gesellschaft lebend, sieht das Unschickliche seines Verhältnisses ein und wird, sobald er die Anforderungen des Frauenzimmers befriedigen kann, sich ganz von ihr lossagen. Solche Geschöpfe aber machen oft unverschämte Pretensionen, und ich kann mir denken, wie manche unangenehme Stunde er mit der Mamsel haben mag. Aber hierin bin ich wirklich unbarmherzig, ein Mann, der sich in solche niedrige Verhältnisse einläßt, findet kein Mitleid bei mir, wenigstens so lange nicht, bis er sich auf eine würdige Weise herausgezogen hat.

Und kennst Du denn das unglückliche Mädchen, fragte Leonie theilnehmend?

Das nicht mein Kind, aber diese Geschöpfe sind alle gleich, Schamlosigkeit ist die Wurzel aller Sünden und Verbrechen bei unserm Geschlecht, und diese Helene muß ein gut Theil davon besitzen!

Leonie konnte sich selbst nicht genaue Rechenschaft geben, weshalb die Geliebte Holms, so großes Interesse für sie habe, aber sie hatte viel darum gegeben, Helenen irgend einmal zufällig zu sehen, und nun diesen Zufall herbeizuführen ging und fuhr sie sehr häufig über Neugarten und betrachtete die Fenster des Hauses, das ihr ein Stubenmädchen einst als die Wohnung der Schönen des Doktors bezeichnet hatte.

Aber nie erblickte sie den Gegenstand ihrer Neugierde.

Dagegen sah sie einst Holms Hut auf dem Tischchen am Fenster stehen und ein anderes Mal seinen kleinen Seladon, einen reizenden, seidenhaarigen Hund, auf dem Fensterbrett sitzen, der mit gelangweiltem Gesicht in die Straße stierte und plötzlich bellend und wedelnd der erröthenden Leonie zu verstehen gab, daß er seine Freundin auch in der Ferne erkenne.

Sie wußte nun, daß Holm bei Helene sei und empfand einen recht tiefen lebhaften Verdruß, ja einen wahren Seelenschmerz bei dem Gedanken an das unwürdige Verhältniß, in dem Holm so reuelos fortlebe.

Während ihr Wagen durch das olivaer Thor und die prächtige Lindenallee rollte, dachte sie sich Holms Zukunft an der Seite eines Weibes, das ihn weder verstehen noch würdigen könne, und Thränen perlten stille über ihre zarten Wangen. Es waren aber Thränen des Mitleids und der reinsten Bewunderung, denn hoch schlug ihr Herz auf bei dem Gedanken an den unaussprechlichen Edelmuth ihres Freundes, der durch das Elend eines ganzen Lebens für eine so leichte, so verzeihliche Jugendverirrung zu büßen entschlossen sei, und ehe sie noch bei dem älterlichen Hause abstieg, kam es ihr vor, als ob den Unglücklichen, Aufopfernden, Edlen ein Heiligenschein krönen müsse, und sie nahm sich fest vor, ihm jeden schicklichen Beweis von Achtung und Freundschaft so recht aus tiefstem Herzen zu geben.

Sie fand ihre beiden Schwestern Federball spielend im Garten. Die jungen Mädchen liefen ihr entgegen und schlugen vor, da die Mama erst spät heimkehre, noch rasch den Johannisberg zu besteigen, und zum Schutz den alten Jannek mitzunehmen.

Leonie war ganz in der Stimmung zu solcher Mondscheinpartie.

Der alte Jannek wurde sogleich gerufen, Hortensia belud ihn mit einem Korbe voll Zwieback und Obst, hing ihre Mantille über seinen Arm und fort eilte die kleine Gesellschaft, selbst Leonie zu einem ziemlich eiligen Schritt zwingend.

Oben liefen die jüngern Mädchen aus einem Busch in den andern. Leonie dagegen setzte sich auf eine Bank mit der weiten Aussicht über Langefuhr – auf's Meer und fuhr fort, ihren Gedanken nachzuhängen.

Ehe sie sichs versah, hatte sich die arme Helene in ein wirkliches Ungeheuer verwandelt, gleich häßlich von Körper, als von Seele.

Sie weinte, weinte über ihres Freundes Geschick und hörte nicht eher, daß Fußtritte sich ihr näherten, bis eine auffallend schöne Dame neben ihr Platz nahm und mit hoher Anmuth sich dabei verneigte.

Leonie betrachtete die Fremde deren Graziengestalt durch einen geschmackvollen Anzug gehoben wurde. –

Schwarze Locken quollen üppig unter einem italienischen Strohhütchen hervor. Augen voll Geist und Güte, der schönste Mund und ein edles griechisches Profil bildeten ein Ganzes, das bei der Begrüßung von einem plötzlichen flüchtigen Roth überhaucht, den vollkommensten Schönheitsbegriffen hätte genügen können.

Aber auch noch als die natürliche Blässe der Fremden zurückkehrte, mußte Leonie sich gestehen, wenigstens nie ein schöneres Weib gesehen zu haben.

Leonie hätte die Dame gern angeredet, diese schien indeß nur Jemanden zu erwarten, heftete ihre schönen Augen fest, auf den fernen Fußpfad und stand mit einem höflichen Abschiedsgruß auf, als das Gebell eines Hundes sich unter den Bäumen vernehmen ließ.

Auf dem Heimgange erzählte Thekla, daß sie den Doctor Holm gesprochen, der mit Seladon und einer sehr schönen Dame den Berg hinaufgestiegen, doch sei diese Dame während ihres Gesprächs allein vorausgegangen und erst später habe er sie wieder zurückgeführt. –

Wer muß das sein? dachte Leonie mit unglaublichem Interesse, denn ihre schöne Nachbarin fiel ihr ein und es erschien ihr auffallend, daß Holm Abends, allein auf einem so fernen Spaziergange getroffen worden.

Als indeß nach ein Paar Tagen Thekla ihn neugierig nach der schönen Fremden fragte, hörte sie, wie er halb lachend, halb piquirt sagte:

Eine Fee war's, Fräulein Thekla und noch dazu eine, die Ihnen unsichtbar bleiben wollte, schönste Prinzessin, verrathe ich nur ihren Namen, so würde ich stumm und Sie blind – welch' schauderhaftes Unglück. –

Helene war indeß an jenem Abend über alle Vorstellung unglücklich gewesen. Holm hatte sie dringend, zu einer Spazierfahrt nach jenem schönen Punkte Danzigs aufgefordert. Er hatte nämlich Leonie in der Stadt gesehen, wußte den General und seine Gemahlin in einer Gesellschaft und schloß, daß die ganze Familie von Langefuhr abwesend sei.

Als er nun mit Helenen am Arm den Berg hinanstieg, überraschte, es ihn sehr unangenehm, Thekla's heitere Stimme zu hören, er bat die arme Helene schnell, einen Seitenweg einzuschlagen und ihn bei der Bank oben zu erwarten.

Sie ließ seinen Arm los und ging langsam den bezeichneten Pfad, die Mondstrahlen tanzten vor ihren Augen, ein Schleier schien sich über die ganze entzückende Gegend zu breiten, sie fühlte zum erstenmal deutlich, ganz deutlich, daß Holm sich ihrer und ihres Verhältnisses schäme. Sie sah Leonie und wagte nicht ihren Begleiter in dieser Gesellschaft zu erwarten, um ihn nicht abermals in Verlegenheit zu setzen, sie ging ihm daher entgegen, und das erste Wort was sie aus seinem Munde hörte, war ein leiser Fluch, wegen seines Mißgeschicks das heute, eben heute, seine hochmüthigen Bekannten ihnen in den Weg führe.

In der Nacht, welche diesem Vergnügen für Helene folgte, lag sie auf den Knien vor ihrem unberührten Bette. Krampf auf Krampf zog ihre Brust zusammen, ihr Licht war erlöscht, Fieberdurst trocknete ihre Lippen, sie hatte Niemanden, der ihr auch nur einen Tropfen reichte, denn ihre Wirthsleute schliefen in einem andern Stockwerk und der grauende Morgen fand sie die nackten Füße von ihren aufgelösten schwarzen Locken überfluthet, auf der kalten Diele kniend, die heißen Augen in die Bettdecke gedrückt.

Dennoch erkrankte sie nicht, ja, als Nachmittags Holm freundlich bei ihr eintrat und erschreckt ob ihrer Todesblässe sie liebevoll auf's Sopha legte, ihre Schläfen mit Wein rieb, und mit sichtbaren Zeichen der Angst ihren Pulsschlag erforschte, da lächelte sie wieder unter sanften Thränen und als er ihre Hände küssend, sie so liebevoll bat, sich für ihn zu schonen, seinetwegen an ihre Gesundheit zu denken, da schalt sie sich selbst wegen ihrer Empfindlichkeit, fand Eduards Benehmen in seiner Lage ganz natürlich und schwur sich im Stillen, Herr ihrer krankhaften Reizbarkeit zu werden.

Leonie hielt sich selbst Wort, sie zeigte bei jeder Veranlassung ihrem Freunde, wie sehr sie ihn schätze und bedauere, und Holm, der ihre sanfte Stimmung, ihre süße Freundlichkeit gegen sich mit großem Vergnügen empfand, trat der schonen Polin allmälig näher und näher.

Leonie entzog ihm ihre Hand nicht, wenn sie auf der Moosbank im Garten zusammen lasen, sie nannte ihn häufig mein Freund, mein theurer Bruder.

Die Generalin sah dieser Verbindung ganz ruhig zu, in dem festen Glauben, daß Holm seine Augen zu ihrer Leonie in Liebe zu erheben wage. Dies aber wäre der würdigen Dame ziemlich erwünscht gewesen, denn schon war seine Stellung in Danzig so glänzend, daß sie eine ausgezeichnete Zukunft versprach.

Holm fand sich fast einheimisch in diesem Familienkreise, und es gab Stunden, wo er sich herzlich darauf freute, Helene und Leonie mit einander bekannt zu machen. Dann aber auch war es ihm ein angenehmer Zeitvertreib, der stolzen und schüchternen Sarmatin ein kleines Liebeszeichen nach dem andern zu entwinden, und wie ruhig und theilnahmlos er sich auch anscheinend bewegte, die schöne Leonie fühlte dies mit unverholenem Entzücken.

Er liebt mich, o, er liebt mich! jubelte es in ihr, wenn er im Gespräch mit Andern dennoch auf jede ihrer Bewegungen merkte, jedes ihrer Worte hörte, und dann beweinte sie sein Geschick, das ihn an eine Andere knüpfe, an eine so verächtliche Andere!

Sie stand mit ihm als der Herbst begann und sah aus das fallende Laub, Holm hatte heute eben die erwarteten Papiere erhalten und freute sich mehr, als Helene jetzt zu hoffen wagte, ihrer nahen Verbindung.

Leonie aber, die ihm zwar keinen Kuß, aber tausend andere sprechende Liebeszeichen gegeben, bedauerte er innig und schämte sich ein wenig des Spiels, das er mit dem schuldlosen Herzen der Jungfrau getrieben.

Diese indeß, seine weiche Stimmung nach ihren Gefühlen auffassend, malte sich im Stillen seinen Kampf zwischen Liebe und Pflicht, und zum Erstenmal ging ein Wort, sein Verhältniß zu Helenen betreffend, über ihre schönen Lippen.

So wissen Sie es denn schon, daß ich bald ein Bündniß schließen werde, welches – mir dauerndes Glück verspricht, wollte er sagen, aber er sah Leoni's. krampfhaftes Erbeben und veränderte den Nachsatz in: welches Ehre und Pflicht gebieterisch von mir fordern.

Theurer, edler, großmüthiger Freund, rief Leonie plötzlich in Thränen ausbrechend, o wie beklage ich Sie, wie beklage ich mich selbst.

In diesem Augenblick hatte ein festes und liebereiches Wort über der armen Helene Charakter von Holm gesagt werden müssen. Dieser aber, von dem Schmerz und Liebreiz der Anwesenden gerührt, zog es vor, mit sanfter Liebesstimme schöne, beruhigende Worte zu flüstern, die zwar keinen Zusammenhang, aber doch etwa den Sinn eines Abschieds von der Heißgeliebten hatten, von der Pflicht und Ehre und ein verpfändetes Wort ihn für das Leben trennten.

Leonie's Augen hingen an seinen Lippen, ihre Thränen fielen warm und sanft zu Boden.

Fassen Sie Muth, mein theurer Bruder, sagte sie mit erhobenem Gefühle, behalten Sie Kraft zu dem Opfer, daß Sie der Pflicht bringen und möge in jedem Lebensverhältniß der Gedanke, daß Leonie Sie geliebt, Ihnen einigen Trost gewahren.

Er fühlte sich versucht, seinen Arm um ihren Leib zu schlingen und wollte einen leisen Kuß auf die schönen begeisterten Lippen drücken. Aber Leonie entzog sich ihm rasch und heftig, lassen Sie mir bei dem Gefühl des Schmerzes die Gewißheit, daß ich mir nichts vergab, sprach sie stolz und trat zur Gesellschaft zurück.

Holm aber dachte lächelnd: Der Tausend, das war pathetisch, und wollte sich eben empfehlen, um zu Helene zu eilen, als Leonie, die eine kurze Zeit abwesend gewesen, an ihm vorbeischlüpfte, etwas in seinem Hut befestigte, den er bald darauf sich verabschiedend ergriff.

Helene empfing ihren Geliebten mit der süßesten Freude, und schon war er in freundlicher Herzensergießung nahe daran, ihr von Leoniens Liebe in einem ziemlich launigen Tone zu erzählen, doch überlegte er noch zur Zeit, wie unedel ein solcher Verrath sei, und wie leicht man für Männer Koketterie auslegen könne, was doch nur das Werk sonderbarer Zufälligkeiten gewesen.

Er schwieg also und ging in seine Wohnung, aber er nahm statt des Hutes ein Sammtkäppchen, das sich weicher um die heiße Stirn schloß und warf sich zu Hause ermüdet aufs Bett, viel an seine Helene, ein wenig an die schöne Leonie denkend.

Die Letztere war indeß auf ihrem einsamen Zimmer, das Herz so von Gedanken an Holm erfüllt, daß nichts, nichts in der Welt weiter Platz darin fand.

Sie saß still, ganz still und schaute auf eine Stelle und wiederholte sich jedes Liebeswort, des Angebeteten, jeden Blick seines dunkeln denkenden Auges und weinte in sich hinein, an seine und ihre Zukunft denkend.

Bisweilen zuckte der Gedanke durch ihre Brust, die schöne Fremde vom Johannisberge möchte wohl Holms Braut sein, aber sie verwarf ihn als ganz unstatthaft und wenn er sich dennoch ihr aufdrängte, ward ihr fast verzweifelt zu Muth. Nein, nein! dies reizende Geschöpf mit dem Blick voll Seelengüte, wie konnte das eine Elende, Gefallene so lange im niedrigsten Verhältniß lebende Person sein. Und von neuem beweinte und bewunderte sie ihren Geliebten und ein wenig auch sich selbst, die mit ihm ein so großes Opfer brachte.

Helene indeß legte, als Eduard sie verlassen, nach gewohnter Weise jede Kleinigkeit an ihren Ort. Sie empfand reines bräutliches Glück und dachte selig lächelnd an die nächste Zukunft.

Sie betete um Kraft, Alles, Alles zu thun, was den Freund ihres Lebens dauernd und ganz, beglücken könne und hatte mit hausmütterlicher Vorsicht Holms Hut ergriffen, ihn mit einem seidnen Tuch zudeckend, war sie eben im Begriff, denselben in einen Schrank zu stellen, da fiel ein Zettel heraus und in ihre Hand, er war offen, von einer schönen Frauenhand und ahnungslos las sie die Worte desselben:

 

Mein Freund! Mein Eduard! Mein Bruder! Mein Geliebter!

»So hast Du denn unwiderruflich beschlossen, der Pflicht das höchste Opfer zu bringen, dessen ein Menschenherz fähig? O ich bewundere Dich, indem ich dabei vergehe! Möge das beweinenswerthe Geschöpf, dem Du Dein schönes Leben hingiebst, ahnen, was sie in Dir empfängt, o möge sie die Höhe der Großmuth fassen, mit der Du Dein Glück opferst, um ihren Leichtsinn zu büßen. Wenige Männer dieser Zeit fühlen, handeln wie Du, aber auch wenige, wohl keiner, werden erkannt, wie ich Dich erkenne, geliebt, wie ich Dich liebe, und wenn ich Dir mit gebrochenem ' Herzen für diese Welt Lebewohl sage, so hoffe ich auf einem schönem Stern Dich zu empfangen und Dir dann zu zeigen, wie sehr, wie heiß, wie ewig Dich liebt

Deine
Leonie.«

 

Der Brief sank zu Boden und Helene auf ihre Knie, ich danke Dir mein Gott, ich danke Dir, daß Du mir Gelegenheit giebst, ihm die Größe meiner Liebe zu zeigen, ehe ich sterbe, betete sie; preßte nur einen Augenblick die Hand auf ihr Herz, hob ihre Augen zum Himmel und ging dann mechanisch an alle Kisten und Schränke, ein Päckchen Wäsche zusammenfügend, so klein, daß ihre bebende Hand es zu tragen vermochte.

O daß ich nur eine Locke oder sein Bild hätte, dachte sie schmerzlich, aber es war ja nichts da als der Hut, aus dem sie eifrig das Seidenfutter trennte, es nebst Leonies Zeilen an ihrer Brust verbergend. Dann setzte sie sich nieder, um einen Abschiedsbrief an Holm zu schreiben, aber die Gedanken versagten ihr, sie starrte das Papier an und schrieb endlich nur auf ein Blatt:

 

»Verfüge über mein Eigenthum als ob ich gestorben wäre, bete für mich und sei glücklich!

Helene.«

 

Dann hüllte sie sich in ihren seidnen Mantel, steckte eine Börse mit zwei Goldstücken zu sich und ging aus dem Thore eben, als man dasselbe schließen wollte.

Holm war am andern Morgen sehr beschäftigt. Er besuchte einen Moment als Arzt das Haus des Generals und zeigte sich gegen Leonie so ernst, so fremd, daß diese seine Manneskraft bewunderte. Spät Abends eilte er noch zu Helene.

Er trat still ins Zimmer und die tiefe Dunkelheit befremdete ihn einigermaßen, er rief ihren Namen, öffnete, von plötzlicher Angst ergriffen, den Vorhang des Fensters, und da die Wandstrahlen ihm den wüsten Zustand des Zimmers zeigten, stürzte er hinab zu den Wirthsleuten, jetzt zum ersten Mal nach seiner Braut fragend.

Wenn sie die Mamsel Helene meinen, sagte die alte hämische Wirthin, so ist die gestern um 10 Uhr noch ausgegangen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt, wir dachten sie ginge zu Ihnen und haben uns weiter darum nicht bekümmert.

Geben sie mir Licht, sagte Eduard gepreßt, und folgen Sie mir in die Zimmer.

Man ging, man durchsuchte jeden Winkel und Holm fand auf dem Schreibetisch jene Abschiedszeilen Helenens, die ihm keinen Zweifel ließen, daß sie sich aus eigner Wahl von ihm entfernt.

Aber warum? großer allmächtiger Gott, warum? jetzt da er endlich am Ziel seiner Wünsche stand, die ja auch die Ihrigen sein mußten, jetzt, da das Leben sie so heiter anlächelte, da die Zukunft ihnen Glück und Segen verhieß. Er hatte sie verloren, jetzt, jetzt verloren, da er fürs Leben sie zu besitzen, zu beglücken hoffte und im tiefsten Jammer warf er sich über das unberührte Bett, und weinte bitterlich. Thränen sind ' eine eigenthümliche Erleichterung, Holm weinte sich die Verzweiflung vom Herzen, und tausend Gedanken über die Ursache von Helenens Flucht, über ihren Aufenthaltsort, gingen durch seinen Kopf.

Man hatte ihn bei Helene angeschwärzt, man hatte ihr Zweifel an seiner Liebe, seinem Character beigebracht – aber wer? – Wer kannte die Einsame?

Ein Gedanke an Untreue von ihrer Seite flog dann durch sein erhitztes Gehirn und Eifersucht schnürte ihm plötzlich die Kehle zusammen und jagte das Blut durch seine Pulse.

Aber Nein, nein! o er wußte ja am Besten, wie treu, wie rein, wie aufopfernd dies Herz ihn geliebt hatte, auch kannte sie ja kein Menschwesen in der großen Stadt, die ihr noch immer eine Oede gewesen war. –

Räuber dachte er dann, Mord, Gewalt und er fand diese Auflösung so passend und natürlich, daß er ohne Verzug zu dem Polizei-Präsidenten rannte und dem aus dem Schlaf gerüttelten, etwas weinseligen Mann, die Geschichte von der Fortschleppung seiner geliebten Braut, mit der Hast eines Menschen erzählte, dessen Lebensseligkeit an der Minute hängt.

Aber werther Herr Doctor, bester Freund, unterbrach ihn dieser, eine Braut, Ihre Braut? Herr Gott des Himmels doch nicht die schöne Polin, die anmuthige Leonie?

Nein, nein! sagte Holm, o ich elender Thor, der ich das Glück und den Stolz meines Lebens bis zu dem Augenblick verbarg, da es mir entrissen wurde.

Er erzählte nun Alles, was von seiner Verbindung mit Helene der hochlöblichen Polizei zu wissen Noth that, und indem er sich der Großmuth, der Treue, der Liebe seiner sanften und edeln Freundin lebhaft erinnerte, erschien ihm seine eigene Lauheit als der schwärzeste Undank, als der niedrigste, unmännlichste Verrath.

Allerdings sonderbar, sagte der Polizei-Präsident, aber liebster, bester Doktor, nehmen Sie mirs nicht übel, es ist nur so eine Vermuthung, sollte es Ihnen hier nicht gehen wie dem Marschall von Holm, Ihrem Namensvetter, in Bürgers Lied von der Treue, und sollte nicht irgend ein Junker von Stein, eher als die ehrlichen Observaten hiesiger guten Stadt, an der Flucht der Schönen schuld sein, besonders da Geld und Kleider nicht abhanden gekommen, in diesem Falle aber, Herzens-Doktorchen, »Laßt wählen die Dame nach eignem Sinn!«

Vergessen Sie nicht Herr Präsident, daß die Dame über die Sie scherzen, meine Braut ist, sprach Holm aufstechend.

Hm! Hm! ja so, Bester, die Brautschaft hat sich geschwind und unvermuthet gemacht, hier in der Stadt verheirathete man Sie, angenehmer Weltverbesserer in die Familie des polnischen Königswählers und hielt die abhanden gekommene Dame für ein bloßes Voressen, bis angerichtet würde.

Herr! schrie Holm bebend vor Wuth und Angst, schütteln Sie Ihren Champagner-Rausch ab und bedenken Sie, daß es sich hier um das Glück zweier Menschen, vielleicht um das Leben eines Wesens handelt. dessen Güte und Edelsinn Sie und Ihresgleichen, nicht zu fassen, nicht zu ahnen vermögen.

Sie haben Recht, Dokter, entgegnete der Präsident, steckte den dicken wolligen Kopf in eine ungeheure Waschschüssel und schüttelte sich, wie ein gebadeter Pudel, während Holm jeden Umstand von Helenens unbegreiflichem Verschwinden noch einmal wiederholen mußte.

Dann sendete er 4 Gensdarmen nach allen Thoren Danzigs, genaue Erkundigungen einzuziehen, ob eine der Beschreibung gleichende Dame, die Stadt zwischen heut und gestern verlassen hatte. Vom olivaer Thore lief die Nachricht ein, daß ein schönes wohlgekleidetes Frauenzimmer nach 10 Uhr gesehen sei und Holm saß noch vor Mitternacht in einem Wagen, der die Straße nach Oliva herabrollte.

Aber vergebens fragte er in allen Gasthöfen, vergebens forschte er auf dem Wege nach Zoppot und in dem leergewordenen Badehause selbst, keine Spur von der Vermißten war zu finden und in Neufahrwasser, wo er endlich auch seine Nachforschungen anstellte, erfuhr er, daß eine wohlgekleidete weibliche Leiche bei Bonsack vom Meer ausgeworfen sei. Auch hierhin eilte er, mit der Kälte der Verzweiflung in der Brust! Welche tödtlich angstvollen Augenblicke durchlebte der Unglückliche bis man den Schuppen ihm aufschloß. Er trat mit zitternden Knien der bedeckten Leiche näher und seine Hände zuckten, als er das Tuch empor hob. – Aber gelobt sei Gott! ein fremdes Gesicht lag hier, von der starren Kälte des Todes umfangen und Holm konnte wieder hoffen, noch einmal auf Erden in die Augen zu blicken, die ihm stets nur Liebe gelächelt.

Er kehrte nach zwei, in Todeskampf durchzitterten Nächten, nach Danzig zurück, forschte noch einmal auf der Polizei, nach seiner Vermißten; fand aber auch dort keine erwünschte Anzeige und kehrte auf den Tod ermüdet in seine öde Wohnung zurück.

Seine Körperhaft war total gebrochen und er warf sich auf das Bett in dem Stübchen, in das er noch vor drei Tagen sein holdes Weib zu führen gedacht hatte. Wehmüthig dachte er seiner süßen Hoffnungen seiner so tief verschwiegenen Liebesgedanken.

Verloren, wohl für ewig für ihn war das Wesen, das zu lieben verstand wie keines, das er geliebt, wie er zu lieben fähig war, und mitleidig nahm endlich der Schlaf den Abgespannten in die Arme. Aber, sein Schlummer war unruhig, seine Träume wüst. Einer davor: führte ihn zurück nach der kleinen Festung, an einen Ort, den er in mancher heiligen Stunde der Vergangenheit betreten, an das Grab seines Kindes.

Er erwachte und ein lichter goldner Herbsttag sah in sein Zimmer. –

Ich will hin, dort hin, und gleich jetzt, sagte er laut und klingelte nach seinem Diener, Postpferde nach …berg, rief er dem Eintretenden zu, während er sich mit einer Eile ankleidete, als hinge sein und Helenens Leben an einer Minute.

Eine Stunde später trug eine Extrapost ihn in fliegender Eil nach dem Ort, den er vor kurzem eben so eilig verlassen hatte.

Er erreichte die Festung um Mitternacht. Das Thor war geschlossen und er hatte keinen Grund anzugeben, um den Obrist seines Eintritts wegen, wecken zu lassen, aber der Kirchhof lag außerhalb der Wälle und dorthin flog er. Seine Knie zitterten, als er den kleinen grünen Friedhof betrat.

Der Mond war im Untergehen und stand, eine glührothe Halbscheibe, am Rande des Horizonts.

Das welke Laub der Bäume rauschte unter seinen Füßen. – Die Gräber der Verbrecher, der Gefangenen, der alten Soldaten lagen schmuck- und blumenlos, in langen Reihen vom Nachtthau befeuchtet, in Finsterniß und Stille da.

Seines Kindes Grab war am Ende des Kreuzweges. Er sah den Apfelbaum seine Zweige schauernd in die Nachtlust strecken.

Wie oft hatte Helene unter diesem Baume geweint und geträumt.

Er erinnerte sich des Tages da ihr Knabe gestorben. –

Obrist Aarhorst hatte ihn die Nacht hindurch, bei der trauernden Mutter gelassen.

In dieser Nacht hatte sie von seinem Arm umschlossen zum erstenmal ein einzigesmal sich über ihr Verhältnis zu ihm in Worten ergossen.

Ich bedaure nicht die Geburt meines Kindes, wie einst Mademoiselle de Lavalliere, sagte sie, ich bereue nichts, ich werde nie bereuen, so lange ich Dir Glück, ja auch nur Trost gewahre. Ich denke, ich lebe mit Dir auf einer öden Insel im Ocean; nicht der Segen des Priesters heiligt nach dem katholischen Glauben das Sacrament der Ehe, sondern der feste, heilige Wille des Gatten, und dieser Glaube ist auch der meine!

Ich betraure auch nicht den Tod unseres Kindes, denn der Tod ist der Uebergang zu einem klareren Dasein, aber ich betraure meinen, unsern Verlust, denn ein Kind ist die Heiligsprechung des Bundes der Gatten.

O Helene, edles, reines, selbstvergessenes Weib, und ich – o wie hab' ich ihre Großmuth vergolten?

Er stand am Grabe seines Kindes. Neue, tiefe Reue, grub ihren Schlangenzahn in seine Brust. Seine Eitelkeit, seine Halbheit, sein feiges Zittern vor der Welt, Alles, Alles stand wie mit Flammenschrift vor seiner Seele!

Und doch konnte er sich sagen, er hatte sie geliebt, in jedem Augenblick seines Lebens, selbst neben der schönen Leonie, mit deren stolzem Herzen, er herzlos getändelt. – Er hatte sie geliebt, immer, immer, er liebte sie noch und – er hatte sie verloren!

Tiefe Finsterniß, ein fast greifbarer Nebel lagerte sich allmählig über dem öden Gottesacker. Hier in diesem kleinen Grabe ruhte das schönste Besitzthum, das Helene ihm geschenkt hatte, sein Kind, sein Sohn. Aus seinen Knien hatte der Knabe gespielt und oft hatte er stolze Vaterträume an das Lockenköpfchen seines Kindes geknüpft. –

Und wo war die Mutter? welch' ein Genius hatte ihr seinen Verrath, seine Falschheit in einem Zauberspiegel gezeigt?

Helene! Helene! Wo war sie, sein Weib, sein guter Engel, sein Alles!

Laut schluchzend rief er ihren Namen in die dunkle Nacht. – Und leise neben ihm hauchte eine sanfte Stimme: Eduard! und eine weiche warme Hand legte sich auf seine Schulter und sie lag in seinen Armen,, sie, seine Helene, sein Weib, die Geliebte seiner Jugend, die Trösterin seiner Einsamkeit, sie war ihm wieder gegeben.

Ein leiser Regen tröpfelte kühl auf die Erde, der Wind fegte die Nebel auseinander und drückte sie zu Boden, über den am Grabe ihres Kindes vereint Betenden, standen sie wieder in göttlicher Klarheit.

In der Bitterkeit ihres Kummers, mit dem Entschluß im Herzen, ihrem Gatten die Freiheit zu einer neuen Wahl zu geben, war Helene zuerst an den Ort geeilt, wo die Liebe, die nur bei ihr eine ewige zu sein schien, gekeimt und geblüht hatte. In dem stillen Stübchen, das ihr Glück und ihre Sehnsucht gekannt, hatte sie Thränen gefunden, am Grabe ihres Kindes, den Trost der Einsamkeit gesucht. Sie fand etwas besseres, den liebenden bereuenden Freund, den auch sein Herz an diesen heiligen Ort gezogen.

Die Liebe eines ächten Weibes darf nicht verzeihen, weil sie nie zürnt und Holms Schmerz, wurde auch ein zürnendes Herz versöhnt haben.

Helene und Holm wurden in der kleinen Festungskirche getraut. – Obrist Aarhorst und Clara waren die Trauzeugen.

Doktor Holm führte seine Gattin nicht nach Danzig zurück. Ihr Vermögen sicherte ihnen für die ersten Jahre ein Auskommen in einer Residenz.

Holm ist ein hochberühmter Arzt. Helene eine Frau, die sich der höchsten Achtung, ja der Verehrung ihrer ganzen Umgebung erfreut.

Sie ist Mutter von 3 schönen Kindern, sie heißen Bogeslav, Clara und Leonie.

Die schöne Polin begleitete die Fürstin von P. die Tante Malachowsky's nach Paris und lernte dort Herrn von Drewenzky kennen, dessen Gattin sie seit längerer Zeit ist.

Von Zeit zu Zeit ist Helene mit ihrer Familie im Hause des Obristen, der jetzt ein Greis mit silberweißem Haar und Großvater einer ganzen Schaar lieblicher Kinder ist, denn Mienchen hat früh einen reichen Edelmann geheirathet. Frau von Aarhorst ist noch immer die sanfte, milde Matrone, und obgleich das Alter ihre hohe Gestalt zu beugen beginnt, so ist sie auch jetzt nicht ohne Liebreiz.

Seladon ist gestorben und unter einer Linde in –berg begraben, der Tod ereilte ihn bei einem Besuche dort.

Der Marketender und seine Frau leben heute noch und erzählten etwaigen Besuchern gern, daß der berühmte Doktor und Professor Holm, viele Jahre hier lebte, als – Staatsgefangener. –


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