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Neuntes Kapitel

In der Knochenmühle

Vier entsetzlich lange Wochen waren verflossen, seitdem ich in die große Schokoladen- und Biskuitfabrik X. & Söhne eingetreten war. Die Tage, überhäuft mit schwerer Arbeit und Plage, wurden mir zu einem hochummauerten Stundenkreis, in dem jegliche Qual über mich herfiel und mein Dasein menschenunwürdig machte. Nur dadurch, daß ich mir Hunderte Male im Tage das Wörtchen »muß« gleich einem glühenden Stempel ins Gehirn preßte, fand ich die Kraft, in der Fabrik zu bleiben.

Den langen Weg von meinem Wohnort bis zu dieser Stätte der Erniedrigung legte ich immer in dem Gefühl zurück, daß dort meiner jegliche Bitternis und eine schwere Last von Lebensüberdruß harrte. Mein altes, bewährtes Mittel, das Gleichgewicht der Seele wenigstens teilweise zu bewahren, das Lesen, hatte hier seine Wirkung verloren; auch fand ich abends nach der Arbeit kaum mehr die Kraft, mich in ein fremdes Leben hineinzudenken.

Teilnahmslos gegen meine Umgebung drückte ich mich durch die Straßen; – die letzte, die ich zu durchschreiten hatte, dünkte mich wie der Weg zu einer Richtstätte. Sah ich dann meine Arbeitskameraden in breiten Massen durch das Fabriktor drängen, so zitterte ein kalter Schauer durch meine Glieder, und ich war froh, den Leidensgenossen mein guten Morgen zurufen zu können, denn das Sprechen hob mich ein wenig aus meiner Stimmung. Beim Durchschreiten des beschlagenen Tores, das in eine mächtige Einfahrt führte, warf ich einen schüchternen Blick auf die Ankündigungstafel, hoffend, daß eines unvorhergesehenen Ereignisses halber die Fabrik auf ein paar Stunden oder gar auf einen ganzen Tag gesperrt würde. Denn frei sein! Frei, wenn auch nur auf ein paar Stunden, fern dem Kerker, dessen Atmosphäre alles Gute und Hohe in mir vergiftete und meinen Körper langsam siechen machte! Das war der Wunsch, der mich hie verließ, und der – ach, so selten erfüllt wurde.

Es war ja schon ein Glück, daß ich keine Überstunden machen mußte, wie es in andern Abteilungen seit Wochen der Fall war.

Mit der mechanischen Bewegung eines Automaten nahm ich die Kontrollmarke vom Nagel, um sie in den dazu bestimmten Kasten zu werfen. Das bißchen Denkkraft, das ich außerhalb der Fabrikmauern besessen hatte, war beim Eintritt in ihren Bannkreis verlorengegangen, und ich bestand nur mehr aus Muskeln und Nerven, die in den Dienst der Maschinen gestellt werden mußten.

In den ersten Tagen meines neuen Berufs hatte noch hier und da etwas Neues, Niegesehenes mein Interesse erweckt. Nun aber war ich gleichgültig geworden, denn Tag für Tag gab es das gleiche zu sehen und zu hören, trottete ich an der Kette mit gesenktem Kopf wie ein blindes Roß, das nur ein Gefühl kennt: das der Peitsche! Doch nein! Einen Gegenstand gab es, der mir nie gleichgültig wurde, den ich im Gegenteil aus ganzem Herzen haßte und verabscheute: die Fabrikglocke. Für mich war die kein totes Stück Metall, das der Portier zum Läuten brachte, sie schien mir eher eine alte, böse Hexe zu sein, die den Geist der Knechtschaft in dieses Haus geführt hatte: Wenn sie morgens und nach dem Mittagessen zur Arbeit rief mit ihrer schrillen Stimme, schreckte ich stets zitternd zusammen, und ich rief vergebens meine Vernunft zu Hilfe, die das baumelnde Metallstück für ganz unschuldig erkannte. Ich haßte sie als das Symbol meines geknechteten Menschentums. Im zweiten Hof von der Einfahrt lagen die Packräume, denen ich zugeteilt war. Ein langgestreckter, niedriger Raum, der stets in einem feuchten Dämmer lag und darin es nach verbrauchter Seife, faulendem Wasser und Menschenschweiß roch, war der An- und Auskleidesalon für die Packer. Ich zog meinen Rock aus, wobei mich die Armgelenke trotz der vierwöchigen Übung, gehörig schmerzten. Auf das zweite Glockenzeichen rannten wir Packer in den Pack- und Verladeraum, mancher noch mit seiner Toilette beschäftigt. Die Arbeit, die uns gleich am frühen Morgen erwartete, war die schwerste des Tages, wenigstens für mich, der ich von Natur aus schwach gebaut, auch noch mit einem körperlichen Fehler behaftet war. Meine zwar nicht stark hervortretende, aber doch sichtbare Verkrümmung der Wirbelsäule hatte mir in der Fabrik den Spottnamen »der Buckelhupfer« eingetragen. Die Kisten, die wir tags vorher gepackt hatten, standen berghoch aufgeschichtet im Verladeraum. Ein kleines Gebirge aus Schokolade, Zucker- und Biskuitwaren. Im Hofe stand eine ganze Wagenburg. Jeder Wagen, auch mehrere zusammen, waren für die Bahnhöfe bestimmt und warteten auf ihre Last. Zu zweit trugen nun die Packer eine Kiste nach der andern zu den bestimmten Wagen, wo die Kutscher sie in Empfang nahmen. Das war ein Keuchen, Stampfen, Rufen und Schreien, ein Fluchen und Lachen! Über all diesem lärmenden Tun thronte auf seinem Podium der Gewaltige dieses Raums, der Obermagazineur, welcher mit hoher, sich oft überschlagender Stimme seine Anordnungen traf. Er war auch ein »Emporkömmling«, aber keiner, der sich durch eigene Kraft oder Intelligenz aus der erstickenden Tiefe seiner Proletenvergangenheit etwas näher zur Sonne geschwungen hatte. Er verdankte seine Stellung einer Denunziation und seiner demütigen, hündischen Kriecherei gegenüber den Vorgesetzten – nicht zuletzt auch der Gabe, aus seinen Untergebenen mehr herauszupressen, als es anderen möglich war. Äußerlich ein gutmütiges, joviales Spießertum zur Schau tragend, war er in Wirklichkeit ein kleinlicher, böswilliger und rachsüchtiger Mensch, der in den Magazinen, die ihm unterstanden, ein Autokratenregiment führte und von allen Untergebenen gehaßt und gefürchtet wurde. Herr Pavlik hatte es besonders auf jene abgesehen, die infolge physischer Unzulänglichkeit einer allzu schweren Tätigkeit nicht nachkommen konnten. Ich mußte unter diesen Eigenschaften Herrn Pavliks viel leiden. Im Anfang benahm er sich sehr gnädig und übersah manche Fehler, die meine ungeschickten und schwachen Hände machten. – Das war, wie ich bald erfahren sollte, eine Finte, um Neulinge sicher zu machen. Es machte ihm das viel Vergnügen – ich aber war wie aus den Wolken gefallen, als mir eines Tags eine zu schwere Kiste entglitt und ich von Herrn Pavlik vor allen Arbeitern plötzlich so ungemein roh und boshaft verspottet wurde, daß ich mich wie nackt durchgepeitscht fühlte. Nur der Gedanke an Arbeitslosigkeit, Hunger und Obdachlosigkeit verhinderte mich, daß ich auf der Stelle fortlief.

Ich fraß meinen Ekel hinunter und arbeitete weiter mit zusammengebissenen Zähnen und verkrampften Fingern.

Waren alle für den Bahnversand bestimmten Kisten aufgeladen, so durften die Packer sich fünf Minuten Erholungspause gönnen – dann ging es ans Reinigen der Magazinräume. War auch dieses geschehen, so bekamen wir die verschiedensten Arbeiten zugeteilt. Die einen hatten die Platten mit den Schokoladentafeln treppauf, treppab zu tragen, durch endlose Gänge und Hallen mit schlüpfrigem Boden, und immer waren sie so schwer, daß man sie kaum tragen konnte. Die meisten meiner Kameraden waren muskulöse Männer, und doch hatten sie vor dieser Arbeit den meisten Respekt, schleppten sich lieber stundenlang mit den schwersten Kisten ab, denn die mußten nicht so weit herumgetragen werden. Oft hatten die Kameraden Mitleid mit mir, der ich so schwach und abgehärmt aussah, und trachteten mich von dieser gefürchteten Arbeit befreien zu können. Sie gaben mir auch den guten Rat, mich um die Arbeit in dem weitläufigen Keller zu bewerben, wo leere Kisten eingelagert waren und man die schadhaften ausbesserte, was mir auch gelang.

Bei dieser Arbeit machte ich die Bekanntschaft eines jungen Juden, der Konrad Löwi hieß und der die gleiche Arbeit zu verrichten hatte. Er war um ein oder zwei Jahre älter als ich – ich zählte damals vierundzwanzig –, war ebenfalls von schwächlicher Konstitution, hatte sich scheinbar aber im Gegensatz zu mir in sein Schicksal gefügt, dank der Anpassungsfähigkeit seiner Rasse. Später erfuhr ich freilich, daß auch sein ganzes Sinnen und Trachten der Erreichung einer menschenwürdigen Arbeitsstelle galt. Löwi besaß, wie die meisten seiner Rasse, eine hohe Intelligenz und hatte einige Handelskurse mitgemacht, war aber infolge seiner Mittellosigkeit gezwungen worden, diese schlecht entlohnte Stelle anzunehmen. Trotz aller Mühsal, die er gleich mir erduldete, war er stets heiter und lebensfroh, und oft riß er mich durch seine witzigen und sarkastischen Äußerungen aus meiner gedrückten und mutlosen Stimmung. Wir wurden Freunde und waren so viel wie möglich beisammen, bei der Arbeit und auf dem Heimweg, und man nannte uns die beiden Schwager. Aus meiner Bibliothek, die eine ganz hübsche Anzahl guter Bücher enthielt, obwohl ich oft gezwungen war, aus Not einen meiner Schätze zu verkaufen, lieh ich meinem Freund Bücher, die dieser mit Heißhunger las. Es war ihm wie mir der einzige und größte Genuß, den das Leben in dieser Zeit gewährte.

Es war ein hartes Kämpfen um unser Dasein, dem wir gemeinsam die Stirn boten. Löwi hatte dabei nicht das Lachen verlernt, das ihm eine sorglose Jugend gegeben. Wie oft schämte ich mich vor ihm meines Kleinmuts! Seine Mutter war vor kurzem gestorben und hatte ihm, der sie heiß geliebt, nichts hinterlassen können als die Sorge um zwei Schwestern, deren eine als Manipulantin in einem Schuhgeschäft mit lächerlich kleinem Gehalt angestellt war, während die zweite noch die Schule besuchte. Draußen in der Vorstadt, in einem der luftarmen, himmelhohen Zinshäuser, hausten die drei Geschwister verträglich beisammen, sich gegenseitig gegen den Anprall der Not stützend.

Um zwölf Uhr wurde durch einen gellenden Sirenenpfiff und ein kurzes Läuten der Beginn der Mittagspause angekündigt, die eine Stunde dauerte. Nun strömten von allen Seiten die hungrigen Arbeiter dem Ausgang zu, vor dem die Straße mit ihrer freien Luft, ein karges Mahl und, was die Hauptsache war, eine Stunde Ruhe winkte. Vor dem Ausgang gab es einen kleinen Hof zu durchschreiten, in welchem sich jeder Arbeiter und jede Arbeiterin einer Prozedur unterziehen mußte, die mir als die erniedrigendste Einrichtung der Fabrikordnung erschien. Im Gänsemarsch, rechts die Männer, links die Frauen, mußten wir langsam durch eine Art Engpaß trippeln, den zwei Männer, beziehungsweise zwei Frauen bildeten, welche jeden Vorübergehenden einer genauen Leibesvisite unterzogen. Zur Verrichtung dieser Handlung wurden Abteilungserste verwendet, die ihrerseits wieder von den Direktoren und Ersten Buchhaltern untersucht wurden. Ich habe es lange nicht begreifen können, daß es Menschen geben kann, die sich zu diesem ehrenrührigen Schergendienst hergeben. Erst als ich langsam die moralische Zersetzungsarbeit des Kapitals begreifen lernte, wurde es mir klar, daß diese Handlanger ebenso Opfer einer geschichtlichen Notwendigkeit sind wie ich und die übrige Schar von Arbeitern. Als ich das erstemal diese fremden herumtastenden Hände an meinem Leibe fühlte, war es mir, als schlüge mir jemand die Faust ins Gesicht, und ich wunderte mich über die Gleichgültigkeit der andern, die sich die Untersuchung so ruhig gefallen ließen, ja oft dazu lächelten. Hatten auch sie sich anfangs dagegen empört, und waren sie mit der Zeit stumpf geworden, weil die Kette der Gewohnheit sich um ihren Stolz legte?

Das Mittagessen war so karg, als es der kleine Wochenlohn bedingte, und auch alles eher als nahrhaft. Die erste Zeit, bevor ich mit Löwi Freundschaft geschlossen hatte, ging ich in ein nahegelegenes Volkskaffee, ein sogenanntes Tschecherl, wo ich den hungrigen Magen mit einem Glas warmer Milch und ein paar Stücken Gebäcks zu beruhigen suchte. Später ging ich mit Löwi in eine sogenannte Stehweinhalle, die mit einer Fleischauskocherei verbunden war. Dort kauften wir uns um ein paar Kreuzer eine trübe Wasserbrühe, die Rindsuppe hieß, und dazu ein paar schwindsüchtige Würstel. In der Mittagspause suchten wir uns gegenseitig kennenzulernen. Wir erzählten uns unsere Lebensschicksale, kritisierten nicht zuletzt unsere jetzige Lebensweise, und diejenigen, die sie so trübselig gestalten, und bauten Luftschlösser, bei welcher himmlischen Beschäftigung ich mich recht gewandt zeigte. Denn selbst bei mir war eins noch nicht ganz, zu Boden gedrückt: das Hoffen der Jugend. Wenn ich auch schon glaubte, auf alles Schöne und Gute, das die Erde bieten konnte, verzichten zu müssen, zu tief in meiner Seele hütete ich doch immer unbewußt ein Fünkchen Lebensglaube, und dieses flammte gar oft zu einer hellen Lohe auf und zeigte mir mitten im Nebel ein Stück Sonnenland. Kamen dann wieder trübe Stunden, so war es das unverwüstlich frohe Gemüt meines Kameraden, an dem ich mich aufrichtete.

Löwi war länger in der Fabrik beschäftigt als ich und erzählte mir vieles über deren Gründung, die Chefs und unsere Arbeitskollegen.

Der Gründer der Firma X. & Söhne hatte sich vor ungefähr fünfzig Jahren mit einem sehr bescheidenen Anfangskapital etabliert, war aber dank seiner bescheidenen Ausdauer sowie seiner geschäftlichen Routine bald in der Lage gewesen, sein Unternehmen nach allen Seiten hin zu vergrößern. Zu der bestehenden Schokoladerie wurden nach und nach Gebäude für Zuckerraffinerien, Waffel-, Zwieback- und Tortenbäckereien, für Kaffeerösterei und eine Senfmühle errichtet. Als der alte X. vor einigen Jahren gestorben war, hatte er seinen drei Söhnen außer dem mächtigen Etablissement ein Millionenvermögen hinterlassen, das sich zurzeit immer vergrößerte, denn die Fabrik warf durch ihren großen Betrieb und die billigen Arbeitskräfte einen kolossalen Nutzen ab. Sie war damals die größte ihrer Art auf dem Kontinent, hatte eine eigene Spenglerei, eine Schlosserei, eine Glasfabrik in Böhmen und beschäftigte in dem Wiener Betrieb allein ungefähr sechzehnhundert Arbeiter; vierzig Wagen waren vom Morgen bis in die Nacht tätig, die Erzeugnisse dem Heer von Kunden zuzuführen. Um mir einen annähernden Begriff von der Leistungsfähigkeit der Fabrik beizubringen, erzählte mir Löwi, daß in der Obstzeit an einem Tag allein vierzigtausend Kilogramm Äpfel eingekocht werden, daß im Karneval sowie zu hohen Feiertagen zwei- bis dreitausend Torten täglich gemacht werden. In letzter Zeit war auch die Zubereitung von Zwieback für das Heer übernommen worden.

Löwi war bei allen Angestellten gut angeschrieben, wohl seiner immer lustigen, freundlichen Art wegen, und versprach, mir alle technischen Einrichtungen, die mich interessieren mochten, zu zeigen, denn man ließ ihn überall ein. Sonst war es streng verboten, sich ohne Bewilligung des Direktors außerdienstlich in einer fremden Abteilung aufzuhalten, und jeder Übertreter dieses Gesetzes wurde unbarmherzig auf das Pflaster gesetzt. Überhaupt waren die Statuten der Fabrikordnung von einer drakonischen Strenge, vom Direktor mit grausamer Willkür angewandt, ohne daß dieser gewöhnlich die näheren Umstände im Übertretungsfalle ins Auge faßte. Er war der Allmächtige in der Fabrik, denn die Chefs kümmerten sich um nichts als um den Profit, den die Fabriken trugen, und waren zufrieden, wenn dieser durch den Eifer des Direktors immer stieg und stieg; dieser behandelte seine Untergebenen wie Hunde. Er schrie Arbeiter, die im Vorübergehen kauende Bewegungen zu machen schienen, einmal an, als ich dabei war: »Macht das Maul auf, damit ich sehe, ob ihr gestohlene Schokolade darin habt!« Einmal befahl er einer hochschwangeren Frau, ein schweres Faß über eine steile Leiter hinaufzutragen, und als ich hinzusprang, um ihr zu helfen, stieß er mich zur Seite, um mir in gemeinen Ausdrücken und Witzen zu verstehen zu geben, daß ich mich um meine eigene Arbeit kümmern sollte.

Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß in der Fabrik die erbärmlichste Anklägerei blühte. Es war ja für jeden unmöglich, durch ehrliche Erfüllung seiner Pflichten eine bessere Stellung und damit eine höhere Bezahlung zu erlangen. Nur durch völliges Preisgeben jedes sozialen Bewußtseins, durch Verrat seiner idealen Interessen und der der Kameraden konnte dies dem Arbeiter gelingen; skrupelloses Aufgehen im Dienst der Firma – mochte diese verlangen, was sie wollte, war die Bedingung, die dem gestellt wurde, der seine Lage verbessern wollte.

Löwi gab mir den guten Rat, mich so wenig wie möglich mit einigen Arbeitern, die als Angeber bekannt waren, abzugeben, wenig mit ihnen zu sprechen und vor allem meine Gesinnung zu verbergen; sie horchten mit freundlichen Gesichtern und der Art von Gleichgesinnten so lange, bis sie genug Stoff hatten, um dem Direktor alles zu wiederholen. »Denke dich überhaupt«, sagte mir Löwi, »in russische Verhältnisse hinein, dann hast du den Grundgedanken unseres Robotens in dieser Fabrik. Hier draußen kannst du wenigstens halbwegs handeln und sprechen, wie du willst. Ein Schein von menschlicher Freiheit, wenn auch noch so spärlich, besonnt dein ärmliches Dasein. Drinnen aber, im Bannkreis der Maschinen, mußt du dich der autokratischen Tyrannenwillkür der Fabrik unterwerfen, die deinem Hirn das Denken untersagt, dem Herzen das Mitgefühl verbietet, und wo du selbst zur Maschine wirst, die den Vorzug hat, billiger zu sein als die aus Eisen und Stahl, und die auch nicht so sehr geschont werden muß. Gäbe es hier, wie in Rußland, eine Katorga, gar mancher von uns wüßte davon eine Geschichte zu erzählen.«

Ich fragte Löwi, wieso es käme, daß diese ausgebeuteten, geschändeten Menschen noch nie in Streik getreten waren, um auf diese Weise nach Art anderer Industriearbeiter eine menschenwürdigere Behandlung zu erzielen. Was den Buchdruckern, Metallarbeitern, Bäckern und vielen anderen in der letzten Zeit gelungen war, der Ausbeutungssucht entgegenzutreten, warum sollte dies hier nicht gelingen? Auch sprach ich meine Verwunderung darüber aus, daß unsere Chefs keine Furcht vor einem Streik hätten, der, wenn er auch nur von kurzer Dauer wäre, ihnen doch einen großen Schaden zufügen müßte; nicht zum wenigsten der Konkurrenz wegen, mit der selbst diese mächtige Firma zu rechnen hatte.

Löwi erklärte mir das so: »Das ganze System, nach dem die Firmeninhaber über uns schalten und walten, ist zum Teil eine Folge dieser Angst vor einem Streik, ist eine Schutzmauer vor dem revolutionierenden Klassenbewußtsein des Arbeiters. Warum glaubst du, daß man hier Leute, die drei und vier Jahre im Dienst der Fabrik standen und die ganze Zeit fleißig und willig waren, plötzlich ohne triftigen Grund entläßt und an ihre Stelle Arbeiter setzt, die einige Monate im Betrieb sein mußten, ehe ihre Leistungen einigermaßen denen der Entlassenen entsprachen? Hier hast du die Antwort: Der Direktor weiß, daß der fortwährende Wechsel der Arbeiter einem intimen Meinungsaustausch, einem Besprechen ihrer sozialen Lage entgegensteuert, weil diese sich dabei doch immer mehr oder weniger fremd bleiben, und daß es ihnen bei dieser Vermischung von alten und neuen Elementen kaum möglich ist, ein einheitliches Entgegentreten zu erreichen. Dabei rechnet man nicht zuletzt mit der furchtbaren Notlage, die gewöhnlich auf dem neueingetretenen Arbeiter lastet und die ihm verbietet, an einem Streik teilzunehmen. Er hat bis vor kurzem Hunger gelitten, vielleicht bittere Kälte erduldet oder war obdachlos gewesen und hatte Schulden zu bezahlen, die in dieser Zeit gemacht wurden. Jetzt auszutreten? Zu streiken? Und wieder zu hungern? Ja, mein Lieber, der Hunger hat schon viele schweigen gelehrt, auszuharren, wie schwer das Joch auch war, unter das sie sich zu beugen hatten. Diese Erfahrung benutzend, nimmt die Leitung mit Vorliebe solche Leute in ihre Dienste, denen man schon äußerlich, an Kleidung und Körper, die bitterste Not ansieht; sie geben das beste, ertragreichste Futter für den Götzen Mammon, lassen sich von ihm verschlingen, ohne sich viel zu wehren. – Und selbst wenn wir in Streik träten: Glaubst du, daß wir etwas gewinnen würden? Unser Widerstand wäre bald gebrochen, weil uns die Hauptbedingung zu einem Erfolg fehlt: Geld. Hat je ein Heer eine Festung eingenommen, ohne Waffen zu besitzen? Auf eine tatkräftige, ausreichende Unterstützung von anderen Gewerkschaften und Organisationen können wir nicht rechnen. Wir stehen zu isoliert da. Sehr wenige von uns gehören einer Gewerkschaft an. Die Furcht vor Kündigung, dem »Pflasterküssen«, hält uns vor dem Beitritt ab.

Wir beide haben vielleicht noch die Kraft und Hingebung, acht Tage zu fasten und uns mit Begeisterung zu ernähren. Aber die Masse wird nach zwei, drei Tagen reuig zurückkehren; und – wer weiß – vielleicht würden auch wir eher folgen, als wir jetzt glauben. Der Hunger, der Hunger! Seine Peitsche tut so weh, reißt Wunden, die oft ein ganzes Leben nicht heilen.«

Unter solchen Erzählungen und Gesprächen verfloß oft allzu schnell unsere Mittagspause. Um drei Uhr nachmittags wurde mit dem eigentlichen Packen begonnen. Die zum Versand bestimmte Ware war am Vormittag von den Magazineuren nach Art und Bestimmungsort zusammengestellt worden. Nach der Kontrolle durch Obermagazineur Pavlik wurde sie in den Packraum getragen und mit den Adressen versehen, dann begann das Packen selbst.

Jeder Arbeiter hatte sich seine Kiste vom Keller heraufzuholen. Kleine oder große, schmale oder breite, jeder nach Bedarf, und eilig hantierte ein jeder in einer Wolke von Holzwollestaub, ohne Atem zu schöpfen, da alles bis knapp vor Feierabend weggepackt sein mußte. In einer Liste, die der Buchhalter aufliegen hatte, waren Gewicht und Größe sowie der Packer der Kiste angegeben. Aus dieser konnte nachgewiesen werden, wer am fleißigsten für die Kasse der Fabrik gearbeitet hatte. Es war gar keine leichte Sache, die Waren so zu verpacken, daß sie ganz unbeschädigt an ihr Ziel gelangten. War das nicht der Fall, so mußte der Packer eben für den Schaden einstehen. Es wurde ihm der Betrag von seinem Lohn abgezogen. Die Mehrzahl der mit den mannigfaltigsten Süßigkeiten gefüllten Kisten wogen sechzig bis hundertfünfzig Kilo; da es verboten war, sich beim Tragen helfen zu lassen, so fühlte ich mich nach beendeter Arbeit meist wie gerädert und oft vor Müdigkeit ganz teilnahmslos, selbst gegen den Klang der Glocke, die endlich, endlich zum Feiern rief.

Man wusch sich die Hände, kühlte den Kopf in frischem Wasser und hatte nur ein Interesse: bald draußen zu sein. Mit viel Gewissensbissen sparte ich mir von den paar Hellern Tagelohn das Fahrgeld für die Trambahn ab, denn es war mir nicht mehr möglich, den weiten Weg bis zu meinem Wohnort zu Fuß zu gehen. Jeden Schritt spürte ich schmerzhaft in allen Knochen.

Um trotz aller Müdigkeit die Freiheit ordentlich auszunutzen, spannte ich alle Kraft und Energie an, um in der Tramway ein wenig lesen zu können, schlief aber doch oft dabei ein. Es war meine größte Sorge, geistig nicht auch zu versumpfen und mich ein wenig von dem Arbeitstier zu unterscheiden, das nach der schweren Arbeit nur einen Gedanken hat, Schlaf und Futter.

Zwei Bücher trug ich immer bei mir: Goethes »Faust« und Heines »Buch der Lieder« in der Reclam-Ausgabe. Es war mir Trost und Befriedigung, daß mein abgehetzter Geist, trotz der empörenden Behandlung seitens der Vorgesetzten und auch mancher Kameraden, noch immer auf den Klang und den Inhalt der herrlichen Verse reagierte. Und trotzdem konnte ich nicht mehr so lesen, wie ich früher gelesen hatte, wo mich die ersten Verse schon in eine feierliche, weihevolle Stimmung versetzten und ich ihnen froh und wunderdurstig wie ein Kind in ihre Idealwelt folgte. Jetzt mußte ich immer bei den tiefsten und heiligsten an mein elendes Leben denken, mich an mein nacktes, jeder Freude entbehrendes Dasein erinnern, und es ergriff mich eine bittere Trostlosigkeit. Kam ich heim, so war es mein einziger Wunsch, mich sofort ins Bett legen zu können. Schlafen, nur schlafen auf einige Stunden, ganz ins Reich der Vergessenheit wandern, war am Abend die ganze Sehnsucht meiner Seele. Es kamen dann wohl noch Erinnerungen aus der Vergangenheit, an schöne Abende, an welchen ich mich mit gleichgesinnten Freunden unterhalten konnte, Vorträge aus allen Gebieten der Wissenschaft anhörte, und wo ich oft bis in die Mitte der Nacht lesen und lernen konnte, ohne eine nennenswerte Ermüdung zu spüren. Und ich hatte doch damals auch gearbeitet, sogar schwer. Wie kam das? Oh, ich wußte wohl die Antwort darauf: In meinen früheren Arbeitsstellen war ich trotz harter Arbeit doch immer noch als Mensch behandelt worden, und meine Seele war nie in Gefahr, in einem verbrecherischen System, wie das der Arbeiterbehandlung in der Fabrik X. & Söhne war, unterzugehen. Jetzt dünkte es mich die größte Wohltat, wenn ich einige Stunden meiner Pein entfliehen konnte, und samstags heiterte sich gewöhnlich mein Gemüt im Vorgefühl der Sonntagsruhe auf; ich konnte dann sogar hie und da lächeln, wenn ich mit Freund Löwi beisammen war.

Die Sehnsucht nach einem freien Tag war natürlich nicht nur in mir, sondern in allen Kameraden zu finden, und manche griffen zu den gewagtesten Mitteln, um sich auf einige Tage krank melden zu können. Eines der beliebtesten war die Herbeiführung einer Blutvergiftung. Erstens brauchte man sich dabei nicht so zu verstellen wie bei der Vortäuschung einer inneren Krankheit, und zweitens hatte man anfangs fast keine Schmerzen. Die Methode war auch sehr einfach. Eine leichte Schnittwunde wurde mit Grünspan eingerieben. Nach einigen Sekunden zeigte sich eine leichte Entzündung des Wundrandes. Der Arbeiter heuchelte seinem Vorgesetzten gegenüber starke Schmerzen, so daß dieser ihm das Krankenkassenbuch einhändigte und ihn zum Arzt schickte. Es war dies kein Akt der Humanität, wie man glauben könnte, sondern Furcht vor einer möglichen Kontrolle durch die Sanitätsbehörde, vor der man ohnedies viele Mißstände zu verbergen hatte.

Ich sah die soeben erwähnte Selbsthilfe für verwerflich an, nicht allein des Betrugs wegen, sondern auch deshalb, weil es ein leichtsinniges Aufs-Spiel-setzen der Gesundheit war. Und trotzdem verstand ich meine Kameraden auch darin, wenn ich ihrem Beispiel auch nicht folgen mochte.

Neben diesen simulierenden Kranken und denen, die sich aus eigenem Willen eine Krankheit zuzogen, gab es aber auch eine riesige Menge von Arbeitern und Arbeiterinnen, die ihre Gesundheit infolge der furchtbar unhygienischen Fabriksräume für immer ruiniert hatten. Besonders der Tuberkulose fielen eine große Anzahl zum Opfer. Mit erschreckender Regelmäßigkeit forderte sie beinahe jede Woche ihren Tribut und wählte mit Vorliebe die jüngeren Angestellten.

Außerdem waren wir daran gewöhnt, jede Woche zwei-, dreimal den Rettungswagen vorfahren zu hören, der die Armen ins Spital holte, die bei der Arbeit, meist im Maschinenbetrieb, verunglückt waren – fortwährend zur Eile getrieben und durch die lange Arbeit so ermüdet, daß sie irgendeine Unbedachtsamkeit begangen hatten. Eine Versorgung der im Dienst der Fabrik arbeitsunfähig gewordenen Leute gab es nicht. Wenn der Kranke längere Zeit nicht arbeiten konnte, wurde er eben entlassen.

Selbst am Vorabend des Christfestes wurden Hunderte von Arbeitern entlassen, da man in der Zeit nach Weihnachten weniger zu tun hatte, und es geschah dies ohne Rücksicht auf die Zeit und die Familienverhältnisse des Lohnsklaven. Wenn ich daran dachte, so krampfte ein großes Weh mein Herz zusammen, und ich durchlebte die Qual der entlassenen Arbeiterinnen und den ohnmächtigen Haß der vor die Tür gesetzten Männer. Meine eigene Not, meine ärmliche Angst vor den Stunden in der Fabrik verschwand vor diesem mächtigen Berg Elend, der sich vor mir aufschob und unter dem ich eine Anzahl meiner Schwestern und Brüder ächzen hörte. Und mein Blick zersprengte die Mauern seines Schauens und wanderte weit in alle diese Schlupfwinkel des Elends hinaus und fand überall dieselbe Knechtung freier Menschen, dieselbe Sehnsucht nach Licht und Freude. Ein mächtiges Erkennen und Verstehen dieser Menschen stieg in mir auf, ich fühlte mit ihnen dieses Streben nach Befreiung und ihr Sehnen nach einem friedvollen, menschenwürdigen Dasein.


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