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Zweites Kapitel

Kindheit

Zwei Menschen stehen vor den Bildern des Lebens mit offenen, klaren, täuschungslosen Augen: das Kind und der Greis. Was zwischen ihrem Dasein an Menschenaltern liegt, ist geblendet von dem verstandesgemäßen Betrachten der Dinge und geistigen Erscheinungen, erblindet oft vor dem Allzuviel an Helle und Dunkel, in das sich die Blicke senken müssen.

Der Greis faßt die vor ihm aufsteigenden Bilder in ihrer verwirrenden Mannigfaltigkeit mit den ruhigen Händen des wissenden Forschers an, schiebt sie klug ein Stück von sich weg, mißt sie gelassen mit dem Maßstab seiner Erfahrung und stellt sie dann lächelnd in den Schrank der Lüge oder den der Wahrheit. In einer stillen, nachdenklichen Stunde formt er aus ihnen metaphysische Weltgeschichte.

Anders das Kind: Es nimmt das Erschaute in seine Spiele, in sein Bettchen mit, schlägt alles in das Tüchlein seiner wachen Träume ein, plaudert mit ihm, macht es lebend, bringt das Stummste zum Sprechen und gibt ihm Wohnung auf Jahre hinaus in dem einsamen Schlößchen seiner Seele.

Manchmal dichtet es kurze, nichtssagende Alltagserscheinungen oder Taten der Erwachsenen zu sonntäglichen, überirdischen Erlebnissen um.

Ein Beispiel: Einst lief ich vom Spiel weg ins Haus, um mir ein Butterbrot zu holen. Im Zimmer traf ich auf meinen Vater, der mit einem Zerstäubungsapparat herumspritzte, um die Luft zu verbessern. Er tat dies mit dem ernsthaftesten Gesicht der Welt. Tief erschrocken, aber zugleich unendlich beglückt, beguckte ich die mystische Tätigkeit meines Vaters und sah dem Zersprühen der duftenden Wassertropfen auf den Gegenständen zu. Ich vergaß auf mein Butterbrot und rannte im Schauer eines unbegreiflichen Geschehens auf die Straße zurück.

Dort verkündigte ich meinen Spielkameraden zitternd und geheimnisvoll:

»Denkts euch, der liebe Got hat mein' Vater das Regenmachergschaft glernt, alles muß er jetzt mit dem riecheten Wasser anspritzen, den Tisch und die Sessel und die Bücher und die Bilder, sonst möchtens alle nimmer wachsen und hinwerden.«

Seltsam: echte Kinder, wirkliche Greise, wahre Weltgeschichte und große Dichtung haben keine Gehirnmoral!

Nach dem Zeugnis meiner Schwester, deren Wartung ich meist anvertraut war, soll ich in den ersten Jahren meines Lebens alles eher als ein ruhiges Kind gewesen sein. Ich schrie besonders die ersten Monate unaufhörlich und wollte vielleicht damit meinen Protest ausdrücken, in diese unerklärliche und ungemütliche Welt geraten zu sein.

Trotz Unterernährung, allgemeiner Schwäche von Geburt aus und allen möglichen Krankheiten, die bald über mich hereinbrachen, glückte es mir nicht, die Erde so schnell zu verlassen, wie ich gekommen war.

Meine Eltern, besonders die Mutter, taten das Unmöglichste, um mich zu erhalten, so schwer ihnen dies bei dem kargen Verdienst meines Vaters gelang. Ärzte, Medizin und Nährmittel kosteten viel Geld, und wie mag meine Mutter gespart haben, um es aufzubringen! Unzählige Nächte saßen Mutter und Schwester abwechselnd an meinem Bett, angstvoll auf die stockenden Atemzüge horchend, während ich von Fieber, Krämpfen und Husten durchrüttelt wurde. Ließen ja einmal Mutter oder Schwester aus Übermüdung in ihrer Sorgfalt für mich nach, so fiel gewiß ein Donnerwetter von seiten meines Vaters über sie her. Mit Argusaugen bewachte dieser mein langsames Gedeihen, denn er war stolz auf sein so spät gekommenes einziges Söhnchen.

Meine Schwester wurde nicht selten gezankt und wohl auch geschlagen, weil sie nicht genug achtgab, wenn ich fiel oder mir sonst eine kleine Verwundung holte, und sie mag damals nicht die zärtlichsten Gefühle für mich gehegt haben.

Folgende tragikomische Episode möge darstellen, was meine Schwester von dem gestrengen, jähzornigen Vater zu erdulden hatte, wenn sie sich eine kleine Vernachlässigung ihrer Pflichten zuschulden kommen ließ: Man bereitete eben zu dem Christfest vor, dem zweiten seit meiner Geburt, als mich meine Schwester im Angesicht des noch nicht angezündeten Christbaums etwas unsanft zur Erde gleiten ließ. Ich erhob sofort ein jämmerliches Geschrei, was ich sehr gut verstand, so daß der Vater erschrocken aus dem Nebenzimmer herbeieilte. Voll Zorn packte er nun den vollbehängten und -besteckten Christbaum und hieb ihn meiner Schwester über den Kopf.

So schlimm ging's natürlich nicht immer ab. Zumeist leitete die allgegenwärtige Mutter das Donnerwetter auf sich ab, und sie mochte wohl auch den einen oder anderen Schlag aufgefangen haben, der eigentlich meiner Schwester gegolten hätte.

Meistens war er nach solchen Wutausbrüchen, in denen er imstande war, ein ganzes Haus zu demolieren, der gütigste Mensch, der keiner Fliege ein Leid antun konnte. Um sie zu versöhnen, nahm er dann meistens die noch weinende Mutter mit sich, um mit ihr spazieren und zum Schluß in ein Gasthaus zu gehen, wo er dann von der größten Zärtlichkeit und Fürsorge war.

Unterdessen rächte daheim meine Schwester das an meiner Mutter begangene Unrecht, indem sie mich zwickte und riß, bis ich aufs neue zu heulen begann. –

Von den ersten zwei Jahren meiner Kindheit ist mir nichts in Erinnerung verblieben. Wir hatten im zweiten Jahr eine Wohnung in Penzing inne, das damals wie ein Vogelnest in Tausenden von Gärten lag, und in dem sich noch kein einziges Zinshaus befand – von Wien war es durch große Wiesen und Felder getrennt. Das Häuschen, in dem wir dort gelebt haben und das in einem uralten Baum- und Grasgarten lag, soll noch bis vor kurzem unversehrt geblieben sein ... Jetzt wird wohl eine trotzige Zinsvilla mit japanischem Miniaturgärtchen an seiner Stelle stehen.

Vielleicht habe ich hier mit der reinen, würzigen Luft die Widerstandskraft eingesogen, die mich bis heute trotz meines schwächlichen Körpers befähigte, allen möglichen Krankheiten zu widerstehen.

Leider blieben wir nicht lange in diesem Märchenhäusel. Ich zählte etwas über zwei Jahre, als mein Vater eine chemische Mischung zusammensetzte, welche imstande war, den Kesselstein zu lösen und dessen erneutes Ansetzen zu verhindern. Er nannte sie hochtrabend, um damit den nötigen Eindruck zu machen, Baralitikon Minerale und wollte nun versuchen, in dem industriereichen Ungarn, wo ja auch die Lebensführung noch eine viel billigere war als in Wien, damit sein Auskommen zu finden.

So zogen wir nach Szegedin, wo mein Vater um weniges Geld ein zweistöckiges Haus zu mieten bekam; er durchreiste nun ganz Ungarn und auch zum Teil die angrenzenden Länder, um sein Pulver an den Mann zu bringen, was ihm auch ohne viel Mühe gelang. Unterdessen besorgten Mutter und Schwester den Haushalt, versandten die bestellten Lösemittel und erledigten die Geschäftsbriefe.

Ganz in der Tiefe meiner ersten Kindheitserinnerungen gewahrt mein innerer Blick einen großen, ungeschlachten Hund, der immer kreuzvergnügt um mich herumspringt und auf den Schulze- und Maier-Namen der Hunde »Tyras« hört, aber nicht folgt.

Es soll ein echter Neufundländer gewesen sein, den mein Vater gegen einen schlechten Schinken in Tausch genommen hatte.

Mit dem Kopf auf den Vorderbeinen liegt er im Hofe neben dem Ziehbrunnen und verfolgt halb mißtrauisch, halb wohlwollend das Kommen und Gehen seiner Freunde und Feinde. Sehnsüchtig wartet er meiner, seines treuen Spielkameraden, der noch durch irgendein böses Schicksal von ihm ferngehalten wird, vielleicht eben seinen Lebertran hinunterjammert. Manchmal schließt er die Augen, denn diese kecke Morgensonne der Pußta stört ihn, und er sinnt über neue Spiele und Wege nach. Vieles ist schon langweilig geworden; die Schweine sind schon zu oft aus dem Stall gejagt, wenn es auch nicht schlecht ist, sie wie toll herumlaufen zu sehen und ihr sonderbares Kreischen zu hören. Oder mit dem kleinen Herrchen plötzlich mitten in die Hühner zu springen, wenn dies auch ein wenig unter der Würde eines ernsten Hofhundes ist. Ja, der Garten, das wäre das richtige! Dort gibt es so viel noch zu entdecken und wunderbare Spiele zu spielen. Aber nun haben sie die Tür zu diesem Paradies abgesperrt, weil es unter der letzten Mäusejagd gar zu arg gelitten hatte. In dieser tiefen Nachdenklichkeit wird Tyras von seinem kleinen Freund gestört, der die knorrige Treppe heruntertrippelt, in der Seele froh, aller Tyrannei entronnen zu sein. Im Triumph der errungenen Freiheit schwenke ich einen unterwegs aufgegabelten Lappen über meinem semmelblonden Haarschopf und krähe den Kriegsruf. Tyras wedelt mit dem Schweif mit unerhörter Fertigkeit, ist aber nicht ganz bei Stimmung. Was sollte er beginnen? Am besten ist's, wieder weiterzudösen. Ja, wenn man fliegen könnte wie dieses freche Ungeziefer, die Spatzen!

In seiner Nörgelei hält er plötzlich inne, denn – er hat meinen Lappen gesehen, staunt ihm erst entgegen und rappelt sich dann auf seine Vorderbeine. Mit einem Satz ist er bei mir, bellt vor Freude, daß die Fenster des Hauses zittern, und verbeugt sich einige Male vor mir, um damit anzuzeigen, daß er mich verstanden hat. Springt dann auf das Tuch zu, um es mir zu entreißen. Das ist nun ein herrlicher Gedanke, den Tyras erfunden hat, und ich juble laut darüber, fest entschlossen, ihn unter keinen Umständen in den Besitz des Tuches gelangen zu lassen. Es ist ein Spiel mit tausend Variationen. Bald schleife ich den Fetzen am Boden, bald hebe ich ihn so hoch wie ich nur kann, verberge ihn hinter meinem Rücken und halte ihn eine Sekunde keck vor Tyras' Schnauze, dreh' mich wie ein Kreisel, bücke mich und springe bald da-, bald dorthin und wälze mich endlich mit Tyras auf der Erde herum, immer noch das Kampfobjekt siegreich in der Hand, wenn es auch schon ganz zerfetzt ist.

Plötzlich hat er aber wieder ein Ende erfaßt, und nun geht der Kampf mit doppeltem Eifer weiter. Eins zieht da-, das andere dorthin, ich muß es mir gefallen lassen, daß mich Tyras im Zickzack durch den Hof zerrt, denn, natürlich, loslassen und mich besiegen lassen kann ich nicht! Die Tauben, Hühner, Truthähne und all das andere Geflügel sehen uns interessiert und ein wenig ängstlich zu. Aus dem Lattenwerk des Kobens stecken uns die Schweine ihre Rüssel entgegen und nuscheln eifrig: »oi, oi, zoi, zoi«, das heißt, »zieh an, zieh an«. Nur die Katze blickt mißmutig aus ihrem Pelze und schnurrt Ermahnungen, was uns natürlich nicht sehr zu Herzen geht.

Plötzlich wird die Geschichte ernster. Ich bin auf die Knie gerutscht, und Tyras zieht mich unerbittlich weiter, weiter, bis ich pitsch – patsch in den metertiefen Unrat der Senkgrube falle und ein mörderisches Geschrei erhebe. Lange kann ich aber nicht schreien, denn bald dringt es mir zäh wie Honig, aber lange nicht so gut schmeckend, in Nase, Mund und Ohren. Ich höre noch die Schreckensrufe unserer alten Dienerin Leni, kann aber nicht mehr darauf antworten, denn ich fühle auf einmal in meinem Kopf ein Tier, das mir den Atem nimmt, weil ich es nicht herauslasse.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einer Badewanne, und Mutter, Schwester und Leni drücken und küssen mich unter lauten Freudenrufen. Die Schwester hält sich von Zeit zu Zeit die Nase zu und schneidet Grimassen, und nun kommt auch der Vater die Stiege herunter und sagt zur Mutter: »Der Tyras ist schon fort, ich habe ihn dem Metzger geschenkt.«

Darüber fing ich furchtbar zu weinen an, und weder die Aussicht auf ein Honigbrot, das mir die Mutter, noch auf eine Tracht Prügel, welche der Vater mir versprach, konnten mich beruhigen. Vielleicht ahnte ich, daß ich nicht so bald wieder in den kostbaren Besitz eines echten Neufundländers gelangen werde.

Zu dieser Zeit hatte es den Anschein, als sollte mein Vater noch einmal geschäftlichen Erfolg haben, nachdem ihm dieser so lange aus dem Weg gegangen war. Meine Mutter wußte manchmal nicht, auf welche Weise die vielen Aufträge zu erledigen, und mußte oft die Nacht benutzen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Ich sehe sie oft vor mir: einen mächtigen Bottich vor sich, in welchem sie verschiedenfarbige Erden mit Chemikalien vermengte: diese Mischung ergab dann das Mittel zur Lösung des Kesselsteins, das der Vater entdeckt hatte.

Das Hantieren mit diesen großen Mengen von Zement, Soda, Engelrot und anderem Teufelszeug entwickelte furchtbar viel Staub, in dem die Mutter wie in einer Wolke stand. Sie durfte wegen des streng zu bewahrenden Geheimnisses der Erfindung bei dieser Arbeit keine Hilfskraft anstellen, ja der Vater sah es nicht einmal gern, wenn ihr manchmal meine Schwester half, da er fürchtete, sie könnte es einmal Fremden verraten.

Meine Mutter war trotz der großen Mühe, die sie ihr bereitete, nicht ungern bei der Arbeit, da es uns ein hübsches Stück Geld ins Haus brachte; so wenig sie für sich selbst beanspruchte, so eifrig war sie bedacht, für ihre beiden Kinder einiges zurückzulegen. Machte ihr doch ich selbst keine geringen Sorgen, da ich mich nie rechter Gesundheit erfreuen konnte und meinetwegen der Arzt ein ständiger Gast des Hauses war. Auf einige Wochen relativen Wohlseins folgten lange Perioden, in denen ich das Bett kaum auf einen Tag verlassen konnte. Auch zeigten sich nun an meinem Körper die ersten Spuren einer schweren Rachitis, der man mit einem Geradehalter beizukommen suchte. Dieses Marterding aus Holz, Gummibändern und Eisen schmerzte nicht wenig und drückte mir die Haut wund. Ich fürchtete es, wie der mittelalterliche Verbrecher die Daumschrauben.

Da der Vater oft monatelang auf seinen Geschäftsreisen ausblieb, hatte meine Mutter nebst der vielen Arbeit auch noch die Verantwortung für uns Kinder und den nicht kleinen Hausstand zu tragen. Dazu war die Gegend, in der wir lebten, nicht allzu sicher, stand doch das Haus ziemlich einsam an der Stadtgrenze, umgeben von Hütten, in denen recht zweifelhaftes ungarisches Volk lebte; dieses haßte die Deutschen und schreckte nicht davor zurück, ihnen da und dort ein kleines Feuerchen zu legen. Die eine Seite des weitläufigen Gartens grenzte an die Pußta, wo oft Zigeuner ihr Lager aufschlugen; diese kletterten meist ungeniert in unsern Garten und stahlen, was ihnen unterkam, Obst und auch manchmal Geflügel. Wäre meine Mutter nicht eine so resolute Frau gewesen, die keiner Gefahr aus dem Wege ging und die Bösewichter oft durch ihr sicheres Auftreten verjagte, so hätten sie uns den größten Schaden zufügen können. Unter dem Deckmantel nationaler Begeisterung wollte man sogar mehrmals des Nachts unser Haus erstürmen, da wir als Deutsche bekannt waren und von den chauvinistischen Hetzern als Feinde des Magyarentums ausgegeben wurden. Man wartete für diese nationalen Demonstrationen meist die Abwesenheit meines Vaters ab, dessen Riesenstärke und Berserkerwut im Umkreise ruchbar geworden. Einmal kam es so weit, daß die auf Schleichwegen geholte Gendarmerie mit blinden Schüssen in das johlende Gesindel hineinfeuern mußte, da dieses bereits den Zaun niedergerissen hatte und eben daranging, das Haus zu plündern.

Man kann sich darum vorstellen, wie groß unsere Freude war, wenn der Vater von seinen Reisen heimkehrte. Er brachte auch jedesmal einen großen Koffer mit feinen und schönen Sachen für uns mit, denn seiner alten Leidenschaft, so viel zu schenken wie nur möglich, war er treu geblieben. Da geschah es nun oft, daß er uns mit der einen Hand für die während seiner Abwesenheit begangenen Untaten züchtigte, während er uns mit der andern die schönsten Spielsachen und Geschenke zusteckte, so daß wir fortwährend vom Lachen ins Weinen fielen und umgekehrt.

Während seiner Anwesenheit gab es nun auch wieder beinahe jeden Abend Gäste im Hause, darunter gar sonderbare Gesellen, die ich noch heute vor mir sehe. Unter diesen erinnere ich mich eines jüdischen Weinhändlers, der sich meiner besonderen Zuneigung erfreute. Wenn sich sein über alle Maßen dicker Leib mühsam durch unsere Tür zwängte, sprang ich wie aus einer Kanone geschossen auf ihn zu und war den ganzen Abend hindurch nicht von ihm wegzubringen. Er hatte aber auch in jeder der unzähligen Taschen seiner Kleidung Geschenke für mich stecken, die im Laufe seines Besuches in meinen Besitz übergingen. Er war einmal in der Türkei gewesen und trug seitdem zu jeder Zeit einen dunkelroten Fes auf seinem kahlen Schädel und rauchte einen unerhört langen Tschibuk. Beim Essen sprach er kein Wort, verschlang aber dafür mit seinem rüsselförmigen Mund Berge von Speisen. Ein besonderer Leckerbissen war ihm Schweinefleisch, das er bei sich zu Hause nie auf den Tisch bekam. So dick er war, machte es ihm doch keine Schwierigkeiten, mit mir auf allen vieren durchs Zimmer zu hopsen und alle möglichen athletischen Kunststücke auszuführen. Vorzüglich verstand er es auch, Tierstimmen nachzuahmen, weshalb ich mit Vorliebe »Menagerie« mit ihm spielte; er mußte dabei den wilden Bären machen und sich von mir in den Käfig treiben lassen, welcher aus einem großen Tisch bestand; vor den ich die Sessel gerückt hatte. Oder ich war der Hirsch, den er verfolgte, seinen Tschibuk als Gewehr benutzend und mich so oft erschießend, bis ich von der Flucht, die meistens durchs ganze Haus ging, wirklich ermüdet, mich ergab. Wegen seiner Schießfertigkeit hatte ich ihn auch Onkel Bum getauft.

Eine nicht geringere Freundschaft verband mich mit einem anderen häufigen Gast meiner Eltern. Es war ein junger, schmächtiger Mann, dem der rechte Arm fehlte. Dies hinderte ihn aber nicht, mit seiner linken Hand und unter Beihilfe des Mundes und der Füße die schönsten Eisenbahnzüge samt Brücken, Wächterhäuschen und Semaphoren aus steifem Papier, Schachtelholz und Spagat zu verfertigen, weshalb er in meinen Augen ein gottbegnadeter Künstler war, dem ich die größte Verehrung zuteil werden ließ. Er sprach wenig, sang aber viele Lieder in einer fremden Sprache, die nur die Eltern verstanden.

Eines Tages holte man mich vom Spiel weg und zog mir ein schwarzes Gewand an, und ich war sehr erstaunt, auch die Eltern und die Schwester ganz schwarz gekleidet zu sehen. Wir gingen dann zur Stadt und kamen vor ein Haus, vor dem viele Menschen mit feierlichen Mienen standen. Auf einmal kamen sechs herrlich gekleidete Männer mit Silberborten am Rücken und sonderbaren Hüten in langsamen Schritten durch das Tor, während sie eine lange schwarze Kiste trugen, die mit goldenen Reifen und Nägeln beschlagen war. Auf dem Deckel stand ein Kreuz und lagen viele Blumen, und es war dies alles recht schön anzusehen. Trotzdem fingen einige Männer sehr traurig zu singen an, während alle den Hut abnahmen und mein Vater zu mir sagte: »Awe, du mußt auch deine Kappe abnehmen. Siehst du, in diesem Sarg liegt unser lieber Freund, der gestorben ist und nun auf den Friedhof hinausgetragen wird.« – Der Vater will sich einen Spaß mit mir machen, dachte ich und blinzelte lustig zu ihm hinauf. Als ich aber in seinem sonst so energischen Gesicht Tränen sah, wurde mir inne, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Verständnislos blickte ich zum Sarg. Da drinnen sollte mein Freund liegen? Der einarmige Eisenbahnmacher?

Als ich verstört um mich blickte und nun die meisten Leute schluchzen hörte, fing auch ich jämmerlich zu weinen an. Meine Schwester mußte mich nach Hause führen, da ich mich nicht mehr beruhigen wollte.

Viele Wochen lang wartete ich auf das Wiederkommen meines Freundes. Aber ich wartete vergeblich, und allmählich kam mir die Erinnerung an jene Worte wieder, die mein Vater im Anblick der schönen Kiste zu mir sagte. So hieß sterben fortgetragen werden, weit fort, und nicht mehr zurückkommen dürfen?

Jahre später erzählte mir der Vater die tragische Geschichte unseres einarmigen Hausfreundes. Er war Ingenieur in einer großen Maschinenfabrik und hatte eine glänzende Zukunft vor sich. Da kam der Okkupationskrieg, wo er, als Reserveoffizier eingerückt, durch einen Handscharhieb den rechten Arm einbüßte. Alle seine Bemühungen, eine seiner Fähigkeit entsprechende Beschäftigung zu finden, waren vergeblich. Den Krüppel wollte niemand anstellen. In der Verzweiflung schoß er sich deshalb eine Kugel in den Kopf, die den sofortigen Tod herbeiführte.

In jener Zeit stürmten auch noch andere, mir bisher unbekannte Geschehnisse auf mein kindliches Gemüt herein, Tragödien, die das Leben und die Natur hervorriefen; mein aufkeimender Verstand hatte viele Mühe, sich damit abzufinden.

Szegedin war zur Zeit unseres dortigen Aufenthaltes noch eine ausgesprochen ungarische Landstadt. Orientalischer Schmutz, asiatische Nachlässigkeit waren noch nicht der westeuropäischen Hygiene und der nüchternen Zweckmäßigkeit modernen Gemeindewesens gewichen. Abgesehen von einigen Neubauten und den Regierungsgebäuden waren die Häuser größtenteils aus Holz gebaut. Auf den ungepflasterten Straßen sproß dichtes Gras, lag in mächtigen Haufen der Kehricht, und Schweine, Hühner, Enten und Gänse spazierten mitten in allem Unrat umher. Selbst auf den Hauptplätzen und -straßen war es nicht besser, obwohl diese notdürftig gepflastert waren, und es mag ein seltsamer Anblick gewesen sein, wenn vor dem prunkvollen, mit marmornen Aufgängen, Säulen und Türmen geschmückten Rathause die Schweine in Rudeln lagerten. Wenn ich an Szegedin denke, so spüre ich vor allem den Duft von Pferdemist und faulendem Gemüse in der Nase.

Ebenso mangelhaft war der Schutz vor Hochwasser; Überschwemmungen ganzer Stadtteile, durch die Theiß hervorgerufen, waren an der Tagesordnung.

Mein Vater war Mitglied der deutschen Brand- und Wasserwehr und wurde, wenn er sich nicht auf Reisen befand, beinahe jede Nacht geweckt, um einem durch Wasser oder Feuer bedrängten Nachbarn Hilfe zu bringen. Bisher hatte es in unserer nächsten Nähe noch nicht gebrannt, und es war mir daher der schrecklich schöne Anblick eines Hauses in Flammen noch unbekannt geblieben; da sollte sich plötzlich eines Nachts dieses Bild in gewaltigster Form in meine Seele senken.

Etwa dreihundert Schritt von unserem Hause entfernt befand sich in einem hohen vielfenstrigen Holzbau ein Kaufmannsladen, dessen Besitzer den ersten Stock des Hauses bewohnte, während man in den übrigen Räumen die Waren untergebracht hatte.

Eines Abends war ich soeben zu Bett gelegt worden, die Mutter saß bei mir und sang mir eines ihrer vielen Volkslieder vor, die sie alle auswendig wußte, als auf einmal sämtliche Glocken der Stadt durch heftiges Läuten ein Feuer verkündeten.

Der Vater kam im Lederwams mit seinen hohen Wasserstiefeln hereingestampft und schrie: »Denk dir, Mäme, beim Kaufmann am Eck brennt das ganze Haus!« Kaum hatte er dies gesagt, als wir auch schon durch das Fenster den roten Feuerschein sahen, der die Nacht herrlich erleuchtete.

Indes der Vater zum Brandplatz eilte, hüllte mich die Mutter in eine Decke und trug mich in Vaters Arbeitszimmer, von dessen Fenster wir das brennende Haus in nächster Nähe sehen konnten. Die Flammen schlugen aus allen Fenstern und vereinigten sich wie feurige Hände über dem prasselnden Schindeldach. Radgroße Funken flogen in Bündeln in die Höhe und blieben wie tiefrote Sterne eine kurze Weile im Dunkel hängen. Die Straße war voll von Menschen, die Wasser herbeitrugen und schrecklich schrien. Wir blieben die ganze Nacht beim Fenster stehen, Mutter und Schwester voll Angst um den Vater und in der großen Sorge, daß auch unser Haus durch den Funkenflug zu brennen anfangen könnte, ich in starrer, sprachloser Freude über das ungeahnte, wunderbare Schauspiel. In der selbstsüchtigen Grausamkeit des Kindes gedachte ich nicht der Bewohner des niederbrennenden Hauses und war traurig, als die Flammen endlich erstickt wurden.

Anders war es mit dem Bilde der Wassernot, das mir wirklichen Abscheu und Furcht einflößte.

Der immer mehr zunehmende Deutschenhaß sowie der Umstand, daß ich nunmehr ins schulpflichtige Alter kam, veranlaßten meinen Vater, den Hausstand in Szegedin aufzulösen und zur größten Freude meiner Mutter nach Wien zu übersiedeln.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Budapest, wo ich zum erstenmal mit verständigen Augen die steinernen und eisernen Wunder der Großstadt anstaunte, trug uns das Dampfschiff meiner Geburtsstadt entgegen, wo wir im Sommer 1887 ankamen.

Wir zogen in ein Haus in Ober-Sankt-Veit, das damals noch ein Wiener Vorort war. Es lag ganz im Grünen versteckt und war von einem großen Garten umgeben, der an den Park eines Frauenklosters grenzte. Ging man ein paar Schritte weiter, so sah man sich bald mitten in busch- und blumenreichen Auen, durch die die Wien floß, zu jener Zeit noch ein klarer, munterer Gebirgsfluß, in dem es unzählige Fischlein aller Art gab.

Heute steht dort Fabrik an Fabrik, fließt statt der hellen, heiteren Flut von einst ein dürftiges Schmutzwässerchen in einem mächtigen Bett aus grauem Zement und Stein, und das Auge sucht oft lange vergeblich nach ein paar ärmlichen, hungrigen Kastanienbäumchen. Nur die Berge stehen noch wie damals im Halbkreis rundum und blicken ebenso schmerzvoll in das so grausam vergewaltigte Tal wie ich, wenn es mich wieder einmal an diese Stätte fröhlicher Kindheit gezogen hat.

Im Vordertrakt des Hauses wohnte die Familie eines Hauptmanns mit einem mir gleichaltrigen Söhnchen. Wir waren beide bald unzertrennliche Spielkameraden und hatten als dritten im Bunde den Burschen des Hauptmanns, der sich mit uns unterhielt, wenn es ihm nur seine Zeit gestattete.

So sprangen wir bald im Garten umher, bald im Stall, der eine Seite des Hofes einnahm, und wo sich die Pferde des Hauptmanns befanden. Der Höhepunkt unserer Glückseligkeit wurde erreicht, wenn uns der Bursche auf die Pferde setzte und diese mit uns zur Schwemme in die Wien führte. Dann saßen wir mit einem gewaltigen Selbstgefühl in der Brust auf den glänzenden Rücken der geduldigen Gäule und dünkten uns hoch erhaben über die herumlungernde Gassenjugend, die uns neidisch nachblickte. Was waren wir doch für kleine Affen!

Nicht geringer war meine Freude, wenn ich mit der Mutter zur Taufpatin fahren durfte, die im dritten Bezirk wohnte. An einem solchen Tage setzten wir uns schon am frühen Morgen in den engen, achtsitzigen Stellwagen, einen direkten Nachkommen des Zeiserlwagens aus der Biedermeierzeit, und fuhren wohl zwei Stunden lang bis an die Mariahilferlinie. Dort stand mitten in buschigen Gärten, an den Linienwall gelehnt, ein Gasthaus, »Zur alten Hühnersteige« genannt, wo wir unsere zerschüttelten Glieder zusammenklaubten und unbeschreibliche Würsteln mit Kren aßen, von denen das Paar fünf Kreuzer kostete. Von dort ging's zu Fuß durch die Mariahilferstraße und die Stadt, bis wir um die Mittagszeit hungrig und müde bei der Patin anlangten. Diese war sehr reich, führte ein großes Haus und hatte zwei Dienstboten, welch letzterer Umstand mir besondere Hochachtung einflößte. Gleichzeitig empörte es mich aber immer wieder, daß ich als Patenkind mit der Mutter in der Küche bleiben sollte und wir so den armen Leuten gleichgestellt wurden, denen man dort oder am Gange einen Teller Suppe reicht. Diese Demütigung konnte ich auch später nicht vergessen, und sie mag mich veranlaßt haben, meine Beziehungen zu dieser reichen Frau abzubrechen.

Damals aber versöhnte sie mich immer wieder durch die schönen Spielsachen, die sie mir bei jedem Besuch schenkte. Nach dem Essen wurden nämlich meine Mutter und ich in ein mit reichen Teppichen und Möbeln ausgestattetes Zimmer gerufen, wo sie sich eine Viertelstunde mit uns unterhielt. Sie war eine schöne, schlankgewachsene Frau, immer in schwarze Seide gekleidet, und trug ein großes goldenes Kreuz an einer ebensolchen Kette um den Hals. Nachdem ich ein auswendig gelerntes Gedichtlein heruntergestottert hatte, gab sie mir ein großes Paket und verabschiedete sich von uns auf freundliche Weise. In der Küche gab's wohl auch noch Kaffee und Kuchen, dann ging's wieder nach Hause.

Vorerst wurde nun auf der Bank eines nahen Gartens das Paket der Patin untersucht. Da waren meistens feine Dinge zu bewundern: eine Schachtel mit Zinnsoldaten – einmal waren es tausend Stück, und sie stellten den Deutsch-Französischen Feldzug vor – oder ein Bierwagen mit Fässern und einem Kutscher aus Holz und Stoff, Bilderbücher, Eisenbahnzüge, Bälle und andere herrliche Sachen, die ein sechsjähriges Knabenherz wohl höher schlagen lassen und soziales Unrecht, von dem es vielleicht eine leise Ahnung bekam, vergessen machen konnten.

Der Vater sah diese Besuche bei der Patin nicht gern, und so wurden sie meistens in seiner Abwesenheit gemacht.

Er blieb auch jetzt oft Monate aus, ließ manchmal Wochen hindurch nichts, von sich hören, so daß die Mutter oft glauben mochte, es wäre ihm etwas zugestoßen, und sie sich die größten Sorgen um ihn machte. Dann geschah es, daß der Vater plötzlich wieder auftauchte, mit einem Gruß zur Tür hereintrat, als ob er erst seit wenigen Stunden fortgegangen wäre.

Es war von keinem guten Einfluß auf meinen Vater, daß dieser nunmehr ohne die Mutter reiste, die ihn früher oft vor unüberlegten Handlungen zurückzuhalten vermocht hatte; er gab nun oft das Geld, das er eben verdient hatte, auf leichtsinnige Weise aus, spielte und trank Nächte hindurch und schickte meiner Mutter oftmals kein Geld, wenn sie dessen auch noch so dringend bedurfte.

Ja, es kam sogar vor, daß er nach monatelangem Fernsein von seiner Familie ohne Geld und Gepäck, in zerlumpter Kleidung und krank heimkam. Machte ihm dann meine Mutter in ihrer sanften Art Vorstellungen, so quoll heftiger Jähzorn in ihm auf, schrecklicher als früher; er bekam wahre Tobsuchtsanfälle und bedrohte uns und die Nachbarn, die sich einmischen wollten, mit Schlägen.

Hatte sich dann der Sturm gelegt, so hieß es durch Ausleihen oder Versetzen von Wertgegenständen Geld herbeischaffen. War dies geschehen, so wurde Vater wieder der beste Mensch auf Erden, der auf die angenehmste Art von seinen Reiseabenteuern erzählte. Heute sehe ich ihn noch vor mir, wie er mit seinem breiten, mächtigen Körper unter dem milden, warmen Licht der Küchenlampe sitzt und aus einer Meißner Tasse, die einen Viertelliter faßt, sein Lieblingsgetränk schlürft: schwarzen Kaffee mit Rum. Den Tabak zu den selbstgewickelten Zigaretten hat er aus Bosnien mitgebracht, es ist ein starker, türkischer Tabak, und bald liegt ein dicker Qualm in der Küche. Ist die Zeitung ausgelesen, lehnt er sich behaglich in seinem Stuhl zurück, streicht ein paarmal über seinen graumelierten Gottfried-Keller-Bart, als richte er sich damit seine Erzählung zurecht; dann leuchtet es in seinen lichtblauen Augen auf mich und meine Mutter, das heißt: aufgepaßt, und nun fängt er von seiner letzten Reise zu erzählen an. So lebendig, daß wir bald in den wüstesten Gegenden sind und mit ihm die gefährlichsten Abenteuer erleben. Da das Eisenbahnnetz in den östlichen Ländern, die er bereiste, noch ein sehr dünnes war, mußte er viele Strecken zu Fuß zurücklegen, und es ging dann meist durch einsame Gegenden, wo er manchmal Überfälle von Räubergesindel und sogar von Wölfen erdulden mußte. Diese machten besonders die Karpaten unsicher, und mein Vater mußte eines Nachts sogar auf einen Baum steigen und die ganze Nacht dort verbringen, um sich vor dem Angriff der Bestien zu schützen. Diese sprangen ununterbrochen um den Baum herum und heulten zu meinem Vater hinauf, bis sie am Morgen von Jägern verscheucht wurden.

Selbst in der Nähe Wiens wurde er einige Male von Strolchen überfallen, die aber nicht mit der Stärke meines Vaters gerechnet hatten. Eines Nachts wurde er auf der Landstraße von Schwechat nach Wien von einem Mann mit dem Messer bedroht, worauf ihm mein Vater einige Male mit seiner Ventilzange, die er immer bei sich trug, über den Schädel hieb. Der Angreifer fiel dann zum großen Schrecken meines Vaters zu Boden und rührte sich nicht trotz allen Rüttelns und Schüttelns. Einem daherfahrenden Ochsenknecht teilte mein Vater das Geschehene mit, dieser aber zeigte mehr Erfahrung und hieb dem Strolch, der im Kot lag, noch eins mit seinem Ochsenziemer über den Rücken, worauf der Mann zur größten Verwunderung meines Vaters mit einigen unverständlichen Schreien aufsprang und durch die Felder davonjagte.

Ein anderes Mal war es zwar meinem Vater geglückt, drei Halunken mit seinem Degenstock in die Flucht zu schlagen, er wurde aber dann von einem herbeieilenden Gendarm angezeigt und wegen unbefugten Waffentragens zu einer Geldstrafe verurteilt.

*

Mittlerweile war ich sechs Jahre alt geworden und sollte in die Schule geschickt werden. Wir waren unterdessen von Ober-Sankt-Veit nach Lerchenfeld in eine Straße gezogen, die nichts mehr von der unberührten Ländlichkeit unseres früheren Heims, sondern typischen Großstadtcharakter hatte. In nächster Nähe unserer Wohnung befand sich die Gemeindevolksschule, in welcher ich eingeschrieben wurde und wo man nun begann, mich meinem eigenen Ich zu entfremden.

Meine Mutter hatte mich bereits zu Hause ein wenig im Schreiben und Lesen unterrichtet, so daß ich nur ein halbes Jahr in der untersten Klasse zu verbringen brauchte und dann in die höhere versetzt wurde.

Mein Lehrer war ein unglaublich magerer, langer und steifer Herr, der einen immer zugeknöpften Gehrock trug und dessen blaurotes Gesicht über und über mit Pickeln besät war, der Katechet dagegen ein kleines, rundliches Männchen mit buschigem Schnurrbart und starren Glaskugelaugen. Beide glichen sich leider sehr in der Vorliebe für Alkohol und kamen nachmittags manchmal halbbetrunken zur Schule. Während der Oberlehrer in diesem Zustand kaum ein Wort zu uns sprach, sondern dies seinem kurzen Rohrstab überließ, erzählte uns der Katechet mit lallender Stimme die drolligsten Geschichten. Wenn ich abends meinen Eltern aus dem nahen Gasthause ein Glas Bier zum Abendbrot holte, konnte ich meine beiden Lehrmeister in der Wirtsstube sehen: den Oberlehrer stieren Blicks vor seiner Weinflasche in einer Ecke kauernd, den Katechet beim Kartenspiel und laut schwatzend.

Dieses Erlebnis hat sich mir tief in die Seele geprägt, war es doch eine der ersten Enttäuschungen meines Lebens. Noch dumpf und ungeklärt, noch unbegriffen und nicht bestimmbar rang sich in mir die trostlose Erkenntnis empor, daß der größte Teil alles Schönen und Edlen nur Schein ist, eine wundervolle Lüge, die wie eine Seifenblase zerbricht, wenn der Alltag sie berührt. Scheu wie alle Kinder, wenn es gilt, ihr Inneres bloßzulegen, verbarg auch ich das Geschaute selbst vor meinen liebsten Anverwandten, vergrub ich meine Entdeckungen tief in mir und war nur ängstlich bemüht, meinen Lehrern, wo es anging, aus dem Wege zu gehen, und geriet in heillose Verwirrung, wenn mich einer von ihnen anrief und eine Frage an mich stellte.

Da mich meine Mutter, aus Furcht, ich könnte an Leib oder Seele Schaden nehmen, nicht auf der Straße mit anderen Kindern spielen ließ und ich die meiste Zeit mit mir allein verbringen mußte, begann ich frühzeitig über mich selbst und die Dinge ringsum nachzudenken und in mich hineinzugrübeln. Meistens saß ich unter dem großen, runden Speisetisch und spielte mit meinen Zinnsoldaten und Bausteinen, mit Hilfe welcher ich mir alle möglichen Geschichten zusammendichtete. Kein Gegenstand um mich herum, kein Spielzeug konnte so uninteressant sein, daß ich ihn nicht in eine meiner oft sehr ereignisreichen Geschichten verflochten hätte.

So war es auch kein Wunder, daß ich jedes Buch, jeden Zeitungsfetzen, kurz alles Gedruckte, was ich erwischen konnte, zu buchstabieren versuchte, um das Gelesene dann in meinen Spielen zu verwerten.

Großen Eindruck machte damals der Tod des Kronprinzen Rudolf auf mich, mit allen damit verbundenen Feierlichkeiten und Zeremonien. Wochenlang begrub ich feierlichst und mit allem erdenklichen Pomp meine Soldaten und verglich so oft wie möglich die Bilder der Zeitungen mit meinen eigenen mühevollen Aufmachungen.

War ich allein zu Hause, was oft geschah, so durchstöberte ich mit Vorliebe eine riesige Schublade, in welcher sich Stoffreste befanden, von denen ich mir die aneignete, die ich zu meinen Schaustücken verwenden konnte. Im erwähnten Fall also alles schwarze Zeug, mit dem ich eine Zimmerecke austapezierte und die Fahnen und Decken des Katafalks, der ein Zigarrenkistel war, verfertigte. Auch die lebenden Zinnsoldaten trugen einen schwarzen Flor um die Arme.

Meine Eltern störten mich selten in meinen Spielen. Der Vater war selten daheim, und die Mutter war froh, daß ich mich zu Hause beschäftigte und nicht auf die Straße verlangte, die sie für den Tummelplatz alles Schlechten anschaute.

Sie sah es ja nicht oder wollte es nicht sehen, wie sehnsüchtig ich oft das Gesicht gegen die Scheiben drückte und, traurig im Herzen, nur mit Blick und Seele an dem freien Spiel der Kinder auf der Straße teilnahm. Ein kleiner Gefangener, der schwer an der Kette litt, die Gesellschaft und Familie um ihn geschmiedet hatten.

Seltsamerweise verbot mir dagegen meine Mutter nicht, die Romane, die meine Schwester nach Hause brachte oder die ich in der Zeitung fand, zu lesen, obwohl dies oft die schrecklichsten Hintertreppengeschichten waren und ich kaum sieben Jahre zählte. So saß ich oft stundenlang und berauschte mich an den Taten des Rinaldo Rinaldini oder Rocamboles, des edlen Einbrecherkönigs von Paris. Daneben guckte ich aber Gott sei Dank auch in andere Bücher, die sich in der dürftigen Bibliothek meiner Eltern befanden.

Da gab es vor allem ein fünfhundert Seiten starkes Schullesebuch, das die Schwester in einer reichsdeutschen Schule gebraucht hatte. Die wunderschönsten Märchen standen drin, Erzählungen und Gedichte, und ich erinnerte mich gern an den Eindruck, den Tiecks Märchen vom blonden Eckbert und die Arnimsche Invalidengeschichte auf mich machten. Immer wieder mußte ich auch die klirrenden Balladen von Schwab, Uhland, Körner und Heine lesen.

Im Gegensatz zur Mutter mißbilligte mein Vater diesen Hang zur Lektüre, jedoch nicht aus moralischen Gründen, sondern vielmehr weil er darin eine unnütze Zeitverschwendung sah.

Auch wünschte er, daß sein Sohn einst ein tätiger, tapferer Mensch würde, kein Ofenhocker und säuselnder Traumichnicht, und so hätte er es auch lieber gesehen, wenn ich auf der Straße herumgetollt und abends zerrissene Hosen und einen verbeulten Kopf heimgebracht hätte, statt mäuschenstill in einer Ecke zu sitzen und einen Satz nach dem anderen zu verschlingen. Er nannte alle Bücher »dämliche Schwarten« und hätte gewiß keine Freude an seinem entarteten Sohn, der jetzt selbst unnütze Gedichte und Erzählungen schreibt.

Kam er von seinen Reisen zurück, versteckte ich sogleich sorgfältigst alles Gedruckte vor ihm, mit Ausnahme der Märchenbücher, die er brummend duldete, weil es Weihnachtsgeschenke waren. Denn geschah es, daß er übler Laune war, so fütterte er den Ofen mit den verhaßten Büchern, wenn ich gegen solchen Vandalismus auch noch so protestierte und ein fürchterliches Zetergeschrei anhub. Mein Trost wurde dann meist eine Tracht Prügel, die er mir aus dunklen erzieherischen Erwägungen heraus verabreichte.

Daß den Büchern, die ich als Weihnachtsgeschenke erhielt, eine Ausnahme zuteil wurde, hat seinen Grund in der Stellung, die mein Vater zu dem Weihnachtsfest einnahm.

Seit jeher feierte er diese Tage vor allen Festen mit besonderer Liebe und betrachtete alles, was mit ihnen zusammenhing, als geheiligt. Die Vorbereitungen zu der Bescherung dauerten viele Wochen. Er arbeitete in dieser Zeit mit einer sonst ungekannten Ausdauer, um ja recht viel Geld für die Einkäufe zu sparen. So sehr er sonst in den Tag lebte und das Geld zum Fenster hinauswarf, drehte er in dieser Zeit jeden Kreuzer zehnmal um und warf ihn dann meist doch noch in die Sparbüchse, die er aus einem Kochtopf selbst verfertigt hatte. Je näher der große Tag kam, desto höher schichteten sich die Pakete, die mein Vater im Verein mit der Mutter nach Hause brachte. Einige Tage vorher wurde in zwei mächtigen Waschtrögen aus zwanzig bis dreißig Kilo Mehl, einer Menge Rosinen, Mandeln und Zitronat ein Teig gemacht, der schließlich in riesigen sogenannten »Leipziger Stollen« zum nahen Bäcker getragen wurde, welcher ihn dann nach kurzem lieblich duftend und fertig gebacken der Mutter zurückbrachte. Der Christbaum mußte so hoch sein wie das Zimmer und ward mit einer Überfülle von Nüssen, Äpfeln, Bäckereien und Orangen behängt. Gänse und Fische wurden gebraten, Punschessenzen gebraut, der Heringssalat in Riesenportionen angerichtet. Alles geschah unter der Leitung des Vaters, der unermüdlich war in seinem Amt als Koch und Arrangeur. Am Festabend selbst sangen wir vorerst das alte, stimmungsreiche Lied »Stille Nacht, heilige Nacht«, dann flammte ein halbes hundert Kerzen in der grünen duftenden Pracht des Baumes auf, und die Bescherung begann. War diese zu Ende, so fing das Schmausen an, das mit kurzen Unterbrechungen zwei festliche Tage dauerte. Während dieser Zeit erlaubte mein Vater uns kaum das Notwendigste zu arbeiten, ich durfte weder eine Aufgabe für die Schule machen noch aus dem Schulbuch etwas lernen. Alles mußte sich den Tafelfreuden, dem Ausruhen und Spiel hingeben.

Zu Beginn des dritten Schuljahres beschloß meine Mutter auf den Rat meiner frommen Frau Patin, mich in das Internat der geistlichen Schulbrüder in Preßbaum bei Wien zu stecken. Der Vater, der meiner Mutter in Erziehungssachen freie Hand ließ, hatte nichts dagegen, und so mußte ich vom Elternhaus Abschied nehmen, was ich mit schwerem Herzen tat.

In dieser Erziehungsanstalt, die eine Volks- und Bürgerschule umfaßte, verbrachte ich die drei nächsten Jahre meiner Kindheit. Nur Kind, wenn ich in den Ferien zu Hause weilte, dort aber ein Wesen, das voll von Bösem war, ein klobiges Stück Menschenholz, das in die Drehbank des geistlichen Unterrichts fest eingespannt und mit dem Stahl rücksichtsloser Lehrmoral bearbeitet , wurde, daß die Späne davonflogen. Meinen hundert Kameraden, die mit mir die weißgetünchten, mit billigen Heiligen- und Monarchenbildern behängten Säle und Schulzimmer bewohnten, erging es nicht besser.

Bei den Lehrern herrscht fast ausnahmslos die Meinung, alle Knaben des Internats seien boshafte, lernfaule, nur auf schlechte Streiche bedachte Teufelsbeflissene, denen nur mit äußerster Strenge beizukommen sei. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß sie eben dadurch unser kindliches Gemüt verhärteten und uns zu Heuchlern und Mißgünstigen erzogen. Sie hofften uns durch Gebete und andere geistliche Übungen zu bessern und uns zu braven, geduldigen Lämmern für Staat und Kirche zu machen.

Hätten unsere eifrigen Lehrer nur eine Ahnung gehabt, wie sie uns durch das fortwährende Bearbeiten unserer noch so reinen Seele mit diesen abgegriffenen toten Worten, die wir oft stundenlang herableierten, die wirkliche Religion verhaßt machten, sie wären vor ihrem unheilvollen Einfluß in argen Schrecken und großes Entsetzen geraten.

Es gab unter unseren Lehrern ja auch einige, die mit wirklicher Liebe zu uns kamen und in unserer Erziehung auch noch andere Ziele vor Augen hatten, als uns nur einzig und allein vor der Hölle zu retten. Es waren dies aber Ausnahmen, und der größte Teil des Lehrkörpers war Anhänger der obenerwähnten Erziehungsform.

In dieser Schule, wo an jeder Wand das Bild des gekreuzigten Kinderfreundes hing, blühten alle Laster einer schlechten Erziehung: Spionage und Angeberei, Heuchelei und Eifersucht, Roheit und Hinterlist. Wie konnte es auch anders sein bei einem solchen System?

Kurze Zeit nach meinem Eintritt ins Kloster sollte ich mich, vollständig rein und unwissend in geschlechtlichen Dingen, zur Beichte vorbereiten. Bei dieser Gelegenheit stellte uns der Lehrer die verfänglichsten Fragen, die uns, hätten wir sie verstanden, viel eher mit der geschlechtlichen Verirrung bekannt gemacht hätten als die Lockungen eines verdorbenen Kameraden. Bei diesen Beichtvorbereitungen versuchten wir krampfhaft so viele Sünden wie nur möglich in uns zu entdecken und schrieben diese dann auf den Rat des Lehrers auf ein Stückchen Papier, damit sie uns nicht wieder aus dem Gedächtnis kamen.

So konnte man die seltsamsten Sünden auf so einer Gewissensrechnung finden, und der Witz von dem Bürschchen, das den Ehebruch als begangene Sünde anführte, hat leider viel Wahres an sich.

Das Kloster war ringsum von Wäldern und mäßig hohen Bergen umgeben, und wir hatten jeden Tag Gelegenheit, in dem großen uralten Park, der zum Hause gehörte, zu spielen. Mächtige Kastanienbäume behüteten großväterlich die junge Brut unter sich, und saftige Wiesen glitten in holdem Schwung zu dem grünsilbrigen Fluß hinunter. Trotz all dieser Freudigkeit, die hier die Natur den Menschen schenkte, nahm mein Bubenherz die Ferienzeit mit lautem Erlösungsjubel entgegen.

Wohl mußte ich zu Ostern und Pfingsten in der Anstalt bleiben als Strafe für meinen geringen Fleiß, den ich für gewisse Unterrichtsgegenstände an den Tag legte; aber wenn die großen Sommerferien begannen, ging die Pforte auch für mich auf, und den Weg in die Güte und Freiheit des Elternhauses konnte mir kein mit meinem Betragen noch so unzufriedener Schulbruder verstellen.

Und fand ich zu Hause auch manches verändert – die Schwester hatte geheiratet, die Eltern waren durch schlechteren Geschäftsgang gezwungen worden, in eine Wohnung zu ziehen, die nur aus zwei Zimmern und der Küche bestand –, die Liebe der Mutter, das Gefühl der Unabhängigkeit von den Launen eines mir nicht gewogenen Lehrers und auch die Freiheit im Spiel und im Lernen erzeugten in mir einen sechswöchigen Rausch kindlicher Freude an den unscheinbarsten Dingen. Jetzt durfte ich die Augen weit aufmachen, durfte schauen, schauen, soviel ich wollte, ohne daran erinnert zu werden, daß ich meinen Blick in ein langweiliges Lehrbuch zu senken hatte. Nicht mehr den ganzen Tag von Sünde und Buße reden zu hören, nicht immer Dankbarkeit heucheln zu müssen für die Erziehung, deren man teilhaftig wurde! Keine geschwollenen Finger zu haben, weil man nicht geprügelt wurde, wenn man auch nicht in einem fort der eigenen Bosheit und Unwürdigkeit eingedenk war!

Die Himmelsbläue, die duftigen Farben der Wiesenblumen, die Wellen im Bache und die Fischlein drin, die Käfer und Schmetterlinge in den Feldern, die Ausflüge in die Märchenwälder, der ballige Schnee im Winter, das abendliche Spiel im Erholungssaal, die schönen Bücher, alles was Licht war, Freude, Seligkeit dem Kinde geben kann, gehörte im Kloster nur den Vorzugsschülern, wir aber hatten vor diesen Dingen den Kopf zu senken und an die Schwärze unserer Seele zu denken. Wie ganz anders war es bei den Eltern zu Hause! Die Mutter stellte keine zu hohen Anforderungen an meine Kenntnisse, sie freute sich, lobte ihr Söhnchen, wenn es ein kleines Gedicht Schillers oder Uhlands aufsagte, und drillte mir keine Gebete ein, deren überirdischen Sinn ich nicht verstehen konnte. Mit einem uralten, naiven Morgengebetlein war es für den ganzen Tag abgetan, und Jesus samt seinen Engeln und Heiligen stand mir näher als in der düstren Anstaltskapelle, in der es betäubend nach Weihrauch roch und wo man sich im Winter die ärgsten Erkältungen holte. Für die Mutter war es keine Todsünde, wenn die Finger beim Schreiben ihren eigenen Weg gingen und die Buchstaben durchaus nicht geradestehen wollten, und sie sah es nicht für verschlagene Bosheit an, wenn ich zur Erleichterung einer Rechen- oder Schreibaufgabe zu irgendeinem heimlichen Hilfsmittel griff, wie es wahrscheinlich sämtliche Schüler der Welt machen. Und wenn ich einmal in der Überfülle kindlicher Phantasie irgendeine Sache beim Erzählen mehr ausschmückte, als sich mit der Wahrheit vertrug, oder lieber an sonnigen Tagen auf der Wiese als bei Buch und Heft saß, so waren ihr dies nicht Zeichen großer Verderbtheit, die nur durch Schläge und schlechte Sittennoten gesühnt werden konnten. Auf die Vorstellungen des Vaters hin erlaubte mir nun die Mutter das Spielen mit anderen Kindern auf den ausgedehnten Feldern, welche dem jetzt schon fast verbauten Schmelzer Exerzierplatz vorlagerten. O welch zahlreiche Freuden sind aus diesem Grasboden in meine Adern geströmt! Welch unerhörte Beglückung erfüllte hier manchmal mein kleines Bubenherz! Was geschah nicht alles auf dieser für das Kinderherz so unendlichen Heide, die an den Türschwellen der Häuserzeile begann, in der wir wohnten, und wie eine Meeresfläche gegen die fernen Wienerwaldberge anwogte; mit Baumgruppen und phantastischem Schanzwerk als Inseln, durchzogen von geheimnisvollen Gräben, in denen seltsames Unkraut wucherte und in üppiger Fülle Eidechsen, Kröten, Frösche, weiter draußen sogar Feldmäuse und Wildhasen hausten. Diese Heide war für uns Kinder die unermeßliche Prärie, die gelbe Wüste Afrikas, der Tummelplatz asiatischer Völker und, wenn der Regen über sie hinspülte, die Gefahren aller Art gebärende See. Auf ihrer Einsamkeit gründeten wir die Republik der Kindheit, dichteten wir im Spiele die Cooper- und Hoffmannschen Wildwestgeschichten in gläubigst hingenommene Wirklichkeit um. Alle Gestalten unserer Märchen bevölkerten ihre Erdhügel, Bäume und Gräben. Zelte erstanden auf ihrem Boden und verbargen abenteuerlüsterne Buben, die würdevoll als rote oder germanische Helden Kartoffelkraut und getrockneten Huflattich rauchten.

Aus unserer Heide sogen wir die ehrliche Wildheit, den Mut zur kühnen Tat. Unsere Pfeile und Streitäxte flitzten über sie hin, und auf ihrem weichen, dichten Grase ruhten die Leiber der zwei Fuß hohen Krieger, indes sich ihre Seelen in ewig lodernder Unermüdlichkeit und Erregung neuen, unerhörten Geschehnissen entgegenschwangen. Sie gab uns Kindern Kraft, Befruchtung und gesunde Müdigkeit. O Herz und Hirn des Mannes, noch jetzt erregt es euch seltsam, wehmütig und andächtig, wenn ihr an diese Felder der Kindheit denkt! Mögen die Häuser gesegnet sein, die nun auf ihnen stehen! Die Rückkehr aus dieser Zeit der Ungebundenheit und fröhlicher Hingebung an mütterliche Liebe und gleichgesinnte Kameraden in die graue Dürftigkeit und lieblose Kälte der Anstalt wirkte auf mich immer wie eine unverdiente Strafe. Meist setzte es vorher Kämpfe zwischen Mutter und dem widerspenstigen Söhnchen ab, das in der schulbrüderlichen Erziehung durchaus nicht das Heil seiner Zukunft sehen wollte. Aber die sonst so nachgiebige Mutter war unerbittlich und konnte sogar streng sein, wenn es galt, die Abneigung gegen das Internat zu unterdrücken.

Wie unsäglich froh war ich, wie ausgelassen glücklich, als ich nach Beendigung meines dritten Schuljahres erfuhr, daß ich in diese nicht mehr zurückzukehren brauchte und den Rest meiner Schulzeit in einer öffentlichen Schule, die die Schulbrüder in Wien unterhielten, fortsetzen dürfe. Freilich war es ein trauriges Ereignis, welches den Anlaß zu dieser Veränderung bot. Mein armer Vater hatte auf der Straße plötzlich einen heftigen Blutsturz bekommen, der ihn wochenlang an das Zimmer zu fesseln drohte; auch wußte der Arzt nicht, wie diese böse Sache noch enden werde. So wollte der Kranke seinen Sohn bei sich haben, und auch der sorgenüberladenen Mutter war dies recht. Sie war ohnehin schon nicht mehr jung, und ihr arbeit- und entsagungsreiches Leben war nicht dazu angetan, ihr die Widerstandskraft der Jugend zu erhalten; so konnte ich ihr mit meinen flinken Beinen und nicht ungeschickten Händen manchen Weg abnehmen und manche Arbeit tun.

Glücklicherweise erholte sich mein Vater anscheinend schnell von seiner Krankheit und konnte bald wieder seinen Geschäften nachgehen. Nur das Reisen in ferne Länder mußte er aufgeben, was eine große Einbuße in den Einkünften meiner Eltern bedeutete. Es hieß deshalb, sich noch mehr einschränken und mit einer noch kleineren Wohnung vorliebnehmen. Ich hatte täglich einen weiten Weg zur Schule zu gehen, der über das ausgedehnte Schmelzer Exerzierfeld an der Rückseite des Altwiener Friedhofs vorbeiführte, dessen frühere Gepflegtheit in eine wahre Urwaldwildnis übergegangen war und der einen Tummelplatz für die umwohnende Jugend abgab, wie man ihn herrlicher nicht träumen konnte. Durch die Fürsprache meiner Frau Patin erhielt ich das Mittagessen in einem Kinderheim, das gegenüber der Schule stand und von Nonnen geleitet wurde. Wohl war das Essen selten schmackhaft und oft auch nicht zureichend für den Magen eines im Wachsen begriffenen Knaben, aber es war diese Notabfütterung immer noch zuträglicher als der mittägliche lange Weg nach Hause in Sonnenglut, Regen- oder Schneewetter.

In diesen geänderten Verhältnissen lernte ich nun leichter und mit mehr Liebe als früher im drückenden Zwang der Anstalt. Vorzugsschüler war ich zwar noch immer nicht und bin es auch nie geworden. Vielleicht war ich dazu nicht berechnend genug und zu lebhaft, und es hätte dazu der gleichen Eigenschaften bedurft, die dem Erwachsenen den Weg zum Erfolg bahnen: ein demütiges und unbedingtes Unterwerfen unter jedes Gesetz und Gebot, ein rücksichtsloses Streben und einen Fleiß, der mit der Freude am Lernen nichts zu tun und nur den Drang hinaufzukommen zur Ursache hat.

Was waren mir nur von jeher Rechenaufgaben für qualvolle Rätsel! Auch die deutsche Sprachlehre dunkelte vor mir wie die lichtloseste Nacht; rettungslos verschwand mein armes Hirn darin und fand keinen Ausweg. Die Zeichenstunde fand in mir ein ratloses, unglückliches Geschöpf, das selbst mit dem Lineal keine gerade Linie zeichnen konnte, und beim Schreiben war mehr Tinte auf meinen Fingern als in den bleichsüchtigen Hieroglyphen, die sie aufs Papier malten. Kein Wunder also, wenn ich in all diesen realen Gegenständen des Unterrichts schlechte Noten ins Zeugnis bekam. Um so mehr glänzte ich in Geschichte, Geographie, Naturlehre, im mündlichen Vortrag, in welchen Fächern ich immer ein prahlerisches »Sehr gut« davontrug.

Merkwürdig war es auch, daß mich der Unterricht in Religion und Kirchengeschichte besonders anzog. Ich war darin durch Jahre hindurch eine beneidenswerte Größe und erregte durch mein tiefes Wissen in Katechismus, Zeremonienlehre und so weiter das größte Erstaunen meiner Lehrer. Ich wußte ganze Teile aus der biblischen Geschichte auswendig und improvisierte dort, wo mich das Gedächtnis im Stich ließ, mit viel Geschick und Erfolg.

Als meine Frau Patin von dieser meiner Fähigkeit Kenntnis erhielt, schenkte sie mir eine Menge Bücher, die in leichtfaßlicher Weise religiöse Stoffe behandelten, darunter ein umfangreiches Legendenbuch mit vielen Bildern. Dagegen fand ich zu Hause wenig Verständnis für meine Neigung zu allem Mystischen, Unirdischen und Sagenhaften. Mein Vater, ein vollständiger Freigeist, wußte mit dieser sonderbaren Vorliebe seines Kindes nichts anzufangen, lachte mich deshalb oft aus und hätte es sicher lieber gesehen, wenn ich im geometrischen Zeichnen und Turnen einen tüchtigen Kerl abgegeben hätte.

Gegen das erstere aber lehnte sich meine tolle Knabenphantasie auf, die mit den Zahlen, Winkeln und Formen absolut nichts anzufangen wußte und die in mir nur lebendig wurden, wenn sie in den wütendsten Verschlingungen in meinen Träumen auftauchten.

Das Turnen wieder vermochte mein schon von Geburt aus schwächlicher, von der Rachitis verkrümmter Körper nicht zu ertragen.

Jede Turnstunde war für mich voll leiblicher und seelischer Qual; denn nicht nur, daß mir die vergeblichen Anstrengungen, eine Übung zu bewältigen, Schmerzen verursachten, trug mir meine klägliche Unfähigkeit auch noch den schadenfrohen Spott meiner Kameraden ein.

Als ich einmal nach einer Übung in Ohnmacht fiel und drei Tage mit Fieberphantasien im Bett liegen mußte, wurde ich endlich vom Besuch des Turnunterrichts befreit.

Seltsamerweise hinderte mich meine Schwächlichkeit nicht daran, sonst ein ganz flinker Bursche zu sein, dem kein Sprung zu weit war und der wie ein Hase laufen konnte, der sich auch mit Lust an jeder Rauferei beteiligte und die ärgsten Prügel ertragen konnte, ohne zu mucksen.

Ich hatte auch in jener Zeit vollauf Gelegenheit, diese Vorteile auszunutzen, denn mein Vater, bei dem sich nun die ersten Anzeichen eines langen und furchtbaren Siechtums bemerkbar machten, war oft zu Hause und erlaubte mir ohne Weiteres, mich den anderen Buben der Umgebung zuzugesellen und mich mit ihnen herumzubalgen.

Nun schenkte sich auch mir die Wiener Straße ganz. Herrliche Ausblicke eröffneten sich meinem für Natur so empfänglichen Gemüt. Die Schmelz mit ihrem Umland an Feld und Wiese war nichts gegen das, was mich erwartete. Der Linienwall umwuchtete noch mit seinen gewaltigen Stein- und Erdpanzern, die aus tiefen, kühlen Gräben fliegen, die inneren Bezirke; große, uralte Gärten mit der süßen Wirrnis von Blättern und Blüten stiegen bis zu ihm empor. Die Wien war auch im engsten Stadtgebiet noch nicht reguliert. Fünf Minuten von der prunkvollen, lärmdurchrasten Ringstraße entfernt täuschte sie uns Buben eine einsame Amazonenstromwildnis vor, in der nur wir die Pfade kannten. Hier stießen wir unser wildestes Kriegsgeschrei aus, hier ermordeten wir ruchlos eine Menge Spatzen, um ihre Bälge in Ermangelung anderer Trophäen an die Totemgürtel zu hängen.

Wohl war die Flut nicht mehr klar, die Färbereien, Leder- und anderen Fabriken, die ihre Ufer bedrängten, verunreinigten sie mit ihren schmutzigen Abwässern. Aber für uns war dies kein Hindernis, in ihr nach Gold zu suchen, wenn wir uns in der Rolle kalifornischer Ansiedler sahen; ebenso brachen wir in ein schrilles Freudengeheul aus, wenn wir, auf den alten Wällen nach Türken- und Franzosenwaffen grabend, auf eine verrostete Messerklinge oder einen sonstigen Scherben stießen.

Was vergoldete uns nicht alles die heilige, reine Illusion der Jugend!

Wurden auf der unermeßlichen Großsteppe der Schmelz die ewigen Blutfehden der Fünfhäusler gegen die Lerchenfelder ausgefochten, so verbanden sie sich zum gemeinsamen Kampf gegen die wilden Urbewohner dieser Uferwildnis. Das waren verwahrloste junge Taugenichtse, die hier hausten und Jagd auf uns besser gekleidete Buben machten. Wehe, wenn sie einen von uns fingen. Sie nahmen ihm alles, was er auf dem Leibe trug, und führten die größten Scheußlichkeiten mit ihm aus.

Das Krongut der unseren Schuljahren gehörigen Ländereien war aber und blieb der Schmelzer Friedhof. Er bildete mit seiner Dschungelvegetation des Dorado aller abenteuersüchtigen und vom Jagdfieber befallenen Knaben der umliegenden Vororte. Da gab es Eidechsen, Blindschleichen, Ringelnattern, verwilderte Kaninchen, viele Arten von Schmetterlingen und Käfern, manchmal eine pfeifende Ratte und dann den Jaguar dieser Wildnis, eine fauchende, verwilderte Katze; zermorschte, halb umgestürzte Grabkreuze, verwitterte Monumente ragten phantastisch aus der Schlingpflanzenwirrnis. Da und dort bildete das wuchernde Laub interessante Höhlen, die im Verein mit leeren Grüften prächtige Verstecke für verfolgte Räuber- oder Indianerhäuptlinge abgaben. Und rätselhafte, von der Zeit halb verwischte Inschriften ließen die junge Seele seltsame, fremde Schicksale ahnen. Größe, in Staub zerfallen, Dürftigkeit, in unirdische Erhabenheit verwandelt, brachten hier die Poesie des Vergänglichen in meinem aufschauernden Kinderherzen oft zum Ertönen. Das wilde, überaus üppige Wachsen und Blühen aus dem Boden der Gräber predigte dagegen dem sinnenden Knaben mehr Ewigkeit, als es die aufgeputzten Worte des Religionslehrers vermochten. Und in alle diese, von vielen Märchen gesättigte grüne Einsamkeit rauschte über eine fliederumbuschte Ziegelmauer der Lärm rastlosen Großstadttreibens, der die harte, aufdringliche Trommelmelodie des nüchternen Daseins in die Träume des Buben warf. Dann zog es diesen nicht selten mit unbekannter Kraft aus dem Kreise der Bäume in diese Wirklichkeit zurück, mitten in das lauteste Durcheinander einer Straße. Ahnte er vielleicht, daß sich einst nicht in Wald und Feld, sondern hier im blendenden, harten Stein sein Schicksal erfüllen sollte?

Abgesehen von diesen geschilderten Paradiesen gaben damals auch die Vorstädte Wiens den Kindern anmutigere Bilder als heute. Die schrecklichen Zinskasernen mit ihren quadratförmigen, lichtlosen Höfen, mit ihrer empörenden Kinderfeindlichkeit waren noch in der Minderzahl. Überall blinzelten noch die gemütlichen, einstockhohen Häuschen in ihrer einfachen Bauart mit dem grünen Gehege der Gärten oder Baumreihen in die lieben, stillen Gassen hinein und auf die spielende Jugend, deren Gesundheit und Leben noch durch keine Automobile und elektrischen Bahnen gefährdet wurde. Die ungepflasterten Straßen gaben herrlichen Spielboden ab; wie graziös und unermüdlich tanzten über ihn die Kreisel, wie schön war auf ihm das »Tempelhupfen« und »Himmel-und-Hölle-spielen«! Und welches Vergnügen war es erst, die Sandsteinkugeln beim »Einipaschen« und »Anmäuerln« über seine festgestampfte Fläche gleiten zu lassen. In den geräumigen, mit Bäumen bewachsenen Höfen gab es nachmittags schöne Musik. Drehorgeln spielten um die Wette mit Dudelsackpfeifern, die zu unserer maßlosen Verwunderung mit jedem ihrer Gliedmaßen ein anderes Instrument bearbeiteten. Die Komik böhmischer Wandermusikanten wechselte ab mit der abenteuerlichen Interessantheit einer Zigeunerkapelle; in dem einen Hofe zeigte ein Erdakrobat seine erstaunlichen Künste, indes vor den Fensterbogen des Nachbarhauses ein savoyardischer Schwarzkopf seinen Affen die possierlichsten Dressurkünste machen ließ. Und überall waren wir Kinder noch gern gelittene Gäste. Da gab es noch keinen Portier, der würdevoll in seiner Goldtressenkappe die Kinder von dem Hause verscheucht, vor dem sie spielen möchten, und der überhaupt der Meinung ist, Kinder seien Ungeziefer gleich, die auf jeden Fall nur Schaden stiften können.

So zogen wir Buben oft stundenlang von Hof zu Hof den Musikern und Künstlern nach, eine treue Kunstgemeinde, die wie die Kunstverständigen der großen Welt ihre Lieblinge hatte und strenge Kritik übte.

Ich muß gestehen, daß wir sonst in unseren Streichen oft die Grenze des Erlaubten überschritten und nicht selten den erbittertsten Zorn der ehrsamen Bürgersleute hervorriefen, die wir damit bedacht hatten.

Ein beliebter Zeitvertreib war es, an den verschiedensten Hausglocken zu läuten und dann davonzulaufen, Schnüre über den Fußweg zu spannen und Fenster zur Zielscheibe für unsere Schleuder zu machen. Ein besonders einladendes Opfer bekam einen gezeichneten Eselskopf unbemerkt auf die Rückseite des Rockes geklebt.

Segensreiche Tätigkeit entfalteten wir im Fangen von Mäusen, und wir gruben deren an die Hunderte aus. Unsere Grabzeuge, große Eisenklammern, von uns Klampfen genannt, fanden wir meist auf den Bauplätzen, manchmal auch in der »Eisenlade« daheim.

Auch der Schule größtem Verbrechen unterlag ich ein- oder zweimal, dem sogenannten »Schulstürzen«. An einem furchtbar heißen Juninachmittag konnte ich den Verlockungen eines bösen Freundes nicht widerstehen und schlenderte nach kurzem Bedenken statt in die Schule durch die Mariahilferstraße in die innere Stadt; wir beguckten uns die Sehenswürdigkeiten in den Auslagen und pafften, um unsere Selbständigkeit zu unterstreichen und die Stimmung zu erhöhen, Zigaretten, die wir aus allen möglichen getrockneten Blättern selbst verfertigt hatten. Im Stadtpark angekommen, fanden wir diesen voll Menschen, die dort ihre kurze Erholung suchten. Plötzlich fing es an in Strömen zu regnen, und in kurzem war alles außer uns geflohen. Wir krochen in eine Gärtnerhütte, um uns zu schützen, als mein Kamerad einen Kahn entdeckte, der am Ufer des Teiches angebunden war. Eins, zwei waren wir dort, hatten das Seil gelöst und fuhren verwegen auf die breite Wasserfläche hinaus. Wir hatten unser Auge besonders auf die schönen Wasservögel geworfen, die zusammengeduckt auf einer kleinen Insel unter Bäumen saßen. Da nahte die Vorsehung der Vögel in Gestalt eines Wachmannes, der vom Ufer aus unsern Raubzug beobachtet hatte und uns jetzt wütend zuschrie, an das Ufer zu kommen und der verdienten Strafe entgegenzusehen. Das lag nun gewiß nicht in unserer Absicht, vielmehr versuchten wir, so schnell wie möglich das entgegengesetzte Ufer des Teiches zu erreichen. Wir ruderten aus Leibeskräften, kamen aber kaum von der Stelle, da es gerade dort arg versumpft war und die Ruderstangen in sumpfigen Brei tauchten statt in Wasser. Dazu bemerkten wir die Absicht des Wächters, um den Teich herum uns den Weg abzuschneiden. So brachten wir uns so weit fort, bis wir ungefähr hundert Schritt vom Ufer in den Schlamm sprangen, der uns fast bis zur Brust ging, und mühsam das Ufer erreichten. Welchem Zufall wir es verdankten, daß wir nicht dennoch in die Hände des Wachmannes fielen, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, daß wir liefen, liefen, bis wir die schutzbereite Wienböschung vor uns sahen, in deren Dickicht wir hinabkollerten. Auf sicheren Umwegen machten wir uns auf den Heimweg. Wir waren bis auf den letzten Faden naß, aber zum Glück regnete es in Strömen, und wir konnten damit unsere nassen Kleider rechtfertigen.

Zu dem gewöhnlichen Jugendübermut, der sich in solchen Streichen austobt, kam bei uns noch der Einfluß der Lektüre von Indianer- und Räubergeschichten dazu. Diese gab unserer Sehnsucht eine bedenkliche Richtung. Wir lasen mit ungeheurer Begeisterung Bücher, die tausendseitig Mord, Brandstiftung und andere Verbrechen in unendlicher Fülle schilderten. Auch Schauerromane wie »Anastasius, der Held der Berge«, »Der Scharfrichter von Paris und seine Tochter«, »Der Schinderhannes« und noch viele andere Hauptwerke der Hintertreppenliteratur wurden von mir und meinen Kameraden mit Hast und Begeisterung verschlungen.

So saß ich oft stundenlang in einem lauschigen Winkel, las mir Hirn und Herz voll, kroch kaum zu den Hauptmahlzeiten hervor, ließ Schulbücher Schulbücher sein und lernte blutwenig oder gar nichts von dem, was der Lehrer aufgegeben hatte. Tag und Nacht beschäftigte ich mich im Geist mit den verlogenen Taten und Schicksalen der Helden meines eben gelesenen Schundromans. Meinen Spiel- und Schulkameraden erging es um kein Haar besser. Es geschah, daß wir uns nur in der Ausdrucksweise unserer Lieblingshelden unterhielten. Der eine war ganz bayerischer Hiasl, fluchte furchtbar im bayerischen Dialekt, der andere bevorzugte das hohe Pathos des schwarzen Ritters, während der dritte nur den Jargon eines berühmten Ein- und Ausbrecherkönigs sprach. Die Lehrer aber wollten es nicht verzeihen, wenn einer von uns, in der Rechen- und Sprachstunde aufgerufen, von der Bank aufsprang, eine wilde Indianergrimasse schnitt und anstatt einer richtigen Antwort ein gellendes »Hugh« ausstieß, weil er in dem kritischen Moment im Geiste dem Siouxhäuptling »Der tanzende Wolf« in der Felsenwildnis der Rocky Mountains begegnet war. Die Würdevollen auf dem Katheder ließen es somit den Schüler auch hart büßen, wenn er in der sommerlichen Hitze oder auch beim traulichen Knistern des winterlichen Ofenfeuers eingeschlafen war und träumte, eine Prinzessin aus einem brennenden Schloß zu retten, oder wenn er in der Geometriestunde, statt reinliche Dreiecke und Kreise zu zeichnen, seine Kunst im Entwerfen von Indianerköpfen, Germanenschwertern, Ritterburgen und Räuberflinten bewies. Bei mir und einigen anderen Kameraden waren die Folgen dieser verkehrten Verwendung der geistigen Kräfte schlechte Noten in den unbeliebten Fächern, und schließlich mußten wir – ich trotz meiner glänzenden Erfolge in Religion, Geschichte, Geographie und Naturgeschichte – zwei der letzten Klassen repetieren. Ich blieb hocken, wie es so schön im Wiener Schülerjargon heißt, zum größten Leidwesen meiner Mutter, die davon träumte, meine Patin würde mich vielleicht in eine höhere Schule schicken, woran natürlich bei den schlechten Zeugnissen nicht zu denken war.

Wie in den vergangenen Jahren machte sich mein Vater auch jetzt nichts aus meinen schlechten Schulerfolgen, und wenn meine Mutter sich an ihn wandte, damit er mir tüchtig die Leviten lese, so bekam sie nicht die gewünschte Antwort. »Wer ein tüchtiger Kerl werden soll, den machen nicht die Lehrer und die Bücher dazu«, sagte er dann wohl; »der muß sich selbst zur richtigen Zeit erinnern, daß er Augen im Kopf hat und harte Ellbogen, dann findet er schon die volle Schüssel zum leeren Löffel!«

Diese Stellungnahme des Vaters zum Verhalten seines Sohnes in der Schule war natürlich nicht dazu angetan, mich zu bessern. Ich nahm mir immer mehr Freiheiten heraus, spielte den Lehrern alle möglichen Possen und hätte mir dadurch einmal beinahe meine Ausweisung aus der Schule zugezogen. Meine Mutter bewahrte mich davor, indem sie dem Direktor so lange mit ihren Bitten an den Leib rückte, bis er nachgab und ich mit einer geringeren, wenn auch empfindlichen Strafe davonkam. Ich hatte mich damals einem Mitschüler angeschlossen, der Franz Beier hieß und ein kleiner, pausbäckiger Knirps war, dem man seinen Übermut und seine Verachtung aller Autorität gar nicht ansah, der aber vielleicht durch seine Launenhaftigkeit und ein Unstetes, ja manchmal Irres in seinem Wesen auffiel. Seine Unaufmerksamkeit beim Unterricht, die frechen und oft verworrenen Antworten, die er gab, waren wohl Anzeichen einer angeborenen geistigen Überreiztheit. Wie dem auch sei, jedenfalls wurde er von den Lehrern mit uns ins gleiche Faß gesteckt, bekam er die gleichen Strafen und oft noch härtere als wir, da seine Eigenheiten ja nicht dazu angetan waren, ihn bei diesen beliebt zu machen.

Manchmal geschah es nun, daß mein Freund, der der Sohn eines korrekten Bahnbeamten war, einer Strafe wegen in eine solche tierische Wut und Wildheit geriet, daß er imstande gewesen wäre, irgendein Verbrechen an dem verhaßten Lehrer zu begehen. So mußte er sich einmal wegen irgendeines Vergehens vor die Tür des Klassenzimmers auf den feuchten, finsteren Flur stellen, und aus Rache schnitt er alle Telephondrähte im Hause ab, deren er habhaft werden konnte. Er wäre darauf von der Schule verwiesen worden, wenn nicht ein einflußreicher Bekannter sich für ihn verwendet hätte, so aber mußte er zur Strafe vierzehn Tage hindurch mittags in der Schule bleiben und mit knurrendem Magen die sinnreichen Worte schreiben: »Ich soll an fremden Dingen nicht Unfug treiben.« Kam er dann hungrig nach Hause, so setzte sein Vater die Strafe in Prügeln fort und befahl ihm, bis zum Schlafengehen an seinen Schulaufgaben zu arbeiten, wobei ihm wenig Zeit mehr für seine geliebten Indianerbücher blieb. Die Folge dieser Behandlung war ein großer Haß gegen seinen Vater, der sein krankes Kind auf so unkluge Weise bessern wollte.

Eines Tages nun vertraute mir Franz auf dem Heimweg – es waren noch zwei andere zuverlässige Knaben zugegen –, er hätte seinem Vater Schießbaumwolle, die mit Spiritus durchtränkt war, in den Pfeifenkopf gesteckt, die beim Anzünden unbedingt explodieren mußte und so alle an ihm begangene Unbill rächen werde. Er selbst wäre entschlossen, nicht mehr heimzukehren, sondern nach Amerika auszuwandern. Er rechne sehr auf unsere, seiner getreuesten Freunde, Hilfe. Wir erglühten in Begeisterung für sein Vorhaben und schwuren ihm ewige Treue. Es wurde ausgemacht, daß er uns den gleichen schulfreien Nachmittag an einer bestimmten Stelle des Wienflußbettes erwarten solle, während jeder von uns trachten wollte, so viel wie möglich an Lebensmitteln von daheim zu entführen und ihm diese samt unseren Waffen und anderen für das Wildwestleben nötigen Dingen zu bringen. Schwerbepackt trafen wir einander an unserem Zusammenkunftsort, nachdem wir alle möglichen Umwege gemacht hatten, um keinen Verdacht zu erwecken. Freudig betrachtete unser kühner Empörer die Dinge, die wir ihm brachten. Außer Brot, Kartoffeln, Butter, Zwiebeln, Würsten und einer Flasche Bier gab es da ein Vexiermesser mit abgebrochener Klinge, einen Polsterüberzug, aus dem er sich einen Rucksack machen sollte, einen verrosteten Spirituskocher mit einem Leimheferl, Eßlöffel, Gabeln, einen Angelhaken, ein Schirmgestell zur Verfertigung eines herrlichen Jagdbogens, dazu Geigensaiten für die Sehne. Der Himmer Maxl hatte sogar seiner Mutter, einer enorm korpulenten Greislerin, einen alten weißen Unterrock ausgeführt, der ein Zeltdach abgeben konnte, während Handl, der Sohn eines Schneidermeisters, Zwirn und Nadeln spendete. Nachdem wir uns genugsam an dem Erstaunen unseres Freundes Franz Beier ergötzt hatten, setzten wir uns im Kreise nieder, stopften die Pfeifen, die wir aus Schilfrohr und gehöhlten Eicheln gemacht hatten, mit getrockneten Kartoffeln und Huflattichblättern und begannen mit tiefernster Miene die Beratung über die nächste Zukunft des Flüchtlings. Dabei kam es heraus, daß er gar kein Geld hatte, weshalb er wohl kaum bis Triest kommen könnte. Wir beschlossen nun, er müsse sich so lange in einer der leeren Grüfte des Schmelzer Friedhofs aufhalten, bis wir das nötige Geld aufgetrieben hatten. Einstweilen wollten wir ihn mit den nötigen Dingen versorgen. Wir hofften sehr, durch Verkauf unserer Indianerbücher in den Besitz jener Summe zu gelangen, die wir für die Reise nach der österreichischen Hafenstadt für notwendig hielten. Es fing schon zu dämmern an, als wir Verschwörer die Mauer des Friedhofs überkletterten.

Endlich war es uns gelungen, ein wirkliches Abenteuer zu erleben! Etwas unheimlich war uns zwar zumute, aber doch überwogen das Gefühl der Erhabenheit und das Bewußtsein unserer Wichtigkeit das heimliche Bangen. Mit selbstbewußten Reden versuchten wir unsern Hauptakteur in seinem Vorhaben zu bestärken.

Der Friedhof war um diese Zeit schon gesperrt und wirklich todeinsam, nur hier und da sang uns eine Amsel »Guten Abend« zu. Bei der Gruft angelangt, deren Geheimnis von einem Gebüschwall behütet wurde, schoben wir eines der Bretter, die sie bedeckten, beiseite und warfen eine Menge Laub und Gras hinein, um unserem Freunde eine angenehme Lagerstätte zu bereiten. Darauf seilten wir ihn an einem festen Riemen hinunter und ließen die Ausrüstungsgegenstände folgen. Nun Hugh, tapfere Schlange, und eine geruhsame Nacht!

*

Daheim konnte ich vor Aufregung kein Auge schließen. Auch erdrückte mich die Fülle der Verantwortung, die ich mit den anderen Kameraden auf mich genommen. Es mag ihnen in dieser Nacht wohl ähnlich ergangen sein wie mir.

Am nächsten Tage konnten wir nur mit Mühe den Schluß des Unterrichts erwarten. Mit klopfendem Herzen, die Taschen mit Nahrungsmitteln angestopft, liefen wir zu unserem Freunde. Doch wer beschreibt unser Entsetzen, als wir die Höhle leer fanden und von dem Amerikafahrer trotz unseres angstvollen Suchens und Rufens im ganzen Friedhof nicht die geringste Spur zu entdecken war. Wir ahnten das Schlimmste: sein reuiges Heimkehren und das Aufdecken unserer Verschwörung, und unsere Ahnung bestätigte sich. Als wir am nächsten Tage in die Schule kamen, wurden wir sofort ins Konferenzzimmer gerufen, wo wir den Direktor, unseren Lehrer und den Vater Franz Beiers, den scheinbar ein glücklicher Zufall vor der Explosion des Pfeifeninhaltes bewahrt hatte, in unheilverkündender Eintracht fanden. Da unser Schützling alles gestanden hatte, half uns kein Leugnen. Am meisten gerügt wurde unser Rat, die Schulbücher in die Wien zu werfen, welches Verbrechen nur eine Sühne kannte: die Ausweisung aus der Schule.

Wie ich schon erwähnt habe, wurde meinerseits dieses Urteil geändert und ich in der Schule belassen, um mich meine Schändlichkeit aber nicht allzu schnell vergessen zu lassen, mußte ich einen Monat hindurch dem Unterricht in einem Winkel stehend beiwohnen und erhielt ich im nächsten Zeugnis einen Fünfer im sittlichen Betragen.

Franz Beiers Verrat wurde übrigens durch die übrigen Mitglieder unserer Bande gehörig gerächt. Die aus der Schule Verwiesenen schlugen ihn braun und blau, als sie ihn einmal trafen.

Keiner von uns hatte bedacht, wie erschütternd für ihn diese Nacht in der Friedhofsgruft sein mußte und daß ihn wohl nur das wahnsinnigste Angstgefühl dazu bewogen habe, um Hilfe zu schreien. Er wurde halbtot vor Schrecken aus der Gruft gezogen und seinen Eltern zurückgebracht. Für uns aber blieb er noch lange hernach ein Feigling, der überdies unserem ersten interessanten Abenteuer ein zu frühes und schmähliches Ende bereitet hatte.

Um diese Zeit gab ich das Lesen der Hintertreppenromane fast vollständig auf, um mich meinen Indianerbüchern nun ganz zu widmen. Ich stapelte in meinem Kasten Hunderte dieser kleinen Büchlein auf, die meist vierundsechzig Seiten stark und mit einem grellfarbigen Umschlag versehen waren. Sie sind heute wohl schon vollständig aus dem Buchhandel verschwunden und haben den unnaiven Nick-Carter-Heften Platz machen müssen, in denen sich kein Ereignis mehr der kindlichen Gedankenwelt anpaßt und die viel eher dazu angetan sind, die jugendliche Seele mit verfrühter Leidenschaft zu erfüllen, als die so viel geschmähten Indianerbücher. Es gab damals in der älteren Knabenwelt eine wirkliche und umfangreiche Bibliophilie jener kleinen Scharteken, und selbst Gymnasiasten verschmähten es nicht, mit Volksschülern in Verkehr zu treten, wenn es galt, sich über den geliebten Gegenstand zu unterhalten und zu beraten. Es wurde genau Buch geführt über die Adressen ernster Sammler und deren Bücherbestände und ein Verzeichnis der seltenen Exemplare mit der Angabe ihres jeweiligen Kursstandes und der Adresse des Besitzers angelegt, denn diese Bücher stiegen und fielen wie Börsenwerte. Da gab es vor allem als höchste Seltenheit die ersten Ausgaben der Firma Bagel in Düsseldorf. Sie hatten als Kennzeichen eine in rötlichem Ton gehaltene Schleife, welcher der Titel aufgedruckt war. Ein solches, vom vielen Herumwandern ganz verschmutztes, halb zerfetztes und innen mit Dutzenden von Sammleradressen beschriebenes Büchlein war oft fünfzehn, zwanzig Exemplare der neuen Ausgaben wert. Der glückliche Besitzer einer solchen Seltenheit wurde nicht wenig beneidet. Das Fälscherhandwerk blühte darum auch bei uns kindlichen Sammlern, und jeder von uns trachtete eifrig, hinter die Schliche dieser Kunst zu kommen. Ein reger Tauschverkehr, der sich meistens der Sonn- und Feiertage bediente und über ganz Wien erstreckte, brachte die einzelnen Sammler untereinander in Verbindung. Gleich nach dem Kirchgang der Schule am Sonntagmorgen rannte ich nach Hause, schluckte rasch ein zweites Frühstück hinunter, packte einen Haufen Bücher, mit denen ich Tausch- oder Verkaufsgeschäfte machen wollte, zusammen und war nun oft bis spät in den Nachmittag auf dem Weg von einem Sammler zum anderen, um neue Schätze für die alten zu erwerben. Da wurde geprüft und erwogen, gefeilscht und gehandelt, und immer war man der ehrliche, meist betrogene Tauscher, dessen Hartnäckigkeit, Schlauheit und Zungenfertigkeit manchem Trödeljuden Ehre gemacht hätte.

Ich kam dabei in Hunderte von Wohnungen, in die armselige Kammer von Tagelöhnersleuten, in die guten, warmen Stuben wohlhabender Bürger und auch in die prunkvollen Gemächer einer vornehmen Familie, mit deren Söhnchen ich buchhändlerische Beziehungen unterhielt.

So war es diese Kinderleidenschaft, die mich zuerst über die Verschiedenheit der sozialen Gesellschaftsstufen nachdenken ließ, und bald hatte sich mein anfängliches Erstaunen darüber in ein bohrendes Grübeln umgewandelt.

Als ich zwölf Jahre alt war, regte sich zum erstenmal mein geschlechtlicher Sinn. Eine neue Scham war in mir, die ich vorher nicht gekannt hatte; ich konnte den Mädchen, denen ich begegnete, nicht ins Gesicht sehen. Zugleich aber zog es mich sanft zu ihnen hin, und es beglückte mich, wenn ich durch Zufall an sie streifte.

Ein paar Türen weiter auf dem gleichen Gang wohnte ein schönes, schlankes, dreizehnjähriges Mädchen mit ihrer Mutter, die eine Witwe war und sich durch Bedienungen den Unterhalt verdiente. Das Mädchen war den ganzen Tag sich selbst überlassen, das Mittagessen bekam sie bei einem Greisler im Hause. So spielte sie meist mit uns Buben bis in den Abend hinein die wildesten Spiele und wurde von uns auch mehr als Kamerad denn als Mädchen behandelt. Sie bekam die gleichen Hiebe und Pfeilschüsse wie wir und wurde gleich uns an den Marterpfahl gebunden, ohne unser Mitleid zu erregen. Nun hob ich keinen Stein mehr gegen sie, erhob keine Waffe, um ihr, dem feindlichen Krieger, zu schaden, war bemüht, sie vor jeder rohen Handlung der anderen Buben zu beschützen, und wachte eifersüchtig über allem, was sie tat. Denn es machte mich traurig, wenn sie mit anderen Knaben lieber spielte als mit mir, und ich wurde sehr zornig über jede Bevorzugung dieser. Glücklich war ich über jeden Dienst, den ich ihr erweisen konnte, und ich brachte ihr die schönsten Wildrosen und Grüneidechsen. Wenn ich bei Regenwetter mit ihr auf der Fensterbrüstung spielen konnte, so kannte meine Seligkeit keine Grenzen. Ich wurde eitel, zur größten Überraschung meiner Mutter, und schämte mich jedes geflickten Loches in der Hose, das ich mir wiederum nur beim Sprung über einen hohen Lattenzaun oder beim Baumklettern gerissen hatte, um ihr zu imponieren.

Zum erstenmal wurde mir die Unebenheit meines rachitischen Körpers der Anlaß zu einem stillen Gram, der aus mir sonst so fröhlichem und lautem Buben beinahe einen kopfhängerischen Duckmäuser machte.

Eine wichtige Veränderung brachte meine stille Liebe zur schönen Rosa auch noch: die Indianerbücher wurden wieder beiseitegeschoben und durch Schundromane ersetzt. Die sentimentale Liebesromantik dieser Bücher hatte nunmehr die größere Anziehungskraft auf mich.

Rosa ließ sich meine sichtbare Anbetung wohlgefallen und schenkte mir sogar hier und da im Stiegenhause einen Kuß, der mich, wie noch vor wenigen Wochen der Besitz eines Bagel-Büchleins mit roter Titelschleife, in tausend Wonnen stürzte.

Dennoch kann ich mich nicht erinnern, dieser meiner ersten Liebe einen Vers gewidmet zu haben, und so wird sie vielleicht nicht einmal so heftig gewesen sein, wie sie sich heute meiner Erinnerung gibt.

Unsere Übersiedelung, die bald darauf folgte, machte ihr übrigens ein schnelles Ende, und ein paar Kaninchen, die mir mein Vater in der neuen Wohnung schenkte, ließen mich vollends die schöne Rosa vergessen.

Währenddem ich indes die Tage genoß, wie sie kamen, und ihre Glücksfülle an ihren schulfreien Stunden, ihrer Sonne und ihren Schneeverhältnissen maß, welch letztere eine besonders wichtige Rolle in meinem Wintervergnügungsprogramm spielten, während ich mich mit Ach und Krach durch die letzten Klassen der Schule drückte, spann daheim langsam die unheimliche Spinne Not ihr graues Netz um unser Dasein, wuchs heimlich über meinen Eltern und mir der Baum der Sorge, dessen kalter Schatten mein Leben so lange verdunkeln sollte.

Die Krankheit meines Vaters nahm immer ärgere Formen an. Über die Natur dieses Übels wußten selbst die Ärzte nicht Bescheid zu sagen, so viele wir auch zu Rat zogen. Es hatte mit argen Bauchkrämpfen begonnen, zu diesen traten bald periodische Lähmungserscheinungen der Füße hinzu. Die Gliedmaßen magerten zusehends ab, während der übrige Körper seine frühere Mächtigkeit behielt. Es kam so weit, daß der Vater den ganzen Tag im Lehnstuhl zubringen mußte und nicht mehr imstande war, einen Schritt zu machen. Ein vorübergehender Aufenthalt auf der Nervenklinik des Allgemeinen Krankenhauses brachte ihm keine Linderung. Auch dort waren die tüchtigsten Ärzte aus seinem Leiden nicht klug geworden. Einer Unbotmäßigkeit wegen, die er sich übrigens im Jähzorn einer Pflegeschwester gegenüber zuschulden kommen ließ, mußte er nach einigen Wochen das Spital verlassen, und nun saß er wieder daheim, von den furchtbarsten Schmerzen geplagt. So arg diese waren, am schwersten ertrug er doch diesen Zustand der Untätigkeit, in welchem er nun schon monatelang verharren mußte. Der Vertrieb seiner Erfindung verlangte so oft nach seiner Gegenwart in fernen Städten, und nun war es ihm natürlich unmöglich, dahin zu reisen. Kein Wunder, wenn das Geschäft daher von Tag zu Tag zurückging, der Verdienst immer geringer wurde und meine Mutter oft nicht wußte, woher sie das Geld nehmen sollte, um ihren Mann, dessen Appetit trotz der Krankheit ungeschwächt war, und ihren Sohn zu sättigen.

Die letzten Tage meiner Schulzeit wurden somit die trübseligsten meiner Kinderjahre und waren das Präludium zu den Jahren der Not, die auf das noch halbe Kind und den Jüngling warteten. Auch die Mutter wurde schon seit Jahren von einem schweren Bruchleiden geplagt; bekam sie einen ihrer Krampfanfälle, so schrie sie oft die ganze Nacht hindurch vor Schmerz, und ich mußte ihr Ziegelsteine wärmen, die sie sich auflegte. Trotzdem versuchte sie nach Kräften, meinen Vater in seinen Geschäften zu vertreten, und bereiste auch die näher gelegenen Provinzorte, soweit ihr Alter und ihr Leiden sowie der bedenkliche Zustand meines Vaters es erlaubten.

Blieb sie nun drei, vier Tage aus, wie es so oft der Fall war, so mußte ich der Schule fernbleiben, dem Vater Gesellschaft leisten und sogar im Verein mit der Hausbesorgerin die kleine Hauswirtschaft führen. Am ärgsten war es für mich, wenn ich mit meinem Vater stundenlang ein Kartenspiel, Sechsundsechzig, spielen mußte, was mir schrecklich langweilig vorkam. Dabei wurde der Vater sehr böse, wenn ich unaufmerksam war. Es kam nicht selten vor, daß er mir dann im Zorn die gröbsten Schimpfworte und hier und da auch die Karten an den Kopf warf, wenn es nicht sonst ein nahe liegender Gegenstand war. Einmal entging ich gerade noch zur rechten Zeit einer Verwundung durch das Brotmesser, das er mir nachgeworfen hatte.

Da blieb mir keine Zeit zum Lesen, geschweige denn zum Spiel mit den Kameraden. An solchen Tagen hätte ich selbst den Gang in die Schule als Erlösung angesehen.

Ein Freudenstrahl in dieser traurigen Zeit war mein erster Besuch in der Oper, der auf Jahrzehnte hinaus auch mein einziger bleiben sollte. Ich hatte die Karte – es war ein Sitz am »Juchhe«, der vierten Galerie – von einer Nachbarin, die sie sich gekauft hatte und dann verhindert war, sie zu benutzen. Meine Mutter erwarb die Karte für mich, um sie in einigen Raten zu bezahlen.

Mit pochendem Herzen und schaubegieriger Seele betrat ich den Wunderraum. Man gab »Die goldene Märchenwelt« und »Die Puppenfee«. Ich glaubte aller armseligen Wirklichkeit entrückt zu sein; was ich sah, war ja das phantastische Traumland meiner Märchenbücher! Waren diese Bilder wirklich durch Menschenhand erstanden, diese feierlichen, erhabenen, wie Sterne strahlenden Gestalten inmitten der wundervollen Landschaften und Häuser – Menschen, Schauspieler, die diese schönen Worte, Lieder und Gesten lernten, wie ich in der Schule ein Gedicht oder einen Aufsatz? Inmitten der drückenden Schwüle und Ausdünstung der vielen Besucher saß ich allein in einem paradiesischen Garten, und mein Gehör verlor sich beglückt in der Harmonie englischer Chöre.

Trunken von all der Herrlichkeit, die in dem Märchenhaus am Opernring zu sehen und zu hören war, kam ich heim und zehrte nun lange, lange von den Eindrücken dieses Abends.

Auch das nüchterne Schauspiel lernte ich um diese Zeit kennen; freilich war's nur auf der Liliputbühne des damals schon im Sterben liegenden Schwender Theaters in Rudolfsheim und in einem der rührseligsten Stücke, »Der Müller und sein Kind«, das mich zu Tränen ergriff. Lange bildete ich mir ein, ein werdender armer Konrad zu sein. Diese beiden Theaterbesuche erweckten in mir den Wunsch, andere Stücke wenigstens durch das Lesen kennenzulernen. Aber wie sollte ich zu solchen Büchern kommen? In der Schulbibliothek war dergleichen nicht zu finden, da gaben Christoph Schmidts »Rosa von Tannenburg« und »Der gute Fridolin und der böse Dietrich« den Ton an. Der Zufall kam mir aber zu Hilfe. Ich erfuhr von einem älteren Kameraden, der ein Bücherfresser wie ich war, daß der Wiener Volksbildungsverein in Ottakring eben eine Volksbibliothek errichtet hatte, aus der jeder Erwachsene gegen Entrichtung einer Abnutzungsgebühr von zehn Hellern im Monat so viel Bücher entleihen konnte, wie er wollte; ich bearbeitete nun meine Mutter so lange, bis sie mir erlaubte, mich auf ihren Namen einschreiben zu lassen und die Bücher zu entleihen, die ich zu lesen wünschte. Nachdem ich das erreicht hatte, rannte ich oft dreimal in der Woche über die Schmelz nach Ottakring, um die gelesenen Bücher gegen neue umzutauschen. Da mochte es regnen, so viel es wollte, das Exerzierfeld ein lehmiger Sumpf sein, der Schnee bis an die Knie reichen, ich rannte wie im Fieber den weiten Weg hin und zurück und freute mich schon im voraus auf das Neue, noch nie Gehörte, was mir aus jedem der Bücher entgegentreten mußte.

Die ersten Werke, die ich auf diese Weise meinem Wissen eroberte, waren Schillers »Räuber« und sein »Wilhelm Teil«. Das bleichsüchtige Licht der Nachtlampe, die neben mir auf dem Nachtkästchen stand, und die Kleinheit des Buches, das ich mit dem Federbett wie mit einem Schutzwall umgab, so daß ich vor dem mißtrauischen Blick des Vaters geschützt war, ermöglichten es mir, »Die Räuber« in einer Nacht in meine hungrige Seele aufzunehmen. Ich las in einer Ekstase innerer Erhebung. Eine neue, ungeahnte Welt tat sich vor mir auf. Die wahren Leidenschaften des Menschen, von denen ich bisher nur verlogene Kunde bekommen oder die ich nur ganz verschwommen und dunkel geahnt hatte, überstürmten mein unverbrauchtes Gemüt und ergriffen mein Herz, das von diesen vielen erschütternden Ereignissen wild klopfte; ich fühlte mit dankbarem Erschrecken, wie sich etwas in mir löste und in ein Nichts versank, verbrannt von der Glut der dichterischen Wahrheit, die mich aus diesem Buch durchwehte, wie einst der Hauch des brennenden Dornbusches den kleinmütigen Moses. Es wurde mir auf einmal die Gewißheit von dem weltumspannenden Wirken der Macht des sozialen Milieus über den einzelnen, von dem Einfluß einer Idee auf eine Masse und von der treibenden Kraft menschlicher Tugenden und Laster, die zu gleichen Teilen dazu bestimmt waren, unserem Dasein einen Inhalt zu geben.

Freilich fühlte ich dies damals noch sehr verworren, und ich hätte es nicht in Worten auszudrücken vermocht; ein Chaos von versinkenden Lügen und auftauchenden Wahrheiten erfüllte meine Seele.

Wie im Taumel ging ich des anderen Tages in die Schule und konnte kaum die Nacht abwarten, in deren Stille und Freiheit ich »Wilhelm Teil« lesen wollte, was ich auch tat. Auf diese Weise las ich, ein dreizehnjähriger Knabe, »Egmont«, »Götz« und »Tasso« von Goethe, sämtliche Dramen Schillers, einige von Kleist, die Shakespeareschen Königsdramen und auch viele lustige Possen von Kotzebue, die mich arg zum Lachen reizten. Jetzt veranstaltete ich eine feierliche Verbrennung meiner sämtlichen Indianerbücher und Schundromane. Sie flammten gar lustig, während ich mit leiser Wehmut ihr Verschwinden betrachtete.

Das traurige Leben und die Not zu Hause verschärften sich indes, als sich meine arme Mutter eine Blutvergiftung an der linken Hand zuzog. Diese war zu einem unförmigen Klumpen angeschwollen und mußte dreimal geschnitten werden, dabei hatte die Mutter Tag und Nacht die heftigsten Schmerzen.

Oft wurde ich nun des Nachts geweckt, um den kranken Eltern Kaffee zu kochen, den sie ohne Milch mit etwas Rum tranken. Sie glaubten durch dieses Getränk ihre Schmerzen zu besänftigen.

Monate vergingen, doch die Wunden, die durch die Schnitte entstanden waren, wollten sich nicht schließen. Da erinnerte sich meine Mutter eines Wunderdoktors, der Bauer in Sankt Pölten war, und ließ ihn in ihrer Verzweiflung nach Wien kommen, nachdem sie die letzten Wertgegenstände, die noch in ihrem Besitz waren, versetzt hatte, um die Kosten aufzubringen. Eines Tages kam nun der Wundermann angerückt. Er roch furchtbar nach Tabak und traniger Stiefelschmiere, mit der er außer seinen Röhrenstiefeln auch seinen ganzen Körper eingeschmiert zu haben schien, denn er glänzte überall wie eingeölt. Recht umständlich fragte er meine Mutter nach ihrem Leiden aus, schwieg darauf lange und zerkaute unterdessen eine dicke Zigarre im Munde. Endlich ließ er sich weißes Leinen geben, steckte einen ganzen Ballen davon in die heiße Ofenröhre und wartete, bis dieser unter entsetzlichem Gestank verkohlt war. Dann nahm er die Aschenreste, legte sie auf eine Gazebinde, machte vier tiefe Verbeugungen in alle vier Weltrichtungen, während er dabei unverständliche Worte murmelte, und band nun den wunden Arm so ein, daß die Asche auf die kranken Stellen zu liegen kam. Alles geschah von seiner Seite höchst feierlich, mit verdrehten Augen und stets murmelndem Mund. Auch ein rotes Öl ließ er zurück, damit man die Wunden jeden Tag damit beträufle.

In den nächsten Tagen stellte sich wirklich Besserung ein. Die Wunden begannen zu heilen, die Schmerzen ließen nach, bis sie allmählich ganz verschwanden. Die ganze Nachbarschaft war in hellster Begeisterung über das wundertätige Bäuerlein, und man schrieb vor allem den vier Verbeugungen und Wundersprüchen die Heilung zu. Nur ich hegte im stillen die ketzerische Meinung, daß die Heilung auch ohne den Hokuspokus vor sich gegangen wäre.

Da der notdürftig geheilte Arm steif blieb – alles Elektrisieren und Massieren konnte ihm die natürliche Beweglichkeit nicht zurückgeben –, war es meiner verzweifelten Mutter fast unmöglich, den vollständigen Zusammenbruch noch auf lange zurückzuhalten. In kurzem konnte es geschehen, daß wir wie Bettler auf die Straße gesetzt würden. Von drei Uhr früh bis nahe an Mitternacht war sie auf den Beinen, um Geld zu verdienen und die kleine Wirtschaft nicht verkommen zu lassen. Die kurze Zeit, die sie daheim verbringen konnte, wurde sie vom Vater, den die Krankheit zu einem boshaften Tier gemacht hatte, bis aufs Blut gepeinigt. Es war ihr ein armseliger Trost, wenn er sie nach einem Ausbruch seiner Verzweiflung weinend um Verzeihung bat. Der arme Mann litt oft so sehr, daß er uns brüllend bat, seinem Leben und Leiden doch ein Ende zu machen, ihn mit einem Hammer zu erschlagen. Furchtbarer noch war es, wenn er sich in Stunden der Besserung an die Hoffnung klammerte, wieder gesund zu werden, und die kühnsten Luftschlösser für diese Zukunft baute; dann konnte er sich wie ein Kind über diese Vorstellung freuen, daß er zum Beispiel wieder einmal mit uns zu den Volkssängern gehen könnte, was einst zu seinen liebsten Vergnügungen gehörte, während wir durch den sichtlichen Verfall seines einst so mächtigen Körpers nur zu deutlich eines anderen belehrt wurden. Aus dem Lehnstuhl war er ins Bett gewandert, in dem er wie ein Säugling gepflegt und gereinigt werden mußte.

Er hatte sein Heimatsrecht in Sachsen verloren, da er schon über zwanzig Jahre das Land verlassen hatte, und sich um Verleihung eines anderen aus Leichtsinn nicht bemüht. So wollte jetzt den heimatlosen Kranken, der offenbar an einer unheilbaren Krankheit litt, kein Wiener Spital aufnehmen. Meine Mutter bemühte sich lange umsonst darum, bis ihr jemand riet, sich an den Primarius des Elisabeth-Spitals, das sich im gleichen Bezirk befand, zu wenden, da dieser ein sehr geschickter Arzt und guter Mensch sein sollte. Sie schrieb diesem nun einen ausführlichen Brief, in welchem sie ihre Not schilderte, hatte aber wenig Hoffnung, erhört zu werden. Eines Tages aber, als ich von der Schule nach Hause kam, fand ich am Bett meines Vaters einen kleinen, sehr zierlichen und sehr freundlichen Herrn, den mir die Mutter als den Primarius bezeichnete und der eben meinen Vater untersucht hatte. Er gab meinem Vater die Zusicherung, ihn in seine Abteilung aufzunehmen, wo es ihm bald wieder besser gehen sollte. Vor seinem Weggehen sprach er lange mit der Mutter auf dem Gange. Als ich nach seinem Scheiden zu meiner Mutter wollte, zog mich diese in der dunklen Küche an sich, küßte mich unter Tränen und sagte mir, daß es mit dem Vater sehr schlecht stünde. Der Doktor hatte ihr draußen erklärt, daß an ein Gesundwerden nicht zu denken sei: der Patient litte an einem fortgeschrittenen Rückenmarkleiden, gegen das alle Kunst der Ärzte nichts vermöge.

Als wir zum Vater zurückkehrten, war dieser voll Freude und Hoffnungsseligkeit. Er sah sich schon wieder gesund und dem reichen Leben zurückgegeben und konnte kaum den Rettungswagen erwarten, der ihn in das zwei Gassen von uns entfernte Krankenhaus überführen sollte. Der Wagen kam noch am gleichen Nachmittag. Ich war der Schule ferngeblieben, um den Vater mit der Mutter ins Spital zu begleiten. Es zerriß uns fast das Herz, als wir ihn so heiter von der Wohnung scheiden sahen, die er als Gesunder wiederzusehen hoffte, über deren Schwelle aber nicht einmal sein toter Leib getragen werden sollte.

Da eben keine Besuchszeit war, durften wir ihn nicht bis zu seinem Bett begleiten; erst am nächsten Tage, einem Sonntag, sahen wir ihn wieder. Er lag in einem Saal mit ungefähr zwei Dutzend anderen Männern. Ich sah nichts als Medizinflaschen, ausgehöhlte Menschengesichter, gelbes oder fieberrotes Leid aus dem weißen Leinen herausblicken, darüber den argen Geruch von Jod, Schweiß und Karbol. Mir wurde sehr übel, und die Mutter mußte mich nach Hause führen.

Wenige Wochen nach der Fahrt meines Vaters ins Krankenhaus zogen wir nach Penzing in ein winziges Gartenzimmer, wo es mir noch einmal vergönnt war, vor dem Entschwinden meiner Kindheit die Freiheit eines richtigen Bubendaseins zu genießen. Jetzt waren Schönbrunn und die vor den Fenstern liegenden Auen der Wien meine Jagdgründe. Aber schon hatte ich von dem Ernst des Lebens zu viel erfahren, um die alte unmittelbare Spiellust so ganz wie einst Besitz von mir nehmen zu lassen. Ich war nachdenklicher geworden, grübelte viel in mich hinein und stellte vor viele Dinge ein zweiflerisches Wenn und Aber. Das Erlebte schlich sich oft in die schönsten Spiele – es konnte mir geschehen, daß ich plötzlich hoch oben auf einer Tanne des Schönbrunner Parkes an den gelähmten Vater denken mußte oder daß mir beim heimlichen Fischzug in einem der Teiche auf einmal die Gedanken an die ungewisse Zukunft kamen, sollte ich doch im Sommer die Schule auf immer verlassen. Dann schied ich von meinen Kameraden oft mitten im Spiel, rannte nach Hause und versuchte krampfhaft, durch Lesen auf andere Gedanken zu kommen. Immer mehr zog ich mich von meinen Schulkollegen zurück, da ich nunmehr wenig Interesse an deren gedankenlosem Herumtreiben fand und mit Vorliebe, ein schönes Buch bei mir, in den einsamen Auen herumstreifte.

Daheim gab es nun oft schmale Kost, die den Vielfraß, der ich war, nicht sättigte. Hunger hatte ich bisher nur als den angenehmen Zustand gekannt, der einem das Essen zu einem Fest machte. Nun lernte ich ihn als einen tückischen Gesellen kennen, der eine böse Art hatte, seine Opfer zu peinigen. Die Mutter tat Übermenschliches, um mich vor ihm zu schützen. Aber die Geschäfte, die sie mit der Erfindung meines Vaters noch machen konnte, waren sehr spärlich geworden und nicht genügend, um zwei Menschen selbst ein geringes Auskommen zu sichern. Eine neue Erfindung hatte der meines Vaters beinahe den Garaus gemacht. So mußte meine Mutter wohl zehnmal in einem Kontor vorsprechen, bevor man eine kleine Bestellung bei ihr machte, was dann meist aus Barmherzigkeit geschah, da man ihr wohl die Not ansah. Als sie bemerkte, daß mit diesem Geschäft nichts mehr anzufangen war, versuchte sie, sich tagsüber als Kinderfrau oder Bedienerin zu verdingen. Aber wer hätte sich eine alte Frau mit lahmem Arm zur Arbeit genommen? Sie mußte froh sein, hier und da von den Nachbarn, die zwar auch nicht viel glänzender standen als sie, eine schlechtbezahlte Arbeit zugeschanzt zu bekommen.

So richteten sich natürlich ihre geheimen und meine lauten Hoffnungen auf mein nahes Schulende. Ich würde gewiß sofort eine bezahlte Stelle als Lehrling bekommen, und es würde uns dann viel besser gehen.

In der letzten Schulwoche stellte mich die Mutter einem Silberschmied vor, der geneigt war, mich als Lehrling mit einem Anfangsgehalt von drei Kronen wöchentlich in seiner Werkstatt anzustellen.

Es fehlten drei Monate an der Vollendung meines vierzehnten Lebensjahres, als ich am dritten Ferientag um fünf Uhr früh von der Mutter geweckt wurde, um meine Lehrzeit anzutreten. Sie begleitete mich bis vor das Haus, worin sich die Werkstatt befand, und gab mir einen langen Kuß, der mich schützen und segnen sollte. Mit ihm war meine Kindheit zu Ende.


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