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Drittes Kapitel

Lehrjahre

Die »Silber-Präge- und Montieranstalt« befand sich in einem sogenannten Werkstättenhof auf dem Schottenfeld, dem ehemaligen Brillantengrund des Bezirkes Neubau. Unter, über, vor und neben uns hämmerte, ratterte und sägte es aus jedem Fenster heraus. Da gab es Bandmacher-, Klaviertischler-, Taschner-, Buchbinder- und noch viele andere Werkstätten, und ein ganzes Heer von Arbeitern, zumeist Lehrbuben und Hilfsarbeiter, verschwand am Morgen jedes Arbeitstages hinter dem Tor des Altwiener Hauses.

Das Arbeiterpersonal der Werkstätte, in welcher ich mein Proletarierdasein begann, bestand aus drei Lehrbuben, von denen ich der jüngste war. Der Meister, ein gutmütiger Riese, der wie ein aufgeblasener Ballon durch die zwei engen Räume der Anstalt schnaufte, war einer, jener tschechischen Kleingewerbetreibenden, die in Wien trotz ihrer schlechten Aussprache des Deutschen den gemütlich-behäbigen, erbeingesessenen Bürger markieren wollten. Er trug immer ein sehr bequemes, sackähnliches graues Gewand, ging gelassen, etwas vorgebeugt und hatte die Haltung eines Grundbürgers, dem man schon äußerlich anmerken müsse, daß er es nie eilig habe, seiner vier oder fünf schuldenfreien Häuser wegen. Sein Gesicht war aufgedunsen und schwammig und saß auf einem kurzen, wulstigen Hals. Die kurze Zeit, die er sich am Morgen in der Werkstätte aufhielt, benutzte er zum Auflegen einer Schnurrbartbinde, deren er eine Schachtel voll in der Lade seiner Drehbank hatte. Eine Menge goldener breiter Ringe klapperte an den feisten Würstelfingern, während er so recht weltüberlegen an einer Kubazigarre herumknatschte.

Wir sahen ihn nur vormittags und kurz vor Feierabend in der Werkstätte, die übrige Zeit verbrachte er im Gast- oder Kaffeehause, wo er eine wichtige Rolle zu spielen schien. Wenigstens schien es mir so, wenn ich ihm eine Nachricht an den Stammtisch zu bringen hatte. Dafür war die kleine, kugelrunde Frau Meisterin beinahe immer in der Werkstätte zu finden. Wie ein blankes Schweinchen wackelte sie fortwährend zwischen dieser und ihrer Küche hin und her, schnüffelte überall herum, indem sie ihr Pausbackengesicht etwas vorbeugte und die Gegenstände mehr mit der Nase anzuschauen schien als mit den Augen. Der Meister hatte gehörigen Respekt vor ihren fachlichen Kenntnissen. Es wurde so gearbeitet, wie sie es für gut fand. Anderseits war sie wieder riesig stolz auf ihren Gatten, besonders wenn er seine Veteranenuniform trug und den wallenden Federbusch am Hut. Das geschah meistens einmal wöchentlich, wenn der Veteranenverein nämlich seinen Abendschoppen hielt; dann ließ die Meisterin eine Stunde früher Feierabend machen, weshalb auch wir den Tag besonders schätzten.

Nach der Meisterin führte Hansl, der älteste Lehrbub, in Abwesenheit des Meisters das Regiment. Dieser war ein guter Kerl, der seine bevorzugte Stellung nicht zu unseren Ungunsten ausnutzte und eher unsere Partei ergriff als die des Ehepaares, wenn es zu Differenzen kam. Wir hatten ihn recht gern, grauten uns aber schrecklich vor den vielen Pusteln, mit denen er über und über bedeckt war. Besonders die Hände oder vielmehr eine Berührung mit ihnen fürchteten wir sehr, da er auch eine Menge Warzen daran hatte. Er war aber riesig lustig, sang und pfiff den ganzen Tag vor sich hin. Waren wir vollends allein, so parodierte er auf die gelungenste Weise den »böhmakelnden« Meister, machte den Schirmnäherinnen, die wir am gegenüberliegenden Fenster sehen konnten, die komischsten Liebeserklärungen und ergötzte uns durch Tierstimmenimitationen und andere Kunststücke.

Der andere Lehrling hieß Wenzel und war aus des Meisters stocktschechischer Heimat. Er war ein rechter Knirps, der kaum auf die Drehbank reichen konnte und der kaum drei Worte Deutsch radebrechte, obwohl er schon ein Jahr in dieser Lehre war.

Meine Arbeit bestand Tag für Tag im Zutragen von Bedarfsgegenständen für die Küche und den Hausstand der Meisterin, in Gängen ins Punzieramt und die Schleiferei, im Abliefern der Arbeiten, wobei ich diese auf einem Karren zu den Geschäften führte. Auch Post gab's oft ins Gasthaus zu bringen, wo mein Gebieter, wie gesagt, oft hauste, und am Ende des Tages hatte ich die Werkstatt aufzuräumen. Bei der Aufnahme wurde zwar von den herrlichsten Erzeugnissen der Silberschmiedekunst gesprochen, die in seinem Atelier verfertigt werden sollten, von silbernen Tafelgeschirren, die er für die höchsten Herrschaften anfertigte, weshalb er in Kürze zum Kammerlieferanten eines Erzherzogs ernannt werden sollte; bei ihm könnte ich ein großer Künstler dieses Faches werden, wenn ich nur mit Fleiß bei der Arbeit wäre, so versicherte der Meister meiner Mutter. Nun war ich aber schon sieben Wochen in dem »Atelier«, ohne auch nur den kleinsten Tafelaufsatz gesehen zu haben; Stockgriffe und Beschläge waren die herrlichen Schmiedearbeiten, die ich entstehen sah. Und selbst diese einfachen, kunstlosen Dinge wurden nur teilweise in unserer Werkstatt angefertigt. Wir erhielten sie in rohem Zustand aus einer Fabrik, um sie dann mit Gips oder einer Metallmasse auszugießen und verpackt weiter zu liefern. Auch waren sie zum kleinsten Teil aus Silber, meistens bestanden sie aus unedlen Mischmetallen, denen Gold- oder Silberglanz durch eine Säure und Schliff aufgelogen wurde. Aber selbst zu dieser Arbeit wurde ich kein, einziges Mal hinzugezogen, und ich hatte noch keinen Handgriff erlernt, der mir zu diesem Handwerk notwendig gewesen wäre. Ich war statt ein Lehrbube ein Laufbursche geworden, der allerdings dem Meister billiger zu stehen kam.

Mit Mißvergnügen bemerkte dies meine Mutter, der ich jeden Abend Bericht über meine Tätigkeit ablegte; dafür sollte sie sich jeden Bissen vom Munde absparen und ich mit einem täglichen Verdienst von zwanzig Hellern vorliebnehmen? Nach dreijähriger Lehrzeit in dieser Werkstatt würde ich ja kaum die einfachsten Handgriffe verstehen! Dazu war ich so schwächlich, daß die Nahrung, die sie mir bieten konnte, auf die Dauer ungenügend werden müßte: mittags eine Handvoll »Grammeln« oder ein Stückchen Speck mit Brot, abends ein ausgesottenes Stück Pferdefleisch mit Gemüse! Dies war zu wenig für einen vierzehnjährigen Knaben, der im Wachsen begriffen und den ganzen Tag auf den Beinen war. Vorerst machte sie nun einen Versuch, wenigstens mein Mittagessen reichlicher zu gestalten, indem sie eine Kammer mietete, die in der Nähe der Werkstatt war, so daß ich während der Mittagspause nach Hause laufen konnte. Durch Verkauf einiger Möbel eroberte sie auch einiges Geld, so daß sie mir ein paar Wochen hindurch eine kräftigere Nahrung bereiten konnte. Aber bald war der Reichtum erschöpft, und es gab wieder Wassersuppe, Kartoffeln und Brot.

Aus diesem Grund faßte nun meine Mutter den Entschluß, einen Lehrplatz für mich zu suchen, in welchem ich auch verköstigt wurde. Freilich hieß es da die traurige Tatsache in Kauf nehmen, daß ich meine Mutter verlassen und ganz zu meinem Meister ziehen müßte, da diese nur unter jener Bedingung die Kost geben. Nach kurzem Überlegen hatte meine Mutter mit dem Inhaber einer großen Schusterwerkstätte gesprochen, der ihr versprach, mich in vier Jahren sein Handwerk zu lehren. Die Mutter hatte mir so viel Schönes von diesem erzählt, das ja der Beruf meines Großvaters gewesen, daß ich mich nicht sträubte, seine Erlernung als Lebensziel anzusehen.

Bevor ich meine zweite Lehrstelle antrat, hatten meine Mutter und ich noch eine böse Überschwemmung mitzumachen. Wir hatten damals unsere winzige Wohnung in einer Gasse, die von der Schmelz ziemlich steil abfiel. An einem Samstagnachmittag nun brauste ein furchtbarer Wolkenbruch über den Bezirk; rauschend stürzte das Wasser durch die Gasse, in der wir wohnten, und brachte die Häuser darin in arge Not. In unserer Werkstätte war heute früher Feierabend gemacht worden, und ich eilte voll Angst um die Mutter nach Hause. Am Beginn unserer Gasse reichte mir die gelbe Flut schon weit über die Knie. Hinter mir stürzte krachend ein Eckhaus ein. Ich keuchte vorwärts. Endlich war ich bis ans Haus gekommen, in dem wir ebenerdig wohnten. Leute, die auf einem breiten Gesims standen, warnten mich, ins Haus zu treten, ich würde in der Einfahrt ersaufen. Ich hörte kaum ihr Geschrei und drang weiter. Wirklich geht mir das Wasser bis an den Hals, es will mir die Füße vom Boden wegreißen. Schwimmbewegungen, die ich einmal Vorjahren im Internat gelernt habe, fallen mir ein. So komme ich bis zur Tür unserer Kammer. Jene ist eingedrückt. Ich klettere mühsam an dem Türrahmen empor. »Mutter, Mutter!« schreie ich in die Zerstörung hinein. Keine Antwort. Noch viel gellender und verzweiflungsvoller: »Mutter, Mutter!« Da schreit eine Baßstimme von Stiegenhause mir zu: »Hams ka Angst net um Ihnere Mutta – dö is bei da elfer Partei im zweiten Stock. Schauns nur, daß aus der Goß außikumman, sunsten dasaufens no.« Aus der tollen Freude, die über mich hinschlägt, kommt neue Kraft. Wieder stemme ich mich durch die Flut, und wenige Minuten später falle ich meiner Mutter um den Hals.

Das Unwetter hatte furchtbaren Schaden in Ottakring angerichtet. Gegen tausend Wohnungen waren überschwemmt worden, Häuser hatte es niedergerissen, mehreren Menschen den Tod gebracht.

Nachdem sich das Wasser verlaufen hatte, sahen wir bekümmerten Herzens die Verwüstung in unserer Kammer an. Die meisten Möbel waren umgestürzt, viele Sachen hatte die Flut davongetragen. Zum Glück hatte meine Mutter etwas Wäsche, das Bettzeug und unsere Kleider in Sicherheit bringen können.

Am darauffolgenden Montag holte ich mir mein Schulzeugnis vom Meister, und einige Tage später trat ich in die neue Lehre ein.

Die Schuhmacherwerkstätte nahm den ersten Stock eines alten, ziemlich verwahrlosten Hauses ein. Ein vierfenstriger Raum war für die Bodenarbeiter eingerichtet, während sich die Oberteilherrichterei in einem kleineren Zweifensterzimmer befand. Wir waren unser acht Lehrbuben und hatten uns den Lehren sowie den Ohrfeigen und Schlägen von fünf Gesellen zu fügen, die mit diesen recht freigebig waren. Auch hier führte die Meisterin das Regiment, und zwar nicht nur über uns Angestellte, sondern scheinbar auch über den Meister, der ihr an Körperlänge kaum bis zur Achsel reichte. Er war recht dürftig und krummbeinig, und die Frau Meisterin soll ihm überdies das Leben nicht leicht gemacht haben.

Durch gutes Essen wurden wir gerade nicht verwöhnt. Der »Kübel«, so hatten wir die Meisterin getauft, gab uns zum Frühstück eine Brühe, die sie Kaffee nannte, mit steinhartem Brot, zu Mittag eine Wassersuppe, ein paar Knochen und Abfallfleisch, nachmittags eine Wiederholung der Frühstücksherrlichkeiten und abends zehn Heller Nachtmahlgeld, wenn nicht einer der Gesellen sich über uns beschwert hatte, in welchem Falle wir uns dann hungrig ins Bett legen mußten. Zwischen Gesellen und Lehrbuben bestand eine immerwährende Feindschaft. Drei von ihnen wären sogenannte Sitzgesellen, das heißt, sie arbeiteten auf eigenen Verdienst und bezahlten dem Meister für Kost, Schlafstelle und den Platz in der Werkstätte einen gewissen Betrag. Wir waren für sie die aufwachsende Konkurrenz, der man jetzt, da es noch anging, das Leben nach Kräften sauer machen mußte. Die zwei anderen, erst vor kurzem ausgelernten Gesellen glaubten wieder, die Ehre der Gehilfenschaft verlange von ihnen ein völliges Unterordnen unter diese drei Kollegen, die um so vieles mehr verdienten als sie selbst. So waren wir auch mit den eigentlichen Gehilfen der Werkstätte nicht auf besonders gutem Fuß.

Meine Lehrkameraden waren zumeist elternlose Burschen aus Böhmen, die auf Gnade und Barmherzigkeit ihren Lehrmeistern ausgeliefert waren, was denn auch oft bis zur Grenze des Erlaubten ausgenutzt wurde. Hätte ja einer von ihnen den Mut gefunden, sich bei der Genossenschaft der Schuhmacher zu beschweren, so wären sie von den Zünftlern wohl nur als undankbare Tagediebe angesehen worden. So nahmen sie mit geringerer oder größerer Geduld das Los auf sich, das ihnen das Leben beschert hatte, und aßen heimlich den frisch gerührten »Schusterpapp«, um den ewig nagenden Hunger zu stillen.

Leider ließen sich auch diese meine neuen Lehrherren recht Zeit, um mich in die Geheimnisse ihrer Kunst einzuweihen. Während die Älteren oft bis knapp vor dem Schlafengehen bei der Schusterbank saßen und Stiefel besohlten, waren wir andern in allen Ecken des Schusterheimes tätig. Der eine schleppte Kohlen aus dem Keller, der andere Wasser in einem Rückenfaß, der »Butten«, die zwei Stöcke bis zur Küche, der dritte wusch Geschirr, und der letzte – meistens war das ich – holte den Gesellen Bier, Tabak und andere Dinge von der Gasse.

Unsere Kammer war nicht das Muster eines hygienischen Schlafsaales. Der kleine Lichthof, auf den das Fenster hinausging, sandte alle möglichen Gerüche zu uns empor, da ihn die übrigen Parteien des Hauses gern als Mistgrube benutzten. Die Betten waren ähnlich den Kojen der großen Schiffe übereinander aufgebaut, und dies war eine sehr erfinderische Einrichtung, da sonst kaum zwei Betten in dem Raum Platz gehabt hätten. Man kann sich leicht die Atmosphäre vorstellen, die in unserer Stube herrschte; das »Bettzeug« war auch nicht von Braun, und es bestand meist aus zerfallenden Matratzen und stinkenden Decken, in denen eine Unzahl von Flöhen nistete. Die Platzordnung war streng nach dem Range der Schläfer bestimmt. Je höher dieser, um so höher durfte er schlafen. So war ich auch hier der Tiefstgestellte, und es war nicht zum Verwundern, wenn ich des Nachts, fast erdrückt von der Schwüle und der Ausdünstung meiner Kameraden, das schrecklichste Alpdrücken hatte.

Jeden dritten Sonntag nachmittag gab's Ausgang. Meine Kameraden, die meist niemanden kannten, zu dem sie hätten gehen können, setzten sich in die öffentlichen Parkanlagen, indes ich einen Sprung zu meiner Mutter machte, um ihr mein Leid zu klagen. Sie weinte dann gewöhnlich mit mir und war traurig, mir nicht helfen zu können, briet und buk in der Eile allerlei gute und magenfüllende Sachen, worauf ich etwas meinen Kummer vergaß. Zum Abschied bekam ich dann noch ein paar gute Trostworte, und nie vergaß die Mutter mir zur Aufmunterung das alte deutsche Sprüchlein zu sagen: Ein jeder Stand hat seine Plage, /ein jeder Stand hat seine Last, /gar bös und hart sind unsere Tage, /und nur bei Gott ist gute Rast.

Ein böses Ereignis machte dieser meiner Lehrzeit in der Schuhmacherkunst ein Ende.

Die Gesellen hatten eines Samstag abends den Namenstag eines der Ihrigen gefeiert und waren furchtbar betrunken nach Hause gekommen; um nun das Maß voll zu machen, ließen sie sich, statt ins Bett zu gehen, noch weiter Bier und Wein holen und setzten die Sauferei in der Werkstatt fort. Wir waren wieder auf unsere Lager gekrochen, konnten aber des wüsten Lärms wegen nicht schlafen. Plötzlich ging die Tür der Werkstätte auf, und einige der schwerbetrunkenen Gehilfen kamen zu uns heraufgestolpert. Es war darunter einer, der mir stets besondere Furcht einflößte, da er noch roher und tierischer als die andern war. Sein Gesicht war schrecklich aufgedunsen, die Augen standen vor und waren rot unterlaufen, das ärgste aber war sein Mund, der wie eine aufgerissene Wunde aussah und immer offenstand. Dieser Mensch ging nun auf uns zwei Jüngsten zu, zog uns trotz allen Widerstrebens aus den Betten und in die Werkstätte hinunter. Wir schrien laut vor entsetzlicher Angst. Ringsum auf den zusammengestellten Tischen hockten und lagen die anderen Gesellen, alle vor Rausch halb besinnungslos. Wir glaubten, daß unser letztes Stündlein geschlagen hatte, als er uns die Hemden herunterriß und uns mit seinem Hosenriemen im Kreise herumjagte, zum größten Entzücken seiner brüllenden Kollegen, die uns mit Bier anschütteten und mit den Zigaretten brannten. Wer weiß, was noch alles geschehen wäre, wenn nicht der Hausmeister, durch den tollen Lärm geweckt, die Frau des Schustermeisters aus dem nahen Gasthause geholt und sie auf das Treiben der Gesellen aufmerksam gemacht hätte. So kam diese, bewaffnet mit einem riesigen Holzlöffel, herein und hieb, ohne sich erst zu überzeugen, wer der Schuldige in dieser Sache war, auf uns ein, die wir bereits mit Striemen und Brandblasen bedeckt waren, und übergoß uns mit einer Flut von Schimpfworten. Heulend erkämpften wir uns endlich den Ausweg durch die Tür, flüchteten in die Schlafkammer, wo wir uns wie halbtot geprügelte Katzen unter das Bett verkrochen. Erst nach langer, banger Zeit wagten wir uns hervor. Durch eine Rille in der Tür sahen wir, daß es in der Werkstatt bereits dunkel war. Da entschloß ich mich, noch in dieser Nacht das Haus zu verlassen. Kein anderer Gedanke belebte mehr mein brennendes Hirn, als dieser Hölle so schnell wir möglich zu entweichen. Mein Leidensgefährte war vor Erschöpfung fest eingeschlafen, und auch aus den oberen Etagen drang beruhigendes Schnarchen. Leise zog ich mich an und schlich in die Werkstatt, deren Fenster auf den Gang führte. Den Atem anhaltend, riegelte ich es vorsichtig auf. Kurze Zeit darauf stand ich vor der Tür der Hausmeisterwohnung. Ich bebte vor Aufregung: Würde der Hausmeister mich kleinen Flüchtling auch um diese Zeit auf die Straße lassen? Er konnte mich ja geradesogut zurückführen, und dann gab es Prügel, wieder schändliche Prügel der Schustersfrau! Aber es gab keinen Ausweg als diesen. So läutete ich an. Der schrille Glockenton durchstieß mich wie glühender Draht. Eine Ewigkeit banger Erwartung. Die Tür knarrt auf, ein dünnes Licht bleckt mich an. Der Hausmeister ist gar nicht so erstaunt, mich zu sehen, ja es scheint, als habe er so etwas erwartet, denn er grunzt gutmütig:

»Sö wolln wahrscheinli afahrn, Schani?« – so wurde ich im Hause genannt –, »no hams recht; viel Schläg und wenig z'essen kriegns wo anders a, da brauchens net erst so aner narrischen Schuastagsellschaft 'n Wurschtl vurmachen!«

Er war auf diese »Partei« nicht gut zu sprechen und freute sich, seinen »Grant« mir gegenüber auslassen zu können. Wahrscheinlich hatten die Gesellen sich dadurch bei ihm unbeliebt gemacht, daß sie ihm nur selten ein »Sperrsechserl« zukommen ließen. Mit einem: »Pfüat Ihna Gott mit Rosenwasser, i gfrei mi schon auf dös Gsicht von da Masterin murgen!« ließ er mich durch das Tor schlüpfen.

Meine Mutter erschrak nicht wenig, als ich ihr so mitten in der Nacht ins Haus fiel. Ich erzählte ihr erschöpft meine schändlichen Erlebnisse und war fast zu müde, um mich meiner gelungenen Flucht zu freuen. Die Mutter war über meine Erzählung sehr in Aufregung geraten und nahm sich vor, die Sache am nächsten Morgen gleich bei der Polizei anzuzeigen.

Ich lag noch im Bett und ruhte mich in der guten Morgensonne, die unsere Kammer liebte, von den überstandenen Schrecken und Prügeln aus, als meine Mutter von dem Polizeikommissariat zurückkam. Sie war sehr mißgestimmt, hatte man ihr doch auf der Polizei erklärt, es verlohne sich nicht, wegen einer solchen Kleinigkeit die Anzeige zu machen. Ihr Sohn hätte die Prügel wahrscheinlich verdient, und die Geschichte mit dem nackten Tanzen wird wohl nicht wahr sein. So einem Lehrbuben dürfe man nicht alles glauben! Die lügen ja einer wie der andere! Überhaupt müsse ihr Sohn ein rechtes »Früchtel« sein, wenn er mitten in der Nacht aus der Lehre laufe! Sie solle ihm ein paar Ohrfeigen geben und ihn wieder zurückschicken.

Die Mutter versuchte nun auf andere Weise ein Recht für ihren Sohn zu finden und ging in die Schuhmachergenossenschaft; aber auch die Zunftgrößen standen auf der Seite des Meisters. Ich war der schwächliche Knirps, der scheinheilige Bösewicht und Tagedieb; was nützte es, daß die Mutter anderer Meinung war, sie hätte es ja als schwaches, sorgenzerquältes Weib doch nicht vermocht, die Obrigkeiten eines Besseren zu belehren und sie zu einer Untersuchung zu zwingen. Eher hätte sich mein Vater Gehör verschaffen können, wäre er noch der alte kräftige und gesunde Mann gewesen, der er war.

Aber mein Vater befand sich selbst seit einigen Wochen in einem Haus für unheilbare Kranke, in welchem er den furchtbarsten Teil seines Lebens durchzumachen hatte.

Nachdem er sieben Monate im Spital auf Besserung seines Zustandes gewartet hatte, benutzte der Krankenhauspfarrer die Gelegenheit, ihn für den katholischen Himmel zu erretten. Er bearbeitete den armen Kranken, der langsam die Unheilbarkeit seines Leidens erkannte, seinen protestantischen Glauben abzuschwören und Katholik zu werden. Dann würde er seinen Einfluß dafür verwenden, um ihm auf Lebensdauer einen Platz in dem Hause der unheilbaren Kranken in Währing zu verschaffen.

Um seine Familie von seiner Last zu befreien – das Spital wollte und konnte ihn nicht länger beherbergen –, machte mein freidenkender Vater mit der größten Selbstüberwindung die peinliche Komödie des Übertritts ohne Überzeugung mit, was zur Folge hatte, daß er auf einen Machtspruch des Bischofs von Sankt Pölten hin wenige Tage später sein Bett im Krankenhaus mit einem des Asyls vertauschen konnte.

Über der Klosterpforte des »Hauses der Barmherzigkeit« steht in einer Nische Christus, die Armen der Welt begrüßend, und folgende Worte stehen zu Füßen der Statue: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«

Ich habe diese Worte oft und oft gelesen, wenn ich am Sonntagnachmittag vor der Pforte auf Einlaß wartete, und mich in meiner kindlichen Einfalt dann immer gewunden, warum gerade die Führer und Pflegepersonen der Anstalt, deren Wahlspruch die Inschrift ja sein sollte, sich nicht mehr daran gehalten haben und warum die Liebe, die man für den Nächsten bezeigen wollte, ein so abstoßendes und häßliches Gewand haben mußte? Ich will, so gut ich sie in Erinnerung habe, die Zustände in diesem Hause schildern, die für mich noch heute das Bedrückendste sind, was ich je erlebt und gesehen habe.

Der Saal, in welchem mein Vater mit ungefähr zwanzig anderen Kranken lag, war wenig licht, da seine Fenster auf einen Gang, die Erholungsstätte der nicht bettlägerigen Kranken, hinausgingen. Dieser mußte den Garten ersetzen, da sonst nur für die Pflegenonnen ein solcher vorhanden war. Kein freundliches Bild schmückte die kahlen weißen Wände, nur da und dort war die Abbildung eines gemarterten Heiligen zu sehen.

Kamen wir auf einige Stunden zu meinem Vater, so klagte dieser meist über Hunger oder über eine neue Verfügung, die das Leben dieser Bedauernswerten noch elender machte. Das Essen war äußerst spärlich, wenig schmackhaft und unappetitlich zubereitet. Dabei wurden den Siechen bei jeder Gelegenheit Strafen auferlegt, die in der Entziehung gewisser Speisen bestanden. Weigerte sich einer der Kranken, eine religiöse Zeremonie mitzumachen, oder beschmutzte ein Bettlägeriger sein Bettzeug, gleich wurde ihm von der Pflegenonne das Kompott oder die Mehlspeise gestrichen.

Von allen Seiten hörte man Klagen über die kleinen Portionen, die man ihnen gab, und die Armen konnten meistens den Besuch ihrer Angehörigen nicht erwarten, die ihnen eßbare Dinge mitbrachten. Am bedauernswertesten waren diejenigen, um die sich kein Mensch kümmerte, ihr Los war dem eines Lebendigbegrabenen ähnlich.

Meine Mutter, der dieses Elend ins Herz schnitt, sparte sich die Woche hindurch das Essen vom Munde ab, um damit sonntags wenigstens einigen von diesen Armen eine kleine Freude in ihre Trostlosigkeit zu bringen.

Neben meinem Vater lag ein blinder und vollkommen gelähmter Hauptmann, der meiner Mutter beinahe die Hände abküßte, wenn sie ihm ein Stückchen gebackenes Pferdefleisch oder sonst eine Kleinigkeit aus den mitgebrachten Schätzen reichte. Es kümmerte sich ja sonst kein Mensch um diesen zweiten Job, der mit einer unglaublichen Ergebenheit dahinsiechte. Er hatte nicht, wie die meisten anderen, einen Freiplatz in dem Hause inne, da seine Pension in die Anstalt eingezahlt wurde; trotzdem hatte er aber die gleiche Behandlung über sich ergehen zu lassen wie diejenigen, die nur in der Barmherzigkeit ihren Wohltäter sahen. Ich sehe noch heute sein vornehmes totes Leidensgesicht, in dem eine furchtbare, stumme Anklage zu lesen war.

Es scheint mir heute, daß das Tadelnswerteste der Hausordnung die Willkür war, mit welcher die verschiedenartigsten Kranken zusammen in einem Saal untergebracht waren.

Da lag neben bloß Gelähmten ein Mensch, dem die Lustseuche den halben Körper zerfressen hatte; er ging langsam bei unerträglichem Geruch in Verwesung über. Meinem Vater gegenüber tobte in einem Bett, das mit starken Drahtnetzen umspannt war, ein zwanzig Jahre alter Bursche mit einem grauenhaften Affengesicht. Tag und Nacht stieß er unartikulierte Laute aus.

Hier lagen Krebskranke mit furchtbaren Geschwüren, dort ein kaum menschlich aussehender rachitisch Verkrümmter. Eine greuliche Herde von Kranken bevölkerte auch die Stiegen und Gänge, haarlose Wasserköpfe grinsten einem entgegen und ließen einen vor dieser Anhäufung unerdenklichen Elends erschauern. Es hatte den Anschein, als sollten hier die Menschen gewaltsam zur Zerknirschung gebracht werden, durch den Anblick all dieses hilflosen Unglücks.

Wenn wir von unseren Besuchen aus dem Siechenhause heimkamen, so verfolgten mich die Bilder, die ich dort geschaut, noch lange und schreckten auch meist durch meine Träume. Langsam lernte ich erst wieder lachen, wenn ich mich zwingen konnte, meine Gedanken davon abzulenken.

Mutter und ich hatten im stillen nur einen Wunsch: daß mein armer Vater bald von seinen Leiden erlöst würde.

Um diese Zeit entstand mein erstes Gedicht. Es war eine Lobeshymne auf den großen Volksdemagogen Doktor Karl Lueger. Ich glaubte in meiner jugendlichen Unschuld und Verblendung und in vollständiger Unkenntnis sozialer wie politischer Tatsachen im Antisemitismus die Heilslehre für uns Arme zu erblicken. Leider ist mir dieser mein erster poetischer Erguß verlorengegangen.

Nach den bösen Erfahrungen, die ich mit meinen beiden ersten Lehrstellen gemacht hatte, wählte meine Mutter lange einen neuen, mir zusagenden Beruf. Endlich hatte sie einen Platz gefunden, der ihr zusagte. Ich sollte als Lehrling in die berühmte Chirurgische Instrumenten- und Bandagenfabrik Odelga und Söhne eintreten. Abgesehen von der guten Bezahlung, die man als Ausgelernter erhielt, wurde ich von dem Berufe selbst angezogen. War es doch mein sehnlichster Knabenwunsch gewesen, Arzt zu werden. Nun sollte ich doch ein Gewerbe erlernen, das in enger Berührung mit der Heilkunde stand! Freilich, meine Mutter brachte damit ein großes Opfer. Die Entlohnung, die ich das erste Jahr bekommen sollte, betrug nur zwei Kronen die Woche. Mit dieser kleinen Summe konnte mir die Mutter kaum das Frühstück bereiten. Um mir diese Lehre zu ermöglichen, verkaufte sie ihre Arbeitskraft trotz ihres Alters bis zur Erschöpfung.

So trat ich mit großen-Hoffnungen in die Fabrik ein und fühlte mich in meiner neuen Tätigkeit sehr zufrieden. Die Arbeit war leicht, regte meine Phantasie an, da sie nichts mit der eines Hausknechts und Laufburschen gemein hatte. Von den intelligenten Gehilfen wurde ich human behandelt; sie hatten mich gern, weil ich ein aufgeweckter Bursche war, immer dienstbereit und zu allem zu gebrauchen. So hätte ich die beste Aussicht gehabt, hier endlich einen ordentlichen Beruf zu erlernen, wenn nicht die Not meiner Mutter von Tag zu Tag unerträglicher geworden wäre. Trotz Anspannung aller ihrer Kräfte und Energien konnte meine Mutter selbst das Notwendigste für unseren Lebensunterhalt nicht mehr aufbringen. Wie oft geschah es jetzt, daß sie abends todmüde nach Hause kam, nachdem sie den ganzen Tag in fremden Häusern Böden gescheuert, Wäsche gewaschen und gebügelt hatte, und sich hungrig zu Bett legen mußte, um mir ein frugales Nachtmahl vorsetzen zu können, auf das ich immer wie ein hungriger Wolf stürzte. Oft blieb sie noch bis Mitternacht auf, um durch Strümpfestricken einiges zu verdienen. Kaum hatte der Tag sein erstes Licht in unsere Kammer geworfen, stand sie schon auf, um mir meine Kleider und Wäsche auszubessern.

Ich konnte nun diese aufreibende Tätigkeit meiner Mutter nicht länger mit ansehen, wurde sie doch von Tag zu Tag hinfälliger, und so reifte in mir der feste Entschluß, aus meiner mir wirklich liebgewordenen Lehrstelle auszutreten und mir einen Verdienst zu suchen, mittels dessen ich ihr weniger zur Last fallen mochte.

Wir hatten unsere Kammer, in die nie ein Fünkchen Licht hereingeblickt hatte und an deren Wänden der Moder in dicker Schicht wuchs, indessen mit einem kleinen Zimmer vertauscht, das wohl monatlich um zwei Kronen mehr kostete, dafür aber ein lichtes und freundliches Aussehen hatte. Um das Mehr an Zins hereinzubekommen, vermietete die Mutter eine Schlafstelle an einen Bauarbeiter. Diesem klagte ich eines Tages meine Berufssorgen, ohne etwas davon meiner Mutter zu sagen. Er riet mir, Maurer zu werden, da könne ich schon als Lehrling einen guten Taglohn verdienen. Wenn ich damit einverstanden wäre, so wolle er mit einem bekannten Maurerpolier wegen meiner Aufnahme reden.

Ich sagte mit Freuden zu, stellte mich einige Tage darauf dem Polier auf einem Neubau vor und wurde von diesem gleich für den nächsten Montag zur Arbeit aufgenommen. Meine Mutter überraschte ich mit der vollzogenen Tatsache des Berufswechsels. Ihre argen Bedenken suchte ich dadurch zu zerstreuen, daß ich ihr in den lebhaftesten Farben alle jene Freuden schilderte, die uns bevorständen, wenn ich mir so viel verdienen würde, wie ich für mein Leben brauchte.

Mein Taggeld auf dem Neubau betrug eine Krone sechzig Heller, eine Summe, deren Höhe mich schwindlig machte. Ich dünkte mich Millionär und steckte ruhig das fortwährende Geschimpfe und hier und da auch eine wohlgemeinte Ohrfeige eines nervösen Baukünstlers ein.

Große Zufriedenheit erweckte ich nämlich in meiner neuen Tätigkeit bei den Vorgesetzten nicht; denn so leicht ich mich in meine Arbeit in der Bandagenfabrik gefunden hatte, so schwer wurde es mir, meinen Körper wie meinen Geist dieser neuen Beschäftigung anzupassen. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete ich blind darauf los, schürfte mir die Hände blutig, schluckte den roten Ziegelstaub hinunter, keuchte mit schwerbeladenen Scheibtruhen auf schmalen Bretterstegen über Abgründe hin und hatte stets den einen Gedanken in mir: Geld, Geld zu verdienen.

Mehr als unter der Last der schweren Arbeit litt ich unter der Roheit der Bauhandwerker. Sie schienen sich alle vereinigt zu haben, um über meine körperliche Schwäche zu spotten, und keinem konnte ich die Arbeit recht machen; wurde ich einem neuen Maurergehilfen als Handlanger zugewiesen, so faßte dieser es gleich als große Beleidigung auf und beschimpfte mich erbärmlich.

Wieder einmal wurde ich beiseitegeschoben, verachtet und gehetzt; grausam vernachlässigt von meinen Arbeitskollegen. Warum wurde mir auch hier die schlechteste Arbeit zugeschoben, und warum wurde ich immer und überall getreten wie ein läufiger, unnützer Hund?

Ich habe mir damals oft dieses schmerzliche Rätsel gestellt. Heute habe ich die Erklärung in meiner kindlichen Schüchternheit gefunden, mit welcher ich vor diese Leute getreten bin, und vor allem in meiner Leistungsunfähigkeit. Vor dem indifferenten Proletariat gilt der gute Wille nichts, ihm imponiert nur körperliche Kraft, Geschicklichkeit, das Können des Leibes. Bei ihm herrscht noch beinahe bewußt das Gesetz der Auslese, das dem stärkeren Tier das Recht gibt, das schwächliche bis zur Vernichtung zu bekämpfen.

So wurde ich barmherzigkeitslos von einer Arbeit zur anderen getrieben, und ich mußte zusehen, wie meine Kameraden sich zur Erholung unter einen schattigen Baum legen durften oder wie man ihnen wenigstens von Zeit zu Zeit eine leichtere Arbeit zuwies. Ich konnte manchmal vor Zerschlagenheit kaum nach Hause gehen, und immer mehr wuchs in mir die traurige Gewißheit empor, daß die Kräfte meines rachitischen Körpers der anstrengenden, ungesunden, meist zwölfstündigen Arbeit nicht gewachsen waren. Dabei sah ich, wie sich meine Mutter vergeblich bemühte, mit ihrem halbgelähmten, schlecht geheilten Arm den Hauptteil der Haushaltskosten zu tragen, und wie dringend sie des Geldes bedurfte, das ich am Samstagabend nach Hause brachte. Und welche Freude empfand ich, wenn ich dem Vater vom eigenverdienten Gelde Obst oder Zuckersachen kaufen konnte! Ich nahm daher alle meine noch so kindliche Energie zusammen, die noch nicht durch das jahrelange Stahlbad proletarischer Arbeit gegangen war, um bei den Ziegelsteinen und Mörteltruhen auszuharren.

Mein Körper aber machte eines Tages allen Überlegungen ein Ende, indem er zusammenbrach. Der erschrockene Polier brachte mich selbst meiner Mutter nach Hause, nachdem ich vor Übermüdung und Entkräftung auf dem Neubau ohnmächtig geworden war. Er sprach meiner Mutter, die zu Tode erschrak, sein Bedauern aus, einen so fleißigen und willigen Burschen entlassen zu müssen, denn ich wäre gewiß ein guter Maurergehilfe geworden. Ich schluckte mein Erstaunen über diese veränderte Meinung meines Vorgesetzten hinunter war ich doch am gleichen Tage mit den lieblichsten Schimpfnamen bedacht worden – und war vorläufig zufrieden, einige Tage rasten zu können und von meiner Mutter gepflegt zu werden; ich trank Fliedertee und Tafelöl nach Noten, ließ mir alle möglichen beschmierten Tücher auf die Brust legen, da ich von einem bösen Husten geplagt wurde.

Als ich mir so durch acht Tage die Folgen meiner Bautätigkeit aus dem Leibe geschwitzt hatte, gingen wir von neuem auf die Suche nach einem Erwerb.

Wir hatten uns diesmal entschlossen, bei einem Bäcker unser Glück zu versuchen, da in diesem Gewerbe die Lehrzeit nur zwei Jahre betrug.

Die Weiß- und Schwarzbäckerei, deren Eigentümer mich nach einigen zögernden Blicken als Lehrling aufgenommen hatte, lag weit draußen in Ottakring, in einer Straße, die sich, froh aus der grauen Steindürftigkeit herauszukommen, in heiteren Windungen auf einen Berg mit Weingärten und Wiesen hinaufschlängelte. Der Bäckermeister schickte mich gleich in die Werkstätte hinunter, wo Semmeln, Wecken und Stritzeln erzeugt wurden und wo ich einem schweigsamen, pfeifenrauchenden Bäckergesellen, der, den Oberkörper entblößt, bei einem mächtigen Bottich stand, Mehl und Wasser zuzubringen hatte. Wir waren allein in der Backstube, da die anderen Gesellen und Lehrlinge schliefen. Ich hatte vorhin im Vorbeigehen einen neugierigen Blick in die Schlafstube gemacht und dort meine zukünftigen Kameraden schnarchen und schlafen gesehen. Ein leises Bedauern hatte mich dabei überschlichen, daß ich den Platz bei der besorgten Mutter nun wieder mit diesem Massenquartier vertauschen mußte; aber lange währten diese Bedenken nicht, denn ich war froh, wieder ein weniges verdienen zu können und nicht mehr der Mutter so sehr im Sack liegen zu müssen.

Nachdem auch der Mischer seine Arbeit beendet hatte, stieg er hinauf in den Schlafsaal zu den andern, und ich blieb allein in der Stube.

Untätig und nicht wissend, was ich beginnen sollte, schlich ich in dem Labyrinth der Tische, Tröge und Reibmaschinen herum, bis der Abend sank. Kaum konnte man nun mehr das plumpe Viereck des Backofens und die andern Dinge erkennen, nur ein leises Knistern hörte man; das rührte von den Mäusen und Ratten her, von denen die eine oder andere sogar manchmal über die Steinfliesen dahinsetzte.

Ich wagte kaum Licht zu machen und kam mir furchtbar verlassen vor. Auf einen Tisch kletternd, konnte ich durch eines der vergitterten Fensterchen das Sterben der Sonne sehen. Wie noch nie vorher sog ich mich mit ganzer Seele an diesem Lichte fest. Nun verstand ich die glühende Sehnsucht meiner Dichter nach diesem Bild unendlicher Größe, ihre Anbetung dieser Erscheinung in dem Dunkel ihres Lebens.

In diesen Minuten faßte ich das eben Erlebte zu einer symbolischen Bedeutung für mein Dasein zusammen. Wo ich stand, umdrängte mich die Not, die Sorge, unten, in diesem Dunkel des Raumes, harrte meiner wieder eine Arbeit, der meine Kräfte vielleicht nicht gewachsen waren. Vor mir starrten die Gitter meiner Abkunft, meiner mangelhaften Erziehung, durch die ich die ferne Sonne meiner menschlichen Erhöhung sah. Wann würde ich in ihr reinigendes Feuer eingehen können? Würde ich es einmal erleben, daß alle Mühsal, alle Demütigung aufhörte, während ich aufatmend die Erdenschönheit mit Mutter und Vater genießen dürfe?

Dumpfe Erregtheit quoll in mir auf; ich witterte Kampf, im wirren Nebel meiner ziellosen Gedanken wollte sich etwas klären, Gestalt annehmen.

Im Angesicht der untergehenden Sonne, das vergitterte Backstubenfenster vor mir, kam mir auf einmal die Erkenntnis der sozialen Ungerechtigkeit. Worte fanden sich in mir zu stammelnden Sätzen der Empörung, es reimten sich Silben des Zornes mit denen der Qual, der Klage und des Hasses. Alles, was in mir empordrang, flüsterte ich heiß durch das Gitter auf die Straße hinaus. Mir war, als schrie ich es laut in den Dämmer hinein, in eine Menge horchender Menschen. So rang ich mir vom glühenden Herzen das erste soziale Gedicht ab, das ungefügig, hölzern in Form und Sinn, aber für mich voll tiefster Bedeutung war.

Da klapperten viele Füße die Holztreppe herunter. Ernüchtert konnte ich gerade noch von meiner Tribüne heruntertorkeln, als die Tür aufging und drei gähnende Gesellen hereinschlüpften. Noch halb im Bann des eben Erlebten, sah ich sie im kalten Licht zweier Glühbirnen wie Schergen auf mich zugehen. Der Mischer deutete auf mich mit der Pfeifenspitze und brummte unwirsch:

»Dös is der neuche Bua.«

Die zwei anderen blickten mich neugierig an, und einer von ihnen meinte verächtlich:

»Servas, der schaut wech aus. A soa Grischpinkerl wül a Bäck wern!«

Der dritte aber grinste mich freundlich aus seinem blonden Milchgesicht an:

»No, no«, sagte er beschwichtigend und saugte dabei an seiner Pfeife. »Was klan is, is zach, muaß denn a jeds glei a Ries sein? Gflickter, du hast e a net dö Muskulatur von an Pflasterergsölln. I war a so a Kruz und jetztn bin i do scho drei Jahr a Vizimischer, der sei Gschäftl versteht. Kum, Klaner, i wer dir glei a Arbeit gebn!«

Er zeigte mir nun, was ich zu tun hatte. Die gekneteten Teigstücke mußten in eine Maschine geschoben werden, welche sie in gleich große Teile formte. Aus diesen machten dann die Gesellen an langen Tischen die Semmeln.

Gegen zehn Uhr abends polterten die zwei anderen Lehrbuben die Stiege herunter. Sie waren in der Fachschule gewesen, wie ich aus den Spottreden erfuhr, mit, denen sie von den Gesellen empfangen wurden. Der eine krähte:

Jetztn kumman dö Laberlstudenten, habts heut achteckate Baunzerln machen glernt?«

Auch mein Beschützer wackelte lustig mit seinem Mondkopf:

»Wieviel Zigarettn habts denn beim Pinnagln unter der Schuibank gwunna?«

Geringschätzig antwortete der Lehrling: »Glaubst, mir tan vülleicht pinagln wia die alten Kracha im Kaffeehaus? Bei uns in da Klass' wird nur anazwanzgerlt um a Fünferl.«

Der Sprecher war ein hochaufgeschossener Bengel mit einem aschgrauen Greisengesicht, das keine Augen zu haben schien, so flach und farblos lagen sie darin.

Beide Burschen machten sich nun umständlich an die Arbeit. Kaum ein Wort wurde gesprochen; nur ein Saugen an den Pfeifen war hier und da in dem Trommeln des Semmelknetens hörbar.

Zu meinem größten Entsetzen klatschte sich manchmal einer oder der andere die nackte, schwitzende Brust mit einem Teigstück ab, und es war mir nach diesem Anblick lange nicht möglich, eine Semmel zu essen.

Das Auskneten des Kleingebäcks dauerte bis zwei Uhr nachts, dann kam das Brot an die Reihe.

Glücklicherweise durften der eine Lehrling und ich uns schlafen legen, da zur Brotbereitung die Lehrbuben erst von einem gewissen Alter an zugezogen werden durften. Die gut organisierten Bäckergesellen wachten streng darüber, daß diese Vereinbarung in allen Werkstätten innegehalten wurde. Unsere Schlafstube glich in vielem der des Schusterpersonals, vor allem wäre es schwer zu beurteilen gewesen, in welcher die Luft schlechter war.

Ich teilte mein Bett mit dem einen Lehrling, der sich gleich mit Kleidern und Stiefeln unter die Decke verkroch.

Ich dachte wehmütig an das reine Bett zu Hause und wäre am liebsten auf dem Holzstockerl sitzen geblieben, war aber doch zu müde dazu. Mir war, als ich mich endlich ausgestreckt hatte, als läge ich in einer Kloake. Daß sich die Gesellen nicht dagegen wehrten? Später erfuhr ich, daß diese nur gelegentlich hier schliefen und jeder auswärts ein Bett gemietet hätte.

Nachdem ich endlich zu schlafen angefangen hatte, wurde ich kurz darauf durch ein starkes Pochen an der Tür geweckt:

»Aufstehn, Buam, Zeit is zum Pacht austragn; schleints euch!« hörten wir eine grobe Stimme rufen.

Ich war sofort auf den Beinen, mein Kamerad aber rappelte sich nur langsam mit allen möglichen Knurr- und Schnauflauten aus dem Bett. Endlich, halb und halb munter, schaute er mich verschlafen an, der ich auf seine Aufklärungen wartete. Er blinzelte mürrisch in das Licht der elektrischen Glühbirne:

»Hast an Tschick oder gar a Zigaretten? Geh, reib her ane!« zuzelte er mit seinen dicken Lippen. Ich suchte in meinen Taschen nach und fand wirklich eine vergessene, halb abgebrochene »Drama«, die ich ihm reichte. Sein Gesicht verzog sich zur freundlichen Grimasse:

»Dank schön, Schurl«, sagte er, »'s glängt grad auf a paar Züg, bis dö Mirzl uns dö Pacht einzählt hat, hast ka warms Tüachl zum Umbinden, in der Früah is schon zünfti kalt, und oft muaß ma vur an Greislerladn a Stund steh, bis a so a terrische Kappöln aufmacht! I wir da scho zagn, wiast as machn muaßt, daß d' as außn tiaffstn Schlaf außakitzelst«, fügte er gönnerhaft hinzu.

Mit behaglicher Wichtigkeit sog er den Rauch aus dem Stumpf und ließ ihn nachlässig wie ein Kavalier durch die Nase ziehn. Bald aber schrillte es vom Gange her mißmutig zu uns herein:

»No, was is denn mit euch Buam, habts eure Urwaschln mit Tach vastopft? Wanns net glei abikummts, kumm i mit an Schaffl Wassa!«

Diesmal war's eine weibliche Stimme, die nach uns forschte. Edi, mein Kamerad, machte einen letzten langen Zug, während er als Antwort auf die neuerliche Aufforderung mit einem wegwerfenden leisen: »Halt die Pappen, blede Umüfken!« antwortete.

Aber er erhob sich doch und schlürfte, die Hände in den Hosentaschen und den Kopf zwischen die Schultern gezogen, über den Gang die Treppe hinunter und in den Ladenraum; dessen Rolläden vor Tür und Auslagenfenster waren noch heruntergelassen, und eine schwache Glühlampe erhellte das Lokal dürftig. Mit Mühe konnte ich von der Wanduhr ablesen, daß es vier Uhr früh war.

Herrlich duftete es aus den großen Handkörben nach frischem Gebäck und Brot.

Eine flachshaarige Zwanzigjährige mit breiten Ringen um die Augen schnaufte Edi an:

»Du wirst alle Tag a größerer Faulenzer. I muaß scho um drei Uhr aufstehn, und da Herr Lehrbub druckt bis Viere dö Matrazn durch. Da hast dö Büachln und zag in Neuchn alls urdentlich!«

Edi pfiff durch die Zähne, um anzuzeigen, wie wenig ihn das Schelten der Verkäuferin berührte, stellte den Kragen seines Rockes auf, blickte umständlich die letzte Eintragung in den Kundenbüchern an und warf diese dann in den Korb. Wir nahmen dann je links und rechts einen Korb bei den Henkeln und verließen so bepackt den Laden.

Ich folgte Edi, so gut ich konnte, mit den beiden schweren Körben am Arm. Auf der Straße war es noch stockfinster, kein Mensch zu sehen. Ein kalter Oktoberwind fegte uns die Wärme aus dem Leib. Edi hörte an meinem Keuchen, wie der Abstand zwischen uns immer größer wurde.

»Gell, dö ham a zünftis Gwicht«, schrie er mir zu. »Gessen sans schnölla wia austragn! Leg da dö Henkeln mehr auf dö Muschkeln, nacha geht's leichta!«

Ich dankte allen Heiligen, von denen ich in der Klosterschule gelernt hatte, als Edi seine Last vor einem Greislerladen hinstellte, und ahmte ihm mit einem Seufzer der Erleichterung nach. Mein Kamerad begann nun wie ein wütendes Roß mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln an die geschlossene Ladentür zu schlagen. Aber es wollte sich nichts rühren. Edi machte eine kleine Pause.

»A so a Greisler hat drei Duchenten übern Kopf zogn«, meinte er und hub von neuem zu poltern an.

Endlich kroch etwas im Laden langsam der Tür zu, langweilig schob sich diese auf; eine Hand schob einen Korb heraus, und Edi zählte nach der Angabe im Buche das Kleingebäck hinein.

Das Volkskaffee, in das wir nun unsere Schätze lieferten, war schon geöffnet. Zu meiner Freude leerte sich einer meiner Körbe hier zur Hälfte. Bevor wir weiterwanderten, schluckte Edi ein Glas Rum hinunter und meinte schmatzend:

»Geh, Schurl, i zahl da a a Frackerl, des hatzt ein!« Entsetzt lehnte ich ab, zum großen Befremden des Freigebigen, der seine aufsteigende Geringschätzung mit dem mir zugedachten Glase hinunterspülte.

Noch eine halbe Stunde rannten wir mit unseren Körben von Geschäft zu Geschäft, dann schlenderten wir heim, ich müde zum Umfallen, Edi in größter Lebendigkeit.

Meine schüchterne Hoffnung, mich wieder niederlegen zu dürfen, erfüllte sich nicht. Wir hatten aus der Backstube Brot hinaufzuschleppen, das in einen Kastenwagen verfrachtet wurde. Der Gaul, der ihn ziehen sollte, war so mager und schien mich so betrübt anzusehn, daß ich ihm meine Frühstückssemmel in das Maul steckte, was mir einen dankbaren Blick des Tieres eintrug.

Neue Verordnungen der Verkäuferin:

»Schurl, du führst jetzt mitn Ferdl 's Brot aus.«

Aus irgendeiner Laune des Meisters wurde ich Schurl genannt, welche Abkürzung von Georg mir verhaßt war. Ferdl war der »Altbua«, neben dem ich nun auf dem Kutschbock zu sitzen hatte.

In meiner gewohnten Geschicklichkeit hatte ich beim Hinaufklettern auf den Wagen das Unglück, nicht schnell genug gewesen zu sein, so daß ich den Halt verlor, als der Wagen bereits zu fahren begonnen hatte, und mein linker Fuß unter das zweite Rad kam. Ein brennender Schmerz strömte aus dem Bein in meinen Körper. Ich wollte mich aufrichten, da schoß das Blut aus der Hose breit hervor. Ferdl war fluchend abgesprungen und alarmierte die Gesellen, die mich zurück in den Laden trugen. »Die Freiln Mirzl« erhob ein Zetergeschrei, als sie mich so sah. Der Meister, der nun auch aus der Stube nebenan kam, schimpfte über meine Ungeschicklichkeit nach Noten, sandte aber doch Edi zu einem Arzt. Der kam kurze Zeit hernach und konstatierte eine arge, aber ungefährliche Quetschung des linken Wadenweichteils. Als ich verbunden war, konnte ich notdürftig, auf den brummigen, aber gutmütigen Mischer gestützt, nach Hause humpeln. Die freie Hand auf das Schulzeugnis gepreßt, das mir der Meister mit dem Bemerken in die Tasche gepreßt hatte, er könne einen so ungeschickten Menschen nicht brauchen, ich solle nur bei der Mutter zu Hause bleiben und Fliegen fangen lernen.

Von Schmerzen geplagt, tiefunglücklich im Gefühl der völligen Nutzlosigkeit meines Lebens, kam ich zur Mutter nach Hause. Von dem guten Gebäck konnte ich ihr nicht ein Stück mitbringen, und ich hatte meine Stelle als Bäckerlehrling nicht zuletzt wegen der Aussicht angenommen, mich wenigstens einmal an Brot satt essen zu können und von dem Überfluß auch meiner Mutter mitbringen zu dürfen. Ein vom Straßenkot verschmutzter Weißwecken war alles, was mir meine einnächtige Bäckerherrlichkeit beschert hatte.

Bis in die Knochen gedemütigt, mit einem wunden Bein, saß ich jetzt stundenlang vor dem Hoffenster unserer Kammer, nur widerwillig den Trostreden zugänglich, die mir meine tapfre Mutter hielt.

Was meine Energie aber schneller wieder aufrichtete als diese, war die bittere Einsicht, daß ich meiner Mutter nicht länger zur Last fallen konnte. Ich gehörte keiner Krankenkasse an und erhielt deshalb auch kein Krankengeld; als ich entdeckte, daß meine Mutter in Ermangelung eines anderen Wertgegenstandes ihr letztes Federbett, an dem sie sehr hing, verkauft hatte, täuschte ich ihr die volle Heilung meiner Wunde vor, obwohl ich beim Auftreten noch starke Schmerzen verspürte.

Wieder einmal beratschlagten Mutter und ich, was mit mir anzufangen sei. Ich hatte unterdessen den Wunsch bekommen, Kellner zu werden, und nach längerem Sträuben willigte die Mutter ein. Ich war auf diesen übelbeleumundeten Beruf gekommen, weil ich hoffte, mich in einem Gasthaus ordentlich satt essen zu können. Außerdem lockte mich die Aussicht auf Trinkgelder, von deren Höhe mir Kollegen aus den Gewerbeschulen Wunderdinge erzählt hatten.

Gleich am nächsten Tag ging ich mit der Mutter in das Gremium der Wiener Gastwirte. Ein kleiner dicker Herr mit grauem Kaiserbart fragte nach unserem Begehr. Als er unsere Bitte, mir eine freie Lehrstelle zuzuweisen, vernommen, musterte er mich kritisch, verlangte meine Schulzeugnisse und bestellte uns für den nächsten Tag. Als wir an diesem wiederkamen, erklärte uns derselbe Herr, daß weder meine Schulzeugnisse noch mein Äußeres derart wären, daß ich eine Stelle in einem erstrangigen Restaurant bekommen könne. Der Kellnerberuf wäre gar ein vornehmer Stand; Lebensart, große Intelligenz, ein elegantes Äußeres wären Hauptbedingungen dazu. Er traue mir diese nicht zu. Auch koste die Ausstattung eines Lehrlings, der in ein erstes Etablissement treten wolle, ein kleines Vermögen. Dazu käme der Besuch der Fachschule, die eigentlich eine Art Hochschule sei und die der Lehrling oder seine Angehörigen bezahlen müssen. Aber es gäbe ja auch kleinere Restaurants in den Vororten, die nicht so große Ansprüche erheben. Er habe die Adresse eines solchen, die er mir zur Verfügung stelle. Freilich sei der Gasthof weit draußen in Simmering, aber, wie gesagt, ich müsse froh sein, dort unterzukommen.

Wir hatten der salbungsvollen Rede, die mit vielen französischen und andern mir unverständlichen Worten vermischt war, bekümmert zugehört. Ich fühlte mich zu einem Nichts zusammenschrumpfen, während ein Glorienschein auf einmal alle Kellner umgab, die mir je begegnet waren. Und ich schämte mich sehr meiner Frechheit, weil ich gehofft hatte, ein Mitglied dieser bevorzugten Gilde zu werden.

Die Eröffnung, nun doch einen Platz in einem Gasthaus zu bekommen, erregte infolgedessen die größte Dankbarkeit in mir, und ich hätte dem feinen Herrn am liebsten die Hände geküßt.

Sofort machten wir uns auf den Weg nach dem Simmeringer Restaurant, das wir nach zwei Stunden angestrengten Gehens erreichten. Klopfenden Herzens betrachtete ich die Firmentafel. Das Haus hieß »Zur goldenen Weintraube« und machte von außen wirklich nicht den Eindruck eines vornehmen Gasthauses. Es war nur zwei Fenster und eine Tür breit, zu der einige ausgetretene Stufen führten. An den Scheiben waren die Ankündigungen von Getränken und kalten und warmen Speisen zu lesen, während die obligate Efeuecke den »Garten« einschloß – einen tischbreiten Raum vor dem Haus, wo einige Tische und Sessel standen.

Der spottlustige Wiener läßt bezüglich dieser Gasthaus»gärten« den Wirt zum Kellner sagen:

»Schani, trag in Garten außi, d' Sunn scheint!«

Hier war die Hecke ziemlich grau, und die Tische, die man durch die großen Lücken sah, waren morsch und abgescheuert. Auch der König Gambrinus auf dem Schild, der eine riesige gelbe Weintraube in der Hand hielt, war arg hergenommen, sein Gesicht ganz verschwunden.

Endlich nahmen wir uns ein Herz und stiegen die paar Stufen empor.

In der Nähe der Tür, hinter dem Schanktisch, rieb ein vierschrötiger Schankbursche den Auslauf eines Fasses blank. Auf unsere Frage nach dem Wirt sagte er mürrisch:

»In der Kuchl draußen is er, was wollens denn, Frau?«

Wir begründeten unser Kommen und sahen auch bald den Wirt vor uns, einen großen, starken Mann in gestickten Hausschuhen und einem schwarzen Hauskäppi. Er schien nicht viel über vierzig Jahre alt zu sein, hatte eine quittengelbe Hautfarbe und einen schwarzen Schnurrbart. Eine schöngebräunte Meerschaumpfeife mit langem Rohr hing ihm aus dem Mund; während ihm der Hausknecht unser Anliegen vortrug, zündete er die Pfeife von neuem an und musterte mich aufmerksam. Dabei klappte er in schrecklicher Weise die Augendeckel auf und zu und machte mit Wangen und Mund Bewegungen, als zöge er das, was er sprechen wolle, erst aus den Zähnen. Plötzlich tippte er mit der Pfeifenspitze an meine Brust, spuckte über mich auf den Fußboden und rasselte heiser hervor:

»Der Klane do wül Köllner wern bei mir? Vo mir aus, wenn's ihm gfallt! Mit mir und meiner Alten is ganz guat auskumma. – A bißl hantig san ma alle zwar, aber sunsten tan ma kaner Fliagn was. Er kriagt dö Kost, hat a guats Bett, vom Aufdingen zahl i die Hälfte. Schmutzi sein gibt's bei mir net! Wann si der junge Herr recht pakschierli anstellt, kriagt er a scho öfters a Stück Gwand von mir. Sö brauchen ka Angst habn um Ihran Buam, Frau Muatta; bei mir kummt er in a christliches Haus. Jeden Sunntag schick i ihm in a Meß. – Wissens, i bin beim Bürgerverein, mir wissen scho, was si' ghört: 's liegt ma nix dran, wann a brav is, ka so a heuntigs Früchtl, wias jetztn umanandrennen, kriegt a nach der Probezeit fünf Gulden in Monat Taschengeld. Denn wissens – da kennans in ganzen Bezirk umananderfragn –, noblig san ma immer, schmutzi sein gibt's bei uns net! Schlecht wird's eahm nöt gehn bei uns. Dös Zigarrengeld ghört ehrm, an an Samstag und Sunntag spüln d' Volkssänga bei uns, da fallt a ganz a schöne Trinkgeld fürn Buam a, was a si bhalten derf. Denn wissens: schmutzi sein gibt's bei uns nöt!«

Wer weiß, wie lange es noch in diesem Ton weitergegangen wären, wenn nicht ein Hustenanfall seinen Redestrom unterbrochen hätte. »Seppl«, krächzte er zum Hausknecht gewendet hervor, »gschwind schenkens mir a Glasl Marker ein!«

Er kippte den Wein mit einem Ruck hinunter; der schien ihm die Kehle wieder eingerenkt zu haben, denn jetzt ging die Lobeshymne auf die Lehrstelle in seinem Gasthaus von neuem an. Endlich schloß er sie mit einem:

»Also, Frau Muatta, Sö lass'n ma 'n Buam glei do. I wer schaun, ob von meine Ausglernten no a Frack do is.«

Wir beide, Mutter und ich, waren ganz erdrückt von dem Wortschwall und konnten kaum einen Gedanken fassen. Ich schaute angestrengt auf ein verblichenes Farbenbild des Kaisers. Der große Ordensstern kam mir nach und nach wie ein Kohlkopf vor. Das war mein Lieblingsgemüse. Würde ich das hier sehr oft zu essen bekommen? Abschiedsworte, die meine Mutter an mich richtete, weckten mich aus meiner Betrachtung.

Nachdem die Mutter fortgegangen war – der Wirt hatte ihr noch eine große Flasche »Marker« mitgegeben, in der Voraussetzung, daß dieser der beste Trost für ihren Abschiedsschmerz sein wird –, führte mich der Besitzer des Gasthauses »Zur goldenen Weintraube« in eine lichte Kammer. Die Lade einer Kommode nahm meine wenigen Habseligkeiten auf, die ich in einem Paket mitgebracht hatte.

»Bis am Samstag, wo dö Volkssänger spüln, kriagst an Frack, derweil kannst dö Gäst a so bedienan. Da hast a Hangerl, schau, daß 's rein bleibt, die Wasch kost a Heidngöld. So, jetztn fang ma halt an. Dos übrige wird da da Schan zeigen, der glei kumma muaß!« Schan war der Oberkellner, wie ihn mir mein Lehrherr vorstellte. Er sah aus wie ein Verbrecher, das schwarze, buschige Haar hing schwungvoll über die Stirn, die Augen waren verschlagen und grausam. Seine schlechte Haltung machte ihm eine eingesunkene Brust und spitze Schultern. Wenn er sprach, näßte er in einem fort mit der Zunge die Unterlippe, die von einigen langen Roßzähnen vorgedrängt wurde. Besonders während er lachte, war sein Gesicht abstoßend häßlich.

Kaum hatte er erfahren, wer ich war, warf er mir zum Willkomm seinen gelben Überzieher mit dem Kommando »Aufhängen!« zu und ließ sich berichten, ob ich schon die Zigaretten übernommen habe.

»Schau, daß d' vorm Essen dei Zigarrenkastl hast. Geh zum Seppl, dem muaßt es alösn. Wievül hat da denn dei Muatta Göld mitgebn?«

»Zehn Kronen, Herr Schan!«

»Na des is weni gnua! Was jetzn für notige Leut ihre Buam zun Wirtsgschäft gebn!«

Ein Gast rief diesen Vorgesetzten, so war ich vorläufig entlassen. Nun war es am Schankburschen, mich weiter zu unterrichten. Das Eßzeug mußte geputzt werden, daß es nur so glänzte, dann lernte ich, den Gästen manierlich Bier und Wein zu bringen. Es waren unterdessen die Mittagsgäste gekommen, meistenteils Stammgäste, die meine Ankunft benutzten, mit mir Witze zu machen. Es waren Straßenbahnangestellte, von der nahen Remise, Arbeiter der umliegenden Fabriken, die hastig ihre Suppe hinunterstürzten, das Fleisch mit Gemüse in Eile verschlangen und dann noch ein Weilchen bei ihrem Glas Bier oder Wein sitzen blieben, etwas dazu rauchten und viel redeten. Der Wirt ging wohlwollend von Tisch zu Tisch, begrüßte, redete, rauchte in einem fort, während Schan, der Ober, eine geradezu unheimliche Schnelligkeit im Zutragen der Speisen, Entgegennehmen des Geldes und Hinauskomplimentieren der Fortgehenden entwickelte. Der einzige Ruhepunkt in diesem lauten Durcheinander war Seppl, der Hausknecht. Mit gleichgültiger Überlegenheit füllte er Glas für Glas, schob die leeren Gefäße auf die Seite, als ob sie nicht zerbrechlich, sondern aus Holz wären, was mir ungeheuer imponierte.

Gegen zwei Uhr nachmittags hatten alle Gäste bis auf zwei, drei das Lokal verlassen, während diese hinter ihren Gläsern duselten oder gar eingeschlafen waren. Auch der Wirt war verschwunden. Schan saß hinten im Extrazimmer, schlürfte schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette, die er wortlos meinem Vorrat entnommen hatte. Ich hatte die Rauchwaren vorhin Seppl abgelöst, wobei meine zehn Kronen bis auf einige Heller dahingegangen waren. Deshalb bemerkte ich es mit Bedauern, daß Herr Schan es als selbstverständlich ansah, sich auch weiter reichlich zu bedienen, ohne dafür zu zahlen.

Nun erhielt auch ich mein Mittagessen; leider wurde mein großer Hunger durch die dünne Wassersuppe und den Gulaschsaft nicht gestillt, wiewohl in diesem auch einige kleine Fleischstückchen herumschwammen. Sollte ich auch hier, an der Quelle, hungern müssen? Mein Arbeitseifer war nach dieser Betrachtung um wesentliches gesunken; kleinlaut scheuerte ich die Tische, putzte das Geschirr und die Gläser und bediente hier und da einen neu erschienenen Gast; auch das kleine Glas Kaffee zur Jause war für mich nicht dazu angetan, das Pikkolodasein auch weiterhin als ein so glänzendes und glückliches anzusehen.

Als ich um acht Uhr abends, von dem vielen Herumlaufen zum Umfallen müde, erfuhr, daß erst gegen zwei Uhr, manchmal auch erst drei Uhr zugesperrt wurde, überkam mich ein Schauern.

Je dunkler es draußen wurde, desto mehr Gäste kamen zu uns herein. Alle Tische waren nun besetzt, und es wurde gegessen und furchtbar viel getrunken. Ich konnte dem Bedarf an Bier und Wein beinahe nicht nachkommen, meine dünnen Finger schienen mir abzubrechen. Dabei waren die Gäste wohl an geübtere Bedienung gewöhnt und von schrecklicher Ungeduld. Bald war ich ein »dramhapata Kruz«, bald eine »scheanweanklete Schildkrot« oder ein »Krowotennigl«, und Tepp, Trottl und Esel waren Namen, die ich gar nicht mehr hörte, so oft würde ich damit bedacht. Ich bemühte mich so gut es ging, nicht darauf zu hören, aber einmal war ich doch tiefunglücklich und mußte mit Mühe meine Tränen zurückhalten: Ein dicker, rotblau gefärbter Bürger Simmerings, dem ich sein Viertel Alsegger nicht schnell genug brachte, grunzte laut durch den Raum, daß alle Leute ihn hören konnten:

»Du buklata Raubersbua, mir scheint, du hast in dein Buckel lauter Silbaguldn drin, daß d' gar so fad umanandaschleichst. Da Wirt soll da dei Sparkassa aufschneidn!«

Um Mitternacht torkelten die meisten Gäste nach Hause, und nur die Kartenspieler blieben noch sitzen. Unmengen von Wein verschwanden in ihnen wie in Schläuchen. In meinem Kopf begann es, als ob Mühlsteine mein Hirn zerrieben. Der Dunst war zum Schneiden, und meine Augen, die an eine solche Atmosphäre nicht gewöhnt waren, brannten wie glühende Kugeln in den Höhlen. Dabei wollte das Spiel- und Trinkgelage kein Ende nehmen. In der Küche war schon längst das Licht abgedreht, die Mädchen schliefen seit einiger Zeit. Nun kam auch die Wirtin, eine rundliche Frau, deren Haarschopf stark nach Nußöl duftete, und leistete den Gästen, die ich zum Teufel wünschte, Gesellschaft. Mit größter Gemütsruhe hatte sie sich zu ihrem Sessel ein Schaff Wasser gebracht und badete sich darin ihre prall aufgeblasenen Füße, während sie ein Glas Wein nach dem anderen trank und ab und zu ein Stück Semmel hineintauchte. Der Wirt vertrat indessen den Schankburschen, der das Zinngeschirr und die Gläser reinigte.

Endlich brachen die Gäste auf und verließen umständlich das Gasthaus, indem sie das unsinnigste Zeug mit der größten Wichtigkeit vorbrachten.

Es war halb drei Uhr früh. Wie freute ich mich auf den Schlaf in der großen Kammer mit den reinlichen Betten, die mir der Wirt nach meiner Aufnahme gezeigt hatte. Da der Oberkellner außer Haus schlief, war sicher das eine Bett für den Hausknecht, das andere für mich bestimmt. Leider sollte es aber anders kommen. Denn als ich unter Anleitung des schon sichtlich berauschten Wirtes die Tür zugesperrt, den Gashahn abgedreht hatte, führte er mich in das Extrazimmer, das ein ziemlich geräumiger Saal war, und zeigte mir im Schein einer Kerze eine Sitzbank. Der Sitz war aufzuklappen, und eine schmale Kiste mit einer schmutzigen Matratze und einer Pferdedecke zeigte sich mir. »So, Franz«, stotterte der Wirt trunken hervor – ich hatte von ihm den Namen Franzl bekommen –, »a so a feins Bett hast bei der Frau Muatta z' Haus gwiß net ghabt. Tua ma's net verschweinigln wia de andern Buam. Servas!«

Damit trollte er sich hinaus, sperrte die Küchentür zu und polterte eine Stiege hinauf. Er hatte die Kerze mitgenommen, und ich stand verblüfft und unschlüssig da. War es ein schlechter Witz, daß ich hier in dieser Kiste schlafen sollte, und würde nicht gleich die Tür zur Kammer aufgehen und der Hausknecht mir mein richtiges Bett zeigen? Ich wartete eine geraume Zeit, aber außer einem Mäuserascheln hörte ich nichts, so angestrengt ich auch horchte. Auch die Tür zur Kammer war versperrt, ich bemerkte es, als ich mich selbst überzeugen wollte, ob das zweite Bett darin nicht doch für mich gerichtet war. So machte ich mich endlich bekümmert über meine Kiste und versuchte, meine Schlafstelle so bequem wie möglich zu richten. Aber, o Entsetzen! Ich fühle etwas über meine Hand laufen. Glücklicherweise entdecke ich die Zündhölzer in meiner Tasche und kann darum nachsehen – Ekel faßt mich –, mehrere riesige Schwabenkäfer huschten, aufgeschreckt von dem Lichtstrahl, über das Bettzeug und flüchteten dann in ihre Schlupfwinkel. Ein Gefühl unsäglicher Verlassenheit erfaßt mich. Mein Gott, warum muß ich nur überall das Schlechteste mitmachen, bin ich nicht würdig, ein menschliches Dasein zu führen? Aber es geht ja vielen so wie mir; wenn das ein Trost sein soll.

Auf jeden Fall kann ich mich nicht überwinden, mich in diesen Sarg mit all dem Ungeziefer zu legen. Nicht einmal die Decke will ich benutzen, denn wer weiß, ob sie nicht von Läusen und Wanzen wimmelt!

Aber schlafen muß ich, denn die Müdigkeit schlägt meinen Körper nieder. Der Kopf, die Brust, Beine und Arme schmerzen mich, als wären sie eine einzige Beule. So entledige ich mich meines Rockes und der Weste und strecke mich auf einer Bank aus, den Kopf auf den abgelegten Kleidungsstücken. Trotz aller Müdigkeit wollte der ersehnte Schlaf nicht kommen. Ich wälzte mich hin und her und versuchte alle Mittel, ihn zu erzwingen. Wäre die Luft nur nicht so schlecht oder ein Fenster zu öffnen gewesen. Aber diese waren wie die Türen fest versperrt.

War dies meine schrecklichste Nacht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls schmerzte mich mein Körper unbeschreiblich. Heiß und inbrünstig wünschte ich den Morgen herbei. Aber die Uhr im Saal brauchte eine Ewigkeit, bevor sie schlug. So ging es nicht länger. Ich hatte allen Ekel, jeden Abscheu vor Insekten und Schmutz überwunden und legte mich halb besinnungslos in das Sargbett. Hier endlich überfiel mich fiebriger Schlaf.

Als mich die Stimme des Hausknechts weckte, kam es mir vor, als wäre ich erst eingeschlafen. Um sein erstes »Auf, Franzi!«, auf das ich nicht gleich reagierte, wirkungsvoller zur verstärken, spritzte er mir mit einer Sodawasserflasche ins Gesicht, was mich auch bald munter machte.

Im Saal lag heiterstes Sonnenlicht auf allen Tischen. Aber um mich war dennoch alles trübe, und mir schien, als stünde ich im dichtesten Herbstnebel. Hätte ich nicht am ersten Tage meines Pikkolodaseins die unerhörte Summe von drei Kronen durch den Zigarettenverkauf verdient, ein Erfolg, der mich in die kühnsten kapitalistischen Träume versetzte, so wäre ich wahrscheinlich auf und davon gelaufen; so geduldete ich mich weiter, schluckte mit Todesverachtung mein Essen hinunter und ließ mir jegliches Keifen der Wirtin, die Rippen- und Kopfstücke der männlichen Vorgesetzten und die Witze der Gäste ruhig gefallen. Legte mich, einem Märtyrer gleich, gottergeben in meinen Schlaftrog, nachdem ich achtzehn bis zwanzig Stunden gearbeitet hatte, versuchte ich meinen Bettgenossen, den Schwaben, gut Freund zu werden, während ich mich der Gnade und Ungnade von Wanzen und Flöhen bedingungslos ergab.

So war ich schon glücklich den vierten Tag im Gasthaus zur Weintraube, und es kam der Samstag mit seinem Volkssängerkonzert.

Da mußte eine Stunde früher aus dem »Nirschl« gekrochen, alle Wände von Spinnweben gereinigt und die Kaiserbilder im Gastzimmer mit gleicher Liebe mit Tannenreisig geschmückt werden wie die von Lassalle und von Marx in dem Saale. Auch die Landschaften, das verräucherte Kruzifix und die leeren Vogelkäfige erhielten grüne Umrahmung. Die Tische wurden weiß gedeckt, alle verfügbaren Gläser gewaschen. Dann hatte ich die Einladungen in die Nachbarhäuser zu tragen. Nachmittag kroch ich mit dem Hausknecht in den Keller hinab, um ihm beim Weinabzapfen zu helfen. Auch die Küche verlangte nach mir. Hier mußten die Küchenmesser geschliffen und die Kartoffeln geschält werden, welch letztere Kunst ich lange nicht erlernen konnte. Die Wirtin ließ es deshalb auch nicht an handgreiflichen Lehren fehlen und beutelte mich zum großen Gaudium der Mägde wiederholt an den Ohren. Der Wirt rettete mich endlich aus den Händen seiner Frau, die vor Fett und Unwillen glänzte. Ich folgte ihm auf seine Weisung in eine Rumpelkammer, wo er einem Kasten mehrere Kellnerfracks entnahm. Sie waren von früheren Lehrlingen zurückbehalten worden. Einer paßte mir zur Not; zwar reichten seine Ärmel bis zu den Fingerspitzen, und die Schöße fegten beinahe den Boden. Aber er war trotzdem von höchst wirkungsvoller Eleganz, als ich ihn von den Schimmelpilzen und Fettflecken gereinigt hatte. Eine weiße Halsbinde um den frischen Kragen vervollständigte meinen Festanzug.

Als ich die Auerbrenner hatte aufpuffen lassen, stellten sich bald die ersten Gäste ein. Die Mitglieder der Volkssängergesellschaft waren schon früher erschienen. Es waren drei Herren und zwei Damen; die Schlafstube des Hausknechts war zur Künstlergarderobe avanciert. Einstweilen waren sie alle tapfer mit ihrem Nachtmahl beschäftigt, nur eine der Damen saß beim Eingang, um den Gästen die Eintrittskarten zu verkaufen.

Um acht Uhr abends war das Lokal mit Menschen überfüllt. Zwei Aushilfskellner, von denen einer Schuhmachergehilfe und unser Nachbar war, halfen mir, die schrecklich durstigen Leute mit Bier zu versorgen. Der Wirt stolzierte gravitätisch von Tisch zu Tisch und versprach den Leuten höchsten Kunstgenuß. Um elf Uhr sollte sogar eine Flammentänzerin von Ronacher auftreten. Alles besah sich neugierig das Riesenplakat, das die Tänzerin Mrs. Lola Anderson im Trikot und von greulichen Flammen umwirbelt darstellte und auf das der Wirt immer wieder mit vielversprechendem Gesicht hinwies. Einer der Volkssänger – er war bedauerlich mager und schlecht aussehend – hatte sich ans Klavier gesetzt und spielte in rasendem Tempo ein Stück nach dem anderen herunter.

Drei schrille Zeichen mit einer Handglocke verkündeten den Anfang der Vorstellung. Rufe der Gäste wurden laut.

»Um an Kreuzer an Ruah!«

»Gengans, Herr Nachbar, vastölns ma net dö Aussicht.«

»Wer ratscht denn da vurn wir a Lotterieschwesta.«

»Vadufft, Liliputaner, und schepper net so mit deine Krügeln!«

Letzteres ging mich an, der ich unentwegt Bier herbeischleppte.

Die vier Mitglieder der Volkssängertruppe erschienen auf der Bühne und sangen ein Entreelied.

Unten kritisierte das Publikum:

»Servas, dö Blade hat ja an Kilo Farb in Gsicht!«

»Jessas, hat dar der Komiker a saudumms Gsicht!«

»Tausend Jahr is 's scho alt, aber singan muaß 's no!«

»Der hat dar a guate Hand zum Singen!«

»Mehlwürm angenehm?«

»Gengans, wos vastehn denn Sö von an Gsang!«

»Haltns ehrnan Brotladn!«

»Stad sein durt in da Eckn, ös seids ja net in Wald!«

»Na, wann der Kropfate« – dies war einer der Volkssänger – »'s Mäul aufmacht, muaß ma schon lachn!«

Nachdem die Sänger geendet hatten, dröhnten die Wände von Beifallsbezeigungen. Nach drei Gesangsnummern spielten sie eine Posse. Die Gäste krümmten sich vor Lachen und tranken Bier und Wein in Strömen.

Mit meinem Rauchvorrat, den ich nachmittags ergänzt hatte, machte ich glänzende Geschäfte. Beglückt zählte ich im Geiste meinen ansehnlichen Gewinn, der durch reichliches Trinkgeld erhöht wurde. Ich stellte mir das frohe Gesicht meiner Mutter vor, wenn ich ihr beim nächsten Besuch so viel Geld einhändigen würde, wie sie gewiß schon lange nicht gesehen hatte. Diese Vorstellung söhnte mich ein wenig mit der harten Mühe aus, die ich in meinem Beruf durchzukosten hatte.

Gern hätte ich einen Blick in die Garderobe gemacht, wo sich die Volkssänger in andere Menschen verwandelten, indem sie Schminke, falsche Bärte und phantastische Kostüme anlegten: Was mußte es da drinnen für geheimnisvolle Herrlichkeiten geben, und wie beneidete ich die Menschen, die sich ihrer bedienen durften, um mit ihrer Hilfe die Herzen der Menge zum Lachen und Weinen zu zwingen!

So oft es ging, machte ich mir in der Nähe der Künstler zu schaffen und war schon befriedigt, wenn mich einer ihrer Blicke streifte. Was hätte ich nicht dafür gegeben, auch ein solcher Liebling des Volkes zu werden! Wenn ich den Beifallssturm hörte, der jedem Auftreten der Volkssänger folgte, so hatte ich die bissigen Bemerkungen der Gäste bei Beginn der Vorstellung bald vergessen. Am meisten beneidete ich die Mitglieder der Truppe um ihre Verwandlungsfähigkeit. Bald einen wohlhabenden Hausherrn mit goldenem Wiener Herzen vorstellen zu dürfen, bald einen schnöden Wucherer, der immer Jude sein mußte, oder ein verwegenes, leichtsinniges Wiener Früchtel, das wäre für mich das größte Glück gewesen. Diese Auserwählten spielten mit Tugenden und Lastern, konnten erschüttern und rühren, so wie es ihnen gefiel. Welch eine herrliche Kunst!

In meiner Begeisterung war ich mehr Auge und Ohr für die Vorgänge auf dem Podium als für die Bedürfnisse der Gäste, und ich erhielt auch infolgedessen manch anfeuernden Rippenstoß von diesen oder von den Kellnern, während mich der Wirt oftmals mit strafendem Blick ansah, wenn er meine Saumseligkeit bemerkt hatte.

Gegen zehn Uhr betrat der Direktor der Truppe die Bühne und kündigte das Auftreten der weltberühmten Serpentinen- und Feuertänzerin Miß Lola Anderson aus Amerika an, die sonst in dem Vergnügungsetablissement Ronacher engagiert war. Der Saal wurde verdunkelt, der Klavierspieler donnerte einen Tusch, dem eine große Trommel Verstärkung gab. Darauf eine kurze Pause, in der sich niemand rührte. Da huschte wie ein Gespenst eine weiße duftige Wolke durch die schwitzenden Menschen, den grauen Tabaknebel, sprang auf die Bühne und tanzte dort in einer roten, gelben, blauen, grünen Lichtwelle, die plötzlich aus einem verborgenen Scheinwerfer das Podium überflutete, einen rasenden Tanz.

Beim Ausgang an den Schanktisch gedrückt, starrte ich diese feurige Wundergestalt an, die nicht von dieser Erde zu Sein schien. Jetzt bändigte sie ihre Umdrehungen, immer langsamer und langsamer wurden sie, auf einmal war es nur mehr ein ruhiges Schweben wie über mondbeschienenem Wasser. Nun konnte ich auch ihre Gestalt und ihr Gesicht sehen. Wie schön war die Tänzerin, wie wunderschön! Sie erschien mir mit ihrem schwarzen Lockenkopf, dem bleichen Muttergottesgesicht wie die Inkarnation aller süßen Frauengestalten meiner Bücher. Wie eine Lästerung meiner heiligsten Gefühle empfand ich es, daß sie hier vor diesen Betrunkenen um Geld tanzen mußte. Aber nein, das war ja unmöglich! Sie war gewiß nur hier herausgekommen, um diesen armen Menschen einmal den Anblick ihres himmlischen Bildes zu vergönnen. Am nächsten Tisch sagte jemand:

»Kruzitürken, a saubas Gstell! A mol, und nocha möcht i sterbn!«

Ich hätte den Kerl erwürgen mögen für diesen Ausspruch! O holde Miß Anderson! Ich bin nur ein armseliger Kellnerbub, schmutzig und verwachsen; die Menschen spotten meiner, haben nur Rippenstöße und Ohrfeigen für mich! Des Nachts bin ich gut Freund mit Schwaben und Wanzen, vor denen du in Ohnmacht fallen würdest; – ich habe einen alten Vater, den die Krankheit langsam auffrißt, und eine Mutter, die darben muß und in einer modrigen Kammer lebt. Und doch liebe ich dich, du Glänzende, du Blühende, du über alle Begriffe Reiche und Gesegnete! Dich bete ich an, du Wesen einer andern Welt, voll Süße und Reinheit; ich möchte dein Fußschemel sein, dein letzter Diener! Ich möchte dich aus wirklichem Feuer erretten, aus stürzenden Fluten, aus irgendeiner furchtbaren Gefahr, und wäre beglückt, wenn du mich aus Dankbarkeit dein Füßchen küssen ließest. O schöne Miß Lola Anderson, wie liebe ich dich!

So betete ich inbrünstig in mich hinein, als ich plötzlich eine leise Stimme den Hausknecht nach mir fragen hörte. Mein Gott, das war ja meine Mutter! Wirklich stand sie nicht drei Schritt von mir entfernt; trotz der Verfinsterung und des Dunstes konnte ich ihre eingestürzte Gestalt mit dem lieben Kummergesicht ausnehmen. Es mußte etwas geschehen sein, was uns beiden sehr naheging, sonst wäre sie nicht um die Mitternachtszeit zu mir gekommen. Ich stürzte auf sie zu:

»Grüaß di Gott, Mutter, was is denn geschehn?«

Die erste Antwort war, daß sie mich tränenüberströmt abküßte. Dann schluchzte sie heraus:

»Dem Vater geht's schlecht, er möcht dich noch einmal sehn. Vielleicht lebt er schon morgen nicht mehr!«

Da die Leute ringsum zu murren begannen, zog ich meine Mutter auf die Straße hinaus; draußen in der stillen Nacht, die für uns Arme noch immer das meiste Verständnis hat, wiederholte sie unter vielen Tränen ausführlicher ihre traurige Nachricht, aus der ich entnahm, daß ich mich sofort zu meinem Vater begeben mußte, wollte ich ihn noch lebend antreffen. Ich bat deshalb meine Mutter, mit mir den Wirt aufzusuchen, um ihn zu bitten, daß er mich für den Rest des Abends und den anderen Tag freigeben möge. Nachdem wir uns durch den wieder erleuchteten Saal mit den fröhlich schwatzenden Menschen gewunden hatten, fanden wir den Wirt in der Küche, vor. Mit unserer Bitte kamen wir aber schön an. Er war schon etwas betrunken und schrie:

»A, so was kennan ma scho! Dös is a aufgelegta Schwindel. Ihna Bua möcht murgn in Kavalier spüln, und do kummans ma mit dera Gschicht. Dos derzählns der Frau Blaschke, aber mir net! Der Bua bleibt do, fertig, basta. Aufn nächsten Mittwoch derf er auf drei Stund z' Haus gehn. So gült's bei mir. Vastanden?«

Nein, wir beide konnten das nicht verstehn. Meine Mutter beschwor ihn weinend, ihr doch zu glauben, aber der Wirt wurde nur noch aufgeregter.

»Des lügts wia druckt!« schrie er heraus. »Der Bua bleibt da! Glaubts, ös habts an Teppatn vur euch? Da schneids euch aba sauba! Gengans nur allani wieder z' Haus, i brauch meine Leut!«

Ich ergrimmte über eine solche Hartherzigkeit, vergaß meine Schüchternheit und erklärte, sofort mit der Mutter zu gehn. Jetzt mischte sich auch die Wirtin, die indessen hinzugekommen war, hinein. Sie patschte zornig auf ihre Schenkel und schrie:

»Wer hat denn di gfragt, Lauser! No a schöns Früchterl hams da aufzogn! Zu so an Buam kennan ma uns gratuliern! Allawanti, schau, daß d' außi kummst, dö Gäst bedienan, und Sö, Frau Muata, gengan wieda schö stad ham!«

Nun war es auch meiner Mutter zuviel.

»Ohne mein Kind gehe ich nicht fort, machen Sie, was Sie wollen; der Bub gehört mir und nicht Ihnen! Komm, Alfons, zieh dich an, wir gehn!«

»No so schauns, daß zum Teufi gengan, z'samt Ihnan buklatn Prinzn! In mein Gschäft is für so an Strolch ka Platz! Dös Zeugnis schick i Ihna murgn mit da Post.«

Damit stürzte der Wirt aus der Küche. Ich sagte meiner Mutter, sie möchte auf mich auf der Straße warten, da ich gleich nachkommen wolle.

Meine wenigen Habseligkeiten waren in der Garderobe der Volkssänger aufbewahrt, so daß ich mir sie von dort holen mußte. Wie hätte ich mich gefreut, meine Neugier befriedigen zu dürfen, wäre der Grund, warum ich mich inmitten all dieser Schminktiegel, falschen Bärte, ausgebreiteten Gewänder befand, nicht ein so trauriger gewesen. Keinen Blick hatte ich für meine Umgebung; ich suchte nicht einmal die Tänzerin, die sich noch hier befinden mußte, hing doch ihr Sternenkleid über dem Kasten, in dem meine Sachen lagen. Ich packte diese eiligst in ein Bündel zusammen und zog den Kellnerfrack samt der Weste aus, um sie mit meinem eigenen Rock zu vertauschen. Während dies geschah, bemerkte ich auf einmal, daß der Komiker nicht zwei Schritt vor mir auf dem Bett saß. Seltsam! Sein auf der Bühne zu so lustigen Grimassen verzogenes Gesicht blickte mich jetzt so tiefbekümmert an. Jedes Lachen war daraus gewichen, und ich vermeinte in ihm das Spiegelbild meines Kummers zu sehen. Aber woher sollte der Komiker von dem wissen, was mich bedrückte? Und dann: warum so viel Mitgefühl für mich, den Unbekannten, den Ärmsten der Armseligen, als den ich mich jetzt fühlte?

Wahrscheinlich war es eigenes Leid, das aus seinen Mienen sprach, damals aber glaubte ich nur sein Mitleid mit mir zu erkennen, und um ihm dafür zu danken, grüßte ich ihn recht freundlich, als ich die Garderobe verließ. Wer weiß, wie verblüfft und zornig er mir, dem Störenfried, nachgesehen hat!

Vom Gasthaus bis zum Leidensort meines Vaters waren es gut zweieinhalb Stunden zu Fuß zu gehen. Die Oktobernacht war voll herbstlicher Kühle, und wir froren außen und innen schrecklich. Keine menschliche Seele begegnete uns, denn es war Mitternacht, wo die Vorstädte am einsamsten waren. Erst in der innern Stadt huschten dann und wann menschliche Gestalten gleich uns durch das Dunkel. Jetzt polterte auch ein schwerer Tritt auf uns zu. Ein Wachtmann zersprengte mit seinem Schatten die unseren auf der Asphaltfläche eines vornehmen Platzes. Mißtrauisch blickten die Augen aus dem verwitterten Gesicht zu uns hin. Mit dem Säbel in mein Paket stochernd, fragte er verdrossen, was wir um diese späte Stunde noch auf der Straße zu suchen hätten, was in dem Bündel sei? Er hielt uns wahrscheinlich für Diebe, denn ungläubig hörte er die Erklärung meiner Mutter an. Erst als ich ihn einen Blick in mein Paket tun ließ und er die ärmlichen Sachen sah, die wohl keines Diebes Begierde erweckt hätten, entfernte er sich wieder.

Gegen drei Uhr früh klopften wir an die Tür des Asyls für Unheilbare. Eine Novizin mit aufgeschreckten Augen fragte halb ängstlich, halb unwirsch nach unserm Begehr. Die Mutter zeigte ihr die Erlaubniskarte der Oberin, den Vater zu jeder Tages- und Nachtzeit besuchen zu dürfen. Nun gab es viele Stiegen und Gänge zu durchqueren, bis wir zum Sterbezimmer des Hauses gelangten, das die Bewohner das »Abkratzkammerl« nannten, und in das man heute früh den Vater gebracht hatte.

Töne wurden hörbar, die aus krankem, unruhigem Schlaf stiegen. Manchmal überschlug sie ein hohles Aufhusten oder gar das Kreischen eines Blödsinnigen, der schlaflos in seinem Gitterbett kauerte. Dann schlürfte wieder eines der unglückseligen Wesen an uns vorbei. Das ganze Haus stank nach Krankheit und unsagbarem Elend. Aus der Ferne drang das Gebet vieler Nonnen, bald schwoll es an, bald senkte es sich wie der Klagegesang verdammter Seelen.

An dem Bett meines Vaters kniete eine Novizin. Sie war sichtlich froh, abgelöst zu werden. Der Sterbende lag ruhig da. Obzwar die Augen unnatürlich weit offen standen, lag schon die Stille und Erdabgewandtheit des Todes in ihnen. Eine milchig fahle Blende hatte die glänzende Pupille und Hornhaut ersetzt. Mir war, als könnte der Vater nur mehr nach innen sehen, erblindet für die Außenwelt. Nur seine Hände tasteten noch an den paar dürftigen Dingen des Lebens, die ihm dieses gelassen. Auch seine Stimme war noch nicht erloschen, aber die sprach Worte, die unverständlich für uns, vielleicht schon fürs Jenseits bestimmt waren. Wir setzten uns zu ihm, streichelten seine abgemagerten Hände und sprachen manchmal ein liebes Wort zu ihm, das er aber wohl nicht mehr verstand. So saßen wir einige Stunden bei dem Sterbenden; langsam erwachte das Haus aus seinem bösen Traum, um eine noch härtere Wirklichkeit vorzufinden. Morgenlicht fiel in breitem Strahl in das Zimmer. Sein reiner Schimmer verschönte die beiden martervollen Gestalten, die im jungen Licht des Tages von tausendfachem Leid Kunde gaben: die meines sterbenden Vaters und des gekreuzigten Christus, der im Gegensatz zu meinem Vater einen tiefschmerzlichen, lebensvollen Ausdruck in seinem hölzernen Angesicht hatte.

Da der Anstaltsarzt gleich darauf hereintrat und uns aufmerksam machte, daß der Vater eine akute Gehirnerweichung hätte, bei der die Agonie oft acht Tage dauerte, beschlossen wir, jetzt nach Hause zu gehen und zu versuchen, ob wir nicht ein wenig schlafen könnten. Unser einziger Trost war, daß der Vater, nach Versicherung des Arztes, nicht mehr bei Bewußtsein war und keinerlei Schmerzen empfände.

Als wir einige Stunden später wieder an seinem Bett erschienen, lag er noch immer so ruhig, streng abgekehrt von allem Äußerlichen da, wie wir ihn verlassen hatten. Wir blieben bis zum Abend bei ihm, ohne daß sich sein Zustand verändert hätte. Die Mutter wollte die Nacht über bei ihm bleiben, aber die diensttuende Novizin, die ganz Güte und Barmherzigkeit war, redete ihr zu, heimzugehen und sich ordentlich auszuruhen. Es seien keine Anzeichen vorhanden, daß der Vater die Nacht nicht überleben würde. Meine wirklich todmüde Mutter gab nach.

Um drei Uhr früh am nächsten Tage aber konnte meine Mutter schon keine Ruhe mehr finden, und wir zogen uns eiligst an, um im tiefen Dunkel noch das Haus zu verlassen.

Eine kleine Weile später standen wir erschüttert vor dem Bett des Vaters, der kurz zuvor gestorben war. Sein nacktes Elend lag starr vor uns. Zwei große Kerzen zu beiden Seiten warfen huschende Lichtkreise über den erlösten Leib. Die Augen hatten sich endgültig geschlossen, der Mund stand ein wenig offen und zeigte eine Reihe gesunder, blanker Zähne. In den Mundwinkeln schien das alte schelmische Lächeln zu sitzen, das mein Vater im Leben so gern zeigte, wenn ihm eine lustige Überraschung gelungen war.

Die Mutter war ganz niedergebrochen und weinte viel. Ich nicht. Mit erstarrten Augen schaute ich irgendwohin in dichtes Dunkel. Wie losgelöst war ich von meinem früheren Leben. Ich wußte nicht, war ich überhaupt auf der Welt? Nur ein Gefühl hatte ich: daß ich, wie ein Schwamm das Wasser, Schmerz einsog, eine ungeheure Fülle an Schmerz, den ganzen Schmerz der Welt. In verballten Wolken drang er auf mich ein, mir war, als triebe es meinen Leib so auf, daß er sich über die ganze Erde breiten konnte; dann wieder war es mir, als ob drei riesige Käfer über meine Hand kröchen. Als ich sie näher ansah, waren es der Wirt mit der langen Pfeife, die schwarzgelockte Tänzerin und der Komiker mit dem traurigen Gesicht. Und sie krochen an meinen Armen hinauf, meinem Herzen zu, und stachen mich mit glühenden Nadeln hinein, zwischen die Rippen an meiner linken Seite.

Da aber richtete mich meine Mutter auf und führte mich heim, trotzdem sie so furchtbar klein war, während ich mit meinem Haupte an die Sonne stieß und die Haare dadurch zu brennen anfingen.

Zu Hause legte sie mich ins Bett. Ich wunderte mich sehr, daß ich in diesem Platz hatte. Ein fremder Herr kam zu mir, und die Mutter sagte »Herr Doktor« zu ihm. Der klopfte mir den Leib ab, und als er ging, saß auf einmal der Vater bei mir, auf seinen Knien eine große Schachtel haltend. In diese packte er fein säuberlich den Wirt, die Tänzerin und den Komiker, nachdem er sie in Holzwolle gewickelt hatte. Er band die Schachtel zu, nahm sie unter den Arm und sagte, indem er wieder aufstand: »Die Gesellschaft werde ich mit mir nehmen«, was mich ungeheuer zum Lachen reizte. Ich legte mich hierauf auf die Seite und schlief ein.

Als ich wieder erwachte, erfuhr ich von meiner Mutter, daß ich am Sterbebette meines Vaters plötzlich an einer Rippenfellentzündung erkrankt war und drei Tage in hohem Fieber lag. Den Tag vorher hatte sie den Vater ohne mich beerdigen müssen. So hatte ich ihn nicht einmal zu seiner letzten Ruhestätte begleiten dürfen, einem Schachtgrab auf dem Zentralfriedhof, das, heute seines vermoderten Inhaltes entleert, schon wieder einer neuen Schar stillgewordener Armer auf zehn Jahre Heimat gibt. So liegen die Überreste meines Vaters auf einem mir unbekannten Stück der Erde.

Drei lange Wochen bannte mich die Krankheit an das Bett. Zum Glück hatte die Mutter einige Kronen von der Lebensversicherungsanstalt ausgezahlt bekommen, so daß wir nicht der ärgsten Not preisgegeben waren und ich mich mit einem gewissen Gefühl von Sorglosigkeit der langen Bettruhe hingeben durfte. Mein Bett war an das Fenster gerückt worden. Umschmeichelt von der linden Luft eines schönen Wiener Herbstes, las ich in seinem milden Licht eine Unzahl von Büchern. Ich hatte während meiner zwei Lehrjahre meine geliebten Bücher nicht vergessen, waren sie doch meine einzige Erholung und Freude gewesen. Und wie sie mich früher die kleinen Unannehmlichkeiten und Tragödien der Schule vergessen ließen und mir eine schönere Welt erschlossen, so hatten sie mich in meiner jungen Proletarierexistenz aus dem von Not und Plage ummauerten Alltag gehoben und an der Hand der Dichtung in die glücklichen Gefilde der Phantasien fremder Geister geführt. Schicksale und Erlebnisse anderer Menschen und Dinge traten dann in ihrer Größe oder Kleinheit an mich heran und ließen mich das eigene karge Leben vergessen.

Meine Lieblingslektüre waren natürlich immer noch Bücher mit abenteuerlichem oder sentimentalem Inhalt. Immer fühlte ich mich noch bei Romanen von Marlitt, Heimburg, Winterfeld, Karl May, Sue und anderen phantasiereichen Literaturfabrikanten am wohlsten und sah diese für weit größere Dichter an als Schiller und Goethe. Das Gute war, daß mich meine alte Vorliebe für Geographie und Naturwissenschaften zwang, berühmte Reisewerke zu lesen, deren Inhalt ein geheim wirkendes Gegenmittel gegen das Buchstabengift der eben angeführten Lektüre war. Dagegen verschmähte ich natürlich im Hochmut meiner Flegeljahre die herrlichen Märchenbücher von Andersen und Grimm, um sie viele Jahre später an den ersten Platz in meiner Bibliothek zu stellen, wo sie meinem Herzen und der Hand stets nahe sind.

Das Erlernen eines Handwerkes hatte ich nun endgültig aufgegeben. Da eine große Wiener Tageszeitung täglich Adressen von Kaufläden, Warenhäusern und Kontoren veröffentlichte, die Praktikanten gegen ein Monatsgehalt von zwanzig bis vierzig Kronen suchten, schrieb ich noch vom Bett aus mich lobende und preisende Gesuche an die Firmen, die Stellen ausgeschrieben hatten. Dies war eine Art Verzweiflungsakt, denn gerade zu diesem Berufe brachte ich die wenigsten notwendigen Veranlagungen und Kenntnisse mit, und ich erfuhr auch dementsprechend bittere Enttäuschungen. Meine zu Dutzenden abgesandten Offerten wurden teils nicht beantwortet, teils zurückgesandt, in welch letzterem Fall meist die vielen grammatikalischen Fehler rot oder blau angezeichnet waren und man mir den Rat erteilte, erst richtig Deutsch schreiben zu lernen, bevor ich mich um eine solche Stelle bewürbe. Nachdem diese Hoffnung an dem klippenreichen Gestade meiner Muttersprache gescheitert war, gab ich es endgültig auf, einen Beruf zu suchen, der einer Vorbildung bedurfte.

Der Weg zu dem vielgepriesenen goldenen Boden des Handwerks war für mich der denkbar schwerste und steinigste gewesen. Mit Ausnahme ganz weniger Berufe, die ich wegen ihrer kostspieligen Lehrzeit nicht erlernen konnte, gaben die meisten ihren Gehilfen kaum genug, um eine einfache Lebensweise zu führen. Die Mehrzahl der Meister aber betrachtete ihre Lehrlinge als Mittel, Dienstboten oder Hilfsarbeiter zu ersparen.

So suchte ich mir deshalb, kaum genesen, eine Stelle als Laufbursche oder Taglöhner.

Ich hatte unverschämtes Glück, denn schon nach acht Tagen meines Suchens wurde ich als männliches Mädchen für alles in einer Stiefelschmier- und Wichsefabrik aufgenommen. Ein großer Stolz erfüllte mich, als ich das erstemal von meinen neuen Chefs mit Sie angesprochen wurde und mich das kleine Personal der Fabrik bitten mußte, wenn ich ihnen einen kleinen Dienst erweisen sollte.

Mein Wochenlohn betrug nur fünf Kronen. Aber die Freiheit, über die ich jetzt verfügte, war doch wenigstens des Darbens wert. Und dann: langsam zog wieder ein Gefühl in meine Seele ein, das mir in meinen Lehrbubenjahren verlorengegangen war: ein Mensch zu sein!


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