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Sebastian van Storck

E Es war eine Winterscene von Adrian van de Velde oder Isaak van Ostade. All die feine Poesie und Behaglichkeit der kalten Jahreszeit lag in den zu Silber verwandelten blätterlosen Zweigen, den pelzverbrämten Kleidern der Schlittschuhläufer, der Wärme der roten Ziegelfronten unter dem weissen Nebelschleier, dem Schimmer bleichen Sonnenlichtes auf den Kürassen der berittenen Soldaten, wie sie in der Entfernung verschwanden. Sebastian van Storck, anerkanntermassen der graziöseste in jener ganzen schlittschuhlaufenden Menge, die sich in endlosem Wirrwarr über die gefrorene Wasser-Wiese bewegte, hatte diese Jahreszeit am liebsten, wegen ihres Ausdruckes vollkommener Unthätigkeit, oder wenigstens vollkommener Ruhe. Die Erde schlief, oder schien zu schlafen, mit einer Atemlosigkeit des Schlummers, die des jungen Mannes sonderbarem Naturell entsprach. Der drückende Sommer, wie er die Wiesen austrocknete, die jetzt tot unter dem Eise lagen, befreite eine wimmelnde, hastende Welt des Lebens, die, während sie für den Maler Albert Cuyp in vergnüglichem Braunrot und Gelb leuchtete, Sebastian van Storck fast zu ersticken schien.

Doch mit all seiner Hochschätzung des vaterländischen Winters war Sebastian nicht ganz Holländer. Der gesunden Frische der holländischen Physiognomie, die schon geeignet war ein jugendliches Aussehen weit über das gewöhnliche Lebensalter hinaus zu erhalten, hatte seine Mutter – die von spanischer Abkunft und katholisch war – eine seltene Fülle des Tones und der Form gegeben. Dieser gemischte Ausdruck entzückte das Auge van Ostades, der Sebastians Porträt nach der bei einer dieser Schlittschuhpartien gefertigten Skizze gemalt hatte, – mit seinem Federbusch aus Eichhörnchenschwanz und seinem Pelzmuff, in all der bescheidenen Anmut der Jugend.

Als er kürzlich auf den Vorschlag seines Erziehers aus einem weit im Lande drinnen gelegenen Orte von seinen Studien zurückkehrte, um, dem Rate des Erziehers folgend, einen gewissen Verlust an Kraft wiederzugewinnen, war etwas mehr als die fröhliche Unbekümmertheit der Jugend von ihm gewichen. Der gelehrte Mann, der, wie behauptet wurde, die Lehren einer überraschenden neuen Philosophie inne hatte, zögerte, die feine Intelligenz des ihm anvertrauten Schülers zu früh zu stören und betrachtete es vielleicht als einen Akt der Ehrlichkeit, einen zu seinen Eltern zurückzusenden, der irgendwelche Art theoretischer Erleuchtung von anderen empfangen konnte; denn der Brief, den er schrieb, verweilte lange bei des Jünglings intellektueller Unerschrockenheit. »Gegenwärtig«, hatte er geschrieben, »ist er mehr von Neugierde als von dem Trachten nach Wahrheit bewegt, dem Charakter der Jugend entsprechend. Gewiss unterscheidet er sich gewaltig von seinen Altersgenossen durch eine Leidenschaft für eine kräftige, intellektuelle Gymnastik, wie sie die sorglose Art ihres Gemütes den meisten jungen Leuten missfällig macht, aber in der er eine solche Unerschrockenheit zeigt, dass ich manchmal glaube, seine endgültige Bestimmung möchte das militärische Leben sein; denn in der That führt ihn die streng logische Tendenz seines Geistes immer auf das Praktische. Missverstehen Sie mich nicht! Vorläufig ist er eifrig nur in intellektueller Hinsicht; und noch hat er, was einen Lebensberuf betrifft, keine bestimmte Vorliebe gezeigt. Aber er scheint mir in dem Sinne ein Praktiker zu sein, als seine Theoreme ihm sein Leben stets direkt gestalten werden, als er stets, wie ein Selbstverständliches das effektive Äquivalent, die Richtung des Seins suchen wird, welche die geeignete Fortsetzung ist zu der Richtung seines Denkens. Diese intellektuelle Geradheit oder Aufrichtigkeit, die für mich eine Art Schönheit in sich birgt, hat, wie ich zugebe, auf mich selbst mit einer durchforschenden Kraft gewirkt.« Diese »durchforschende Kraft« hatten in der That noch viele andere, Leute, die weit davon entfernt waren, intellektuell zu sein, empfunden; eine innere Bewegung in seiner Nähe, die seltsam kontrastierte mit des jungen Mannes eigner, eifersüchtig gewahrter Gelassenheit der Manier und der Umgebung.

In der Menge der Zuschauer beim Schlittschuhlaufen, deren Augen den Bewegungen Sebastians van Storck so zufrieden folgten, waren die Mütter heiratsfähiger Töchter, die kurz darauf die Bewerber um diesen reichen, distinguierten Jüngling wurden, der ihnen, nun zum Manne herangewachsen, von seinen entzückten Eltern vorgestellt wurde. Die holländische Aristokratie hatte all ihre Reize angethan, um dem Wintermorgen gerecht zu werden; und es war bezeichnend für jene Zeit, dass die Künstlerschaft, auf grossem Fusse, anwesend war – auf die Lichter und Schatten wartend, die ihnen am besten gefielen. Die Künstler waren in der That gerade damals eine wichtige Körperschaft, eine natürliche Folge der schwer errungenen Prosperität des Volkes. Sie verhalfen ihm zu einer vollen Würdigung der fröhlichen und doch feinen Schlichtheit, die es liebte, für die es so tapfer gekämpft hatte und bereit war, jeden Augenblick aufs Neue zu kämpfen, gegen Menschen öder gegen das Meer. Thomas de Kayser, der besser als irgend einer die Art wunderlichen neuen Atticismus verstand, der seinen Weg über diese öden Salzmarschen in die Welt gefunden hatte, und der gern gewusst hätte, ob sein feinster Typus, so wie er ihn sich dachte, sich jemals dort finden würde, sah ihn endlich, in lebhafter Bewegung, in der Person Sebastians van Storck und hätte gern sein Bildnis gemalt. Etwas zu seiner Überraschung, lehnte der junge Mann das Angebot ab; nicht gerade wohlwollend, wie man dachte.

Holland ruhte gerade damals nach dem langen Kampfe mit Spanien auf seinen Lorbeeren aus, in einer kurzen Periode vollkommenen Gedeihens, ehe Störungen anderer Art eintraten. Dass eine dunklere Zeit wiederkehren könnte, wurde klar von Sebastian dem Älteren vorgeahnt – eine Zeit gleich derjenigen Wilhelms des Schweigsamen, mit ihren wahnsinnigen Bürgerkriegen, die ähnlich energische Persönlichkeiten fordern und ihnen ähnliche Gelegenheiten bieten würde. Und es war ein Teil der ehrlichen Heiterkeit seines Charakters, dass er diejenigen bewunderte, die in der Welt »vorankommen«. Er selbst war, fast von früher Jugend an, mit grossen Affairen in Berührung gekommen. Als Mitglied jener Generalstaaten, die sich so schroff gegen das königliche Gebahren Friedrich Heinrichs aufgelehnt hatten, hatte er am Kongress von Münster teil genommen und ist deutlich sichtbar in Terburghs Bild jener Versammlung, die Holland endgültig als Grossmacht hinstellte. Der Heroismus, mit welchem die nationale Wohlfahrt erkämpft wurde, war noch in frischem Andenken, zitterte noch jetzt in der Luft nach. Es gab eine Tradition, die aufrecht erhalten werden musste; das Schwert ruhte durchaus nicht in der Scheide. Die Zeitläufte waren noch immer geeignet, einen grosszügigen Ehrgeiz anzustacheln; und dieser Sohn, dessen natürliche Gaben so viel versprachen, konnte wenigstens als Diplomat eine Rolle spielen, wenn der gegenwärtige Frieden andauern sollte. Hatte der gelehrte Mann nicht gesagt, dass seine natürliche Veranlagung Sebastian stets auf das Praktische führen würde? Und wahrhaftig, das Andenken an jenen schweigsamen Helden hatte seinen Reiz für den Jüngling. Als ungefähr um diese Zeit Peter de Kayser, der Bruder des Thomas, endlich sein Grabmal aus Bronze und Marmor in der Nieuwe Kerk zu Delft enthüllte, war der junge Sebastian unter einer kleinen Gesellschaft, die zugegen war und ergötzte sich sehr an der kalten und abstrakten Einfachheit des Denkmals, die der grossen, konzentrierten, unausgesprochenen Kraft des darunter schlummernden Helden so gerecht wurde. In vollständigem Gegensatz zu allem, was abstrakt oder kalt in der Kunst ist, stand das Heim Sebastians, das Familienhaus der Storcks, ein Haus, dessen Front in einer der Architekturen des Jan van der Heyde noch erhalten ist. In seinem bis ins Kleinste gehenden und geschäftigen Wohlstand war es wie ein Inbegriff Hollands selbst, mit all dem Glück seines blühenden Gedeihens in dem nationalen Geschmacke abgespiegelt. Die Nation hatte gelernt, sich mit einer Religion zu begnügen, die wenig oder gar nicht an der Aussenseite der Dinge haftete. Aber wir können uns einbilden, dass etwas davon nach dem Gesetz der Transmutation der Kräfte, in die peinliche Reinlichkeitsliebe, in die ernste, altmodische, conservative Schönheit der holländischen Häuser übergegangen war, welche klar ausdrückte, dass das Leben, welches die Leute darin führten, ein liebevolles und reines war.

Die ersten Blumenzüchter Hollands überboten sich, dem Bürgermeister van Storck die erlesensten Produkte ihrer Geschicklichkeit liefern zu dürfen, für den Garten, der sich zu beiden Seiten des Portico und entlang der dorthin führenden Buchenallee ausdehnte. Naturgemäss wurde dies Haus, das kaum eine Meile von Haarlem entfernt lag, ein Sammelpunkt der Künstler, die sich damals freier in der grossen Gesellschaft bewegten, in Bezug auf die malerische Ausgestaltung des Hauses Anregungen gebend und empfangend. Kinder der Muse – der Muse in jedem Sinne – bildeten sie die passende Ergänzung der damaligen Machtblüte Hollands. Sebastian der Ältere könnte beinahe gewünscht haben, dass sein Sohn einer von ihnen sei; es war das Nächstbeste, das man nach einem einflussreichen Manne der Öffentlichkeit oder einem Staatsmanne sein konnte. Die Holländer hatten gerade angefangen zu sehen, welch ein Bild ihr Land war – seine Kanäle und boompjis, seine endlosen, hell beleuchteten Wiesen, und tausende von Meilen seltsamen Meeresstrandes: und ihre Maler, die ersten wahren Meister der Landschaft, die diese um ihrer selbst willen darstellten, klärten sie noch mehr darüber auf. Sie brachten allen, die zu sehen begehrten, den Beweis für den Farbenreichtum, der um sie war, in diesem als so trübe verrufenen Lande. Vor allem aber entwickelten sie den alten niederländischen Geschmack für Interieurs. Diese unzähligen Genre-Bilder – Konversationen, Musik, Spiel – waren thatsächlich in jener Zeit der Ersatz für das Romanlesen; das eigene, wirkliche Leben in seinen natürlichen Zuständen geschildert, in verschiedenen Stufen der Idealisierung, ohne, so zu sagen, den Anschein der Wirklichkeit zu vermindern, aber doch in eine höhere Sphäre des Interesses gerückt.

Indem sie selbst, wie jeder, der ihre Geschichte studiert, weiss, die gute Kameradschaft des Familienlebens illustrierten, war es das Ideal dieses Lebens, das diese Künstler schilderten; das Ideal des Heims in einem Lande, wo die vorherrschenden Lebensinteressen sich nicht gut im Freien befinden konnten. Irdisch von der Erde – von der echten, roten Erde des alten Adam – war ihr Ideal sehr verschieden von dem, das die italienischen Heiligenbilder-Maler aus dem Leben Italiens herausgeschaffen hatten, obwohl es in seinen besten Typen nicht ohne eine gewisse natürliche Frömmigkeit war. Und in der Schöpfung eines Schönheitstypus, der so national und vaterländisch war, mochten die Verehrer der reinen holländischen Kunst wohl fühlen, dass die Nachbeter der Italiener, wie Berghem, Boll und Jan Weenix, vergeblich so weit schweiften.

Die feine Organisation und scharfe Intelligenz Sebastians würden ihn zu einem tüchtigen Kunstkenner gemacht haben, wie er durch die Richtigkeit seiner Bemerkungen in jenen Künstlerversammlungen, die sein Vater so sehr liebte, bewies. Aber in der That waren die Künste eine Sache, die er gerade nur dulden konnte. Warum durch gewaltsame und künstliche Produktion noch etwas hinzufügen zu der einförmigen Flut eitler, flüchtiger Existenz? Nur war er, da er sich thatsächlich von so viel Kunst umgeben sah, so zu sagen gezwungen, Stellung dazu zu nehmen, sich ihrer zu vergewissern und sich das davon anzueignen, was am wenigsten mit seinen eigenen charakteristischen Neigungen kollidieren oder was sie sogar etwas fördern konnte. Indem er augenscheinlich etwas viel auf seine geistigen Interessen hielt, hatte er, wie es scheinen mochte, die unbelebte Natur lieber als die Menschen. In der That waren ihm Wynants warme Sandbänke ebenso gleichgültig, wie die geheimnisvollen Überbleibsel alter holländischer Waldungen, die in Ruysdael und Hobbema weiterleben, während er sich um die akademische Schar in Rom, trotz der Flucht in klare, luftige Weiten, die sie einem ermöglichen, noch weniger kümmerte. Denn obwohl Sebastian van Storck sich weigerte, zu reisen, liebte er das Entfernte – freute sich des Eindrucks von der Ferne gesehener Dinge, der uns wie auf gespreiteten Schwingen des Raumes selbst weit aus unsern thatsächlichen Umgebungen herausträgt. Er zog deshalb, was Malereien betrifft, jene Aussichten à vol d'oiseau vor, – des gefangenen Vogels, der endlich die Flügel spreitet – deren Geheimnis Rubens und noch mehr Philip de Köninck besass, von dessen besten Werken vier die Wände von Sebastians Zimmer einnahmen; visionäre Ausflüchte, nach Norden, Süden, Osten und Westen in ein weit offenes, wenn auch, wie man zugeben muss, etwas düsteres Land. Das vierte dieser Bilder hatte er von seiner Mutter gegen einen wundervoll lebendigen Metsu, der ihm kürzlich hinterlassen worden, und auf dem sie selbst dargestellt war, eingetauscht. Sie waren der einzige Schmuck, den er sich gestattete. Aus der Mitte des geschäftigen und geschäftig aussehenden Hauses, das mit Möbeln und den hübschen kleinen Nippes vieler Generationen überladen war, führte ein langer Gang den seltenen Besucher zu einer Wendeltreppe, und wieder am Ende eines langen Ganges fand er sich wie abgeschlossen von der ganzen gesprächigen holländischen Welt, und rings umfangen von jenem wundervollen Schweigen, das in Holland ebenfalls möglich ist. Hier war es, wo Sebastian sich, mit der einzigen Art von Liebe, die er je gefühlt hatte, der Oberherrschaft seiner schweren Gedanken ergeben konnte. Eine Art leerer Raum! Hier fühlte man, war alles geistig geordnet worden durch das Ausarbeiten einer langen Gleichung, die Null für Null aufging. Hier that man und vielleicht auch fühlte man nichts; man dachte nur. Von lebendigen Kreaturen kamen nur Vögel öfter, besonders die Seevögel, welche anzulocken und zum Bleiben einzuladen alle Arten ingeniöser Vorrichtungen um die Fenster angebracht waren, wie man solche in den Landhaus-Szenen des Jan Steen und anderer sieht. Es war zweifellos etwas von seiner Leidenschaft für Entfernung in dieser Bewillkommnung der Geschöpfe der Luft. Eine ausserordentliche Einfachheit der Lebensführung war in der That vielen ausgezeichneten Holländern eigentümlich – Wilhelm dem Schweigsamen, Baruch de Spinosa, den Brüdern de Witt. Aber die Einfachheit Sebastians van Storck war davon verschieden und sicherlich nicht demokratisch. Seiner Mutter kam er vor wie einer, der sich vorsichtig, und nach und nach von allen Hindernissen losmacht, und sich als Vorbereitung auf eine lange Reise, allmählich daran gewöhnt, mit so wenig als möglich auszukommen.

Der Bürgermeister van Storck bewirtete an einem Sommerabend eine Gesellschaft von Freunden, in der Hauptsache aus seinen Lieblingskünstlern bestehend. Man sah, wie die Gäste bei dem schönen Wetter zu Fusse ankamen, manche von ihren Frauen und Kindern begleitet. Das Licht der tief stehenden Sonne fiel rot auf die Bäume der Allee und die Gesichter derjenigen, welche die Allee entlang auf das Haus zukamen. Willem van Aelst, welcher erwartete, von den exotischen Pflanzen, die das Festzimmer schmücken würden, Anregung zu einem Blumenstück zu empfangen; Gerard Dow, um sein Auge inmitten all dieses glitzernden Luxus an dem Kampfe zwischen dem Kerzenlichte und den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu sättigen; Thomas de Keyser, um durch List das Porträt Sebastians des Jüngeren zu erhaschen. Albert Cuyp war da, der das in Rembrandt schlummernde Gold entwickelte und so einen üppigen Reichtum an Sonnenschein in sein heimatliches Dordrecht brachte, ebenso exotisch wie die Blumen oder die orientalischen Teppiche auf des Bürgermeisters Tischen. Er war von Hooch begleitet, dem Cuyp der Interieurs, und von Willem van de Velde, der jene Strandstücke mit lustigen Kriegsschiffen, wie er sie so gern hatte, für seines Gönners Zimmer malte. Thomas de Keyser kam in Gesellschaft seines Bruders Peter, seiner Nichte und des jungen Mr. Nicholas Stone aus England, Schüler jenes Bruders Peter, der später die Nichte heiratete; denn das Leben der holländischen Künstler war auch mustergültig in Bezug auf häusliche Verhältnisse, und die Geschichte berichtete von manch einer erfreulichen That gegenseitiger Treue im Unglück. Kaum weniger mustergültig war die Kameradschaft, welche sie sich gegenseitig bewiesen, indem der eine manchmal seine eigenen Gaben in dem blossen Beiwerk zu der Arbeit eines anderen in den Schatten stellte. So kamen sie heute Abend zusammen, ohne dass sie befürchteten, aneinander zu geraten und die musikalischen Zwischenspiele der Madame van Storck in dem grossen hinteren Wohnzimmer zu verderben.

Ein kleines Stück hinter den andern Gästen kamen ihrer drei – Sohn, Enkel und Grossvater – zusammen, die Hondecoeters – Giles, Gybrecht und Melchior. Indess es zu dunkeln begann, führten sie die Gesellschaft, ehe man das Haus betrat, zu dem seltenen Geflügel des Bürgermeisters, dass sich auf seine Schlafsitze begab; und es war fast Nacht, als das Esszimmer endlich erreicht wurde. Jene Abendgesellschaft wurde zum wichtigen Ereigniss für Sebastian und für andere durch ihn. Denn – war es die Musik der Duette? fragte er sich am nächsten Morgen mit einem gewissen Ekel, als er sich auf alles besann, oder waren es die berauschenden spanischen Weine, die in solcher Fülle in jene schmalen, aber tiefen venetianischen Gläser geschenkt wurden? – an diesem Abend näherte er sich mehr als je zuvor der Mademoiselle van Westrhene, wie sie dort am Clavizymbel sass und so rot und frisch aussah in ihrem weissen, mit glänzendem, karminfarbigen Schwanenpelze besetzten Seidenkleide. So wohlthuend gemildert, so warm war das Leben geworden in dem Lande, das Plinius als kaum überhaupt jemals trockenes Land bezeichnet hatte. Und in Wahrheit ist das Meer, das Sebastian so sehr liebte und dessen nur fühlbare Nähe ihn mit Befriedigung und Wohlbehagen erfüllte, in Holland niemals sehr fern. Indem es überall einfällt, sich einem unter die Füsse schleicht, sich überall hineinwindet durch ein endloses Netzwerk von Kanälen, – durchaus nicht die steifen Kanäle, wie wir sie uns denken, sondern malerische Flüsse mit schilfigen, von unzähligen Vögeln heimgesuchten Ufern – zeigen sich seine Begleiterscheinungen sogar in den Parks oder auf Waldwegen; das vollgetakelte Schiff erscheint plötzlich zwischen den grossen Bäumen oder über der Gartenmauer, hinter der wir kein Wasser vermuteten. In den innersten Lebensumständen eines solchen Landes war stets etwas Pathetisches. Das Land selbst nahm teil an der Ungewissheit des individuellen menschlichen Lebens; und es war ferner Pathos in der beständig erneuerten, schwer besteuerten Arbeit, die erforderlich war, um die heimatliche Erde überhaupt zu halten, um die so uneigennützig gekämpft wurde, in einem Kampfe, der immer noch aufrecht erhalten werden musste, als jenes Ringen mit dem Spanier zu Ende war. Aber obgleich Sebastian es liebte, so nahe der See und ihrem Einflüsse zu atmen, waren dies Betrachtungen, die er schwerlich anstellte. In seiner Leidenschaft für »Schwindsucht« fand er es angenehm, an das unwiderstehliche Element zu denken, das einem inmitten des nachgebenden Sandes kaum einen Fuss breit Landes liess; an die alten Betten verschwundener Flüsse, die jetzt nur als tiefere Einschnitte in der See fortlebten; an die Überbleibsel einer gewissen alten Stadt, welche seit Menschengedenken ihre letzten paar Einwohner verloren und mit ihren schon leeren Gräbern sich aufgelöst hatte und in der Flut verschwunden war.

Es begab sich, gelegentlich einer besonders niedrigen Ebbe, dass an der Küste der Insel Vleeland einige merkwürdige Überbleibsel sichtbar wurden. Eines Landmannes Wagen von der Flut überholt, wie er mit Waren von der Küste zurückkehrte, hätte man denken können, wäre nicht eine gewisse Grazie in der Konstruktion des Dinges gewesen: leicht gedrehtes Holzwerk, zusammengehalten und geschmückt durch eine Menge Messingklammern, die so einfach, wie die Arbeit von Kindern waren, während der rohe, steife Stuhl oder Thron, der darauf stand, es als einen Staatswagen auszuzeichnen schien. Einigen Altertumskundigen erzählte er die Geschichte von der Überwältigung eines der Häuptlinge des alten Urvolkes von Holland inmitten all seines Galastaates während eines grossen Sturmes. Aber es war eine andere Ansicht, der Sebastian zuneigte; die nämlich, dass dieser Gegenstand einer Gruft angehörte, dass er das letzte Überbleibsel eines nach alter Sitte stattgefundenen Begräbnisses eines Königs oder eines Helden war, dessen Grab selbst dahingeschwunden. – Sunt metis metae! Ein seltsamer Gedanke flog ihn an, dass er selbst gern seit so langer Zeit tot und dahingegangen sein möchte, eine Art Neid auf die, die so lange vor ihm gestorben waren.

An friedlichen Tagen brütete er über Plinius' Bericht über diese Ur-Vorfahren, aber ohne des Plinius Verachtung für sie. Ein übersättigter Römer mochte ihre demütige Existenz verachten, die von der Notwendigkeit von Zeitalter zu Zeitalter und mit keinem Wunsch nach Wechsel bestimmt wurde, wie »der Ozean seine Flut zweimal den Tag hereinströmte und es ungewiss machte, ob das Land ein Teil des Kontinents oder des Meeres war«. Aber für seinen Teil fand Sebastian Poesie in all diesem, wenn er sich vorstellte, welche Gedanken der alte Holländer gehabt haben könnte, als er mit Netzen fischte, die aus Seegras gewebt waren. Um seinen Trunk zu nehmen, wartete er besorgt auf die schweren Regengüsse und flüchtete sich, wenn die Flut stieg, auf die Sandhügel in eine kleine nur leicht auf hohen Stangen erbaute Hütte, die selbst von den höchsten Fluten nicht erreicht werden konnte. So glich er einem Schiffer während der Flut, dachte der gelehrte Autor, und einem schiffbrüchigen Seemanne während der Ebbe. In Sebastians Phantasie lebte er mit ungeheuren Weiten ruhigen Lichtes über und um sich, das ihn beeinflusste und davon er in gewissem Sinne lebte. So hatte er, wenn auch zu Plinius unendlichem Erstaunen, wohl ein Recht sich darüber zu beklagen, dass man ihn zum römischen Bürger gemacht hatte.

Und sicherlich beglückwünschte Sebastian van Storck sein Volk nicht zu dem freundlichen Geschicke, das, um mit einem andern alten Schriftsteller zu reden, »solch aufstrebende Naturgaben ihnen verliehen hat«. Ihr rastloses Bemühen, trockenes Land dort zu schaffen und zu erhalten, wo die Natur das Meer gewollt hat, war sogar noch mehr dem Fleisse von Tieren gleich als es das Leben ihrer Vorfahren gewesen war. Weg mit dieser reizbaren, fieberischen, unwürdigen Aufregung! mit diesem und jenen allzu aufdringlichem Trachten nach Nutzen! Und dann, »lass dich zur That anspornen, mein Sohn!« sagte sein Vater, da auch er jenes heroischen Fleisses gedachte, welcher über die Natur am sichersten dort triumphiert hatte, wo der Kampf am schwersten gewesen war.

Doch war Sebastian, in Wahrheit, gewaltsam hingerissen von der Schlichtheit einer grossen Zuneigung, wie sie in einem Begebnis des wirklichen Lebens offenbar wurde, von dem er gerade damals gehört hatte. Der berühmte Grotius war zu lebenslänglichem Gefängnisse verurteilt worden, und sein Weib entschloss sich, sein Schicksal zu teilen, welches nur durch das Studium der von Freunden gesandten Bücher gemildert wurde. Die Bücher wurden, nachdem sie gelesen waren, in einer grossen Kiste zurückgeschickt. In diese schloss die Frau den Gatten ein und begegnete den über die Schwere der Kiste vorgebrachten Einwendungen der Soldaten, welche dieselbe trugen, mit einer Selbstbeherrschung, welche sie bewahrte, bis der Gefangene in Sicherheit war. Sie selbst blieb zurück, um die Folgen auf sich zu nehmen; und es war darin eine Art Unumschränktheit der Liebe, die Sebastian eine Zeit lang bewog, über die Kräfte zu grübeln, die thätig sind, das Leben der Menschen zu formen. Hätte er sich in der That einer praktischen Laufbahn zugewendet, so wäre es weniger in der Richtung eines militärischen oder politischen Lebens gewesen, als einer anderen bei seinen Landsleuten beliebten Art der Unternehmung. Wenn in dem heissen, glänzenden Leben dieses Zeitalters das Schwert für einen Augenblick in die Scheide zurückfiel, dann begaben diese sich gern auf gefährliche Reisen nach den Regionen der Kälte und des Schnees, auf die Suche nach jener »nordwestlichen Durchfahrt«, auf deren Entdeckung die Generalstaaten eine grosse Belohnung gesetzt hatten. Sebastian fand in der That einen Reiz in dem Gedanken an jene ruhige, schläfrige, unter einem Banne liegende Welt ewigen Eises, wie er in Kunst und Leben das Meer immer ertragen konnte. Als General-Admiral von Holland, von van de Helst gemalt, mit einem Marine – Hintergrund von Backhuizen: – Bisweilen konnte sein Vater ihn sich so vorstellen.

Es gab noch eine andere, davon ganz verschiedene Berufsart, zu der Sebastian eine Zeitlang seine Gedanken frei schweifen liess. Seine Mutter, eine Katholikin aus Brabant, der er äusserlich sehr glich, hatte in Ihrer Familie Heilige gehabt, und von Zeit zu Zeit war Sebastians Geist mit dem Gegenstand des Klosterlebens, seiner Ruhe, seiner Entsagung beschäftigt. Das Porträt eines gewissen Karthäuser-Priors, welches, gleich der berühmten Statue des heiligen Bruno, des ersten Karthäusers, in der Kirche von Santa Maria degli Angeli in Rom »Schweigt!« gesagt haben würde, wenn es nur hätte sprechen können, war den gemalten Gesichtern der Weltleute ein seltsamer Gefährte. Ein grosser theologischer Streit war damals in Holland entbrannt. Würdige Geistliche versammelten sich manchmal, wie auf dem Rembrandtschen Bilde, in des Bürgermeisters Haus; und einmal kam, allerdings nicht in ihrer Gesellschaft, ein berühmter, junger, jüdischer Gottesgelehrter, Baruch de Spinosa, mit dem sich Sebastian, ganz unerwartet, in Übereinstimmung befand, indem er des jungen Juden weitreichenden Gedanken, welche die seinigen bestätigten, auf halbem Wege entgegenkam; er wusste nicht, dass sein Besucher, der über eine grosse Fertigkeit mit dem Stifte verfügte, auf das Vorsatzblatt seines Notizbuches sein – Sebastians – Bild gezeichnet hatte, während sie sich unterhielten. Obwohl er sich der religiösen Bewegung um sich bewusst war, lehnte er es doch ab, sich durch sie beeinflussen zu lassen, da sie ihm durchaus als ein Streit um Kleinigkeiten galt. Nur ein unbestimmtes Bedauern empfand er, das seit jener Zeit manches Gemüt heimgesucht haben mag, das Bedauern nämlich, dass der alte, nachdenkliche »Alltags-Gebrauchs-Katholizismus«, der die heissen Kämpfe der Nationen um ihre Existenz begleitet und sie darin getröstet hatte, hinweggenommen worden war. Und was ihn selbst anbetraf, was in jenem alten Katholizismus in der That Eindruck auf ihn machte, war etwas Beruhigendes darin – eine beruhigende Kraft – wie sie der eintönigen Orgelmusik, die Holland, katholisch oder nicht, immer noch so liebt, eigen ist. Wovon er sich aber in der katholischen Religion nicht losmachen konnte, das war ihr unfehlbarer Zug gegen das Konkrete – die positiven Bilder eines Glaubens, der so reich mit Personen, Dingen und historischen Ereignissen verknüpft war. Streng logisch in der Methode seiner Folgerungen, erreichte er die Qualität als Dichter nur durch die Kühnheit, mit der er die ganze erhabene Ausdehnung seiner Prämissen fasste. Der Kontrast war ein seltsamer zwischen der sorgfältigen, fast kleinlichen Feinheit seiner persönlichen Umgebung – all der eleganten Konventionalitäten des Lebens in jener aufsteigenden holländischen Familie – und der tödlichen Kälte eines Temperaments, dessen intellektuelle Neigungen direkte Flucht von allem Positiven zur Notwendigkeit zu machen schienen. Er schien, wenn man so sagen darf, in den Tod verliebt; er zog den Winter dem Sommer vor; er fand einen beruhigenden Einfluss nur in dem Gedanken an die Erde, die sich unter unseren Füssen für immer von ihrer alten kosmischen Hitze abkühlt; vergnügt beobachtete er, wie die Farben und Dinge verblichen und nun auch die langen Sandbänke in der See, welche der Wall einer Stadt gewesen waren, hinweggewaschen wurden.

Einer seiner Bekannten, ein bedürftiger junger Dichter, der nichts in seinen Taschen hatte als das phantastische oder höchst fragliche Gold ungedruckter Verse, und der so begierig nach den eleganten Äusserlichkeiten des Lebens gegriffen haben würde, wären sie für ihn erreichbar gewesen, hielt den glücklichen Sebastian, dem sie alle geboten wurden, der aber nur darauf bedacht war, ohne sie auszukommen, sicherlich für eine erstaunliche und trostlose Kreatur. Nur einige wenige, die halb erkannten, was in ihm vorging, würden gerne an seiner geistigen Klarheit teilgenommen haben und fanden eine Art Schönheit in diesem jugendlichen Enthusiasmus für ein abstraktes Theorem. Da die Gegensätze sich berühren, kam es, dass seine kalte und leidenschaftslose Absonderung von allem, was für den gewöhnlichen Geist am anziehendsten ist, das Eindringliche einer grossen Leidenschaft besass. Und zum grössten Teile hatten die Leute ihn geliebt, instinktiv fühlten sie, dass es irgendwo die Rechtfertigung für seine Verschiedenheit von ihnen geben müsse. Es war wie ein Verliebtsein: oder es war eine geistige Krankheit, die um Nachsicht bat, gleich einer körperlichen Krankheit und die dem, was er sagte und that, zu Zeiten eine resignierte und rührende Süsse verlieh.

Einmal nur, in einem Augenblick der wilden Volkserregung, die in jener Zeit in Holland leicht zu entfachen war, gab es eine Anzahl Personen, die ihn als einen Übelwollenden und möglichen Verschwörer gegen das gemeine Wohl gefangen gesetzt hätten. Ein einziger Verräter konnte, im Interesse der Engländer und Franzosen, in einer Stunde die Deiche durchschneiden. Oder hatte er schon eine Verräterei begangen, er, der so ängstlich bemüht war, nichts von seiner Handschrift sehen zu lassen, dass er sogar seine Briefe ungezeichnet liess und dass es kleiner Listen bedurfte, um Muster seiner schönen Handschrift zu erhalten? Denn – wie Stunde sich an Stunde reiht – bestand er in dem ganzen Umfange seiner mystischen Intentionen darauf, alle die unvermeidlichen Einzelheiten des Lebens wenigstens in Ordnung, ausgeglichen, zu verlassen. Und alle seine Eigentümlichkeiten schienen zusammengedrängt in seiner Weigerung, seinen Platz in der lebensgrossen Familiengruppe (»très distingué et très soigné« sagt ein moderner Kritiker über das Werk) einzunehmen, die ungefähr um diese Zeit gemalt wurde. Seine Mutter machte ihm ernsthafte Vorstellungen darüber: – eine Frau in ihrem Alter musste sich notwendigerweise wie von einem eisigen Hauch berührt fühlen bei der Leere der Hoffnung und der über das gewöhnliche Mass hinausgehenden Kälte eines Sohnes, der nichts wünschte, als aus der Welt zu schwinden wie ein Hauch – und sie that der Sohnespflicht Erwähnung. »Gute Mutter«, antwortete er, »es giebt auch Pflichten gegen den Verstand, die Frauen nur selten begreifen können«.

Die Künstler und ihre Frauen waren wieder zum Abendessen bei dem Bürgermeister van Storck versammelt. Auch Mademoiselle van Westrheene war mit ihrer Schwester und ihrer Mutter gekommen. Das Mädchen war nunmehr in Sebastian verliebt; und sie war eine der wenigen, die ihn, trotz seiner schrecklichen Kälte, wirklich um seiner selbst willen liebten. Obgleich aus guter Familie, war sie aber arm, und Sebastian konnte nicht umhin, zu bemerken, dass er viel Bewerberinnen um seinen Reichtum hatte. In Wahrheit wünschte Madame van Westrheene, ihre Mutter, diese Tochter in die grosse Welt zu verheiraten und handhabte viele Künste zu diesem Zwecke, wie es töchterreiche Mütter thun. Des Mädchens gesunde Frische des Aussehens und des Gemütes, seine rötliche Schönheit, einige prunkhafte Geschenke, die gemacht worden waren, stimmten überein mit der roten Farbe des Hauses selbst, in dem diese Leute wohnten; und einen Augenblick lang schien die heitere Wärme, die man im Leben fühlen kann, Sebastian sehr nahe zu sein, hervorzukommen und ihn zu umfangen. Inzwischen überraschte ihn ganz plötzlich das Mädchen, welches bemerkt hatte, dass er bei einem früheren Zusammentreffen geneigt schien, ihm entgegen zu kommen, und dass sein Vater gern einer solchen Heirat seine Zustimmung geben würde, mit jenen Koketterien und Zudringlichkeiten, allen jenen kleinen Liebeskünsten, die so oft bei Männern erfolgreich sind. Doch Sebastian schienen sie jener absoluten Natürlichkeit zuwider, die wir in der Liebe voraussetzen. Und während ihm in den Augen aller derer, die heute Abend um ihn waren, diese Bewerbung so früh im Leben eine Art ruhigen Glücks zu versprechen schien, kam er dazu, die Sachlage in peinlichem Bezug auf jenes Ideal einer ruhigen, intellektuellen Indifferenz zu beurteilen, deren geschworener Ritter er war.

Im kalten, harten Lichte dieses Ideals gesehen, schien dieses Mädchen gemein, mit den ausgesprochenen persönlichen Ansichten ihrer Mutter und in der Ausübung der von wirklicher Liebe eingegebenen Künste, die ihm das warme Leben, das sie ahnen Hessen, so nahe brachten! Und doch fühlte er sich ihr mit seiner Ehre verpflichtet oder urteilte nach dem Betragen derer um ihn, dass sie und ihre Umgebung ihn für so verpflichtet hielten. Er dachte nicht über die Inkonsequenz des Begriffes Ehre nach – der doch im wesentlichen auf den konkreten und kleinlichen Einzelheiten der gesellschaftlichen Beziehungen beruht – für einen, der im Prinzip so geringen Wert auf alles legt, was in seinem Wesen nur relativ ist.

Die Gäste, munter und lang verweilend, waren schon im Begriff, die Gesundheit der Verlobten in dem schweren Weine zu trinken. Nur Sebastians Mutter war unterrichtet; und während die Gäste zu dieser vorgerückten Stunde so eifrig beschäftigt waren, nahm sie den Bürgermeister in eine Ecke, und vertraute ihm ihre schlimme Ahnung an, die gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte. Der junge Mann hatte sich still aus der Gesellschaft entfernt, aber sicherlich nicht mit Mademoiselle van Westrheene, die auch plötzlich verschwunden war. Und sie tauchte nie wieder in der Welt auf. Schon am nächsten Tage wurde es mit dem Gerüchte, dass Sebastian, sein Heim verlassen habe, bekannt, dass die erwartete Heirat nicht stattfinden würde.

Das Mädchen führte allerdings ihrerseits einen Grund an, schien aber später beständig dahinzuschwinden, und sie war in den Augen aller, die sie sahen, gleich einer, die an verwundetem Stolze stirbt. Um aber aus ihrem Herzen die arme, mädchenhafte Weltlichkeit auszuschütten, ehe sie eine »béguine« wurde, bekannte sie ihrer Mutter den Empfang des Briefes, des grausamen Briefes, der sie getötet hatte. Und in der That wurde die erste Niederschrift dieses Briefes, der mit bedächtiger Feinheit geschrieben war, und sie, die so natürlich, schlicht und treu war, einer vulgären Gemeinheit des Charakters zieh, in seinem Zimmer gefunden, in dem die Mutter den Sohn am nächsten Tage suchte; er lag umhergestreut mit den Stücken des einzigen Porträts, das von ihm existierte. Der Brief schloss sich als sein letztes Wort seltsam an den fleissigen Bericht über die abstrakten Gedanken an, die der wirkliche Gegenstand von Sebastians Leben gewesen waren. Der saubere und sorgfältig ausgearbeitete Manuskript-Band, dessen letzte Seite dieser Brief bildete, – seltsamer Übergang, durch den eine so abstrakte Gedankenfolge ihren Schluss in der Sphäre des Handelns zog – gewährte endlich den Wenigen, die Sebastian interessierte, einen vielbegehrten Einblick in das Merkwürdige seiner Existenz; und ich verweile gerade hier, um die Umrisse der Denkungsart zu zeichnen, durch die Sebastian, indem er das »Unendliche« zu seinem Anfang und zu seinem Ende machte, dazu gekommen war, alle bestimmten Wesensformen, den warmen Drang des Lebens, den Schrei der Natur selbst, als nichts weiter aufzufassen als eine lästige Störung der Oberfläche des einen absoluten Geistes – als einen dort vorübergehenden verdriesslichen Gedanken oder bedrückenden Traum – auf seinem Gipfelpunkte kecker Zudringlichkeit in der leidenschaftlichen menschlichen Kreatur.

Der Band war in der That eine Art im Werden begriffener Abhandlung; eine harte, systematische, wohlverkettete Gedankenfolge, wenn auch hinein verflochten in die Ergebnisse eines Tagebuches. Von den Zufälligkeiten gerade dieser litterarischen Form mit ihren unvermeidlichen Einzelheiten über Ort und Ereignisse losgelöst, wäre diese theoretische Folge mathematisch kontinuierlich befunden worden. Der schon so müde Sebastian würde vielleicht nie mit dieser Niederlegung seiner Gedanken begonnen oder sie nicht vollendet haben; jeder von ihnen, der als die besondere und intime Auffassung dieses oder jenes Tages und dieser oder jener Stunde, mit ihm selbst begann, schien sich immer noch gegen eine solche Störung aufzulehnen, gleich als ob er sich nur widerwillig von diesen zufälligen Verbindungen, der persönlichen Geschichte, die ihn hervorgerufen, trennte und solchermassen eine rein intellektuelle Abstraktion würde. Die Reihe begann mit Sebastians knabenhaftem Enthusiasmus für einen seltsamen, schönen Ausspruch des Doktors Baruch de Spinosa, die göttliche Liebe betreffend: – Der, welcher da Gott liebet, darf nicht erwarten, von ihm wieder geliebt zu werden. – In purer Reaktion gegen eine thatsächliche Umgebung, deren jeder Gegenstand daraufhin arbeitete, ihn zum vollkommenen Egoisten zu machen, zeichnete diese kühne Aussage ihm das Ideal einer geistigen Uneigennützigkeit vor, einer Herrschaft des leidenschaftslosen Gemütes, mit dem Wunsche, seine subjektive Seite aus dem Wege zu räumen und den reinen Verstand sprechen zu lassen.

Und was der reine Verstand zunächst bestätigte, als »den Anfang der Weisheit«, war, dass die Welt nichts als ein Gedanke oder eine Gedankenreihe ist, dass sie also deshalb nur in der Vorstellung existiert. Er zeigte ihm, als er sein geistiges Auge mit immer innigerer Vertiefung auf dem Phänomen seiner intellektuellen Existenz ruhen liess, ein Bild oder eine Vision des Weltalls, als thatsächlich das Produkt – soweit er es wirklich kannte – seiner eigenen, einsamen Denkkraft, und seiner selbst darin, denkend: dass es eine Null sei ohne ihn: und dass es in diesem Faktum eine vollkommene homogene Einheit besässe. »Dinge, die nichts miteinander gemein haben«, sagte der Grundsatz, »können nicht durch einander verstanden oder erklärt werden«. Aber dem reinen Verstande entdeckten sich die Dinge in ihrem innersten Wesen als Gedanken: – alle Dinge, selbst die einander entgegengesetztesten, als blosse Verwandlungen einer einzigen Kraft, der Kraft des Denkens. Alles war nur bewusster Geist, deswegen musste er sich umso ausschliesslicher dem Geiste, der intellektuellen Kraft hingeben, sich ihrer ausschliesslichen Leitung unterwerfen, wohin auch immer sie ihn führen mochte. Alles musste darauf bezogen und in Glieder davon verwandelt werden, wenn ihr wesentlicher Wert erkundet werden sollte. »Freude«, sagte er, Spinosa vorausahnend, »für deren Erlangung die Menschen bereit sind, alles andere aufzugeben, ist nur der Name einer Leidenschaft, in welcher der Geist sich zu einer höheren Vollkommenheit der Denkkraft aufschwingt; so wie Kummer der Name der Leidenschaft ist, in der er zu einer geringeren herabsinkt«.

Indem er zurücksah nach der fruchtbaren Quelle jener schöpferischen Denkkraft in ihm, von seiner eigenen geheimnisvollen intellektuellen Existenz bis zu ihrer ersten Ursache, reflektierte er noch immer, wie man es nicht anders kann, das vergrösserte Abbild seiner selbst in die unbestimmte Region der Hypothese. So würden auf alle Fälle wenigstens einige seinen Denkprozess erklärt haben. Für ihn war dieser Prozess nichts weniger als die Auffassung, die Offenbarung der grössten und wirklichsten aller Ideen – der wahren Substanz aller Dinge. Auch er, mit seiner buntfarbigen Existenz, mit dieser malerischen und sinnlichen Welt holländischer Kunst und holländischer Wirklichkeit ringsumher, die ihn so gern in ihren Farben, ihrer freundlichen Wärme, ihrem Kampf um das Leben, ihrer selbstischen und listigen Liebe gefangen hätte, war nur eine flüchtige Erregung des einen absoluten Geistes, von dem in der That alle endlichen Dinge, gleichviel welcher Art, die Zeit selbst, die dauerhaftesten Werke der Natur und der Menschheit und alles das, was am meisten gleich unabhängiger Kraft, scheint, nichts als kleinliche Zufälle oder Affekte sind. Lehrsatz und Folgesatz: also standen sie verzeichnet: » Es kann nur eine Substanz geben: (Folgesatz:) es ist der grösste der Irrtümer, zu glauben, dass das nicht Existierende, die Welt endlicher Dinge, die wir sehen und fühlen, wirklich ist: (Lehrsatz:) Denn, was auch immer ist, ist nur darin: (angewandter Lehrsatz): unsere Weisheit besteht deshalb darin, so weit als möglich, die Thätigkeit derjenigen Kräfte zu beschleunigen, welche auf Wiederherstellung des Gleichgewichts hinzielen, der ruhigen Aussenseite des absoluten, ungestörten Geistes, bis zur tabula rasa, durch die Ausrottung alles jenen in uns, was nur correlativ zu der endlichen Illusion ist – durch die Unterdrückung unseres Selbst«. In der Einsamkeit, die ihn nach und nach umgab, hätte er seltsamer Weise gern gewusst, ob es andere gab oder gegeben, die dieselben Gedanken hegten oder gehegt hatten, und war bereit, solche als seine wahren Landsleute willkommen zu heissen. Und in der That bemerkte er gerade damals in Schriften, deren Lektüre schwierig genug, die aber in ihrem alles aufsaugenden Interesse fast einem unerlaubten Vergnügen gleichkam, eine Art von Verwandtschaft mit gewissen älteren Geistern. Das Studium manch eines früheren verwegenen Theoretikers befriedigte seine Neugierde, wie der Bericht über kühne, körperliche Wagnisse die Neugierde der Gesunden befriedigen mag. Es war eine Tradition, eine konstante Tradition – dieser sein kühner Gedanke; ein Echo oder eine immer wiederkehrende Stimme der menschlichen Seele selbst, und als solche mit dem Siegel natürlicher Wahrheit versehen, welche zu beachten gewisse Geister nicht verfehlen und aus der sie, wenn sie sich wirklich selbst getreu waren, ihre praktischen Schlüsse ziehen würden. – Das eine allein ist: und alle Dinge ausserdem sind nur seine vorübergehenden Affekte, die kein notwendiges oder eigentliches Recht haben zu sein. Da sie aber in der That nur solche »Accidentalia« oder »Affekte« waren, hätte sich im Bereiche jenes einen unendlichen, schöpferischen Denkers etwas Spielraum für die Freude an der Kreatur und die Liebe zu ihr finden können. Es hat Geister gegeben, in denen jener abstrakte Lehrsatz nur eine erneute Wertung der begrenzten Interessen um und in uns herbeigeführt hat. Als dem Zentrum der Hitze und des Lichts hat in der That nichts ausserhalb des Bereiches seines ewigen Sommers zu liegen geschienen. Er hat sich mit der poetischen oder künstlerischen Sympathie verbunden und sie herausgefordert, sich mit den Formen endlicher Existenz nur um so genauer bekannt zu machen und sie zu erforschen, gerade wegen jener Empfindung eines lebendigen Geistes, der durch alle Dinge zirkuliert – ein winziges Teilchen der einen Seele, in dem Sonnenstrahle oder dem Blatte. Sebastian van Storck hatte sich im Gegenteil, vielleicht infolge einer Art ererbter Übersättigung oder Schwäche in seiner Natur zu dem entgegengesetzten Auswege aus dem Dilemma entschlossen. Ihm war jenes eine abstrakte Wesen gleich der bleichen, arktischen Sonne, die sich über der toten Fläche eines eisigen, wüsten und absolut einsamen Meeres enthüllt. Der lebendige Zweck des Lebens war aus ihm herausgefroren. Was er bewundern und, wenn er konnte, lieben musste, war »das Äquilibrium«, die Leere, die » tabula rasa«, in welche durch alle diese sichtbaren Thätigkeiten der Menschheit und Natur, die in Wahrheit nur Kräfte der Auflösung sind, die Welt wirklich überging. Und er selbst, ein blosser Zustand in einer fatalistischen Reihe, zu dem der Thon des Töpfers keine genügende Parallele bildete, er konnte nicht erwarten, »wieder geliebt zu werden«. Zuerst fand er allerdings eine Art Entzücken in seinen Gedanken – in dem hitzigen Drange vorwärts, zu welchem Schlusse auch immer, einer strengen intellektuellen Gymnastik, die gleich dem Schaffen des Euklid war. Doch nach und nach, unter dem frostigen Einflüsse solcher Behauptungen, wurde die theoretische Energie selbst und mit ihr sein altes, heftiges Verlangen nach Wahrheit, das Bemühen, sie von Behauptung zu Behauptung zu verfolgen, entmutigt. In der That, der Schluss war schon da und hätte in den Prämissen vorausgesehen werden können. Mit einem sonderbaren Eigensinn, schien es ihm, war jeder dieser vergänglichen »Affekte« – bisweilen leider auch er! – fortgesetzt bemüht, zu sein, sich geltend zu machen, sein abgesondertes und geringes Selbst zu behaupten, durch eine Art angewandter Lüge in den Dingen, obwohl es durch jede Episode seiner hypothetischen Existenz beteuert hatte, dass seine eigentliche Aufgabe sei, zu sterben. Sicherlich, jene vergänglichen Zuneigungen zerstörten die Freiheit, die Wahrheit, die beseligende Ruhe der absoluten Selbstsucht, die, selbst wenn sie wollte, nicht über ihren eigenen Umkreis hinaus konnte.

Und diese waren, wie er bemerkte, seine Augenblicke wirklicher theoretischer Einsicht, in welchen er, unter dem abstrakten »ewigen Lichte« seinem Selbst erstarb: während der Verstand schliesslich seine eigene Freiheit erlangt hatte, durch die kraftvolle That, die Sebastian vergewisserte, dass so, wie die Natur nur ein Gedanke von ihm, er nur der flüchtige Gedanke Gottes war. Nein! vielmehr ein Rätsel nur, eine Anomalie jenes einen, reinen, ungetrübten Bewusstseins! Nachdem er seinen ersten Grundsatz einmal anerkannt hatte, musste der ganze Rest, die ganze Reihe von Behauptungen bis zu dem herzlosen angewandten Schluss von selbst folgen. Sich los machen: hinwegeilen: sein ganzes Selbst zusammenfalten und wie ein Kleidungsstück bei Seite legen: durch solche individuelle Kraft, wie er sie in sich finden konnte, die langsame Auflösung, durch welche die Natur selbst die ewigen Berge eben macht, vorausnehmen: – hier würde das Geheimnis des Friedens, solcher Würde und Wahrheit sein, wie sie in einer Welt sein konnte, die schliesslich in ihrem Wesen nur eine Illusion war. Für Sebastian wenigstens waren die Welt und das Individuum gleichermassen jedes effektiven Zweckes entkleidet. Die lebendigsten der endlichen Gegenstände, die dramatischen Episoden der holländischen Geschichte, die glänzenden Persönlichkeiten, die ihre Rolle darin gespielt hatten, jene goldene Kunst, die uns mit einer idealen Welt umgiebt, jenseits welcher die wirkliche Welt zwar erkennbar, aber idealisiert ist von dem Medium, durch welches sie zu uns kommt: alles dies, für die meisten Menschen eine so starke Fessel an das Leben, brachte ihn nur auf den Gedanken an Flucht – an Mittel zur Flucht – in eine formlose und namenlose unendliche Welt, die ganz gleichmässig grau ist. Eben die Emphase jener Gegenstände, ihre Aufdringlichkeit gegen das Auge, das Ohr, die begrenzte Intelligenz waren nur das Mass ihrer Entfernung von dem, was wirklich ist. Unsere persönliche Gegenwart, die Gegenwart der aufdringlichsten Gegenstände und Personen um uns konnte das, was wirklich ist, nur um so viel verringern. Also tabula rasa wiederherstellen durch ein fortwährendes Erstreben der Selbstvernichtung! Thatsächlich manchmal stolz auf seinen seltsamen wohldurchdachten Nihilismus, konnte er das, was man gemeinhin den Zweck des Lebens nennt, für nichts Besseres als eine wertlose und ermüdende Verzögerung ansehen. Er war fest entschlossen, die ihm gebotene üppige Existenz der nackten und formalen Logik der Antwort auf eine Frage (die sich einem völlig gesunden Gemüt überhaupt nicht aufdrängte) nach den entfernten Umständen und Tendenzen dieser Existenz zu opfern, wie er bereitwilligst die anderer Leute geopfert haben würde; er überlegte nicht, dass die Welt, wenn andere so neugierig wie er geforscht, überhaupt nicht so weit hätte kommen können, – dass das Faktum, dass sie so weit gekommen, selbst eine gewichtige Einwendung gegen seine Hypothese war.

Indem seine seltsame Geistesstimmung durch das, was in Wahrheit eine leidenschaftliche Geltendmachung seines individuellen Willens war, in Fanatismus, einer Art religiösen Wahnsinns aufging, hatte er Pflicht als das Prinzip formuliert, so wenig als möglich das aufzuhalten, was er die Wiederherstellung des Gleichgewichts nannte, die Wiederherstellung des ursprünglichen Bewusstseins – seine Erlösung von jenem schweren, verdriesslichen, unwürdigen Traum von einer Welt, die so schlecht geschaffen oder so schwächlich erträumt war – zu vergessen, vergessen zu werden.

Und endlich wandte sich dieser dunkle Fanatismus, wie Sebastian die Stütze seines Stolzes in der blossen Neuheit eines so strengen und trockenen Denkens verlor, wie es unser Fanatismus zu thun pflegt, in schwarzer Melancholie gegen ihn selbst. Der theoretische oder phantastische Wunsch, der Zeit schleichende Schritte zu beschleunigen, wurde nun als die körperliche Ermüdung gefühlt, die das Buch oder den Brief unvollendet lässt oder sie schnell vollendet, um sie nur, als ein unwichtiges Geschäft, überhaupt zu vollenden.

Seltsam! Dass das Vorhandensein einer metaphysischen Abstraktion in seinem Geiste diese Gewalt haben konnte über einen Menschen, der so glücklich für die Aufnahme der sinnlichen Welt veranlagt war. Das hätte schwerlich bei ihm der Fall sein können, wenn nicht körperliche Ursachen ihren Einfluss geltend gemacht hätten. Der Moralist könnte allerdings bemerkt haben, dass eine niedrigere Art von Stolz, die krankhafte Furcht vor Gemeinheit, dem intellektuellen Vorurteil, welches Pflicht als die Vonsichweisung aller endlichen Gegenstände auffasst, die wählerische Weigerung, ein beschränktes Ding zu sein oder zu thun, geheime Stärke verliehen hätte. Aber ausserdem war aus seinen von Zeit zu Zeit gemachten Zugeständnissen zu entnehmen, dass der Körper, indem, wie es bei kraftvollen Temperamenten der Fall ist, der Leitung des Geistes und des Willens folgt, die intellektuelle »Schwindsucht« (um es so zu bezeichnen) sich mit einer Art körperlicher Phtisis vereinigt, sie gestärkt hatte und von ihr gestärkt worden war – von einer rein körperlichen Zufälligkeit seiner Konstitution nach alle dem, die vielleicht gar nicht zur Geltung gelangt wäre, wenn ein anderer Zufall Sebastians Heimat statt an die See zwischen die Berge verlegt hätte. Ist es nur das Resultat der Krankheit? fragte er manchmal mit einem plötzlichen Argwohn seiner intellektuellen Unwiderstehlichkeit – dieser Glaube, dass ich selbst und alles was mich umgiebt nur eine Verkleinerung dessen ist, was wirklich ist? – diese unfreundliche Melancholie?

Das Tagebuch mit dem »grausamen« Brief an Mademoiselle van Westrheene, der die letzte Stufe in dem strengen Prozess theoretischer Folgerung bildete, zirkulierte unter den Neugierigen; und die Leute bildeten sich ihr Urteil darüber. Da waren welche der Meinung, dass solche Ansichten durch das Gesetz unterdrückt werden sollten; dass sie der Gesellschaft gefährlich wären oder gefährlich werden könnten. Vielleicht war es der Beichtvater seiner Mutter, der die Sache im richtigsten Lichte sah. Der alte Mann, der bemerkte, wie selbst für Geister, die keineswegs oberflächlich sind, das blosse Kleid, das er trägt, das Aussehen eines vertrauten Gedankens ändert, lächelte, eine glückliche Art von Lächeln; und wie er sich überlegte, dass die Wahrheit, die Sebastians Theorie enthielt, sich mit den Lehren seines eigenen Glaubens völlig deckte, citierte er Sebastians Lieblingsausspruch heidnischer Weisheit von den Lippen St. Pauli: »In Ihm leben, weben und sind wir«.

Am nächsten Tage, als sich Sebastian in verhältnismässiger Gemütsruhe – die Reaktion des freundlichen Morgens auf die Tollheit der vergangenen Nacht – die eintönige Reihe von Windmühlen entlang nach der See flüchtete, nahm er seine Trübsal leicht, oder versuchte wenigstens mit einigem Erfolge, es zu thun. Er sah es als eine Kleinigkeit an, von gewissen bewährten Einflüssen äusserer Natur entsprechend beruhigt zu werden, und wollte deshalb dem Orte, wo es ihm am besten gefiel, einen langen Besuch abstatten; das war ein einsames Haus inmitten der Sandbänke der Helder, einer der alten Wohnplätze seiner Familie, jetzt aber vielmehr der Seevögel, und fast von der Land abspülenden Flut umgeben, obwohl es daherum immer noch süsse Blumen zur Genüge gab, um Sebastian den Ort als den vollkommensten Garten in Holland erscheinen zu lassen. Hier konnte er »ausgleichen« zwischen sich und dem, was nicht sein Selbst war und alles in Ordnung bringen, in Vorbereitung eines solchen wohl erwogenen und endgültigen Wechsels in seiner Lebensweise, wie ihn die Umstände so deutlich erheischten.

Als er sich mit einem oder zwei schweigsamen Dienstboten in diesem Hause aufhielt, veränderte ein plötzlich aufspringender Wind – wie es scheint, innerhalb weniger stürmischer Stunden – die ganze Welt um ihn. Der starke Wind liess während der nächsten vierzehn Tage nicht nach, und seine Wirkung war eine dauernde; sodass die Leute hätten glauben können, ein Feind hätte thatsächlich die Deiche irgendwo durchschnitten – ein Leck, gross genug, das Schiff von Holland zum Wrack zu machen, oder wenigstens den Teil, der von einer Überschwemmung heimgesucht wurde, wie sie sich in jener Provinz seit einem halben Jahrhundert nicht ereignet hatte. Allein, als der Körper Sebastians gefunden wurde, anscheinend nicht lange nach erfolgtem Tode, lag ein schlafendes Kind, warm in seine schweren Pelze gewickelt, in einem oberen Zimmer des alten Turmes, zu dem die Flut fast emporgestiegen war; doch stand das Haus noch fest und es waren Lebensmittel zur Genüge vorhanden. Bei der Rettung dieses Kindes, die, wie gewisse Umstände anzudeuten schienen, mit grosser Anstrengung erfolgte, hatte Sebastian sein Leben eingebüsst.

Seine Eltern waren gekommen, ihn zu suchen, da sie glaubten, er sei zum Selbstmord entschlossen und waren fast froh, ihn so zu finden. Ein gelehrter Arzt versuchte ausserdem, die Mutter mit der Bemerkung zu trösten, dass Sebastian auf alle Fälle, vor Ablauf vieler Jahre, langsam, vielleicht unter Schmerzen gestorben wäre, an einer Krankheit, die damals in die Welt kam; einer Krankheit, von den Nebeln jenes Landes erzeugt, in Leuten, die durch die Einflüsse des modernen Luxus in ihrer Konstitution etwas verzärtelt waren.


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