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Denys L'Auxerrois

FFast jedes Volk hat, wie wir wissen, seine Legende von einem »goldenen Zeitalter« und von dessen Wiederkehr – Legenden, die schwerlich vergessen werden, wie prosaisch auch immer die Welt werden mag, so lange der Mensch selbst das ewig nach Höherem strebende nie ganz zufriedene Geschöpf bleibt, das er ist. Und doch möchten wir wahrhaftig, da wir nun einmal keine Kinder mehr sind, den Vorteil in Frage stellen, den die Rückkehr von Lebensbedingungen hat, bei welchen der Natur der Sache nach, der Wert der Dinge so zu sagen ganz auf der Oberfläche liegen würde, es sei denn wir könnten auch die kindliche Befangenheit, oder Unbefangenheit vielmehr, wiedergewinnen, um alles das schicklich und mit der angemessenen Herzens-Leichtheit hinzunehmen. Der Traum jedoch ist zum grössten Teile in der gewöhnlichen Verschwommenheit der Träume belassen worden: in ihren wachen Stunden sind die Leute zu geschäftig gewesen, um ihn mit Einzelheiten auszustatten.

Was hier folgt, ist eine wunderliche, mit Einzelheiten zur Genüge ausgestattete Legende von solch einer Wiederkehr eines goldenen oder poetisch vergoldeten Zeitalters, wie es in einer ehrwürdigen Stadt des mittelalterlichen Frankreich erstand. Ein leibhaftiger Bewohner des alten Griechenland findet darin seinen Weg zu den Menschen zurück.

Die vollkommenste Verwirklichung einer typisch französischen Stadt, die der Wanderer finden kann, ist Auxerre. Eine Reihe aufeinanderfolgende Jahrhunderte haben ihre Merkmale zurückgelassen, die – nicht ohne lebhafte Anklänge an die Gegenwart – harmonisch mit einander verschmolzen sind. Eine eigenartige Schönheit ist über sie gebreitet, eine cisalpinische und nördliche Schönheit, die doch gleichzeitig ganz verschieden ist von dem stark Malerischen einiger deutscher Städte, wie Ulm, Freiburg oder Augsburg, eine Schönheit, deren Ideal Turner in gewissen Studien französischer Flüsse wiedergiebt; eine vollkommen glückliche Harmonie zwischen Fluss und Stadt ist das Wesentliche ihrer Physiognomie. Sicherlich ist Auxerre in Bezug auf malerischen Ausdruck die bemerkenswerte einer hervorragenden Gruppe von drei Städten in dieser Gegend – Auxerre Sens, Troyes, – jede von ihnen, gleich als ob sie auf einen solchen Effekt mit voller Überlegung hinzielte, um die den Mittelpunkt bildende Masse einer ungeheuren grauen Kathedrale gelagert.

Um Troyes ist das natürlich Malerische nur in der üppigen, fast rohen Sommerfärbung des Champagner-Landes zu suchen, von der die Dachziegel selbst, das Mörtel- und Steinwerk seiner winzigen Dörfer und grossen, zerstreuten, dorfähnlichen Meierhöfe die Wärme aufgefangen haben. Die Kathedrale, die über die anscheinend mit wilden, üppigen Blumen bedeckten Felder weit und breit sichtbar und selbst eine Mischung ist aller Variationen des gothischen Stiles bis hinab zum spätesten Flamboyant, ist unter den grössern französischen Kirchen bemerkenswert wegen der Breite ihrer inneren Proportionen und berühmt wegen ihres fast unvergleichlichen Schatzes an gemaltem Glas, in der Hauptsache von einem blühenden, sorgfältig ausgearbeiteten, späteren Typus, der eine kundige, hoch künstlerische Empfindung in der Zeichnung sowohl als in der Farbe aufweist. In einem der prächtigsten Fenster z. B. laufen gewisse Linien von einem perlenartigen Weiss hierhin und dorthin mit einem entzückenden Ferneffekt auf rubinrot und dunkelblau. Beim Näherkommen bemerkt man, dass es ein Wanderer-Fenster ist, während die seltsamen weissen Linien die Wanderstäbe in den Händen von Abraham, Raphael, den Weisen aus dem Morgenlande und andern heiligen Schirmherren der Reisenden sind. Den der bourgeoisie der Champagne angemessenen Provinzial-Charakter findet man immer noch, wie es scheint, unter den Einwohnern von Troyes. In den Strassen sieht man unter den zum grössten Teil in Holz und Stucco ausgeführten Häusern manch einen vollkommenen Typus des alten Hôtel oder Bürgerhaus mit Vorhof und Hintergarten; und die frommen Bürger scheinen bei ihren Kirchenbauten hauptsächlich danach gestrebt zu haben, die Augen derjenigen zu ergötzen, die mit weltlichen Angelegenheiten und im Freien beschäftigt waren, denn sie haben mit reichlichen Ausgaben nur die breiten, nutzlosen Portale ihrer Gemeindekirche, die von überraschender Höhe und Zierlichkeit sind, vollendet, in einem wilden, eleganten »Gotisch – auf – Stelzen«, das den Strassen von Troyes etwas seltsam Groteskes giebt; wie ein wunderlicher, quälender Traum vom Mittelalter mutet es uns an. In Sens, dreissig Meilen weiter nach Westen, einem Orte von weit ernsterem Aussehen, deutet der Name von Jean Cousin ein viel geläuterteres Temperament an, selbst in seinen prächtigen Verzierungen. Hier ist alles ruhig und gesetzt, von einer fast englischen Strenge. Das erste Aufkommen des Spitzbogen-Stiles in England – das harte »frühe Englisch« von Canterbury – ist in der That eine Schöpfung Williams, eines in der architektonischen Schule von Sens gross gewordenen Meisters; und die Strenge seines Geschmacks könnte als eine Art hemmender Kraft auf alle die folgenden Wechsel in der Manier gewirkt haben, Wechsel, die grösstenteils auf Üppigkeit hinstrebten.

Im Einklang mit der Stimmung in ihrer grossen Kirche steht die reinliche Stille der Stadt; diese wird frisch erhalten von kleinen, durch die Strassen laufenden Kanälen frischen Wassers, Ableitungen aus der schnellen Vanne, die gerade unterhalb in die Yonne mündet. Die Yonne, die sich anmutig, Windung nach Windung, durch ein nimmer endendes Rauschen von Pappelbäumen schlängelt, unter niedrigen, weinbewachsenen Hügeln, hie und da von einem Überbleibsel köstlichen Waldes unterbrochen, manchmal ganz nahe, dann wieder durch einen breiten Wiesenstreifen getrennt, hat all die lichten Merkmale französischer Fluss-Landschaft in einem kleineren als dem gewöhnlichen Massstabe und könnte als das kindliche Phantasiebild eines Flusses gelten, gleich den Flüssen der alten Miniatur-Maler; blau und voll bis zum leuchtend grünen Rande. Ihrem Laufe entlang bemerkt man in grösserer Anzahl als anderswo noch unberührte alte Ritterburgen, grössere und kleinere. Die Reihe alter, winkeliger Städte an den Ufern entlang, die ihre heiteren Quais am Wasser ausbreiten, haben alle einen gemeinsamen Charakter – Joigny, Villeneuve, Saint Julien du Sault – führen uns aber doch in Versuchung, in jeder zu verweilen und ihre Reliquien, altes Glas und dergleichen aus Renaissance und Mittelalter zu prüfen, um wenn auch geringe, so doch wirkliche Belehrung zu empfangen über die verschiedenen Künste, die sich ihr Hauptdenkmal in Auxerre errichtet haben. – Auxerre! Eine kleine Steigung in der sich windenden Landstrasse! und vor uns liegt die hübscheste Stadt Frankreichs – das breite Gitterwerk der Weinberge, sanft zum Horizonte ansteigend, weisse Häuschen, die einladend herüber winken: der ruhige Bogen des Flusses unten mit all den Einzelheiten der Flusslandschaft: die drei grossen purpurnen Ziegelmassen von Saint Germain, Saint Pierre und der Kathedrale von Saint Etienne, die aus dem Häusergewimmel mit einer selbst bei französischen Bauwerken ungewöhnlichen Abgebrochenheit und Unregelmässigkeit aufsteigen. Hier hat jener seltene Künstler, der feinfühlige Architektur-Maler, wenn er gleicherweise den Wert von Linie und Masse, das heisst breiter Massen und zarter Linien, zu würdigen versteht, »a subject made to his hand«.

Ein wahrhaftes Weinland, trägt es nichtsdestoweniger einen mehr feierlichen als lachenden Ausdruck. Ein vollkommener Typus jener glücklichen Mitte zwischen nordischem Ernst und der Üppigkeit des Südens, um deretwillen wir das mittlere Frankreich preisen, ist sein Ausdruck ein nicht ganz heiterer, sondern zum Teil durch seine Melancholie anziehend. Die diesem Lande charakteristischste Atmosphäre sieht man, wenn der Strom der leichten, fernen Wolken schnell darüberhinzieht, wenn der Regen nicht fern ist und jede von Kunst oder Zeit auf den alten Gebäuden zurückgelassene Spur in hellem Grau heraustritt.

Ein schöner Sommer reift seine Trauben zu einem wertvollen Weine; aber trotzdem scheint es immer nach mehr und nach dauernderem Sonnenscheine, der ihm so gut steht, Sehnsucht zu empfinden. Man könnte glauben ein leises Klagen zu hören in der raschelnden Bewegung der Weinblätter, wenn der blauröckige Jacques Bonhomme zwischen ihnen sein Tagewerk vollendet.

Um einen solchen Nachmittag hinzubringen, als es zeitig zu regnen begann und ein Spaziergang unmöglich war, begab ich mich in den Laden eines alten Kuriositätenhändlers. Es war nicht wie bei einem Pariser Händler, die langweilige Schaustellung eines Vorrates, wie man ihn oft und oft gesehen hat, sondern eine charakteristische Sammlung wirklicher Kuriositäten. In verschiedenen Überbleibseln der Haushaltungen des vergangenen Jahrhunderts, in manch einem Kleinod früherer Zeiten aus alten Kirchen und frommen Häusern der Umgegend schien man eine provinziale Schule des Geschmackes zu erkennen. Unter ihnen war ein grosses und glänzendes Stück gemalten Glases, das aus der Kathedrale selbst stammen konnte. Von allererster Qualität in Farbe und Zeichnung, stellte es eine Figur dar, die mit irgend einem anerkannten kirchlichen Typus nicht gerade in Übereinstimmung zu bringen war; und sie war sichtbarlich nur der Teil einer ganzen Reihe. Auf meine begierige Frage nach den fehlenden Stücken antwortete der alte Mann, dass nichts weiter davon bekannt sei, fügte aber hinzu, dass der Priester eines benachbarten Dorfes sich im Besitze eines ganzen Satzes gewirkter Tapeten befände, die anscheinend dazu bestimmt waren, in der Kirche aufgehängt zu werden und den ganzen Gegenstand zu verbildlichen, von dem die Figur in dem bunten Glas ein Teil war. Also begab ich mich am nächsten Nachmittage nach des Priesters Hause, das in Wirklichkeit ein kleines gotisches Gebäude und, ganz nahe bei der Dorfkirche, vielleicht ein Teil des alten Herrenhauses war. In dem vordem Garten, der Blumengarten und potager gleichzeitig war, waren die Bienen geschäftig in den Herbstblumen – vielfarbigen Astern, Begonien, Feuerbohnen und den altmodischen Pfarrhausblumen. Der zuvorkommende Besitzer zeigte mir bereitwillig seine gewirkten Tapeten, von denen einige an den Wänden seines Empfangzimmers und des Treppenhauses hingen, als Hintergrund für die andern Kuriositäten, die er sammelte. Gewiss, diese Tapeten und das bunte Glas behandelten denselben Gegenstand. In beiden sah man dieselben musikalischen Instrumente – Pfeifen, Cymbals, lange rohrartige Trompeten. Die Geschichte handelte auch von dem Bau einer Orgel, gerade eines solchen Instrumentes, nur grösser, wie es in des alten Priesters Bibliothek stand; zwar fast tonlos jetzt, während in einigen der gewirkten Bilder die Hörer wie hingerissen erscheinen und einige von ihnen mit verzückten Schreien die Orgelmusik begleiten. Eine Art wahnsinnigen Ungestüms herrscht allerdings in dem köstlichen Durcheinander der ganzen Serie vor-schwindelnde Tänze, wilde Tiere im Sprunge, und überall darüber ein fortlaufendes Gewinde von Reben, das wie eine rätselhafte Arabeske die verschiedenen Darstellungen einer oft wiederholten Figur verbindet; und diese selbst war hier aus dem transparentfarbigen Glas in die trüberen, etwas undurchsichtigen und erdenen Töne der Seidenfäden übertragen. Die Figur war die des Orgelbauers selbst, eines flachshaarigen und blumenartigen Geschöpfes, manchmal fast nackt zwischen den Reben, manchmal zum Schutz gegen die Kälte in Felle gehüllt, manchmal im Gewand eines Mönches; aber all dies mit einem starken Ausdrucke von Eigenart und wirklichen Geschehnisses in den nämlichen Strassen von Auxerre. Was ist es? Sicherlich, trotz seiner Anmut und seines Reichtums an schmückendem Beiwerk eine leidende, gemarterte Figur. Mit all der regelmässigen Schönheit eines heidnischen Gottes begabt, hat er in einer Weise gelitten, deren wir heidnische Götter für unfähig halten müssen. Es war als ob eines dieser schönen, sieghaften Wesen sein Geschick mit den Geschöpfen eines späteren Zeitalters verknüpft hätte, Leuten von grösserer geistiger Fähigkeit und sicherlich einer grösseren Fähigkeit zur Melancholie. Mit dieser Phantasie in meinem Innern und unter Zuhilfenahme gewisser Notizen aus des Priesters seltsamer Bibliothek über die Geschichte der Arbeiten an der Kathedrale während der Vollendungsperiode, und in wiederholter Prüfung der alten gewirkten Zeichnungen, formte sich die Geschichte schliesslich von selbst.

Gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts war die Kathedrale von Saint Etienne in ihren Hauptzügen fertig; was noch zu thun blieb, war die Errichtung des grossen Turmes und all die Arbeit der endgültigen Ausschmückung, die zu vollenden mehr als ein Menschenalter in Anspruch nehmen würde. Gewisse Umstände jedoch, die nicht ganz aufgeklärt sind, führten zu einer etwas hastigen Fertigstellung der Arbeit, die aber trotzdem eine wundervolle Fülle sowohl als Anmut aufweist. Von dem so Geschaffenen ist vieles zu Grunde gegangen oder verschleppt worden; ein Teil ist immer noch sichtbar in den prachtvollen Überbleibseln der gemalten Fenster, und vor allem in den Reliefs, die die westlichen Portale schmücken, und sehr zierlich in einen schönen, festen Stein aus Tonnerre gemeisselt sind. Die Zeit hat nur ihre Oberfläche gebräunt, und als Muster frühzeitiger Meisterschaft in der Kunst können diese Reliefs wohl mit den gleichzeitigen italienischen Arbeiten verglichen werden. Sie kommen dem wahren Ausdrucke des Lebens näher als es in der Kunst jenes Zeitalters gebräuchlich war; mit einem Gefühle für Wirklichkeit, in keiner unedlen Form, das aus dem heissen und vollblütigen Leben geschöpft scheint, welches damals in diesen selben Häusern und Strassen pulste. Gerade damals war Auxerre an der Reihe mit jener politischen Bewegung, die nacheinander in verschiedenen Städten Frankreichs ausbrach, und ihre beschränkten feudalen Einrichtungen in ein freieres Kommunalleben verwandelte – eine Bewegung, deren Denkmal nicht selten die französischen Kathedralen, jene grossen Mittelpunkte öffentlicher Anbetung sind. Immer im Zusammenhang mit der Behauptung individueller Freiheit, geistiger sowohl als körperlicher, war auch in Auxerre diese politische Bewegung, als Ursache oder Folge, mit der Gestalt und dem Charakter einer besonderen, lange unvergessenen Persönlichkeit verknüpft. Sie war, scheint es, der wahre Genius jener neuen, freien, grosszügigen Manier in der Kunst, die wirksam und fruchtbar war gleich einem lebendigen Wesen.

Als der geschickteste aus der Schar von Steinmetzen eines Tags dort beschäftigt war mit einer Arbeit, die er vergebens nach dem ihm vorschwebenden Ideale zu gestalten trachtete, wurde ein schönbehauener griechischer Steinsarg, der bei einem späteren römischen Begräbnisse Dienste hatte leisten müssen, von den Maurern ausgegraben. Hier, schien es, war das Grosse wirklich vollbracht, der Kunst Genüge gethan in Bezug auf jene vollendete Anmut und Harmonie der Ausführung, welche gerade das waren, was jenseits der Fertigkeit der mittelalterlichen Handwerker lag, die ihrerseits einen Ernst der Auffassung hatten, über den die alten Griechen nicht verfügten. In dem Sarge lag ein Gegenstand, der zwischen der Asche des Toten eine Frische und glänzende Helligkeit zeigte – eine Flasche aus lebhaft grünem Glas, gleich einem grossen Smaragd. Es hätte das »wundersame Gefäss des Grals« sein können. Aber es schien keine unaussprechliche Reinheit, sondern vielmehr die verführerische und irdische Glut des alten Heidentums selbst zurückzubringen. Inwendig überkrustet, und, wie einige überzeugt waren, immer noch nach dem lohbraunen Bodensatze des römischen Weines duftend, den sie so lange in sich gefasst hatte, wurde die Flasche zum Gebrauche bei dem Abendessen beiseite gestellt, das in Kürze veranstaltet werden sollte, um die Vollendung der Maurerarbeiten zu feiern. Unter vielen Gesprächen über das grosse goldene Zeitalter und ab und zu geäusserten Hoffnungen, dass es wieder zurückkehren möchte, wurde schwerer alter Auxerrer-Wein in kleinen, aus der kostbaren Flasche gefüllten Gläsern geschlürft, als das Abendessen zu Ende ging. Und, ob nun das Öffnen des begraben gewesenen Gefässes irgend etwas damit zu thun hatte oder nicht, von diesem Tage an schien thatsächlich eine Weile lang eine Art goldenen Zeitalters zu herrschen, und die mit Jubel begrüsste Vollendung der grossen Kirche fiel zusammen mit einer Folge hervorragender Weinjahre. Das Gewächs jener Jahre blieb lange unvergessen. Feiner Wein im Überfluss fand sich selbst in den Hütten der Armen aufgespeichert; während eine neue Schönheit, eine Heiterkeit überall verbreitet war, da alle Künste im Verein in einer Zeit ruhiger, ergötzlicher Arbeit üppig emporsprossten, wie es schien, auf das Geheiss jenes seltsamen Geschöpfes, das plötzlich und auf wunderbare Weise nach Auxerre kam, um dort den Mittelpunkt einer solch fröhlichen Spanne Zeit zu bilden; es nahm aber wirklich nur ein recht trauriges Ende.

Ein merkwürdiger Brauch herrschte lange in Auxerre. Am Ostertage spielten die Canonici mitten im Centrum der grossen Kirche feierlich Ball. Nachdem die Vesper gesungen war, begaben sie sich, anstatt den Bischof nach seinem Palaste zu geleiten, in Reih und Glied nach dem Schiff, indes die Leute sich in zwei langen Reihen zum Zusehen aufstellten. Die Röcke etwas aufgeschürzt, wartete die ganze geistliche Körperschaft stillschweigend, bis die Reihe an ihnen war, während der Präfekt der Sängerknaben den Ball so hoch er konnte in die Luft warf, das gewölbte Dach des Hauptchorganges entlang, damit irgend einer der Knaben ihn finge und mit Hand oder Fuss weiterschleuderte, bis er zu den behäbigen Kantoren, den Kaplänen, den Canonici selbst hinüberflog, die das Spiel mit der ganzen Feierlichkeit einer religiösen Ceremonie endgültig ausspielten. Gerade da war es, als eben die Canonici den Ball so würdevoll aufnahmen, das Denys – Denys L'Auxerrois, wie er später genannt wurde – zum ersten Male erschien. Zwischen die furchtsamen Kinder springend, machte er ein wirkliches Spiel aus der Sache. Die Knaben spielten wie Knaben, die Männer fast wie Besessene, und alle mit einer entzückenden Fröhlichkeit, die erst unter der geistlichen Körperschaft und dann unter den Zuschauern ansteckend wirkte. Der alte Dekan des Kapitels, Protonotar seiner Heiligkeit, hielt den purpurnen Rock ein wenig höher, und indem er mit einer erstaunlichen Leichtfertigkeit aus der Reihe trat, als ob er seiner Bürde von achtzig Jahren plötzlich ledig geworden wäre, schleuderte er den Ball mit dem Fusse gegen den ehrwürdigen Kapitular Homilist, der sich der Sache gewachsen zeigte. Und dann, unfähig noch weiter ruhig dabei zu stehen, setzte die Laienschaft unter nicht zu heftigem Freudengeschrei das Spiel unter sich fort; so ging dasselbe weiter, bis der Ball in den dämmerigen Chorgängen nicht länger verfolgt werden konnte.

Obwohl das Heim seiner Kindheit nur ein armseliges war, eines der kleinen Berghäuser, die in den niedrigen Hügelabhang eingehauen sind und wie sie in gewissen Gegenden Frankreichs immer noch bewohnt werden – gab es doch einige, die seine Geburt mit der Geschichte eines schönen Landmädchens verknüpften, welche vor ungefähr achtzehn Jahren – nicht gegen ihren Willen – von ihren Verwandten weggenommen worden war, den Lüsten des Grafen von Auxerre zu dienen. Sie hatte in der That gewünscht, den grossen Herrn, der sie heimlich besucht hatte, in dem Glänze seines eigenen Hauses zu sehen; aber, in Schrecken versetzt durch die fremdartige Pracht ihres neuen Aufenthaltes, ihrer neuen Lebensweise und den Zorn der wirklichen Ehefrau, war sie in dem Aufruhr eines heftigen Gewitters plötzlich geflohen und hatte auf ihrer Flucht einem Kinde vorzeitig das Leben gegeben. Das Kind, ein ungewöhnlich schönes, wurde lebend gefunden, die Mutter aber war tot, vom Blitze getroffen, wie es schien, nicht weit von der Thüre zum Gemache ihres Herrn, im Schutze eines alten, zerfallenen, epheuüberwachsenen Turmes. Denys selbst war als Knabe fröhlich genug. In seiner Berghütte, thatsächlich unter die Weingärten geschmiegt, entwickelte er sich zum unvergleichlichen Gärtner, und zum Manne emporgewachsen, brachte er seine Erzeugnisse zu Markte. Auf dem grossen Kathedralenplatze hielt er einen Stand für den Verkauf von Melonen, Granatäpfeln, allen Arten Samen und Blumen, ( omnia speciosa camporum) auch Honig, Wachskerzen, Zuckerwerk heiss aus der Pfanne, aus von ihm selbst gemachten Töpfen und Pfannen der kleinen Töpferei im Walde, Brotleibe, von der alten Frau gebacken, in deren Hause er wohnte. An jenem Ostertage hatte er die Kirche zum ersten Male betreten, um das Spiel zu sehen.

Und von allem Anfang an verweilten die Frauen bei ihm, die ihn bei seinem Geschäft oder damit beschäftigt sahen, in der Abendkühle seine Pflanzen zu wässern. Die Männer, welche die Menge Frauen um seinen Stand bemerkten, und wie selbst frische, junge Landmädchen, die ihn zum ersten Male sahen, bei ihm zauderten, vermuteten – wer kann sagen welche Art von Kräften? verborgen unter der weissen Hülle jener jugendlichen Gestalt, und indem sie verweilten, um über die Sache nachzudenken, fanden sie sich in derselben Falle gefangen. Sein Anblick liess alte Leute sich wieder jung fühlen. Selbst der weise Mönch Hermes, der Forschungen und Experimenten ergeben war, konnte den Obstverkäufer nicht aus den Gedanken bringen und hätte gern das Geheimnis seines Zaubers entdeckt, teilweise in der freundschaftlichen Absicht, dem Jünglinge selbst seine vielleicht mehr als natürlichen Gaben zu erklären und ihn zu einer nützlichen Entwicklung derselben anzuleiten.

Es war eine Zeit, wie ältere Leute bemerkten, der jungen Leute und ihres Einflusses. Sie fingen Feuer bei seiner Gegenwart, niemand konnte erklären wie, und entwickelten einen erstaunlichen Aufwand von Willenskraft und Übermut, doch gleichsam im Einverständnis mit den Älteren, die sich selbst, etwas komischerweise, manchmal vergassen. Diese Umwälzung in dem Temperament und in den Sitten einzelner fiel mit der damals in Auxerre und anderen französischen Städten im Gange befindlichen Bewegung zur Befreiung der commune von ihren alten feudalen Gebietern zusammen. Denys erhielt ausser vielen anderen Spitznamen den Namen Frank. Junge adelige Herren brüsteten sich damit, zu sagen, dass auch dem Arbeitsvolke seine Müsse werden müsste und waren beinahe darauf vorbereitet, die Freiheit, plebejische Freiheit, – natürlich pflichtschuldigst wenigstens mit wilden Blumen aufgeputzt – als Braut zu umarmen. Denn in der That wandelte Denys die ernste, langsame Bewegung politischer Köpfe in eine wilde, sociale Zügellosigkeit um, die eine Zeitlang das Leben einem Theaterstücke gleich machte. Er führte zuerst jene langen Prozessionen, durch welche nach und nach »die kleinen Leute«, die Unzufriedenen, die Verzweifelnden, ihren Gefühlen Luft machten. Ein Mann knüpfte mit einem andern ein Gespräch auf dem Marktplatze an; ein neuer Einfluss zeigte sich bei dem Zusammentreffen; ein anderer und noch einer kamen daher; endlich war überall ein neuer Geist weithin verbreitet. Die heissen Nächte waren erfüllt von dem Lärme schwärmender Trupps zerzauster Frauen und Jünglinge, die mit Rot überglühten Gliedern und Gesichtern ihre brennenden Fackeln über die Weinberge trugen oder zum Schrecken furchtsamer Lauscher die Strassen hinab tobten nach den kühlen Plätzen am Flusse zu. Eine schrille Musik, ein Gelächter über alles war überall. Und der neue Geist hielt seinen Einzug selbst in der Kirche, offenbarte sich in der sonderbaren Feier des Festes der Narren. Häupter in der Ekstase zurückgeworfen – der Morgenschlaf zwischen den Weinreben, wenn die Anstrengungen der Nacht vorbei waren – taufeuchte Gewänder – der Knecht endlich in Behagen der Ruhe pflegend: die Künstler, damals so zahlreich in diesem Orte, erhaschten aus allem diesen, was sie konnten, etwas wenigstens von dem Reichthume, den wechselnden, bunten Farben des Lebens. Für sie war das scheinbar dem Nichtsthun gewidmete Leben, zu welchem Denys die Jugend von Auxerre so vergnüglich führte, nichts als die Veredlung köstlicher Dinge der Natur zu dem der Menschheit schuldigen Dienste. Und die Naturkräfte wirkten mit. Der Planet Mars näherte sich der Erde mehr als sonst und hing an dem niedrigen Firmamente gleich einer feurigroten Lampe. Ein noch kerniger, aber fast lebloser Weinstock an der Klostermauer, der nur wegen seines ungemein hohen Alters als eine Seltenheit dort belassen wurde, bedeckte sich in dieser »grossen« Jahreszeit, wie sie noch lange hinterher genannt wurde, noch einmal mit Frucht. Der Weinbau nahm sehr überhand. Das Sonnenlicht fiel zum ersten Male auf niedriges Holzland, das man für den Weinbau gerodet hatte; obwohl Denys, ein Liebhaber von Bäumen, Sorge trug, dass hie und da ein stattliches Stück Waldes stehen gelassen wurde. Als seine trüben Tage kamen, wurde ein Charakterzug, der in seinem Glücke fast liebenswürdig geschienen hatte, gegen ihn gedeutet: seine Vorliebe für verwachsene oder selbst verunstaltete, jedoch immerhin glücklich veranlagte Kinder; auch für seltsame Tiere: er hatte Mitleid mit allen, war geschickt ihre Krankheiten zu heilen, rettete den gejagten Hasen und verkaufte seinen Mantel, um ein Lamm bei dem Fleischer auszulösen. Er lehrte das Volk, sich nicht zu fürchten vor den seltsamen, hässlichen Kreaturen, die das Licht der flackernden Fackeln aus ihren Verstecken lockte, oder es als ein schlechtes Vorzeichen zu betrachten, dass sie sich näherten. Er zähmte einen wirklichen Wolf, der ihm gleich einem Hunde folgte. Es war dies die erste vieler Zweideutigkeiten in ihm, aus denen in den Herzen einer sich immer vergrössernden Zahl von Leuten ein tiefer Verdacht und Hass erwuchs. Das umfangreiche Bestiarium, das damals in der Bibliothek der grossen Kirche zusammengetragen wurde, wurde durch seinen Beistand nichts weniger als ein Garten von Eden im Zustande der Verwilderung. Nur die Eule verabscheute er. Etwas später hing sie allein von allen Tieren ihm an, fast wie aus Rache, indem sie ihn beständig zwischen den dämmerigen Steintürmen verfolgte, als er, sanfter als je, nicht wagte, sie zu töten. Er bewegte sich ungefährdet in der berühmten Menagerie des Schlosses, vor der das gemeine Volk sich so fürchtete und führte während des Jahrmarktes die Löwen, die als Gefangene selbst furchtsam genug waren, durch die Strassen. Der Vorfall gab den etwas unfruchtbaren Skribenten jener Tage die Idee zu einer, den alten heidnischen Büchern entnommenen »Moralität«, einem Theaterstücke, in dem der Gott des Weines triumphierend aus dem fernen Osten zurückkehren sollte. Auf dem Kathedral-Platze wurde der festliche Aufzug veranstaltet, inmitten eines unerträglichen Lärmes jeder Art von Pfeifenmusik und mit Denys – in weichem seidenen Gewand auf einem lustig bemalten Karren, einen Elephantenskalp mit vergoldeten Zähnen als Kopfschmuck – in der Hauptrolle. Und jene unvergleichliche Schönheit und Frische seines Aussehens; – wie bewahrte er allein sie unberührt durch Wind und Hitze? In Wahrheit war das nicht durch Zauberei, wie einige sagten, sondern durch eine natürliche Einfachheit in seiner Lebensweise. Als jene finstere Zeit seiner Verfolgungen kam, hörte man in einer Winternacht seine kläglich bettelnde Stimme: »Gebt mir Wein und braunes Fleisch!« Er war zu der rohen Thür seines alten Heims zwischen den Felsen zurückgekommen. Bis zu jener Zeit trank der grosse Weingärtner nur Wasser; er hatte von Quellwasser und Früchten gelebt. Ein Liebhaber der Fruchtbarkeit in all ihren Formen, in welchen immer sie sich darbot, war er neugierig und forschungslustig in Bezug auf das Wasser und besass das Geheimnis der Wünschelrute. Lange ehe er eintrat, witterte er den Regen aus der Ferne und erklomm entzückt das grosse Gerüst des unvollendeten Turmes, um den Regen über das dürstende Weinland kommen zu sehen, bis er auf das grosse Ziegeldach der darunterliegenden Kirche prasselte. Und dann warf er den Mantel ab und liess den Regen seine Glieder baden, indem er sich gegen den ungestümen Wind zwischen dem aus dunklen Stein gemeisselten Bilderwerk festklammerte.

Bei seiner plötzlichen Rückkehr von einer langen Reise – eines von den vielen Malen, die er auf unerklärliche Weise verschwand – war es, dass er zum ersten Male Fleisch ass, indem er die heissen roten Brocken mit seinen zarten Fingern in einer Art Gier zerriss. Er war vor den ersten abschreckenden Tagen eines harten Winters, der endlich kam, nach dem Süden geflohen. In der grossen Hafenstadt Marseille hatte er mit Seeleuten aus allen Teilen der Welt, aus Arabien und Indien, gehandelt, und ihre Waren gekauft, die er nun zum Erstaunen aller auf der Ostermesse feilbot – schwerere Weine und Gewürze als man in Auxerre gekannt hatte, die Samen wunderbarer neuer Blumen, wilde und zahme Tiere, neue, in grellen, bunten Farben gemalte Töpferwaren, Tierhäute, mit unerhörten Zuthaten gebratene Fleischsorten. Sein Verkaufsstand bildete einen seltsamen, abenteuerlichen Farbenfleck, den man an einem heissen Morgen plötzlich vorfand. Die Künstler waren mehr entzückt als je und suchten seine Gesellschaft in dem kleinen Herrenhause, das von seinen Eigentümern längst verlassen war und in dem es spukte, so dass die Augen vieler scheel auf das Haus sahen, darin er sein Heim aufgeschlagen. Ihn hatte vor allem der üppige, wenn auch vernachlässigte Garten angezogen, der ein Wirrnis war aller Arten von rebengleichen Schlingpflanzen. Hier, in Fülle umgeben von den freundlichen Gegenständen seines Handels, wurde der Weingärtner zum Erzieher und hielt Schule für die verschiedenen Künstler, die hier eine Kunst lernten, welche ihre eigene ergänzte, – jene heitere Magie nämlich – Kunst oder Trick – seiner Existenz; bis sie sich in eine Art von Aristokratie verwandelt fanden, gleich wirklichen gens fleur-de-lisés, wie sie zusammen an der Ausschmückung der grossen Kirche und hundert anderen Plätzen ausserdem arbeiteten. Und doch war eine Dunkelheit über ihn gekommen. Das gütige Geschöpf hatte etwas von seiner Sanftmut verloren. Seltsame, grundlose Frevelthaten waren begangen worden; und vergeblich nach einer anderen Ursache ausschauend, waren nicht nur seine Neider bereit, die Schuld daran auf Denys zu wälzen. Er machte die Jüngeren verrückt. Wollte er sich zum Grafen von Auxerre machen? Die Dame Ariane, von ihrem früheren Liebhaber verlassen, hatte ein Auge auf ihn geworfen, war bereit ihn zum Schwiegersohn des alten Grafen, ihres Vaters zu machen, der dem Tode nahe war. Der weise Mönch Hermes erinnerte sich gewisser alter Schriften, in denen der Weingott, dessen Rolle Denys so gut gespielt hatte, seinen Kontrast, seine dunkle oder antipathische Seite hatte, einer doppelten Kreatur von zwei Naturen gleich war, die schwer oder gar nicht miteinander harmonierten. Und in Wahrheit hat der vielgerühmte Wein von Auxerre selbst nur einen flüchtigen Reiz, da er leicht schal und sauer wird, lange ehe die Flasche leer ist, wie sorgfältig man ihn auch immer versiegelt; der beste ist in der That, bei denen, die ihn bauen, unter bösen Namen bekannt, wie Chainette und Migraine.

Eine Art Degeneration und Gemeinheit – die Gemeinheit der Übersättigung, des gestaltlosen, erschöpften Appetits – mit einer fast wilden Vorliebe zur Fleischkost, war über die Gesellschaft gekommen. Es ging ein Gerücht um von verschiedenen Frauen, die aus blossem Mutwillen ihre Säuglinge ertränkt hatten. Ein schwangeres Mädchen wurde in einem dunklen Keller gefunden, wo sie sich mit eigner Hand erhängt hatte. Ach! Wenn sich Denys nicht selbst wahnsinnig gefühlt hätte. Aber als der Verdacht der Schuld an einem Morde, der mit einer grossen Weinaxt weit draussen zwischen den Weinbergen begangen worden war, auf ihn fiel, konnte er sich nur verwundert fragen, ob dem wirklich so sei, und der Schatten eines eingebildeten Verbrechens hing über ihm.

Das Volk wandte sich gegen seinen Liebling, dessen frühere Reize nur als Bethörungen durch Zauberkraft angesehen werden konnten. Es war, als wenn der Wein, den er ihnen eingeschenkt, im Becher sauer geworden wäre. Das goldene Zeitalter war allerdings für einige Zeit wiedergekehrt: – golden war es, oder doch schliesslich nur vergoldet? und sie waren zu übersättigt oder wenigstens zu ernsthaft, um ihre Rollen darin durchführen zu können. Der Mönch Hermes erinnerte sich grillenhaft jenes Nachgedankens in der heidnischen Dichtung, an den Weingott, der in der Unterwelt gewesen war. Denys in all seiner flachsenen Schönheit war offenbar ein Dulder. Zuerst dachte er daran, sich heimlich nach einem anderen Orte zu begeben. Ach! Sein Geist war schon zu sehr umdunkelt, als dass er mit Sicherheit auf Erfolg hätte rechnen können. Er fürchtete, als Gefangener zurückgebracht zu werden. Jene hellen Jahre waren vorüber. Es war eine Zeit des Mangels. Das Arbeitsvolk durfte nicht essen und trinken von den guten Dingen, die es aufzuspeichern geholfen hatte. Thränen stiegen auf in den Augen bedürftiger Kinder, alter oder schwacher, kindergleicher Leute, wie sie wieder und wieder zu sonnenlosem, froststarrenden, verderblichen Morgen erwachten; und die hungrigen kleinen Geschöpfe strichen umher nach Heckennüssen oder vertrockneten Weinranken. Geheimnisvolle, dunkle Regenschauer herrschten durch den ganzen Sommer. Die grosse Kirchenfeier von St. Johannis fand während eines plötzlichen finsteren Gewittersturmes statt, der die gemeisselten Ornamente der Kirche schwer beschädigte. Der Bischof las die Mittagsmesse beim Scheine der kleinen Kerze neben seinem Buche. Und dann, in einer Nacht, der Nacht, die im vollsten Sinne des Wortes den kürzesten Tag verschlungen zu haben schien, wurde von gewissen Leuten ein Plan geschmiedet, Denys zu fangen und ihn im Stillen als Zauberer umzubringen. Er konnte kaum sagen, wie er entkam und sich in der Sicherheit seines frühesten Heims, der Felsenhütte wiederfand, bei solch einem grossen Feuer, wie er es so gern auf dem Herde brannte. Sie veranstalteten, so gut sie es konnten, ein kleines Fest, mit einem Überfluss an Wachslichtern, für das schöne, gehetzte Geschöpf.

Endlich gedachte die Geistlichkeit eines Heilmittels gegen die böse Zeit. Der Körper eines der Schutzheiligen hatte irgendwo unter den Fliesen des Allerheiligsten vergessen gelegen. Dieser musste in aller Frömmigkeit wieder ausgegraben und mit einem seiner würdigen Schreine versehen werden. Die Goldschmiede, die Juweliere und Steinschneider machten sich emsig an die Arbeit, und nicht lange danach stand der Schrein, einer kleinen Kathedrale gleich, mit Portalen und vollständigem Turme, seinen ciselierten, goldenen Rahmenfüllungen aus Bergkrystall, fertig auf dem grossen Altar. Viele Bischöfe, mit Ludwig dem Heiligen selbst, von seiner Mutter begleitet, kamen an, um bei dem Suchen nach den heiligen Reliquien und ihrer Enterdigung gegenwärtig zu sein. In ihrer Gegenwart segnete der Bischof von Auxerre, zu Ehren der Reliquien in tiefrotem Gewande, den neuen Schrein, gemäss der Vorschrift, de benedictione capsarum pro reliquiis. Unter dem Fliesenboden des Chores, der inmitten eines brandenden Meeres dumpfer Gesänge entfernt wurde, enthüllte sich gleichsam ein Schlachtfeld vermodernder, menschlicher Überbleibsel. Ihr Geruch durchdrang merklich die dichten Wolken des Weihrauches, desselben, der in der Privatkapelle des Königs gebraucht wurde. Die Suche nach dem Heiligen selbst dauerte vergeblich den ganzen Tag lang bis spät in die Nacht hinein. Endlich zogen die rotbehandschuhten Hände des Bischofs aus einem kleinen schmalen Kasten, in dem die Überbleibsel fast zerdrückt worden waren, den dahingeschwundenen Körper, der unglaublich verschrumpft, aber dessen einzelne Gesichtszüge bei einem plötzlichen Strahle geisterhaften Dämmerlichtes immer noch deutlich erkennbar waren.

Nach einem heftigen Anfalle, gleichsam als ob ein Dämon ihn verliesse, während er auf dem Rasen des Klosters umherrollte, nach welchem er allein sich aus der stickigen Kirche geflüchtet hatte, – wo die Menge immer noch die Prozession der Reliquien und die Messe De reliquiis quae continentur in Ecclesiis erwartete, – schien dieser schreckliche Anblick thatsächlich den Wahnsinn Denys' geheilt zu haben, brachte aber gewiss seine Heiterkeit nicht zurück. Er blieb ein scheues, stilles, melancholisches Geschöpf. Indem er sich nun, mit einer seltsamen Umwälzung des Gefühls zu düsteren Gegenständen wandte, suchte er sich aus den Gebeinen auf dem Pflaster einen grausigen Fetzen, um ihn um den Hals zu tragen, und nach kurzer Zeit fand er seinen Weg zu den Mönchen von St. Germain, die ihn, wenn auch aus Furcht vor Feinden heimlicher Weise, so doch freudig in ihre Werkstätte aufnahmen.

Die geschäftige Schar verschiedenartig begabter Künstler, die in Hast an den mannigfachen Arbeiten zur Ausschmückung der Kathedrale St. Etienne schufen, machte gerade damals jene Klostergebäude heiter genug, um einen dem Trübsinn Verfallenen aufzumuntern, selbst in einem so schweren Falle als dem unseres Freundes Denys. Er wählte seinen Platz zwischen den Arbeitern als ein Kloster-Novize; Novize ebenfalls in jedem wirklichen Handwerk. Er konnte nur süssen Weihrauch für das Allerheiligste mischen. Und doch, wieder durch seine blosse sichtbare Gegenwart, machte er sich bemerkbar in all der um ihn statthabenden mannigfaltigen Ausübung jener Künste, die sich vor allem an das Auge wenden. Unbewussterweise setzte er, in Bezug auf Gefühl sowohl als auf Ausdruck, jenen geschickten Händen, die in manch einer dauernden Gestalt von ausgezeichneter Erfindung mit dem Stifte oder der Nadel an der Arbeit waren, eine besondere Manier fest. In drei aufeinander folgenden Phasen oder Moden können, besonders in den plastischen Arbeiten, die Stimmungen verfolgt werden, für welche er den Ton angegeben hatte. Da war zuerst eine wilde Fröhlichkeit, wuchernd in einem Gewinde naturgetreuer Gebilde, aus denen nichts, was in der Natur wirklich vorhanden, ausgeschlossen war. Diese war, so wie die Seele Denys sich verfinsterte, in die dunklen Sphären des Satirischen, des Grotesken und des Gemeinen übergegangen. Aber von dieser Zeit an wurde, ohne einen Verlust an Kraft oder Effekt, ein in sich selbst gefestigter, etwas eifersüchtiger und exklusiver Ernst offenbar, weniger in dem zur Verarbeitung gelangenden Material als in der präzisen Art des Ausdruckes, der erreicht werden sollte. Es war, als ob die heitere alte heidnische Welt in gewissem Sinne gesegnet worden wäre; am deutlichsten waren diese Wirkungen in dem reichen Miniaturen-Werke der Manuskripte der Kapitular-Bibliothek sichtbar – in einem prachtvollen Ovid besonders, auf dessen Seiten jene alten Liebschaften und jene alten Kümmernisse in mittelalterlichem Kostüme zu neuem Leben zu erwachen schienen, wie Denys, nun in Mönchskappe und Tonsur, sich über den Maler beugte und sein Werk, mehr durch eine Art sichtbarer, unausgesprochener Sympathie als durch eine förmliche Erläuterung, leitete.

Vor allem wurde überall der Wunsch laut nach den Instrumenten zur Ausführung einer freieren und mannigfacheren Kirchenmusik, als sie bis jetzt gebräuchlich gewesen war – einer Musik, die den ganzen Umfang der nun zur Reife erwachsenen Seelen auszudrücken vermöchte. Auxerre war, damals wie später, in der That wegen seiner liturgischen Musik berühmt. Denys war es endlich, der den Gedanken fasste, alle die damals gebräuchlichen Instrumente zu einem reicheren Strome zusammenzufassen. Dem alten Weingotte gleich, war er ein besonderer Liebhaber und Gönner der Holzblasmusik in allen ihren Formen gewesen. Auch hier waren jene drei Moden oder »Richtungen« bemerkbar: – erst die einfache und ländliche, der heimische Ton der Schalmeie, dem Pfeifen des Windes gleich, der von den fernen Feldern daherstreicht; dann das wilde, unbändige Getöse, das ruhige Leute so viel geplagt und erregbare Leute zum Wahnsinn getrieben hatte. Nun wollte er all das zu süsserem Zwecke vereinen; und der Bau der Orgel wurde gleich dem Buche seines Lebens: er dehnte sich aus zu dem vollen Umfange seiner Natur, in ihren Kümmernissen und Entzückungen. Während langer, genussreicher Tage voll Wind und Sonne suchte und fand der anscheinend halb geistesgestörte »Bruder« die notwendigen verschiedenen Arten von Schilfrohr. Die Zimmerleute errichteten unter seiner Leitung die grossen, hölzernen Gänge für den Donner, während die kleinen, aus Pappe gefertigten Pfeifen den Klang der menschlichen Stimme nachahmten, die zu den siegreichen Tönen der langen, ehernen Trompeten sangen. Auch dieses schien zu Zeiten den Leuten, die eine Nacht nach der andern diese irrenden Klänge hörten, das Werk eines Wahnsinnigen, obgleich sie manchmal aufwachten, verwundert über abgerissene Töne einer neuen, einer untrüglich neuen Musik. Es war der Triumph all der verschiedenen, in den Pfeifen schlummernden Tonkräfte, gezähmt, geregelt und vereinigt. Nur Apollo, auf den gemalten Rollläden des Orgelkastens als Gott der Musik, mit der Lyra in der Hand dargestellt, schien, mit all der Eifersucht, mit der er Marsyas so grausam hingerichtet, unmutig auf die Pfeifenmusik zu blicken.

Inzwischen schienen die Leute, selbst seine Feinde, ihn völlig vergessen zu haben. Feinde waren sie in der That noch immer, bereit sein Leben zu rauben, wenn die Gelegenheit dazu sich bieten sollte; er bemerkte dies, als er sich zum letzten Male, gelegentlich einer öffentlichen Ceremonie, herausgetraute. Der Bischof sollte den Grundstein einer neuen Brücke einsegnen, die dazu bestimmt war, die alte römische, an tausend Stellen reparierte Brücke zu ersetzen, welche bis dahin als Hauptübergang über die Yonne gedient hatte. Es war, als ob die Zerstörung dieses uralten Mauerwerkes die dunklen Geister vergangener Zeiten aufgestört hätte. Tief unten, im Innern des mittleren Pfeilers wurde ein peinlicher Gegenstand blossgelegt – das Skelett eines Kindes, das man, wie richtig angenommen wurde, lebendig dorthin gelegt hatte, in dem Aberglauben, dass durch diese stellvertretende Unterschiebung, sein Tod die Sicherheit aller derer, die über die Brücke gingen, verbürgen würde. Es gab einige, die sich etwas überrascht, gleichsam unwillkürlich, nach einem ähnlichen Bürgen ihrer Sicherheit bei ihrem neuen Unternehmen umsahen. Gerade da wurde Denys deutlich gesehen, wie er, in seinem ganzen Äusseren genau wie ehedem, auf einem der grossen Steine stand, die für die Grundlegung des neuen Baues bereitet waren. Einen Augenblick lang fühlte er die Augen des Volkes auf sich, voll jener seltsamen Laune, und nach einem rasch umfassenden Blicke über die graue Stadt in ihrem grünen Rahmen von Weinbergen, die man an dieser Stelle am besten sah, schwang er sich mit charakteristischer Gewandtheit in das Wasser hinab und verschwand den Blicken, wo der Fluss unter einer Reihe von Mühlen am schnellsten floss. Einige bildeten sich allerdings ein, sie hätten ihn in Sicherheit auf einem der grossen Kähne landen sehen, die mit Trauben beladen und einem schwimmenden Garten gleich, mit leuchtenden Blumenguirlanden geschmückt, den geernteten Wein vom Lande herunter brachten; aber die meisten Leute hielten ihren sonderbaren Feind nun endlich für immer verschwunden. Denys aber war wieder friedlich im Kloster bei der Arbeit an seinem Hause aus Rohr und Pfeifen. Manchmal bekam er wieder seine Anfälle. Und wenn sie kamen, begann er, um sich zu heilen, emsig zu graben; er war jetzt Küster geworden und grub vorzugsweise Gräber für die Toten in den verschiedenen Kirchhöfen der Stadt. Da waren welche, die ihn bei dieser Beschäftigung gesehen hatten, – jene Gestalt, die immer noch wie von wirklichem Sonnengold umflossen schien – wie er in die Dunkelheit starrte, während seine Thränen manchmal auf die grausigen Überbleibsel fielen, die seine Hacke aufgestört hatte.

In der That hatte er seit dem Tage der Ausgrabung des Heiligen in der grossen Kirche eine wunderbare Neugierde für solche Gegenstände, und an einem winterlichen Tage bedachte er sich, den Körper seiner Mutter aus dem ungeweihten Boden, in dem er lag, zu entfernen, damit er ihn im Kloster, nahe dem Platze, wo er jetzt zu arbeiten pflegte, begraben möchte. Im Zwielicht kam er über den gefrorenen Schnee. Als er die steinernen Schranken des Ortes passierte, schien die Welt um ihn bis ins Innerste erstarrt – bis auf ihn, der seinen Weg hindurchkämpfte, indem er sich dann und wann vor dem beharrlichen Winde drehte, der sein Blondhaar zerzauste und seinen purpurnen Mantel herumwirbelte. Die schnell aufgelesenen Knochen legte er, ehrfürchtig, aber ohne Ceremonie in einen hohlen Raum, den er heimlich in dem Grabe eines anderen vorbereitet hatte. Inzwischen waren die Winde seiner Orgel bereit, zu wehen; und mit Schwierigkeit erlangte er die Erlaubnis des Kapitels, ihre Kräfte bei einem bemerkenswerten öffentlichen Anlasse zu versuchen. Zur Belohnung für einen Dienst, den er dem Kapitel in vergangenen Zeiten geleistet hatte, besass der Sire de Chastellux die erbliche Würde eines Kanonikus der Kirche. An dem Tage seines Empfanges präsentierte er sich am Eingange zum Chore in Stola und Achselkleid des Messpriesters, die er über dem Waffenrocke trug. Der alte Graf von Chastellux war kürzlich gestorben, und der Erbe hatte sein Kommen angekündigt, um altem Brauche gemäss sein kirchliches Privilegium zu fordern. Die Häuser von Chastellux und Auxerre hatten sich lange befehdet; aber bei dieser günstigen Gelegenheit kam ein Friedensangebot zusammen mit einer Bewerbung um die Hand der Dame Ariane.

Der stattliche Jüngling traf ein und wurde zur Vesper, angethan mit den Abzeichen seiner Würde, unter dem Beistande des Bischofs in seinen Kirchenstuhl gewiesen. Da war es, dass die Leute, mit wechselnden Gefühlen des Entzückens, zum ersten Male die Musik der Orgel über sich brausen hörten. Aber der Spieler und Schöpfer des Instrumentes wurde über seinem Werke vergessen, und der ehemalige Liebling wurde nicht wieder eingesetzt. Der religiösen Feier folgte ein Volksfest, in dem Auxerre seinen zukünftigen Herrn willkommen hiess. Die Festlichkeit sollte bei Eintritt der Dunkelheit mit einem etwas rohen, volkstümlichen Festzuge enden, in dem die Person des Winters durch die Strassen gehetzt werden würde. Es war die Fortsetzung zu jenem früheren Theaterstücke der » Rückkehr aus dem Osten«, in dem Denys die Hauptperson gewesen war. Der alte, vergessene Spieler sah seine Rolle vor sich, und schickte sich wieder wie mechanisch, im Mönchskleid und Zubehör, in die Hauptrolle. Es konnte seine Beliebtheit wieder herstellen: wer weiss? Hastig legte er den aschgrauen Mantel an, das rauhe Rosshaartuch um die Kehle und ging durch die Vorbereitungen. Und es geschah, das eine Spitze des Rosshaartuches seine Lippe tief ritzte, so dass das Blut über sein Kinn rieselte. Es war, als ob der Anblick des Blutes die Zuschauer in eine Art wahnsinniger Wut versetzte und ihnen plötzlich die Wahrheit enthüllte. Die scheinbare Jagd auf das unheilige Geschöpf wurde zu einer wirklichen, die in rascher Steigerung die bösen menschlichen Leidenschaften entfesselte. Die Seele Denys war schon zur Ruhe eingegangen, als sein Körper, jetzt vor der Menge hergeschleppt, hierhin und dorthin geschleudert und endlich Glied für Glied zerrissen wurde. Die Männer steckten kleine Fetzen seines Fleisches oder in Ermangelung dessen, seines zerrissenen Gewandes an ihre Mützen, wozu die Frauen ihre Haarnadeln hergaben. –

Der Mönch Hermes suchte am nächsten Tage vergeblich nach Überbleibseln von dem Körper seines Freundes. Erst als die Nacht hereinbrach wurde ihm das Herz Denys', noch ganz, von einem Fremden gebracht.

Es muss nun schon lange in Staub zerfallen sein unter dem mit einem Kreuze bezeichneten Steine, wo er es in einer dunklen Ecke des Chorganges der Kathedrale begrub.

So erklärte sich die Gestalt in dem gemalten Glas. Für mich schien Denys wirklich ein Bewohner von Auxerre gewesen zu sein. An Tagen von einer gewissen Luftbeschaffenheit, wenn die Spuren des Mittelalters, gleich alten Zeichen in den Steinen bei Regenwetter, ans Tageslicht treten, glaubte ich thatsächlich die gemarterte Gestalt dort gesehen – Denys L'Auxerrois in den Strassen getroffen zu haben.


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