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Dreizehntes Kapitel.
Barnes reist nach dem Süden.

Barnes begann nun Nachforschungen nach der Vergangenheit Alphonse Thaurets anzustellen. Er machte den Dienstmann ausfindig, der das Gepäck des Franzosen bei dessen Ankunft nach dem Hotel Hoffman geschafft hatte, und erfuhr von diesem, daß Thauret etwa einen Monat vor dem Raub im Eisenbahnzug mit einem englischen Dampfer angelangt war. Sonderbarerweise aber wies die Liste der mit diesem gekommenen Reisenden seinen Name nicht auf, und da über das Schiff selbst kein Zweifel bestand, mußte entweder der Name Thauret angenommen sein, oder er war unter einem angenommenen gereist. Nachforschungen nach dem Namen Rose Mitchel waren ebenso fruchtlos, obgleich Barnes die Listen aller innerhalb zweier Monate vor dem Morde angekommenen Schiffe durchsah.

In der Annahme, daß Thauret mit Freunden im Auslande in Verbindung stehen müsse, richtete Barnes eine Ueberwachung der etwa für ihn ankommenden Briefe ein, was aber ebenfalls zu keinem Ergebnis führte, denn er erhielt anscheinend keine Briefe. Mit Geld schien er ausreichend versehen zu sein, da er seine Rechnung regelmäßig mit Checks auf ein nahe gelegenes Bankhaus bezahlte, und eingezogene Erkundigungen ergaben, daß er dort mehrere tausend Dollars gut hatte. So mußte sich Barnes nach einigen verlorenen Wochen also eingestehen, daß er weiter nichts entdeckt habe, als daß Thauret unter einem andern Namen über den Ozean gekommen sei, und selbst das war nur Vermutung.

Etwas erfolgreicher war Barnes in andrer Richtung gewesen, und zwar in Hinsicht auf den Aufenthalt des Kindes. Er hatte Lucette angewiesen, noch einmal nach dem Pensionat zu gehen und sich, wenn irgend möglich, eine Probe der Handschrift des Kindes zu verschaffen. Das war Lucette durch Bestechung des Mädchens gelungen. Mit einem alten Schulheft ausgerüstet, bestach Barnes den Kellner des Hotels der fünften Avenue, der die Post der dort Wohnenden zu besorgen hatte, und beauftragte ihn, alle an Mitchel einlaufenden Briefe genau anzusehen, bis er einen gefunden hätte, dessen Handschrift der ihm übergebenen Probe gleiche. Es wurde aber Ende März, bis seine Geduld belohnt wurde und der erwartete Brief eintraf. Der Poststempel zeigte, daß er in East Orange, New Jersey, aufgegeben war.

Nun ließ er Lucette wieder kommen und schickte sie nach East Orange.

»Ich will Ihnen eine Gelegenheit geben, sich meine Gunst wieder zu erwerben,« sprach er. »Sie sollen nach East Orange gehen und das Kind aufspüren. Ich weiß, daß es sich dort befindet. East Orange ist ein kleines Nest und hat nur wenige Häuser, und Sie müssen nötigenfalls jedes einzelne scharf aufs Korn nehmen. Nun reisen Sie, und wenn Sie mir das Kind nicht finden, kann ich Sie nicht mehr brauchen. Ich gebe Ihnen diesen Auftrag zum Teil, damit Sie Ihren frühern Fehler wieder gut machen können, zum Teil, weil Sie das Kind schon gesehen haben und es wieder erkennen werden.«

»Ich werde es finden,« antwortete Lucette und reiste ab.

Eine Woche später befand sich Barnes in New Orleans, wo er versuchte, die frühere Geschichte Mitchels und der ermordeten Frauensperson zu ermitteln; allein Wochen waren nun schon vergangen, ohne daß er den geringsten Fortschritt gemacht hatte.

Eines Morgens gegen Ende April saß er niedergeschlagen in seinem Zimmer und hielt gleichgültig eine Zeitung in der Hand, als sein Auge durch seinen Namen angezogen wurde und er folgendes las:

»Mr. Barnes, der bekannte Detektiv von New York, hält sich in unsrer Stadt auf und wohnt im Hotel St. Charles. Wie man sagt, soll er einem verzweifelten Verbrecher auf der Spur sein, und die Welt dürfte bald wieder durch eine der geschickten Enthüllungen des berühmten Detektivs überrascht werden.«

Das ärgerte Barnes und war ihm rätselhaft, denn er hatte niemand seinen wahren Namen genannt und konnte sich gar nicht erklären, wie ihm die Reporter auf die Spur gekommen waren. Während er noch darüber nachdachte, wurde ihm eine Karte mit dem Namen »Richard Sefton« gebracht. Er ließ den Herrn ersuchen, sich zu ihm zu bemühen, und bald darauf trat ein Mann mit dunkler Hautfarbe, schwarzem Haar und durchdringenden Augen ein.

»Ich glaube die Ehre zu haben, Mr. Barnes vor mir zu sehen,« sprach er mit einer höflichen Verbeugung.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Sefton,« erwiderte Barnes kalt, »und dann sagen Sie mir, weshalb Sie glauben, ich sei Barnes, während ich doch als James Morton im Fremdenbuch stehe.«

»Ich glaube nicht, daß Sie Mr. Barnes sind,« entgegnete der andre, sich gelassen setzend. »Ich habe mich da ungenau ausgedrückt; ich weiß, daß Sie Mr. Barnes sind.«

»So, das wissen Sie also, und woher, wenn ich fragen darf?«

»Weil es mein Geschäft ist, die Leute zu kennen; ich bin Detektiv, wie Sie, und bin gekommen, um Ihnen zu helfen.«

»Sie sind gekommen, um mir zu helfen! Das ist ja außerordentlich liebenswürdig. Aber da Sie so gewaltig schlau sind, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, woher Sie wissen, daß ich der Hilfe bedarf und in welcher Richtung.«

»Mit dem größten Vergnügen. Sie bedürfen der Hilfe – verzeihen Sie, daß ich das ausspreche – weil Sie mit einem Falle beschäftigt sind, wo die Zeit kostbar ist, und Sie haben schon etwa sechs Wochen verschwendet; ich sage: verschwendet, weil Sie noch nichts in Erfahrung gebracht haben, was Ihnen nützen kann.«

»Nützen? Wozu?«

»Sie sind nicht sehr entgegenkommend, Mr. Barnes, und es sollten doch zwischen uns gewisse kollegiale Beziehungen bestehen, denn ich komme als Freund zu Ihnen und wünsche Ihnen wirklich zu helfen. Schon seit einiger Zeit weiß ich, daß Sie in der Stadt sind, und habe auch schon früher von Ihnen gehört. Wer in unserm Berufe hätte das nicht? Deshalb habe ich einen Teil meiner freien Zeit dazu benützt, Sie zu beobachten, in der Hoffnung, etwas aus der Art Ihres Vorgehens zu lernen. So wurde ich mit der Thatsache bekannt, daß Sie sich erstens für den Namen Mitchel, und zweitens für den Namen Leroy interessieren. Ich habe diese beiden einfach zusammengestellt und bin zu dem Schlusse gelangt, daß Sie etwas über Leroy Mitchel in Erfahrung zu bringen suchen. Habe ich recht?«

»Ehe ich Ihnen antworte, Mr. Sefton, muß ich eine gewisse Gewähr dafür haben, daß ich es mit einem wirklich wohlmeinenden und verantwortlichen Manne zu thun habe. Woher soll ich wissen, daß Sie in der That Detektiv sind?«

»Da haben Sie ganz recht. Hier ist mein Amtszeichen; ich gehöre zur hiesigen Kriminalpolizei.«

»Soweit gut, aber wie können Sie mir beweisen, daß Sie mir helfen wollen?«

»Sie machen es einem aber schwer, Ihnen einen Gefallen zu erweisen! Was für einen andern Zweck als einen freundlichen soll ich denn haben?«

»Diese Frage zu beantworten, bin ich jetzt noch nicht im stande; vielleicht wird das später der Fall sein.«

»Nun, Sie werden sich schon davon überzeugen, daß ich es ehrlich meine, aber ich habe natürlich kein Recht, mich Ihnen aufzudrängen, und da Sie sagen, Sie bedürften meiner Hilfe nicht, so –«

»Das habe ich keineswegs gesagt, und Sie dürfen mich nicht für undankbar halten. Ich bin einfach Detektiv und aus Gewohnheit vorsichtig. Sie können nicht erwarten, daß ich mit einem Manne, den ich zum erstenmal im Leben sehe, gleich vertraulich spreche und ihm meine Zwecke enthülle. Bei Ihnen aber liegt die Sache anders. Sie müssen einen bestimmten Plan im Auge haben, wie Sie mir helfen können, sonst wären Sie nicht unaufgefordert hierher gekommen. Wenn Sie's ernstlich und ehrlich meinen, so sehe ich keinen Grund, weshalb Sie mir die Veranlassung Ihres Kommens nicht mitteilen sollten.«

»Gut, um Ihnen meine ehrlichen Absichten zu beweisen, will ich das thun. Ich glaube, Sie suchen einen gewissen Leroy Mitchel, und wenn das der Fall ist, so kann ich Ihnen sagen, wie Sie den in wenigen Stunden oder schlimmsten Falles ein paar Tagen finden können.«

»Sie kennen also einen Leroy Mitchel, der sich gegenwärtig hier aufhält?«

»Gewiß, er wohnt drüben in Algiers, wo er in den Eisenbahnwerkstätten arbeitet, und die einzige Schwierigkeit, ihn zu finden, liegt darin, daß er ein Trinker ist. Wenn er Geld hat, treibt er sich in den Kneipen umher und kommt oft tagelang nicht zur Arbeit.«

»Kennen Sie auch ein Frauenzimmer Namens Rose Mitchel?«

»Freilich, das heißt, ich habe einmal ein Frauenzimmer dieses Namens gekannt, aber sie ist jetzt schon seit Jahren aus New Orleans verschwunden. Es hat eine Zeit gegeben, wo Ihnen jedes Kind ihre Wohnung zeigen konnte, und ich sehe aus Ihren Fragen, daß der Mensch, den ich Ihnen genannt habe, der ist, den Sie suchen, denn er hat für den Mann des Frauenzimmers gegolten.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Unbedingt.«

»Wann und wo kann ich diesen Mann sprechen?«

»Er arbeitet in den Werkstätten der Louisiana- und Texasbahn drüben in Algiers, und Sie können ihn durch den Werkmeister ermitteln.«

»Vielleicht haben Sie mir Mitteilungen gemacht, Mr. Sefton, die wertvoll für mich sind, und dann wird es Ihr Schade nicht sein. Ich werde die Sache prüfen, und wenn ich Sie jetzt noch nicht vollständig ins Vertrauen ziehe, so müssen Sie das meiner Vorsicht und nicht meinem Mißtrauen zuschreiben.«

»O, ich nehme Ihnen das nicht übel, denn an Ihrer Stelle würde ich gerade so handeln. Aber Sie werden finden, daß ich es gut mit Ihnen meine, und Sie können auf meine Hilfe zählen. Bis Sie mich rufen lassen, werde ich Sie jedoch nicht wieder belästigen. Guten Morgen.«

Als Barnes allein war, begab er sich ohne Säumen nach Algiers, wo er sich den angeblichen Mitchel vom Werkmeister zeigen ließ. Der Mensch hatte ein konfisziertes Gesicht, und wenn er jemals den gebildeten Kreisen angehört hatte, so war er durch das Trinken so tief gesunken, daß in seinem Aeußern keine Spur mehr davon zu entdecken war. Barnes trat zu ihm und fragte ihn, wann er mit ihm sprechen könnte.

»Gleich,« sprach der Mann grob, »wenn Sie mich dafür bezahlen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Was ich sage,« antwortete der andre. »Wir werden nach der Zeit bezahlt, und wenn Sie meine Zeit in Anspruch nehmen, müssen Sie sie bezahlen.«

»Dann,« entgegnete Barnes, »will ich Sie für eine Arbeit annehmen und Ihnen doppelten Lohn für Ihre Zeit bezahlen.«

»Das läßt sich hören,« meinte der Mensch. »Wo sollen wir hingehen?«

»Ich denke, nach meinem Hotel.«

Als sie in Barnes' Zimmer angelangt waren, machte es sich sein Begleiter bequem, indem er sich auf einen Schaukelstuhl setzte und die Füße aufs Fensterbrett legte.

»Ich möchte ein paar Fragen an Sie richten. Wollen Sie mir antworten?«

»Das kommt darauf an, was es ist. Wenn es keine unverschämten Fragen sind, oder solche, wofür ich mehr als doppelten Lohn haben müßte, dann bin ich Ihr Mann.«

»Zunächst also, wollen Sie mir sagen, ob Sie ein Frauenzimmer gekannt haben, das sich Rose Mitchel nannte?«

»Na und ob! Ich habe mit ihr gelebt, bis sie mir durchgebrannt ist.«

»Wissen Sie, wo sie sich gegenwärtig aufhält?«

»Nein, und ich schere mich den Henker drum.«

»Wenn ich Ihnen nun sagte, daß sie tot ist und hunderttausend Dollars hinterlassen hat, worauf bis jetzt noch keine Ansprüche erhoben worden sind?«

Der Mann sprang auf, als ob er von einem Schuß getroffen wäre, und starrte den Detektiv an, dann stieß er ein leises Pfeifen aus und in seinem Auge erschien ein verschmitztes Leuchten, das Barnes nicht entging.

»Sprechen Sie die Wahrheit?« fragte er endlich.

»Selbstverständlich. Die Frau ist tot und das Vermögen liegt an einem Orte, wo ich es für den Mann, der mir den Beweis liefert, daß er ein Recht darauf hat, erheben kann.«

»Und wer wäre denn das?« Mit gierigen Blicken erwartete er die Antwort, und Barnes sah, daß er einen Trumpf ausgespielt hatte.

»Um das zu ermitteln, bin ich ja gerade hier, Mr. Mitchel. Sehen Sie, ich dachte, der Erbe würde mir eine hübsche Vergütung zahlen, wenn ich ihm die Erbschaft nachwiese, und deshalb suche ich nach ihm. Ich dachte, daß ich vielleicht den Mann der Verstorbenen finden könnte, der gewiß Ansprüche hat.«

»Aha,« meinte Mitchel, setzte sich nieder und schien in Gedanken versunken, während Barnes es für besser hielt, zu warten, bis der andre wieder spräche.

»Hören Sie mal,« rief dieser endlich, »wie viel verlangen Sie, wenn Sie mir das Geld verschaffen?«

»Ich kann es Ihnen gar nicht verschaffen, wenn Sie nicht der Ehemann der Verstorbenen sind,« erwiderte Barnes.

»Nun, der bin ich. Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich hätte mit ihr gelebt, bis sie mir durchgebrannt ist?«

»Ja, mit ihr gelebt! Waren Sie aber auch richtig mit ihr verheiratet?«

»Selbstverständlich. Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich sei ihr Ehemann?«

»Dann verhafte ich Sie im Namen des Gesetzes,« sprach Barnes, plötzlich aufspringend und vor den andern tretend.

»Mich verhaften?« rief der Mensch aus und fuhr, bleich vor Angst, ebenfalls empor. »Weshalb?«

»Rose Mitchel ist ermordet worden, und der Thäter hat gestanden, daß er von Ihnen gedungen worden sei.«

»So 'n verdammter Lügner!«

»Um Ihretwillen hoffe ich, daß er das ist, aber wir suchen nach dem Ehemann, und Sie haben zugegeben, daß Sie das sind. Ich muß Sie mit nach New York nehmen.«

»Aber hören Sie 'mal,« rief der Kerl, der jetzt gründlich geängstigt war, »da habe ich einen schönen Unsinn angestellt. Ich habe Ihnen was vorgelogen, ich bin gar nicht der Ehemann und mein Name ist gar nicht Mitchel.«

»Das zieht nicht, Freundchen; Sefton, der Detektiv, hat Sie mir gezeigt.«

»Aber der hat mich ja gerade bezahlt, daß ich mich Ihnen gegenüber als Mitchel ausgeben sollte.«

Barnes lachte leise vor sich hin, als er merkte, daß seine List so gut gelungen war. Er hatte gleich den Verdacht gehabt, daß Sefton ihn auf eine falsche Spur bringen wollte, und nun sah er, wie er den Spieß umkehren und gleichzeitig wertvolle Nachrichten erlangen konnte.

»Das ist eine sehr fadenscheinige Ausrede,« sprach er, »aber wenn Sie mir alles offen sagen, kann ich Ihnen vielleicht glauben.«

»O, Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihnen alles offen sagen werde, um aus dieser verfluchten Patsche zu kommen. Also ich heiße in Wahrheit Arthur Chambers und war einstmals vermögend und angesehen, aber das verdammte Saufen! Jetzt kann mich jeder für ein paar Dollars kaufen, und das hat Sefton gethan. Er kam vor etwa einer Woche zu mir und sagte mir, es sei ein Detektiv aus dem Norden hier und schnüffle nach einem gewissen Mitchel hier herum. Dem sollte eine Nase gedreht werden, sagte Sefton, er hätte dazu den Auftrag von einem Herrn in New York, dem daran liege, daß dieser Barnes – der sind Sie ja wohl – hier aufgehalten würde.«

»Sie sagen also, Sefton habe Ihnen mitgeteilt,« unterbrach ihn Barnes, »er sei von jemand in New York beauftragt worden, mich auf eine falsche Spur zu bringen?«

»Ja, das hat er gesagt,« erwiderte Chambers. Wer Sefton in seine Dienste genommen hatte, war für Barnes nicht schwer zu erraten, und wiederum konnte er nicht umhin, die Schlauheit und Umsicht Mitchels zu bewundern.

»Fahren Sie fort,« sprach er zu Chambers.

»Ich habe nicht mehr viel zu sagen. Sefton mietete mich, diesen Mitchel zu spielen, und hat mir eine lange Geschichte über ein Frauenzimmer Namens Rose Mitchel eingetrichtert, die ich Ihnen erzählen sollte.«

»Was war das für eine Geschichte?«

»Hören Sie 'mal,« entgegnete Chambers, dessen Zuversicht und Durchtriebenheit zurückkehrten, je mehr er sich außer Gefahr fühlte, »mit dem Märchen ist Ihnen doch nichts gedient; Sie werden die wahre Geschichte wohl lieber hören.«

»Natürlich.«

»Ja, sehen Sie, ich bin einer aus der alten Zeit, und es sind nicht viele Dinge in New Orleans vorgefallen, deren ich mich nicht entsinnen könnte, wenn ich dafür bezahlt würde.«

»Hören Sie, Freundchen, Sie haben es jetzt nicht mit Sefton zu thun. Sie sagen mir, was Sie wissen, und wenn ich finde, daß es mir etwas wert ist, werde ich Sie dafür bezahlen; wenn Sie mir aber dumme Streiche machen, dann werde ich Ihnen einheizen, das lassen Sie sich gesagt sein.«

»Na, wenn's denn also nicht anders sein kann, dann los damit. Es wird wohl am besten sein, wenn ich damit anfange, Ihnen zu sagen, daß dieses Frauenzimmer, das, wie Sie erzählen, ermordet worden ist, hier unter dem Namen Rose Montalbon, oder ›La Montalbon‹, wie sie meist genannt wurde, bekannt war.«

»La Montalbon?« wiederholte Barnes. »War sie denn Schauspielerin?«

»Schauspielerin? Na, ich meine denn, beträchtlich, wenn auch nicht auf der Bühne. Nein, sie hielt eine Spielhölle in der Royalstraße, ausgestattet wie ein Palast, und mancher junge Esel hat da seinen letzten Heller verloren.«

»Was hat das mit Mitchel zu thun? Wissen Sie, ob er mit ihr in irgend einer Weise zusammenhing?«

»Ganz genau kann ich Ihnen das nicht sagen, es steckte ein Geheimnis dahinter. Ich bin auch oft in der Royalstraße gewesen und habe Mitchel in einer gewissen Weise gekannt, denn er trieb sich immer da herum. Dann war er einmal eine Zeit lang verschwunden, und als er wieder auftauchte, wurde er als der Mann der Montalbon eingeführt. Es war damals ein Gerücht im Umlauf, er habe ein andres Mädchen geheiratet und dann verlassen, eine junge Kreolin, aber den Namen habe ich nie gehört.«

»Wissen Sie etwas von einem Kinde, einem Mädchen?«

»Das war auch so eine sonderbare Geschichte. Es war ein kleines Mädchen vorhanden, die kleine Rosy, und einige meinten, sie wäre das Kind der Kreolin, aber La Montalbon hat stets behauptet, es wäre ihr eigenes Kind.«

»Was ist aus Mitchel geworden?«

»Etwa ein Jahr, nachdem er als Mann der Montalbon vorgestellt worden war, verduftete er – und ein paar Jahre später gab es neues Aufsehen: das Kind wurde entführt. La Montalbon schrieb eine große Belohnung aus, aber sie hat es nie wiedergesehen. Ungefähr drei Jahre danach fingen ihre Geschäfte an, schlecht zu gehen, und schließlich ist auch sie verschwunden.«

»Wenn diese Geschichte wahr ist, kann sie von großer Wichtigkeit sein. Glauben Sie, daß Sie diesen Mitchel wiedererkennen würden?«

»Das kann ich so bestimmt nicht behaupten, um so mehr, als es mir einfällt, daß es zwei Mitchels gegeben hat, und beide hießen Leroy.«

»Sind Sie dessen sicher?« fragte Barnes erstaunt.

»Ziemlich. Sie waren Vettern. Der andre war jünger, und ich habe ihn nicht persönlich gekannt. Er war so 'ne Art Christlicher-Jünglingsvereins-Mensch, und das ist nicht meine Sorte, ich erinnere mich jedoch gehört zu haben, daß er in eine junge Kreolin verliebt gewesen sei. Ich könnte Ihnen aber wohl jemand nennen, der alles weiß.«

»Und wer ist das?«

»Ein alter Herr Namens Neuilly. Er hat die Familie der jungen Kreolin genau gekannt, und muß auch das Nähere über Mitchel wissen. Ich glaube, er war in der Gewalt der Montalbon, die etwas über ihn wußte und ihn angezapft hat, wie viele andre. Jetzt, wo sie tot ist, wäre er vielleicht zum Sprechen zu bringen.«

»Gut, verschaffen Sie mir seine Adresse, und dann sehen Sie zu, was Sie über den andern Mitchel, den Musterknaben, ermitteln können, namentlich, was aus ihm geworden ist. Ich werde Sie gut bezahlen, aber lassen Sie Sefton nicht merken, daß Sie nicht mehr für ihn arbeiten.«

»Nein, jetzt gehöre ich Ihnen. Sie haben Sefton im Verdacht gehabt und Ihre Karten so gut gespielt, daß Sie mir die Würmer aus der Nase gezogen haben, nun bin ich Ihr Mann. Guten Morgen.«

Am folgenden Tage machte Barnes Mr. Neuilly seinen Besuch. Der hochbejahrte Herr empfing ihn mit einer gewissen altmodischen Höflichkeit und fragte ihn nach seinen Wünschen, aber Barnes wußte anfänglich nicht, wie er beginnen sollte.

»Ich bin hierher gekommen, Mr. Neuilly,« sprach er endlich, »um Ihre Hilfe im Dienste der Gerechtigkeit zu erbitten. Lange habe ich Anstand genommen, Ihnen lästig zu fallen, und wenn ich das jetzt doch thue, geschieht es, weil mir nichts andres übrig bleibt.«

»Bitte, sprechen Sie,« entgegnete der Hausherr.

»Ich suche Auskunft über ein Frauenzimmer zu erlangen, das unter dem Namen Montalbon bekannt –«

Eine plötzliche Veränderung trat in Neuillys Zügen ein, und das gastliche Lächeln verschwand.

»Ueber dieses Frauenzimmer weiß ich gar nichts,« sprach er in kaltem Tone, indem er sich erhob und der Thür zuschritt. Barnes war einen Augenblick verblüfft, sah aber ein, daß er rasch handeln müsse, wenn er nicht jede Aussicht, von diesem Herrn etwas zu erfahren, verlieren wollte.

»Einen Augenblick, Mr. Neuilly!« rief er hastig: »Sie werden sich gewiß nicht weigern, den Mörder der Frau überführen zu helfen.« Diese Worte hatten die erwartete Wirkung.

»Mörder? Wollen Sie damit sagen, daß sie ermordet worden ist?« fragte Neuilly, sich umwendend und wieder Platz nehmend.

»Rose Montalbon ist vor einigen Monaten in New York ermordet worden, und ich glaube jetzt ihrem Mörder auf der Spur zu sein. Wollen Sie mir dabei behilflich sein?«

»Das kommt auf die Umstände an. Sie sagen, das Frauenzimmer sei tot, und das ändert meine Stellung zu der Sache sehr erheblich. Ich hatte gute, wenigstens für mich gute Gründe, mit Ihnen nicht über die Dame zu sprechen, aber wenn sie tot ist, fallen diese weg.«

»Was ich von Ihnen erfahren möchte, Mr. Neuilly, ist sehr einfach. Haben Sie einen Mann Namens Leroy Mitchel gekannt, der der Mann dieses Frauenzimmers gewesen sein soll?«

»Den habe ich sehr wohl gekannt, und er war ein in der Wolle gefärbter Schurke, wenn er auch das Benehmen eines gebildeten Mannes hatte.«

»Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«

»Nein, er hat New Orleans plötzlich verlassen und ist nie zurückgekehrt.«

»Haben Sie die kleine Rose Mitchel gekannt?«

»Ach wie oft hat sie mir auf den Knieen gesessen! Dieser Mensch war ihr Vater; er hat eines der süßesten Mädchen hintergangen, die je gelebt haben.«

»Haben Sie dieses Mädchen jemals gekannt? Wissen Sie ihren Namen?«

»Ja.«

»Wie hieß sie?«

»Das ist ein Geheimnis, das ich zu viele Jahre bewahrt habe, um es einem Fremden preiszugeben. Sie müßten sehr gewichtige Gründe vorbringen, wenn ich ihn nennen sollte.«

»Ich will Ihnen die Sache erklären. Dieser Mitchel ist gegenwärtig in New York und im Begriffe, eine sehr liebenswürdige junge Dame zu heiraten, und außerdem glaube ich, daß er die Rose Montalbon oder Mitchel ermordet hat, um sie zu beseitigen, denn sie hat Geld von ihm erpreßt. Er hat auch das Kind bei sich.«

Neuilly fuhr in die Höhe und ging einigemal aufgeregt im Zimmer hin und her.

»Sie sagen, er habe die Kleine bei sich?«

»Ja, hier ist ihr Bild.« Barnes überreichte Neuilly die von Lucette aufgenommene Photographie.

»Sehr ähnlich, sehr ähnlich,« murmelte Neuilly und verfiel dann in Schweigen.

»Sie sagen, er habe dieses Frauenzimmer, die Montalbon ermordet?« fragte er endlich.

»Ja, das glaube ich.«

»Es wäre gräßlich, den Vater dieses Kindes an den Galgen zu bringen. Welche Schande! Welche Schande! Aber Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit!« Er schien mehr mit sich selbst als mit Barnes zu sprechen, wandte sich aber plötzlich diesem zu.

»Ich kann Ihnen den Namen, den Sie verlangt haben, nicht nennen,« sprach er, »aber ich will mit Ihnen nach New York reisen, und wenn Ihre Geschichte wahr ist, dann will ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, damit Gerechtigkeit geschehe. Der Schurke darf nicht noch ein junges Leben zu Grunde richten.«

»Gut!« rief der Detektiv sehr erfreut über das Ergebnis seines Besuches. »Noch eins, Mr. Neuilly,« setzte er hinzu. »Was wissen Sie über das Vorhandensein eines zweiten Leroy Mitchel?«

»Ich habe ihn nie gesehen, wohl aber von ihm gehört. Es bestand da ein Geheimnis, das ich nie habe durchdringen können, aber ich glaube, er hat dasselbe Mädchen geliebt. Jedenfalls hat er kurz nach ihrem Tode den Verstand verloren und befindet sich gegenwärtig in einem Irrenhause. Der kann uns nichts helfen.«

Nachdem Barnes mit Neuilly die nötigen Verabredungen wegen der Abreise getroffen hatte, kehrte er in seinen Gasthof zurück, wo Chambers ihn erwartete.

»Nun,« sprach der Detektiv, »was' haben Sie ermittelt?«

»Nichts, was Ihnen große Freude machen wird; ich habe nur den andern Mitchel gefunden. Er befindet sich in einem Irrenhause in der Vorstadt; aber der im Norden, das ist sicher ihr Mann. Dieser hier ist verrückt geworden, weil sein Schatz ihm den Laufpaß gegeben hat.«

»Haben Sie den Namen des jungen Mädchens in Erfahrung gebracht?«

»Nein, das war unmöglich. Er wird so sorgfältig verborgen gehalten, als ob's ein Staatsgeheimnis wäre. Ja, ja, diese Kreolen haben einen unbändigen Stolz.«

»Gut. Ich glaube, Sie haben ehrlich für mich gearbeitet. Hier haben Sie einen Hundertdollarschein. Sind Sie damit zufrieden?«

»Vollkommen. Ich wünsche Ihnen Glück.«

Eine halbe Stunde später wurde Barnes ein Telegramm überreicht, das die Worte enthielt:

»Kind gefunden.

(gez.) Lucette.«

Am Nachmittag reiste Barnes in Begleitung des Mr. Neuilly nach New York ab, und am selben Abend erhielt Mitchel eine Drahtbotschaft folgenden Inhalts:

»Vorsicht! Barnes mit altem Neuilly nach New York abgereist.

(gez.) Sefton.«

Nachdem Mitchel dies gelesen hatte, kleidete er sich an, benutzte das Telegramm zum Anzünden seiner Cigarette und ging mit seiner Braut in die Oper.


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