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Siebentes Kapitel.

Seit den vierzehn Tagen, die er in Ars war, hatte Baudoin zu seinem Befremden beobachtet, daß Marcels gelassene Ruhe einer außerordentlichen Unruhe gewichen war. Der junge Mann, der anfangs den größten Teil des Tages im Laboratorium mit Arbeit oder mit Träumen zugebracht hatte, fing plötzlich an, gleich nach dem Frühstück auszugehen, um vor Abend oder sinkender Nacht nicht heimzukommen. Das Laboratorium war verödet, Cardez Alleinherrscher in den Werkstätten. Ein noch bedeutsameres Anzeichen war, daß Marcels Erscheinung sich verwandelt hatte, wie seine Lebensgewohnheiten. Keine Lodenjoppe, kein weicher Filzhut, keine derben Schuhe mehr, dagegen eine zwar einfache, aber sorgfältig berechnete Eleganz. Sogar sein Gesicht war anders geworden: die Augen leuchteten, die Lippen waren voll Frisch,: und Beweglichkeit, selbst die Stimme klangvoller, und Baudoin sagte sich bald: »Dahinter steckt eine Frau!«

Er hatte ja diese Anzeichen bei seinem General kennen gelernt! Er kannte die Anspannung der Nerven, die erhöhte innere Wärme, die in jeder einzelnen Bewegung zum Ausdruck kommt: er mußte, was dieses leise, vergnügte Vorsichhinpfeifen, der dröhnende Schritt voll gesteigerten Selbstgefühls, die eroberungslustige Haltung besagen wollten! Ja, ja, es war eine Frau! Daran war gar nicht zu zweifeln, und nun legte sich Baudoin auf die Lauer. Wo zum Kuckuck hatte denn sein Herr in diesem weltfernen Nest die Gelegenheit aufgetrieben, in Flammen zu geraten? Das mußte mit Klugheit erforscht werden.

Baudoin hatte schon länger die Bekanntschaft des Wirts vom Goldenen Löwen gemacht, eines einstigen Kochs, jetzt Inhaber des ersten Gasthofs von Ars, der gedient hatte und am Sonntag ein blau und gelbes Bändchen im Knopfloch trug, das er sich in Tonkin geholt hatte. Baudoin konnte leicht einen Bitteren bei ihm trinken und sich den Stadtklatsch erzählen lassen. Er fragte dabei, ob Fremde in der Gegend seien, ob er selbst neue Gäste habe, ob auch hübsche Frauen in der Stadt zu treffen seien.

Der Wirt gab ihm auf alle Fragen bündigen Bescheid, und Baudoin wußte bald, daß nichts, was im Goldenen Löwen oder in den anderen Wirtshäusern aus und ein ging im Verdacht stehen konnte, Marcel Baradier zu beunruhigen. Die ausschweifendste Phantasie hätte keiner dieser Damen so etwas zutrauen können! Der Goldene Löwe beherbergte zwar jetzt vier Familien, aber alle miteinander hatten kein Familienglied aufzuweisen, das jemand hätte den Kopf verdrehen können, und das Städtchen hatte noch keine Erscheinung gesehen, die anziehend genug gewesen wäre, den Sohn des Hauses Baradier Graff zu fesseln. Man mußte sich also in der Umgegend umsehen.

»Die Villa am Wald droben,« sagte der Wirt, »ist jetzt auch bewohnt. Ein junger Herr und eine Dame sind eingezogen. Beide sind in tiefer Trauer, kommen nie ins Städtchen und leben ganz zurückgezogen. Ein paarmal haben sie den Wagen bestellt, um Ausflüge zu machen. Die junge Dame ist noch gar nie nach Ars hereingekommen, und ich könnte Ihnen wahrhaftig nicht sagen, ob sie schön oder häßlich ist. Mein Kutscher, der die beiden fuhr, sagt, sie seien sehr traurig, sehr höflich und sagten »Sie« zu einander, er meint aber, sie seien Bruder und Schwester. Jedenfalls sind es keine Franzosen.«

Mehr konnte Baudoin nicht erfahren, aber es genügte auch, und er nahm sich vor, die Spaziergänge seines Herrn und deren Ziel aus der Ferne zu verfolgen. Daß die junge Dame betrübt war und Trauer trug, erschien ihm als kein genügender Abschreckungsgrund für Verliebtheit, im Gegenteil! Gegen Leute, die Bruder und Schwester und obendrein Ausländer waren, hatte Baudoin von vornherein ein gewisses Mißtrauen.

»Ich kann Ihnen etwas Neues erzählen von den Leutchen in der Villa,« sagte sein Freund am Tag darauf. »Der junge Herr ist heute früh abgereist. Er hat einen Wagen verlangt, um nach der Bahn zu fahren; mein Kutscher, der das Gepäck aufgeben mußte, sagt, es sei nach Paris eingeschrieben worden. Die junge Dame ist also jetzt allein.«

Baudoin beobachtete, daß sein Herr an diesem Tag noch später heimkam als sonst, und an dem Rock, den Marcel ablegte, entdeckte er Spuren von Moos, als ob sein Träger im Wald gelegen hätte. Am anderen Tag ging Marcel gegen zwei Uhr aus. Baudoin, der schon alle Vorbereitungen zur Ueberwachung getroffen hatte, war vor ihm weggegangen und hatte sich im Gärtchen einer kleinen Kneipe vor dem Thore niedergelassen, wo er die Straße, die von Ars zum Wald von Bossicant hinaufführte, weithin überblicken konnte. Nach einer halben Stunde sah er seinen Herrn, den Stock unterm Arm, in grauem Sommeranzug mit Handschuhen und Strohhut rüstig ausschreitend vorübergehen. Er sah blühend aus und seine Augen leuchteten.

»Du suchst deine Liebste, mein Freund!« dachte Baudoin, »Zum Botanisieren würdest du nicht so beschwingt hinschreiten!«

Er ließ ihn einen ansehnlichen Vorsprung gewinnen und schlug dann den nämlichen Weg ein. Wirklich ging Marcel in die Villa. Vor acht Tagen war er Frau von Vignola vorgestellt worden und seit dieser Zeit hatte sich sein ganzes Leben umgestaltet. Er hatte weder seine Chemie, noch die Fabrik, noch die Seinigen im Kopf. Außer der entzückenden Italienerin war für ihn nichts mehr auf der Welt. Wenn der Onkel Graff seinen Neffen gesehen hätte, würde er geseufzt haben: »Wieder einmal ins Garn gegangen!« denn er kannte den Fieberzustand zur Genüge, der Marcel unfähig machte, an etwas anderes zu denken, als an seine Schöne, und fähig zu jeder Thorheit, um in ihren Besitz zu gelangen.

Eine besondere Erscheinungsform der Liebe bei diesem entzündbaren jungen Mann war die umsichtige Zähigkeit, womit er seine Eroberungen betrieb. Er war Ingenieur und Mathematiker auch in der Leidenschaft; er übersah keinen Vorteil, nützte jede Möglichkeit aus, um vorwärts zu kommen, und betrieb das Hofmachen nach allen Regeln der Belagerungskunst.

»Das Schöne an der Sache ist,« pflegte der Onkel Graff zu sagen, »daß er über jeder neuen Liebe die vorangegangenen vollständig vergißt. Er kann ehrlich schwören, daß die jeweilige Dame die schönste der ganzen Welt und die einzige sei, die er je angebetet habe.« Diese Gattung von Verliebten ist die gefährlichste, denn bei ihr nimmt die Illusionsfähigkeit nicht ab und die Erinnerung früher begangener Thorheiten schützt sie nie davor, neue zu begehen.

Frau von Vignola hatte nur einen halben, unter den Augen des »Bruders« verlebten Tag gebraucht, um sich des jungen Mannes vollständig zu bemächtigen. Sie hatte sich bei dieser Gelegenheit so lieblich und sittsam, so keusch und einschmeichelnd gegeben, daß selbst Cesare, der die Leistungsfähigkeit der hochbegabten Schauspielerin doch ermessen konnte, geradezu verblüfft gewesen war. Die Kunst der Täuschung auf diese Höhe getrieben, wird zur Genialität, und der schöne Italiener, dem große ästhetische Genußfähigkeit innewohnte, hatte das Verfahren seiner angeblichen Schwester mit Bewunderung verfolgt. Die zwei Stunden, die Marcel in der Villa zubrachte, waren ihm wie ein Traum verflogen, und er hatte sich anstandshalber empfehlen müssen, als er kaum angekommen zu sein glaubte.

Frau von Vignola hatte sich freilich auch auf die Bitte ihres Bruders ans Klavier gesetzt und mit einer tiefen, ergreifenden Stimme, als echte große Künstlerin dalmatinische Volkslieder vorgetragen. Marcel, der sehr musikalisch war, hatte alsbald die Begleitung übernommen und ihr alle Noten, die er in Ars hatte, zur Ausfüllung der einsamen Abende zur Verfügung gestellt. Auf seine Bitte hatte Cesare die Abreise ein wenig aufgeschoben, und man hatte am Nachmittag darauf einen gemeinsamen Ausflug in die Wälder von Bossicant unternommen, war auf schmalen sonnigen Pfaden gewandelt, hatte die frische Luft der Berghöhe eingeatmet und sich, vertraulich plaudernd, unter den Bäumen gelagert.

»Sehen Sie, wie gut ihr die Zerstreuung bekommt,« hatte Cesare am Abend heimlich zu Marcel gesagt, indem er ihn auf die rosig angehauchte Haut der Schwester aufmerksam machte. »Ach, wenn sie nur jeden Tag auf ein paar Stunden ihre traurigen Gedanken loswerden könnte, dann würde sie bald wieder gesund genug sein, um sie ganz zu verabschieden!«

»So reisen Sie doch nicht ab! Bleiben Sie bei ihr!«

»Ach, ich bin's nicht, der ihr Zerstreuung verschafft,« warf der schöne Italiener hin, schien aber die Aeußerung selbst unvorsichtig zu finden, denn er setzte rasch hinzu: »Fremde wirken ja immer glücklicher ein auf Gemütskrankheiten, als Angehörige, die immer um uns sind und selbst darunter leiden.«

»Aber eigentlich krank ist ihre Frau Schwester doch nicht! Sehen Sie nur, wie leicht und elastisch sie vor uns hergeht.«

»Ja, so lang die Nervenerregung vorhält. Heute abend wird der Rückschlag eintreten, eine derartige Erschöpfung und Schwermut, daß ich ihr kein Wort mehr entlocken kann.«

»Wenn Sie mir das Recht dazu erteilen und Ihre Frau Schwester es mir gestatten wollte, würde ich ihr mit größtem Vergnügen Gesellschaft leisten.«

»Wie danke ich Ihnen diese Güte!« rief der Italiener, Marcels beide Hände mit Ueberschwänglichkeit schüttelnd. »Allein Sie muten sich zu viel zu ... die arme Anetta würde Ihre Geduld auf eine harte Probe stellen! Sie ist ein launisches Kind ... Sie kennen sie noch nicht ...«

Sie konnten nicht weiter reden, denn Frau von Vignola, die voraus gegangen war, blieb plötzlich stehen und sah sich nach den beiden Herren um.

»Wird hier eine Verschwörung angezettelt?« fragte sie mit einem durchdringenden Blick.

»Der Graf Cesare tritt mir für die Zeit seiner Abwesenheit seine brüderliche Gewalt ab,« erwiderte Marcel fröhlich, »und macht mich für Ihren Gemütszustand verantwortlich. Ich habe also von morgen an Aufsicht zu führen über Ihre Stimmungen, und deshalb müssen Sie sich meiner Tyrannei unterwerfen.«

Ihr Gesicht war sehr ernst, als sie mit der tiefen, einnehmenden Stimme erwiderte: »Er hat recht, man darf mich nicht mir selbst überlassen! Sobald ich allein bin, kommen die schwarzen Gedanken und mein Kopf arbeitet bis zum Zerspringen ... seien Sie mir ein Freund! Cesare wird so bald als möglich zurückkommen, dann können wir wieder durch die Wälder streifen ... einstweilen besuchen Sie mich in der Villa, wo Sie immer willkommen sein werden.«

Nun war der Graf abgereist, und Marcel ging, wie ihm geheißen worden war, in die Villa. Je näher er dem Haus kam, desto mehr beschleunigte er den Schritt. Er beeilte sich so, daß ihm das Blut in die Wangen stieg, er hätte Flügel haben mögen, um die seiner Harrende früher zu erreichen. Ein paar Schritte von der Villa hielt er jedoch plötzlich im Laufen inne; er hatte aus der Ferne schon Frau von Vignolas Stimme gehört, die sich über dem einsamen Garten hinschwang. Die Fremde sang in ihrem Wohnzimmer, dessen Fenster offen standen, und die Kunst und tiefe Empfindung, womit sie das leidenschaftliche Liebeslied betonte, riefen in Marcel ein Gefühl brennender Eifersucht wach. Es war die Kantilene aus den »Zigeunern« von Marackzy, dem großen ungarischen Künstler, der im Vollbesitz seines Talents und Ruhms an gebrochenem Herzen starb.

»Komm an mein duftend Lippenpaar
Im Welken erbebende Rose;
Von Liebesthränen feucht und schwer
Pflücke den Kuß, dessen Flamme
Lodernd mein Herz mit dem deinen vereint, Daß wir ...

Der Gesang brach jählings ab, wie von Schluchzen erstickt. Es war Marcel, als ob das Herz der Sängerin selbst zerrissen würde von einem geheimnisvollen Weh, und nicht länger an sich haltend, stürzte er durch den Garten ins Haus. Frau von Vignola saß noch am Klavier; das schöne blonde Haupt in die Hände gelegt, weinte sie bitterlich. Bei diesem Anblick entfuhr Marcel ein Schmerzenslaut, der die junge Frau auffahren ließ. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie beschämt wäre, in dieser Verfassung überrascht worden zu sein, und streckte ihm die Hand entgegen.

»Verzeihen Sie ... ich sollte nie singen, wenn ich allein bin ... diese Melodieen wecken zu schmerzliche Erinnerungen und bringen mich um alle Fassung ...«

»Mein Gott ... sprechen Sie sich doch aus ... erleichtern Sie Ihr Herz ... oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?«

»Nein, nein! Verlangen Sie das nicht!«

Sie schloß das Klavier und zwang sich zu einer heiteren Miene.

»Wir wollen überhaupt gar nicht von mir reden, dagegen von Ihnen.«

Sie sah ihn jetzt erst recht an und fuhr mit liebevollem Vorwurf fort: »Wie erhitzt Sie sind! Sie sind zu schnell gegangen, und der Weg ist so furchtbar steil! Wenn Sie nicht vernünftiger sind, werde ich Sie auch zanken müssen. Bleiben wir nicht im Zimmer, es ist hier zu kühl für Sie, gehen wir lieber in den Garten.«

Gehorsam folgte er ihr und sie gingen auf den schmalen Kieswegen hin und her, um sich dann unter blühendem Fliedergesträuch niederzulassen und in seinem duftenden Schatten über alles Mögliche zu sprechen, nur nicht über das, was ihre Gedanken erfüllte.

Baudoin hatte mittlerweile seinen Herrn nicht aus den Augen verloren, und sobald Marcel in die Villa getreten war, hatte er sich mit Vorsicht nähergeschlichen. Frau von Vignolas Gesang hatte kurz nach Marcels Erscheinen aufgehört, Baudoin hatte deshalb nichts davon vernommen. Er hütete sich wohl, offen am Haus vorüberzugehen, sondern schlug einen kleinen Fußweg ein, der längs der Gartenmauer aufwärts führte zu einem mit großen Bäumen bestandenen Vorsprung des Hügelrückens, Im Schutz des Dickichts stieg Baudoin hinauf und von oben, durch einen Busch gedeckt, konnte er den größten Teil des Gartens überblicken. Das Fliedergebüsch, in dessen Schatten Anetta und Marcel plauderten, stand unmittelbar am Fuß seines erhöhten Beobachtungspostens, und die beiden Gestalten, die ihm den Rücken zukehrten, waren keine dreißig Meter von ihm entfernt.

»Wer das verdammte Frauenzimmer nur sein mag?« überlegte Baudoin. »Sie ist kohlschwarz angezogen, scheint aber jung zu sein, und die Figur ist reizend. Herr Marcel muß doch eine Spürnase haben wie ein Fuchs; der wittert auch die jungen Hühner. Kaum daß in diesem gottverlassenen Nest, noch ehe die Badegäste eingerückt sind, eine Schürze auftaucht, ist er wie der Habicht darauf los! Scheint schon ganz zu Hause hier, und doch ist's kaum acht Tage her, daß die ersten Anzeichen zu merken waren. Der junge Mann vertrödelt seine Zeit nicht ... oder sollte man ihm den Zugang leicht gemacht haben und die Förmlichkeiten abgekürzt? Was hat denn die landfremde Person überhaupt hier zu suchen und wie kommt sie dazu, gleich mit Herrn Marcel anzubändeln? Wovon sie nur so eifrig reden mögen da unten vor meinen Augen? Von Geschäften einmal sicherlich nicht, also wohl von Liebe! Von etwas anderem kann zwischen der hübschen Frau und meinem flotten Herrn überhaupt nicht die Rede sein! Ja die Liebe, die ist wie die Lockspeise an der Angel. Der Fisch sieht nur den Leckerbissen und den Haken spürt er erst, wenn er ihm im Hals sitzt.«

Während Baudoin derlei Betrachtungen anstellte, plauderten die beiden unter ihm eifrig weiter. Sie saßen ruhig und unbeweglich beisammen, nicht einmal der Klang der Stimmen drang zu dem Lauscher herauf. Eine Stunde mochte schon verstrichen sein, als sie sich erhoben; jetzt wandte die junge Frau dem Späher ihr Gesicht zu, und Baudoin konnte nicht umhin, sie mit Bewunderung anzusehen, etwas Schöneres hatte er noch selten im Leben erblickt! Zugleich aber mußte er sich eingestehen, daß er sie noch nie gesehen hatte. Wie hätte er auch irgend eine Ähnlichkeit entdecken sollen? Die »Andere«, die von Vanves, hatte er ja überhaupt nur in der Dunkelheit, nur von der Seite gesehen, ein Wiedererkennen war somit so gut als ausgeschlossen. Er hatte ja auch nie andere Kennzeichen für sie anzugeben vermocht, als das Parfüm, das sie gebrauchte und den Klang ihrer Stimme, der ihm noch im Ohr zu liegen schien.

»Wenn ich die da nur sprechen hören könnte!« dachte er. »Nur drei Worte, dann wäre ich meiner Sache sicher.«

Wie ein freudiger Schreck überlief es ihn jetzt hinter seinem Busch; das langsam dahinwandelnde Paar hatte den äußeren Gartenweg eingeschlagen, der dicht an der Mauer hin und in einer Entfernung von zehn Schritten an seinem Versteck vorüber führte. Ohne zu ahnen, daß sie beobachtet wurden, kamen sie, sich fortwährend unterhaltend, langsam näher, und der alte Soldat erwartete sie mit klopfendem Herzen und gespitzten Ohren, wie ein Jäger, der auf dem Anstand liegt. Es flimmerte ihm vor den Augen, aber sein Gehör war durch höchste Anspannung verschärft, und er verstand deutlich, wie Marcel sagte: »Und denken Sie jetzt, da Sie frei sind, nicht daran, die früheren Pläne wieder aufzunehmen?«

Mit einer wohllautenden, einschmeichelnden Stimme und italienischem Tonfall versetzte die Frau: »Wozu? Jetzt bin ich alt ... siebenundzwanzig Jahre ... mein Leben ist abgeschlossen. Künstlerische Erfolge hätten keinen Reiz mehr für mich. Auf einem Theater singen, öffentlich allen Blicken preisgegeben ... o nein, nein, daran ist gar nicht zu denken.«

»Und doch würden Sie große Triumphe feiern!«

»Wer würde sich ihrer freuen?«

Sie gingen vorüber. Baudoin mochte seine Erinnerungen noch so eifrig wachrufen, sein Gedächtnis durchstöbern, wie er wollte – nein, die junge Frau in Trauer hatte weder dieselbe Stimme, noch dieselbe Aussprache wie jene andere, jene, die Tod und Verderben brachte. Er sah die beiden Gestalten im Haus verschwinden, gleich darauf hörte er Klavierspiel und dann erhob sich die reine, warme, zu Herzen dringende Stimme der jungen Frau und sanfte Melodieen zogen über den schweigenden Wald.

Gedankenvoll und beunruhigt kehrte Baudoin nach Ars zurück. Als er am Postamt vorüberkam, ging er hinein und schrieb das folgende Telegramm auf: »Laforêt Kriegsministerium Paris. Kommen Sie nach Ars bei Trones. Fragen Sie in der Fabrik nach Baudoin.«

Er bezahlte, wohnte noch dem Abgang seiner Botschaft bei und ging dann etwas erleichtert nach Hause. Um sieben Uhr kam Marcel. Während der Mahlzeit sprach er kein Wort und nachher zog er sich sofort ins Laboratorium zurück, wo ihn Baudoin bis spät in die Nacht auf und ab gehen hörte.

Frau von Vignola sah um diese Zeit mit einer türkischen Cigarette zwischen den hübschen Zähnen in ihrem kleinen Salon und legte sich unter Beihilfe ihrer Jungfer Karten. Das Mädchen, das Sophia seit zehn Jahren mehr als Vertraute denn als Dienerin um sich hatte, war ein kleines braunes Geschöpf, dürr und verbrannt wie ein südlicher Fels. Sie hieß Milona, wurde aber Milo genannt. In einem Zigeunerlager in den Karpathen geboren, war sie von ihrer Mutter, die im Graben der Landstraße gestorben war, mit zwölf Jahren im äußersten Elend zurückgelassen worden, einem Elend, das um so größer war, als ein Gauner der Truppe sich in das frühreife Mädchen verliebt hatte und sie zudringlich verfolgte.

Sophia, die ihr Abenteurerleben überallhin führte, war im Hof eines Gasthofs in Triest Zeuge einer mit blitzenden Messern verdeutlichten Auseinandersetzung zwischen Milona und ihrem stürmischen Liebhaber geworden. Die Kleine hielt dem Zigeuner, der sie zwingen wollte, ihm zu folgen, mutig Widerpart und gab auf die in der Gaunersprache herausgesprudelten Drohungen nur ein entschlossenes Nein und einen verwegenen Blick zur Antwort. Die ganze Landstreicherbande, das einzige, was Milona als Familie kannte, unterstützte die Ansprüche des jungen Banditen, aber Milona blieb bei ihrer Weigerung, bis der Anführer der Gruppe, mit seinem wallenden grauen Bart und dem gelockten weißen Haupthaar, ein Patriarchentypus, dessen Hauptamt aber der Hühnerdiebstahl in den Dörfern war, auf das Kind einzureden begann.

Sophia, die oben an einem Fenster saß, freute sich des Schauspiels und folgte ihm mit einer gewissen Teilnahme für das stolze Kind, das die Launen des Mannes nicht tragen wollte. Offenbar verstand sie die Sprache der Leute, denn die bilderreichen Redewendungen entlockten der vornehmen Dame öfters ein Lächeln.

»Milona,« begann der ehrwürdige Hühnerdieb, »du handelst nicht, wie du solltest. Du weisest Zambó, zurück, der dich liebt und der ein Kind unseres Volkes ist, nur weil du dem kleinen ungarischen Husaren Gehör schenkst, der dir nachgereist ist und dir schöne Worte sagt. Und doch weißt du, daß er ein Hund ist, ein Feind der Unsrigen, der dich nehmen und wegwerfen wird, ohne deine Liebe auch nur zu belohnen. Mir hat deine Mutter dich anvertraut, ich habe dich ernährt, ich habe dich gelehrt, Karten legen, in der Hand lesen und Liebestränke brauen. Willst du mir's mit Undank lohnen? Willst du nicht die Frau meines Großneffen Zambó werden?«

»Ich liebe ihn nicht,« sagte das Mädchen trocken.

»Aber er liebt dich.«

»Das ist mir einerlei.«

»Und er wird dich töten, wenn du ihm widerstehst.«

»Das laß meine Sache sein!«

»Willst du denn unsere Truppe verlassen?«

»Ja. Ich hab's satt, von gestohlenem Brot zu leben und in Lumpen zu gehen.«

»Dann bezahle für deine Freiheit.«

»Ich habe ja kein Geld, aber wartet's nur ab, der Husar wird mir die Hände mit Gold füllen.«

Bei diesen Worten wollte sich der schwarze Zambó auf das Kind stürzen.

»Das soll dein letztes Wort gewesen sein!« heulte er, ein langes Messer schwingend.

Jetzt ließ aber die Baronin Sophia einen Pfiff ertönen, der sofort die Aufmerksamkeit der ganzen Truppe erregte. In der eigenen Sprache der Leute rief sie hinunter: »Nun ist's genug! Ich werde die Polizei holen lassen! Heda, Alter ... du forderst Geld für das Kind?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Wie viel?«

»Zwanzig Dukaten in Gold.«

»Galgenstrick!«

»Um weniger lasse ich sie nicht ziehen, Euer Gnaden.«

Ein Beutel flog herunter, gerade auf den Alten zu, der ihn mit der Gewandtheit eines Jongleurs auffing. Er zählte den Inhalt und verbeugte sich, die Hand aufs Herz drückend.

»Danke deiner edlen Wohlthäterin, Milona! Sie hat für dich bezahlt, du bist frei!«

»Komm herauf, Kleine!« rief Sophia.

Milona flog ungesäumt unter lauten Verwünschungen ihres abgeblitzten Liebhabers ins Haus und die Treppe hinauf. Das Fenster der Baronin wurde geschlossen, während sämtliche Zigeuner mit lautem Geschrei und übertriebenen Gebärden dem wutschnaubenden Zambó klar zu machen suchten, daß Gold eine viel größere Seltenheit sei als Mädchen, und daß, wenn sein Herz leer bleibe, doch die Kasse voll sei.

Von dieser ersten Begegnung an hatte sich Milona mit Leib und Seele ihrer Herrin ergeben. Sie hing ihr mit wilder Leidenschaft an, war ihre Gehilfin in Haß und Liebe geworden und kannte, bis auf die großen Geheimnisse, die Sophia niemand anvertraute, alle Verhältnisse ihrer Befreierin.

Sophia blies ein Rauchwölkchen hinaus und blickte unschlüssig auf ihre Karten.

»Herz-König, Pik-Neune, Kreuz-Bube,« sagte Milona, die einzelnen Karten mit der Fingerspitze berührend, »dann wieder Kreuz-Dame, Herz-Bube, Pik-Sieben ... immer die nämliche Antwort... Sie werden's nicht zu stände bringen!«

Sophia heftete die schönen, kühnen Augen auf die Vertraute und sagte mit ihrer natürlichen Stimme, die einen ganz anderen Klang hatte, als die zur italienischen Betonung verwendete: »Ich muß mein Ziel aber erreichen ... hörst du, Milo, es muß sein!«

»Wollen Sie die Probe mit dem Wasserglas machen?«

»Ja, die haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«

Milona ergriff einen Blumenkelch aus Krystall, warf den Strauß, der darin stand zu Boden und löschte alle Kerzen aus bis auf eine. Dann stellte sie den Krystallkelch so auf den Tisch, daß er von hinten beleuchtet wurde, zog eine der langen goldenen Nadeln, womit ihr Haar aufgesteckt war, heraus, stieg auf ein niederes Stühlchen und fing, einen wunderlichen Gesang anstimmend, mit der Nadel im Wasser zu rühren an. In dem vom Lichtschein durchstrahlten Gefäß bildeten sich kleine, in Regenbogenfarben schimmernde Strudel und beide Frauen verfolgten mit gespannten Blicken die gebrochenen Linien, die leuchtenden Bläschen und Spiralen, die der goldene Stiel im Wasser erzeugte.

»Wasser ist Geheimnis und Angst,« sang Milona dabei, »Licht ist Gewißheit und Wahrheit. Das Licht durchdringe das Wasser und entreiße ihm seine Geheimnisse ... drehe dich, Nadel, leuchte, Licht, teile dich. Wasser ...«

»Sieh her, Milona, sieh nur!« rief Sophia aufgeregt. »Das Wasser wird rot! In den Furchen, die deine Nadel zieht, schimmert's wie Blut!«

»Blut ist Kraft und ist Leben,« sang Milona weiter. »Das Blut des Gehirns ist Sieg, Herzblut ist Liebe. Drehe dich, Nadel! Röte dich. Blut! Gib Sieg und gib Liebe!«

Sophia, die in der halben Dunkelheit vor dem Tisch kniete, starrte mit gierigen, angstvollen Blicken auf das Glas, worin das Wasser unterm Druck der Nadel im Kerzenschein sprudelte.

»Jetzt sieh wieder her! Sieh nur her!« rief sie. »Das Wasser wird smaragdgrün!«

»Smaragd ist Hoffnung und Hoffnung ist die Wonne des Lebens. ... Drehe dich, Nadel! Wasser leuchte grün, grün wie die Augen der Sirenen, die uns nachziehen bis in den Tod.«

Jetzt zog Milona die Nadel heraus. Das Wasser hörte auf sich zu drehen und zu sprudeln, es nahm zuerst einen grauen Ton an und wurde dann ganz dunkel.

»Milo!« rief Sophia ganz fassungslos. »Jetzt ist das Wasser schwarz! Das verkündet Trauer. ... Sag mir, wer sterben wird.« Ohne eine Antwort zu geben, steckte die Dienerin die Kerzen wieder an, nahm das Krystallglas und goß das Wasser zum Fenster hinaus, wobei sie heftig in den dunklen Garten spuckte.

»Es sterbe, wer Sie hindern will!« sagte sie mit feierlichem Ernst. »Das Schicksal verkündigt Liebe, Glück und Tod; Sie haben das Recht, Ihr begonnenes Unternehmen aufzugeben. Die Karten sagen, daß es nicht gelingen wird, das Wasser kündet Tod! Aber wessen Tod? Das können wir nicht wissen ... halten Sie ein, so lange es noch Zeit ist.«

Sophia ging schweigend im Zimmer auf und ab, bis sie plötzlich vor Milona stehen blieb.

»Glaubst du an deine eigenen Weissagungen?«

»Ja.«

»Hast du in allen Fällen erlebt, daß sie sich erfüllen?«

»Ja.«

»Hat der alte Mann, der dich in Triest an mich verlauft hat und der dich in den Karten, im Wasser und im Feuer lesen lehrte, auch an seine Kunst geglaubt?«

»Ja.«

»Hat er je, hast du je erlebt, daß Menschen, denen Unheil prophezeit wurde, ihre Unternehmungen deshalb aufgegeben hätten?«

»Wenn diese Unternehmungen wichtig und gefahrvoll waren, niemals!«

»Das heißt also, daß kühne Seelen der Vorsicht nie Gehör schenken und das Schicksal meistern wollen?«

»Ja. so ist's.«

Sophia steckte sich eine Cigarette an.

»Wozu denn die Ueberlegenheit des Denkens, die Unverrückbarkeit der Vorsätze, die Unbeugsamkeit des Mutes, wenn man sich abschrecken ließe wie der Alltagsmensch? Interessant, Milo, ist ja nur, was schwierig, gefährlich, nahezu unmöglich ist! Soll man ein Leben führen wie der Spießbürger, wenn man eine Herrscherseele hat? Nein! Auch um den Preis persönlicher Sicherheit muß man seinen angeborenen Trieben folgen, seinen Willen offenbaren. Du kennst mich, Milo, du weißt, daß nichts mich aufhält, wenn ich einmal einen Entschluß gefaßt habe – wie hast du mir nur vorhin sagen mögen, ich solle einhalten, es sei noch Zeit?«

»Wenn Sie so fest entschlossen sind,« versetzte Milona ernst, »warum befragen Sie dann die Karten, warum entlocken Sie dem Wasser sein Geheimnis?« »Ein richtiger Einwurf, Milo,« gab Sophia lächelnd zu, »Aber siehst du, Kleine, der Mensch bleibt Mensch, mit anderen Worten, der Bangigkeit und dem Aberglauben zugänglich! Weißt du nicht, daß Aerzte, die doch die Unzulänglichkeit und Ohnmacht ihrer Kunst genau kennen, andere Aerzte zu Hilfe rufen, wenn sie selbst krank sind? Das sind Zugeständnisse an die menschliche Schwachheit, Milo, die auch der macht, der sonst frei davon ist.«

»Und all diese Schicksalsfragen geschahen zu Ehren des jungen Menschen, der alle Tage hierher kommt, den Agostini ins Haus gebracht hat?«

»Agostini, wie du etwas respektwidrig sagst, hat mir den jungen Mann ins Haus gebracht, weil ich ihm Auftrag dazu gegeben hatte – weißt du nicht, daß er mir ohne Widerspruch gehorcht?«

»O, widersprechen thut er nie, aber daß er eines Tages zu gehorchen aufhörte, wäre nicht unmöglich!«

»Er steht nun einmal nicht in Gnade bei dir, der arme Cesare!« bemerkte Sophia heiter.

»Er ist falsch und ist feig ... wenn der einmal einen Streich gegen Sie führt, geschieht's hinterrücks.«

»Er liebt mich doch!«

»Und Sie, lieben Sie ihn denn?«

»Vielleicht ... gewiß ist's nicht. Weshalb nennst du ihn feig? Er hat sich doch in Palermo tapfer geschlagen gegen den Marchese Velverani ...«

»Weil er sich an Kraft und Gewandtheit überlegen wußte, und weil ihn der Marchese im Angesicht von fünfzig Personen des Falschspielens bezichtigt und geohrfeigt hatte! Recht hatte er ja, Agostini betrügt!«

»Das wird keiner mehr laut zu sagen wagen, nachdem es einem Menschen das Leben gekostet hat. Und dann spricht sehr dagegen, daß er ja fortwährend verliert.«

»Wovon Sie ein Lied zu singen wissen!«

»Ach! Was sollte ich mit meinem Geld anfangen, wenn er mir's nicht abnähme?«

»Das ist richtig! Geld ist dazu da, unsere Launen zu befriedigen, sonst hat es keinen Wert. An und für sich ist's häßlich, es muß uns Freuden schaffen, sonst ist es nicht kostbarer als die Kieselsteine auf dem Weg. Wird der junge Mann, der jetzt zu uns kommt, Ihnen Geld geben oder von Ihnen Geld bekommen?«

»Ich glaube nicht, daß er Geld annähme,« sagte Sophia lachend. »Du bist eine echte Barbarin, Milo, nur die Gemeinheit ist dir selbstverständlich! Es gibt nämlich auch anständige, ehrliche Menschen, Kleine, denen man nicht abkaufen kann, was man von ihnen haben will ... die muß man verführen.«

»Deshalb singen Sie immer, wenn er da ist? Sie werden ihn toll machen, wie all die anderen, – er sieht doch sehr nett aus und so sanft!«

»Ja, er ist ein reizender Mensch, aber für mich ein Feind, Milo. Wenn er entdeckte, wer ich bin und was ich suche, wäre ich in großer Gefahr.«

»So hat ihn also Agostini zu seinem Verderben hergeführt?«

»So etwas Derartiges.«

»Und er liebt Sie schon?«

»Rasend.«

»Hat er's Ihnen gesagt?«

»Noch nicht, aber ich brauche nur ein Wort zu sagen, nur eine Bewegung zu machen und er liegt zu meinen Füßen.«

»Ja, Ihre Macht über die Männer ist unwiderstehlich, aber hüten Sie sich! Einmal wird der Tag kommen, wo Sie selbst gefangen sind, und das wird furchtbar werden!«

»Ich habe geliebt, du weißt es ja. Die Liebe hat mir nichts mehr zu offenbaren und daher keine Gefahren mehr für mich.«

»Sie haben geliebt, ja, mit der Phantasie, auch mit den Sinnen, aber noch nie mit dem Herzen.«

»Was weißt du davon?«

»Ich weiß, daß Ihr Herz nie gefangen war, denn alle, die Sie liebten, sind Ihre Opfer geworden. Die echte, reine Liebe wird nicht zum Henker, sie beschützt den Geliebten und bringt ihm Opfer. Aber Sie haben es bisher ja auch nur mit Abenteurern zu thun gehabt, denen nur ihr Recht widerfuhr, wenn man sie behandelte, wie sie andere behandeln. Wenn Sie einmal den Agostini vor die Thür setzen, rufen Sie mich, daß ich ihm aufmache ... es soll von Herzen gern geschehen!«

»Der Tag ist noch nicht da ...«

»Thut mir leid!«

Sophia schüttelte müde den Kopf und Milona wußte, daß sie mit ihrem Geplauder nicht weiter gehen durfte.

»Ich werde jetzt alle Läden schließen,« sagte sie. »Braucht mich die Herrin noch?«

»Nein, du kannst überall auslöschen. Ich will einen Brief schreiben ... wenn ich hinaufgehe, hörst du mich ja.« Sophia setzte sich an den Schreibtisch, rückte sich eine elegante, mit der Freiherrnkrone verzierte Mappe zurecht und begann mit energischen, männlichen Schriftzügen auf stark duftendes Briefpapier zu schreiben:

»Mein lieber Cesare! Ich habe die Zeit seit Deiner Abreise wohl ausgenützt und hoffe, daß Du auch nicht müßig warst; laß mich bald hören, wie Deine Sache in Beziehung auf die Lichtenbachs sich macht. Hier steht die Leidenschaft in Blüte! Unser Jüngling kam heute überschwenglich lyrisch angehaucht hier an und überraschte mich beim Singen ... mit Thränen in der Stimme! Ich hatte nämlich Milona auf Wache gestellt und mir seine Ankunft melden lassen, dann habe ich ihm die große Verzweiflungsscene mit glänzendem Erfolg vorgespielt. Der Anblick meiner Thränen versetzte ihn in wildes Weh ... Du weißt ja, daß ich weinen kann, wie ich will, und daß es mich kleidet. Wie gern würde er mir die Thränen von den seidenen Wimpern geküßt haben, wie's in Romanen heißt, aber er war so wie so schon genügend berauscht, und man muß die Steigerungen weise verteilen. Weil Liebeserklärungen unter freiem Himmel erschwert sind, führte ich ihn hinaus auf die Bank unterm Fliederbusch und brachte ihn zum Plaudern. Er ist ein wahres Kind, von einer Einfalt, die unsereins aus dem Konzept bringt, und von einer Arglosigkeit, daß man fast lachen muß. Ueber so viel Unschuld zu triumphieren, ist wirklich keine Kunst, dieses Lamm wird sich willig zum Opfer bieten. Uebrigens thut mir die Ruhe in diesem weltverlorenen Nest wohl, und Langeweile habe ich keinen Augenblick. Es ist lang her, daß ich Zeit hatte, mich auf mich selbst zu besinnen ... mein abenteuerliches Leben riß mich ja im Wirbel dahin, und nun kommen mir Gedanken, die mich selbst überraschen. Ich fürchte, daß die Genüsse und Freuden, die Befriedigung, der ich von jeher nachgejagt habe, nur eine Seite des Lebens ausmachen und daß es noch ein anderes Gesicht hat, das ich nicht kenne und das viel schöner, viel verlockender zu sein scheint. Als mir der junge Marcel heute nachmittag so rührend zart und zärtlich von Vater, Mutter und Schwester erzählte, ist mir das Herz ein wenig schwer geworden. Lauter gute, anständige Menschen! Sie lieben einander und sind glücklich dabei, jedes würde dem anderen die größten Opfer bringen. Es gibt nichts Einfacheres, Rechtlicheres und Einförmigeres als ihr Leben, und sie sind unbestreitbar glücklich dabei! »Dieses Lamm von Marcel ist in seiner Familie das räudige Schäflein! Von Zeit zu Zeit bedroht ihn der Vater mit seinem Fluch, weil er beim Baccarat Pech gehabt oder für ein anspruchsvolles Dämchen zu tief in die Kasse gegriffen hat, dann ist das gute Kind acht Tage lang krank vor Jammer und sperrt sich selbst in Ars ein, wie ein Anachoret in der Wüste. Zur Buße arbeitet er dann im Laboratorium, ißt eine erbärmliche Küche und streitet sich mit dem Fabrikdirektor herum, der ein unangenehmer Patron sein muß. Diesen Zeiten der Zerknirschung verdankt er die interessanten Entdeckungen über Farbstoffe und andere industrielle Geschichten, die wirklich Wert zu haben scheinen und die er mir für meinen Geschmack etwas zu weitläufig erklärt.

»Aber das ist einerlei, er ist ein reizender Mensch und hat Feuer. Kannst Du Dir vorstellen, daß er mich nach meinem Alter gefragt hat? Der arme Kleine! Ich bin älter als er! Es würde mich gar nicht wundernehmen, wenn er mit dem Gedanken umginge, mich zu heiraten! Cesare, laß einmal schnell standesamtliche Papiere für ›Frau von Vignola‹ ausstellen, denn man kann, so wie die Sachen laufen, nicht wissen, was geschieht! Das ist natürlich nur Scherz, Liebster ... was ich Dir von dem armen Jungen erzähle, braucht Dich wahrlich nicht in Harnisch zu bringen. Ich führe ihn an einem Fädchen, das er weder spürt noch sieht, zur unbedingten Unterwerfung, und wenn er mir seine Geheimnisse anvertraut haben wird, was bisher noch alle thaten, bei denen ich's darauf anlegte, werde ich verschwinden, und wenn Frau von Vignola den Kreppschleier abgeworfen hat, wird nur noch die Baronin Sophia zu sehen sein, in der mein schmachtender Liebhaber schwerlich die elegische Witwe wieder erkennen wird, der er jetzt zu Füßen liegt. Du siehst, ich betreibe mein Geschäft, ohne mich dabei zu langweilen. Es ist mir gar nicht zuwider und ich hoffe, daß Dir's beim Deinigen ebenso ergeht. Die kleine Lichtenbach ist eine Erzmillionärin, da kann man sich mit dem »Ich liebe Sie!« schon ein bißchen Mühe geben. Tausend Küsse, Cesare! Sempre t'adorerò. Sophia.«

Sie siegelte, ein Gähnen unterdrückend, den Brief, nahm eine frische Cigarette und schickte sich an, in ihr Schlafzimmer hinaufzugehen, als drei leichte Schläge an den Fensterladen sie erschreckten. Mit gefurchter Stirne blieb sie lauschend stehen, bis nach kurzer Zeit sich das Pochen wiederholte. Jetzt zog Sophia eine Schublade auf, nahm einen Revolver heraus, öffnete das Fenster und fragte in ihrer italienischen Betonung durch den noch geschlossenen Laden: »Wer ist da?«

»Ich bin's, Hans ... keine Angst, Sophia,« erwiderte eine dumpfe Stimme.

Sie wurde ein wenig blaß, legte aber ruhig den Revolver an seinen alten Platz und ging schweigend hinaus, um geräuschlos den Riegel an der Hausthüre zurückzuschieben. Ein hochgewachsener Mann schob sich herein, und sie führte ihn ins Wohnzimmer, das sie sorgfältig hinter sich abschloß: weder er noch sie hatte dabei ein Wort gesprochen. Der Mann warf den Filzhut ab und das Lampenlicht fiel hell auf ein verwegenes, rohes Gesicht. Der Mann war groß, breitschulterig, eine Athletengestalt, ein rötlicher Bart verdeckte die untere Hälfte des Gesichts.

Er setzte sich, und die grünlichen Augen hefteten sich mit durchdringendem Blick auf Sophia.

»Wer ist bei Ihnen im Haus?«

»Milona.«

»Und wo ist Agostini?«

»In Paris. Woher kommen Sie?«

»Aus Genf. Lichtenbach hat mir Ihre Adresse geschickt.«

»Wie kamen Sie herein?«

»Ueber die Mauer.«

»Mit dem verwundeten Arm?«

»Mein Arm ist heil.«

Er streckte ihn mit einem drohenden Lächeln aus. Es war ein vollständiger Arm, die Hand daran steckte im Handschuh.

»Recht geschickte Mechaniker, diese Schweizer. Sie haben mir einen beweglichen Unterarm angefertigt, der alles leistet, was ein natürlicher thut. Die Hand ist aus Stahl, die nimmt's mit einem amerikanischen Preisboxer auf. Ein Schlag damit kann einen kräftigen Mann niederstrecken, Sophia. Und doch,« setzte er seufzend hinzu, »war mir mein alter Arm lieber. Der wird mir ihn nie ersetzen, aber die mich verstümmelt haben, werden die Früchte ihres Thuns auch nicht ins Paradies mitnehmen. Sie sollen mir mein Fleisch und Blut bezahlen!«

Das Gesicht war unheimlich anzusehen bei diesen Worten, die er zähneknirschend hervorstieß. »Haben Sie sich nicht im voraus bezahlt gemacht?« entgegnete Sophia ernst. »Als Ihnen das Unglück zustieß, war der General Trémont schon tot ... vielleicht war es seine Rache!« »Der Teufel soll ihn am Spieß braten, den alten Eisenkopf! Er brauchte ja nur herauszurücken, als Sie so manierlich nach dem Geheimnis seiner Truhe fragten, so wäre von alledem nichts geschehen!«

»Sie waren's, der die Geschichte überstürzt hat, Hans! Sie haben durch Ihre Gewaltthätigkeit all meine Anschläge zunichte gemacht. Hätten Sie mir noch acht Tage Zeit gelassen, der Alte würde mir sein Geheimnis, seine Ehre und alles übrige ausgeliefert haben. Ihr Dazwischentreten hat ihn scheu gemacht, er schüttelte den Bann ab, und alles war verloren!«

»Zum Henker, machen Sie mir auch noch Vorwürfe? Der Mißgriff ist mich teuer genug zu stehen gekommen. Wie weit sind Sie denn hier?«

»Wenn Sie mich ungestört nach meinem Ermessen handeln lassen, wird alles gelingen.«

»Gut, gut! Handeln Sie nur! Ich meinerseits werde noch eine kleine Nebenhandlung spielen lassen, die nicht unnützlich sein und Lichtenbach viel Spaß machen wird.«

»Um was handelt es sich?«

»Um einen Putsch, den die Arbeiter in der Fabrik in Scene setzen sollen!«

»Sie machen immer noch in Sozialismus?«

»Mehr als je. Dort liegt die Zukunft. Die urteilslose rohe Masse in den Händen von ein paar kühnen Führern, die sich die Weltherrschaft aneignen werden!«

»Auf wie lange?«

»Lang genug, um diese verfaulte, morsche Gesellschaft mit Stumpf und Stil auszurotten!«

»Und was an ihre Stelle zu setzen?«

»Das, das ist das Geheimnis der Zeit, die Revolution wird's offenbaren.«

»Ich hasse Ihre Anschauungen und alle, die sie unterstützen ...«

»Weiß ich, weiß ich,« fiel ihr Hans mit rohem Auflachen ins Wort. »Sie sind eine große Dame, eine Aristokratin, Sophia, und die Gleichheit paßt nicht in Ihren Kram. Sie brauchen Luxus, Glanz, überragende Stellung ... und wer sagt denn, daß mir Ihnen das alles nicht auch geben würden? Wir wollen nur die herunterdrücken, die über uns stehen ... haben Sie je eine Herde ohne Hirten und Hund marschieren sehen? Wie sollten denn Völker ohne Oberhaupt leben? Befohlen muß werden, und wir müssen jenen die Macht entreißen, die sie kraft alter Vorurteile in Händen halten. Weil ihre Vorrechte uns nicht zu gute kommen, behaupten wir, Vorrechte überhaupt aufzuheben, doch sobald die Macht einmal in unseren Händen ist, wird es Feuer und Schwert brauchen, Ströme von Blut kosten, sie uns wieder zu entreißen, und wer sollte dann den Versuch wagen? Nur die Revolutionäre haben Thatkraft, weil die Leidenschaft sie fortreißt, die Revolution ist das einzige Mittel, rasch vom Fleck zu kommen. Heute bin ich nichts, morgen will ich alles sein; was mir im Weg steht, renne ich um. Das ist kurz und deutlich gesagt, was unsere Apostel der Menschenrechte in verworrenen Phrasen vortragen; sie lieben nur sich, haben nur sich im Auge, und das genügt auch!«

»Sie sind also einfach Banditen,« sagte Sophia lachend, »und Sie sind auch ein solcher! Aber wissen Sie, Hans, ganz so leicht, wie Sie glauben, lassen sich die anderen das Heft nicht aus der Hand winden ... hüten Sie sich. Sie haben allerlei Dinge erfunden zu ihrem Schutz, zum Beispiel die Polizei, die ganz nett arbeitet. Was wollen Sie denn eigentlich diesen armen Baradiers anhaben?«

»Seit vierzehn Tagen lasse ich die Arbeiter der Fabrik durch meine Leute in die Kur nehmen, lasse Stimmung machen, und dann soll das Oberste zu unterst gekehrt werden in der Bude. Das wird die Herren Baradier & Graff in Atem erhalten, in Anspruch nehmen ... sie beschäftigen sich jetzt etwas zu viel mit uns und haben offene Augen. Ich kann mir nicht denken, wer diese Schwerenöter aufklärt, aber es scheint mir, daß sie Lichtenbachs Spiel durchschauen, als ob alles in der Zeitung stünde.«

»Lichtenbach ist feig, daraus gehen immer wieder Dummheiten hervor. Ich habe jetzt Cesare zu ihm geschickt, der ihn einerseits überwachen soll, andererseits sich um die Tochter bemühen, aber wer keinen Mut hat, dem flößt man ihn auch nicht ein.«

»So viel ich höre, waren die Aktien der Sprengstoffgesellschaft, dank der von Lichtenbach eingeleiteten Manöver so tief gefallen, daß der Rückkauf des ganzen Plunders unter den günstigsten Umständen hätte geschehen können, aber mit einemmal fing die Nachbörse ohne ersichtlichen Grund zu kaufen an und die Aktien sind riesig in die Höhe geschnellt. Lichtenbach hat stramm festgehalten, aber er hatte es mit einem stärkeren Gegner zu thun, und hat dieses Mal bei der Liquidation die Suppe, die er eingebrockt hatte, selbst auslöffeln müssen ... sie war gepfeffert! Nach und nach erfuhr man, daß Baradier & Grass mit einer großen Anzahl von Aktionären der bedrohten Gesellschaft ein Syndikat gegründet haben, um der vollständigen Entwertung des Objekts entgegen zu arbeiten. In Geschäftskreisen geht das Gerücht, daß die Gesellschaft dank einem neuen Patent – hören Sie wohl, Sophia? – glänzende Aussichten für die Zukunft habe ... das heißt also unmittelbare Konkurrenz für Lichtenbach und ein Schlag ins Gesicht für unsere Sache. Der Krieg ist eröffnet, man muß ihn führen und den Sieg davon tragen. Deshalb bin ich hier, denn ihr scheint mir ein wenig viel Zeit zu vertrödeln und gar zu viel Umstände zu machen.«

»Keine Gewaltstreiche dieses Mal, Hans, das bitte ich mir aus!« entgegnete Sophia mit Bestimmtheit. »Wir sind im richtigen Geleise und es soll nicht noch einmal alles verdorben werden. Sie haben nur noch einen Arm zu verlieren, mein Bester, gehen Sie haushälterisch damit um.«

»Sie sind ja sehr heiter, Sophia,« knurrte Hans mit zornverzerrten Zügen. »Daß ich nur noch einen Arm habe, ist nur zu richtig, aber beruhigen Sie sich, es ist ein tüchtiger, und wehe dem, der in seinen Bereich kommt!«

»Sie wollen sich also bei mir aufhalten?«

»Mit Ihrer Erlaubnis, ja.«

»Das kann mir sehr unbequem werden ...«

»Ohne Sorge! Ich gehe nur bei Nacht aus; ich bin nicht der Mann des hellen Tageslichts, mit der Finsternis stehe ich auf besserem Fuß. Gehen Sie Ihrem Geschäft nach; ich besorge das meinige. Ich brauche nichts von Ihnen als eine Dachstube, wo ich schreiben und den Tag über schlafen kann. Außer Milona darf niemand um meine Anwesenheit wissen ... auf das Mädchen kann man sich ja verlassen.«

»Vorausgesetzt, daß man mir nicht schaden will!«

»Und wer zum Teufel dächte daran? Ich jedenfalls nicht ... so lange wir Hand in Hand gehen.«

Die beiden tauschten einen Blick aus, worin die Erinnerung gemeinsamer Schuld lag, Sophia wandte sich zuerst ab, doch mit einer zustimmenden Gebärde.

»Folgen Sie mir denn.«

Sie öffnete die Thüre und führte den Mann, den sie zu fürchten wie zu hassen schien, die Treppe hinauf.

Schluß des ersten Bandes.


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