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Sechstes Kapitel.

Ars ist ein Städtchen von sechstausend Seelen, das sich, von dem bescheidenen Barsefluß durchrieselt, vier Meilen von Troyes an die Hügel lehnt, die der Wald von Bossicant mit seinen dunklen Fichten krönt. Die Eisenbahn durchschneidet das Thal, um die Erzlager von Vandoeuvre und die Steinbrüche von Bar mit der Welt in Verbindung zu setzen; im Süden ziehen sich auf mergelhaltiger Anhöhe Weinberge hin, und die reichen Quellen von Ars mit seinen Badeanstalten liegen einen Kilometer vom eigentlichen Städtchen an der Straße nach Lusigny.

Nach Erzen grabend, wo keine zu finden waren, hatte ein Ingenieur Namens Révérend die alkalischen und eisenhaltigen Quellen entdeckt, die ganz gut mit den Wassern von Plombières und Aix den Wettbewerb aufnehmen könnten. Aber Ars ist zu nah bei Paris, als daß Kranke an die Heilkraft seiner Quellen glauben mochten, auch haben die wenigen Gastwirte noch nicht gelernt, Kurgäste auszubeuten. So gehen denn meist kleine Leute hin, und nur auf der Anhöhe am Waldrand finden sich ein paar zwischen Bäumen versteckte Villen, die allsommerlich wohlhabendere Kranke aufnehmen. Es sind bescheidene, ruhig gelegene Landhäuser, die dem Naturfreund die Nachbarschaft des einsamen, sonndurchglitzerten Waldes zu bieten haben. Die Fabrik von Baradier & Graff liegt am Fluß selbst, der mit seinem raschen Gefäll die Dynamomaschine treibt, die das Anwesen mit Kraft und Licht versieht. Das Wohnhaus ist durch einen weiten Hof und einen schönen Garten von der Spinnerei getrennt, die Landstraße von Vandoeuvre führt am Garten vorüber und jenseits der Straße liegen ausgedehnte Vieh- und Pferdeweiden, vom Eisenbahngeleise der Linie durchschnitten, die über Chaumont zur deutschen Grenze führt. Ars ist als Arbeiterplatz nicht unbedeutend; Bergwerke und Steinbrüche beschäftigen den männlichen Teil der Bevölkerung der Umgegend.

Die Spinnerei von Baradier & Graff gibt zweihundert Männern, hundert Frauen und sehr vielen Kindern Arbeit, welch letztere als »Anhefter« bei den Webstühlen verwendet werden. Die Spinnerei steht unter der Leitung eines Herrn Cardez, eines Lothringers aus Metz, der mit den Fabrikbesitzern hierher übersiedelte, sich hier verheiratete, aber früh Witwer wurde. Er ist ein pflichtgetreuer Mann, der trefflich für seine Arbeiter sorgt, aber, schweigsam und schwerfällig von Natur, strenge, militärische Ordnung in den Werkstätten hält. Von seinen zwei Söhnen ist der eine Offizier, der andere Unterdirektor in der Gießerei von La Barre.

Cardez ist ein wackerer, aber kein umgänglicher Mann, Marcel Baradier, der ihn als kleiner Junge schon kannte und immer etwas respektwidrig den Bären zu nennen pflegte, steht gut mit ihm, soweit es bei dem Gegensatz der Naturen möglich ist, ja er hat ihn sogar trotz aller Neckereien gern, und der »Bär« achtet den Sohn des Hauses, obwohl ihm sein Leichtsinn und seine Spottlust zuwider sind. Der mit der Gleichmäßigkeit einer Maschine arbeitende treffliche Direktor und der geistreiche junge Gelehrte verhalten sich etwa zu einander, wie Pascal, der Erfinder des Schiebkarrens, zu dem Arbeiter, der diesen jahraus jahrein schieben muß. Die beiden Männer könnten jahrelang miteinander verkehren und leben, ohne daß irgend welche Feindseligkeit hervorträte, sie sind, wie Marcel lachend bemerkt, entgegengesetzte Pole. Cardez sieht es nicht sehr gern, wenn sich Marcel in den Werkstätten aufhält, weil er sagt, seine Gegenwart bringe Unruhe in die Arbeiter: der junge Herr leihe den Klagen und Anforderungen der Leute ein zu williges Ohr, und das störe die strenge dienstliche Ordnung. Der Bär wird dann brummiger als je und zieht darüber los, daß man den bösen Geist der Arbeiter auch noch bestärke.

Gegen Marcels chemische Untersuchungen über Farbstoffe verhält sich Cardez ungläubig. Er findet nicht nötig, Dinge anders zu machen, die man seit Jahren und mit bestem Erfolg so und so gemacht hat, und die eigene Färberei hält er für überflüssig. Die Rohgespinste, die man seit Jahren in der Fabrik herstellt und für die man sicheren Absatz hat, genügten vollständig, den Betrieb einträglich zu machen, Neuerungen kosteten schweres Geld und brächten seiner Ansicht nach nichts ein, als Mühe und Unruhe, Das am Ausgang des Gartens dicht am Wasser in einem eigenen kleinen Gebäude eingerichtete Laboratorium ist deshalb auch die Zielscheibe seines Witzes, »Herrn Marcels Kapernaum« hat er es getauft.

Bei seinem diesmaligen Aufenthalt in Ars ließ sich Marcel ganz gegen seine Gewohnheit wenig in den Werkstätten blicken; er saß fast den ganzen Tag in seinem Kapernaum, wo er nach Cardez' Ausspruch irgend einen chemischen Sudelbrei kochte. War er dann mit der Arbeit fertig, so hing Marcel die Flinte über die Schulter, pfiff seinem Hund und durchstreifte die Wälder. Baradier & Graff hatten nach und nach dreihundert Hektar Boden erworben, meist Brachfeld und Waldungen, die sehr malerisch und ziemlich wildreich waren, und das hügelige Gelände bot reizende Ausblicke über das hübsche Barsethal fast bis nach Troyes. Einzelne Strecken des Waldes von Bossicant erinnern durch ihre Wildheit, den bräunlichen trockenen Heideboden sehr an die schottische Hochebene.

Auf halber Höhe des Hohlwegs, der von Ars auf den Bergrücken führt, steht ganz unter Bäumen versteckt eine im Schweizer Holzstil erbaute kleine Villa, die als roter Punkt aus dem dichten Grün aufragt. Das Häuschen steht in der Regel leer und schweigsam da, denn es ist zu entfernt vom Bad und zu tief im Wald versteckt, um sehr begehrt zu sein; eines Morgens aber beobachtete Marcel mit Erstaunen, daß die Fensterläden geöffnet waren und daß eine Dienerin die Stufen des Altans abkehrte. Das zierliche Mädchen, das fast etwas Vornehmes hatte, stammte offenbar nicht aus der Gegend: ohne Zweifel war sie die Jungfer irgend einer leidenden Dame, die hier eine Bade- und Luftkur gebrauchen wollte.

Marcel war nicht neugierig und ging schweigend vorüber; er hatte die frühen Morgenstunden mit schwierigen und anstrengenden Berechnungen verbracht und wollte zu seiner Erholung auf die Hasenjagd gehen. Als er die Höhe erreichte, war es drei Uhr geworden. Er schlenderte lässig dahin, denn es war ihm mehr um Ausruhen als um Anstrengung zu thun; als aber sein Hund, ein untersetzter, auf Hasen dressierter Vorstehhund, Laut gab, regte sich doch einige Jagdlust. Zwei Patronen in den Lauf schiebend, ging er bis auf die abfallende Seite des Bergrückens, wo sich die Hasen in einem Dickicht von Gestrüpp und welkem Gras umhertrieben, bis ein sehr feister Rammler sich entschloß, eine gegenüberliegende Böschung von etwa dreißig Metern zu nehmen. Marcel legte an, zielte, der Schuß ging los und Meister Langohr kugelte die Anhöhe hinab ins Dickicht, woher er gekommen war. Der Hund war nicht fern; er kam, nahm das braune Kapuzinerlein am Genick, ließ es wieder los, um fester zuzufassen, und trug es in seinen kräftigen Kinnladen triumphierend dem Herrn zu.

Marcel nahm ihm seine Last ab, steckte die Beute in eine leichte Jagdtasche, die er umgehängt trug, und hielt sich nun für berechtigt, der Ruhe zu pflegen. Nachdem er seine Flinte entladen hatte, ließ er sich am Fuß einer hohen Tanne nieder und blickte träumerisch auf den bläulichen Höhenzug im fernen Osten. Eine wohlige Schwere der Glieder kam in der sonndurchglühten Waldesstille über ihn, und die Gedanken schweiften wie vom Körper gelöst ungehindert umher. Er sah das Haus in der Provencerstraße vor sich, wo Vater und Onkel so oft über ihn in Streit gerieten, das Wohnzimmer der Mutter, wo seine Schwester mit einer Stickerei friedlich neben der schwarzgekleideten Genoveva Trémont saß.

Dann tauchte ein anderes Bild vor ihm auf: eine hübsche Rotblonde sauste in einem eleganten Viktoriawagen mit feurigen Pferden an ihm vorüber. Er sah, wie sie ihm zulächelte, verstand wohl, daß sie ihm mit ihrem Sonnenschirm ein Zeichen gab, sie aufzusuchen, aber er schüttelte nur wehmütig den Kopf. Dann hörte er die zugleich spöttisch und zärtlich klingende Stimme derjenigen, nach der er sich sehnte: »Wie, mein Guter? Es ist aus? Man sieht dich nicht mehr? Deine Familie hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht, selbst der Onkel Graff hat bestimmt erklärt, daß er seine Kasse verschlossen halte? Ja, was soll denn werden, wenn Familiensöhne wie du nicht mehr ungehemmt ihren Neigungen folgen können und wegen lumpiger hunderttausend Franken Gefahr laufen, verflucht und enterbt zu werden? Das Leben floß dir doch sanft und fröhlich dahin an meiner Seite, du hieltest die Zeit nicht für verloren und ich, ich hatte dich sehr lieb, denn du bist ein reizender Junge, dabei sehr freigebig und sehr närrisch. Jetzt ist Lord Audley, dem du mich damals streitig machtest, mein Herr und Gebieter, mein Leben ist gerade wie vorher. höchstens ein wenig glänzender, denn mein Engländer ist Herr seines Vermögens und kann es ohne Einsprache und Nergeleien ausgeben. Ich bewohne immer noch den kleinen Palast an der Kleberstraße, wo mir so süße Stunden verlebten; die Frau, die meine Nägel pflegt, kommt immer noch jeden Freitag und überbringt mir nicht sehr ehrbare Anträge von hübschen Jungen, die von mir geliebt sein möchten. Da mir Lord Audley gleichgültig ist, bin ich jetzt dafür zu sprechen und hintergehe meinen Insulaner, was zu deiner Zeit nicht vorkam. Es war sehr unrecht von dir, mich zu verlassen, mein Aeffchen, denn ich fand dich so reizend, daß ich heute wieder artig würde, wenn du zurückkehrtest! Aber du bist fern – dein Vater hat deine Schulden bezahlt, die nicht eben bescheiden waren, und du hast ihm versprochen, von nun an so ernsthaft zu sein wie seine Rechnungsbücher! Also denn, fahr wohl, mein Freund! Frauen müssen viel Geld haben, selbst wenn sie euch lieben, denn von der Luft kann man nicht leben.«

Und der Wagen sauste davon und war um die nächste Straßenecke verschwunden.

Das Anschlagen seines Hundes, der sich neben ihn hingestreckt hatte, riß Marcel aus seinen Träumen. Er zwinkerte mit den Augen, so blendend war das Sonnenlicht. Ein trippelnder Schritt auf dürrem Laub erregte seine Aufmerksamkeit, und sich umdrehend, sah er auf einem schmalen Fußweg einen winzigen Seidenpinscher herankommen, dem eine zierliche Bandschleife tief in die Augen hing. Hinter dem Hündchen kam eine schwarzgekleidete Dame langsam daher. Marcel hatte nicht Zeit, die Unbekannte näher zu betrachten, denn mit der unbewußten Tollkühnheit, womit sich eine Ratte auf den Tiger stürzt, hatte der Miniaturhund unter wütendem Gekläff seinen Vorstehhund angesprungen. Eine sanfte Stimme rief: »Bob!« aber es war zu spät, Marcels Hund war aufgefahren und hatte den verwegenen kleinen Gegner mit einem Stoß seiner breiten Brust in den Sand gestreckt.

»Bob! Um Gottes willen!« rief die Spaziergängerin zu Tod erschrocken, indem sie leichtfüßig zur Stätte des Unheils flog.

Marcel hörte den Klageruf, sah zwei herrliche Augen in einem todesblassen erschrockenen Gesicht leuchten und warf sich ohne Besinnen über seinen eigenen Hund her, den er am Genick aufhob und beiseite schleuderte. Dann griff er nach dem Seidenhündchen, das am ganzen Leib zitterte, aber bis auf seine zerstörte Frisur und verschobene Bandschleife heil und ganz war, und hielt es der Dame lächelnd entgegen.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Ihr wildes Tier ist unversehrt! Es war aber hohe Zeit zu seiner Rettung ... entschuldigen Sie uns gütigst und bedenken Sie, daß wir nicht die Angreifer waren.«

Die Dame hatte das Hündchen zärtlich auf den Arm genommen, strich ihm die seidenweichen Haare zurecht und hielt ihm eine kleine Strafpredigt.

» O che bestia!« sagte sie. » Una mosca che vorrebbe vorare un lupo!«

Marcel hatte während dieses Erziehungsversuchs Muße, ihre Erscheinung zu betrachten, und die liebliche Schönheit der Fremden berührte ihn mit seltsamem Reiz. Das feine Oval des Gesichts war eingerahmt von hängenden Scheiteln aschblonden Haares, dazu hatte sie dunkle Augen, schön geschwungene, kirschrote Lippen. Die Dame war ganz in schwarzen Krepp gehüllt, sichtlich Witwentrauer, so mädchenhaft und kindlich auch Gestalt und Gesichtsausdruck waren. Jetzt blickte sie zu Marcel auf und sagte mit ruhiger Anmut: »Tausend Dank, mein Herr, für die Hilfe in der Not! Mich dauert ihr braver Hund, der vollständig in seinem Recht war und eine unverdiente Züchtigung bekommen hat.«

»Mein ungeschlachter Jagdgenosse hat ein dickes Fell und ist an Dornen gewöhnt, kein Vergleich mit diesem reizenden kleinen Spielzeug! Doch ich würde sehr bedauern, Ihren Spaziergang gestört zu haben. ... Sie können ihn ruhig fortsetzen, ich werde meinen Hund an die Leine nehmen.«

Die junge Frau neigte dankend das Köpfchen.

»Ich fürchte, daß wir beide Eindringlinge sind und Sie der Hausherr ... bitte, entschuldigen Sie mich! Ich bin hier fremd, bin erst vorgestern mit meinem Bruder angekommen, und da konnte ich mich noch nicht unterrichten, was erlaubt und was verboten ist.«

»Auf diesem Grund und Boden ist alles erlaubt, was Ihnen Freude macht, gnädige Frau! Sie bewohnen ohne Zweifel die kleine Villa am Abhang?«

»Allerdings ...«

»Dann ist das Ihr gegebener Spaziergang! Diese Wälder werden im allgemeinen wenig besucht, Sie werden ungestört darin sein ... selbstverständlich stehen sie Ihnen offen ...«

Sie sagte etwas befangen: »Sehr liebenswürdig« und ging mit anmutigem Gruß langsam weiter, wobei ihre geschmeidige, zarte Gestalt entzückend zur Geltung kam.

Marcel sah ihr eine Weile unverwandt nach, dann pfiff er seinem Hund und fuhr ihm liebkosend über den Kopf, um ihn über die rauhe Behandlung von vorhin zu trösten. Nachdenklich ging er hierauf nach Hause, verzehrte seine einsame Mahlzeit, rauchte seine Cigarre im Garten und legte sich um neun Uhr zu Bett, um friedlich zu schlafen und nicht einmal von der hübschen Rotblonden zu träumen, die ihm so teuer zu stehen gekommen war und nach der er sich doch manchmal zurücksehnte.

Am anderen Morgen ging er nicht aus, sondern blieb im Laboratorium an seiner Arbeit. Plötzlich ging die Thüre auf und Baudoin erschien.

»Sie hier?« sagte Marcel etwas verwundert. »Wohl von meinem Vater hergeschickt?«

»Ja, Herr Marcel, ich bringe ein ganzes Schock zärtlicher Grüße von der gesamten Familie. Im übrigen bleibe ich jetzt bei Ihnen.«

»Wozu?«

»Um Sie zu bedienen.«

»So, so, mein guter Baudoin! Das ist gar nicht so übel und am Ende recht angebracht: die Leute hier sind ja ganz wacker, aber was Sauberkeit betrifft recht genügsam.«

»Das werden wir schon machen!«

Baudoin sah sich im Laboratorium um, betrachtete sich die Geräte auf dem Arbeitstisch und die Retorten mit ihren Kupferspiralen auf dem Ofen.

»Hier arbeiten Sie also, Herr Marcel? Und wer räumt denn auf?«

»Niemand, ich lasse keinen Menschen herein.«

»Das sieht man! Nun, ich werde Ihre Instrumente in Ordnung halten, denn ich weiß ja, wie man mit derlei Sachen umzugehen hat. Beschäftigen Sie sich mit den Arbeiten meines Generals?«

»Seit meiner Rückkehr von Paris nicht, weil ich von anderem in Anspruch genommen wurde, ich hoffe aber bald wieder Zeit dafür zu haben. Dann ist mir's besonders lieb, daß Sie hier sind, denn Sie können mir an die Hand gehen, wenn ich Hilfe nötig habe. Sehen Sie einmal her, Baudoin, da sind grüne, rötliche und blaue Farbstoffe, die ich in jüngster Zeit hergestellt habe, und womit man Wolle ganz unveränderlich färben kann.« Er ließ die in satten harmonischen Tönen gefärbten Wollsträhne durch die Finger gleiten und hielt sie ins helle Sonnenlicht.

»Ihr armer General war's, der mich zu diesen Arbeiten angefeuert hat! Ach, wenn er selbst sich begnügt hätte, im Dienste unserer Industrie thätig zu sein, hätten wir ihn heute noch frisch und lebendig unter uns, und obendrein wäre er ein reicher Mann! Aber das war ihm zu niedrig, er wollte dem Vaterland, dem Staat dienen und ihm sein Bestes geben.«

»Ja, Herr Marcel, das hatte er sich in seiner Dienstzeit so angewöhnt.«

»Nn» denn, Baudoin, richte dich vorläufig nur häuslich ein. Gleich heute abend kannst du dann deinen Dienst antreten.«

Marcel blieb im Laboratorium, aber sehr fleißig war er heute nicht, es war, als ob eine innere Unruhe ihn erfüllt und von der Arbeit abgezogen hätte. Er setzte sich in einen ledernen Lehnsessel, den er gern den Alchimistenstuhl nannte, und sah mit verträumten Augen durchs offene Fenster hinüber zu der sonnbeglänzten Anhöhe, als ob er erwartet hätte, jeden Augenblick eine schwarzgekleidete Frauengestalt in einer der Lichtungen auftauchen zu sehen. Aber die Entfernung ist groß, die Wälder sind verschwiegen und so verstrich die Zeit ohne Erlebnis, wie ohne Arbeit, bis es fünf Uhr schlug.

Dann ging Marcel in den Garten hinunter, wanderte an den Rosenbeeten entlang und blieb am Ufer des Flusses stehen, wo er mit großem Ernst in dem krystallklaren Wasser einen Hecht beobachtete, der auf rasch dahinschießende dunkle Rotäugchen Jagd machte, die sich von Zeit zu Zeit, um dem Verfolger zu entrinnen, wie silberne Pfeile durch die Luft schnellten. Die Glocke am Eingang des Gartens entriß ihn diesen Beobachtungen, und aufblickend sah er einen hochgewachsenen, mit ausgesuchter Sorgfalt gekleideten jungen Mann in Begleitung des Pförtners auf sich zuschreiten. Es war ein auffallend hübscher Mensch mit blauen Augen und gebranntem Schnurrbart über lachenden Lippen. Im Herankommen zog er den Hut und sagte mit überaus höflichem Gruß in singendem, den Italiener verratendem Tonfall: »Habe ich das Vergnügen, Herrn Marcel Baradier zu sprechen?«

»Gewiß,« erwiderte Marcel, den Fremden plötzlich mit gesteigerter Teilnahme ins Auge fassend, »Und was verschafft mir die Ehre?«

Der junge Mann überzeugte sich durch einen raschen Seitenblick, daß der Pförtner auf seinen Posten zurückgekehrt war, und sagte dann leichthin und doch mit einem gewissen Hochmut: »Gestatten Sie, daß ich mich selbst vorstelle – Graf Cesare Agostini, Fürst von Briviesca. Ich habe mit meiner Schwester die kleine Villa ›Waldhaus‹ bezogen und möchte Ihnen danken für die Freundlichkeit, die Sie ihr gestern beim Spaziergang erwiesen haben.«

»Sehr freundlich, obwohl ich mir gar keiner Verdienste bewußt bin, Herr Graf!« rief Marcel. »Der Zufall führte mich mit Ihrer Frau Schwester zusammen, die fremd in der Gegend ist. Sie schien mir in trauriger Stimmung zu sein und die Einsamkeit zu suchen, ich konnte also nichts Besseres thun, als so weit es in meiner Macht stand, diesem Wunsch entgegenzukommen, das ist alles!«

Der Graf verbeugte sich abermals. Sein hübsches Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck, als er in klagendem Tone hinzusetzte: »Sie haben recht gesehen, meine Schwester ist sehr unglücklich. Sie hat sich bei der Pflege ihres Mannes, der bedeutend älter war als sie, fast aufgerieben, und mußte doch den Schmerz erleben, ihn vor einiger Zeit zu verlieren. Zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit hat sie die Ruhe und Stille dieses Thales aufgesucht ... auch die Heilquelle von Ars wurde ihr sehr empfohlen, aber was sie hauptsächlich nötig hat, ist frische Luft nach monatelanger Haft im Krankenzimmer ... Eine sehr traurige Sache ... sehr traurig ...« warf der Italiener mehrmals kopfschüttelnd hin.

»Und Sie kommen aus Italien mit Ihrer Frau Schwester?« fragte Marcel.

»Doch nicht. Meine Schwester, Frau von Bignola, lebte bisher in Paris, wo ich erst kürzlich mit ihr zusammengetroffen bin,« versetzte der Graf. »Wir werden später in Neapel dauernd Wohnung nehmen, aber nicht vor Herbst ... ach, alles ist sehr traurig ... sehr schmerzlich ...«

Da der Italiener keine Eile zu haben schien, und Marcel gerne erfuhr, was er ihm erzählen konnte, führte er seinen Gast zu einer Laube, die Schutz vor der Sonne und ländlich gebaute Sitze bot.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, wenn ich bitten darf ...«

Der Graf warf sich ohne Umstände in einen Lehnstuhl aus roh gefügten Baumasten, zog ein goldenes Cigarettenetui aus der Tasche und bot es Marcel hin.

»Eine Cigarette?«

»Mit Vergnügen.«

Sie fingen zu rauchen an, und der Tabak schien den Italiener noch mitteilsamer zu stimmen. »Die Villa, die meine Schwester sich ausgesucht hat, liegt sehr einsam ... die Gegend ist doch sicher?«

»Vollständig. Ihre Frau Schwester kann unbesorgt überall spazieren gehen!«

»Freut mich zu hören, um so mehr, als ich nicht lange bei ihr bleiben kann. Meine Geschäfte rufen mich nach Paris zurück und es ist mir ein unbehaglicher Gedanke, sie allein hier zu lassen mit ihrer Jungfer, die mir ganz fremd ist. Sind immer so wenig Kurgäste in Ars?«

»Um diese Zeit des Jahres gar keine. Die Badezeit fängt nicht vor Juni an und jetzt haben wir erst April. In zwei Monaten werden sich die Gasthäuser schon füllen und dann wimmeln die Straßen von den altmodischen Landkutschen der Umgegend, für mich gewöhnlich das Zeichen, aufzubrechen.«

»Sie leben nicht das ganze Jahr über hier?«

»O nein, nur in oft sehr großen Zwischenräumen halte ich mich hier auf. Ich lebe in Paris, hierher führen mich nur Geschäfte ...«

»Sie haben eine bedeutende Fabrik hier?«

»Eine der größten in diesem Bezirk. Mein Großvater hat sie begründet, hier ist die Wiege unseres Geschlechts und der Ursprung unseres Vermögens. Darum wollte mein Vater auch, obwohl er selbst Bankier ist, die Spinnerei und Weberei nie aufgeben und widmet ihr fortwährend seine Aufmerksamkeit, trotzdem er viel bedeutendere Interessen auf anderem Gebiet verfolgt.«

»Und da hat er Ihnen die Leitung dieser Industrie übertragen?«

»Doch nicht, es ist ein Fachmann dafür angestellt, der eigentlich Direktor und Vertreter meines Vaters ist. Ich bin hier nichts als der Sohn des Hauses und greife in keiner Weise in den Geschäftsbetrieb ein, dagegen habe ich mir ein Laboratorium eingerichtet, und da ich einigermaßen Chemiker bin, mache ich hier meine Experimente. ... Alle Welt wird Ihnen aber sagen, daß ich nur Dilettant und keineswegs ernsthaft zu nehmen sei, auch werden Sie zu hören bekommen, daß die Materialien zu meinen Experimenten bedeutend mehr Geld kosteten, als diese je eintrügen!«

Er lachte harmlos-fröhlich bei diesen Worten und der Italiener fiel herzhaft ein.

»Ach, die Familiensöhne,« bemerkte er in seinem singenden Ton, »die werden immer falsch beurteilt! Es ist wirklich schwer, als ernsthafter Arbeiter anerkannt zu werden, wenn man reich ist. Die Leute gehen davon aus, daß, wer nicht verdienen müsse, wohl auch nicht dazu fähig wäre, und doch wüßte ich nicht, weshalb ein reicher Mann nicht auch Talent oder Genie haben sollte.«

»Ich bitte Sie, Graf, was sollte dann aus den armen Teufeln werden?« rief Marcel übermütig.

»Sie reden so leichthin von Ihren Arbeiten,« sagte der Graf mit einer verbindlichen Handbewegung, »und doch sind sie wahrscheinlich höchst interessant?«

»Soweit man die Experimente eines Färbers interessant nennen mag. Ich lasse Wollsträhne in Farben einweichen und suche die Farbwerte unveränderlich zu fixieren, damit aus solchen Garnen gewebte Stoffe in Zukunft nicht mehr in Wind oder Regen die Farbe andern – abschießen ist der landläufige Ausdruck, Die Möbelstoffe oder Wandbehänge, die heutzutage im Handel sind, verspeist der erste Sonnenstrahl zum Frühstück – ein heller Morgen und die Pracht ist dahin! Die alten Stoffe dagegen, die hielten stand, sie dauern heute noch, folglich hatten unserer Vorfahren Färbmittel, die den unseligen überlegen sind, trotzdem wir in der Chemie so große Fortschritte gemacht haben ... das beschäftigt mich und dem möchte ich abhelfen; wie Sie sehen, eine sehr nüchterne und keineswegs Genie fordernde Thätigkeit!«

»Der Stein der Weisen ist es freilich nicht, aber jede wissenschaftliche Forschung hat ihren Wert.... Haben Sie schon befriedigende Ergebnisse erreicht?«

Marcel machte eine humoristische Verbeugung.

»Ich würdige Ihre Liebenswürdigkeit vollkommen! Sie wollen mich an meiner schwachen Seite fassen, Herr Graf! Sie denken: ›Erfinder reden immer gern von ihren Werken, und ich kann diesen jungen Mann nicht besser für seine Artigkeit gegen meine Schwester belohnen, als indem ich ihm dazu Gelegenheit gebe!‹ Wenn ich nun Ihre Wißbegierde ernst nähme und Ihnen meine Proben zeigen wollte, wären Sie übel daran!«

Der Blick des Italieners verdüsterte sich; er senkte das Haupt und erwiderte in schwermütigem Ton: »Es ist mir wirklich schmerzlich, daß Sie nicht an meine Aufrichtigkeit glauben, Herr Baradier. Was Sie mir bisher sagten, hat mich in hohem Maße interessiert. Ich bin vielleicht weniger oberflächlich als viele von Ihren Landsleuten, und da Sie mir nicht genügendes Verständnis für Ihre Arbeiten zutrauen, möchte ich wirklich um die Gunst bitten, sie besichtigen zu dürfen. Vorausgesetzt natürlich, daß nicht alles ein Scherz war, den ich mißverstanden hätte ... die Feinheiten Ihrer Sprache entziehen sich manchmal meinem Verständnis, wofür ich um Nachsicht bitte!«

»Keine Rede! Es war mir vollkommener Ernst,« versicherte Marcel wohlgelaunt, »und ich bin auch immer noch der Meinung, daß die Gewährung Ihres Wunsches eine Strafe für Ihre Neugierde sein wird! Da Sie aber mit einiger Beharrlichkeit darauf dringen, bitte ich, mir zu folgen ... meine Werkstatt soll Ihnen aufgethan werden!«

»Herzlichen Dank!« rief Cesare. »Ich fürchtete schon, Sie gekränkt zu haben!«

»Und womit? Sie würden sich am Ende wunder was vorstellen, wenn ich Ihnen meine bescheidenen Herrlichkeiten nicht zeigen wollte.... Nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht schmutzig werden; ein Schmuckkästchen ist meine Behausung nicht.«

Er öffnete die Thüre und ließ den Grafen vorantreten in das getäferte Arbeitszimmer, das ans Laboratorium stieß. Cesare stieg das Blut ins Gesicht; er sah sich mit gespanntester Aufmerksamkeit um. Auf einem an die Wand gerückten Schreibtisch lag ein ungeordneter Haufen mit Zahlen und chemischen Formeln bekritzelter Blätter, in einer halb herausgezogenen Schublade sah man Kapseln und Dosen von verschiedener Gestalt und Farbe, die sorgfältig mit Aufschriften versehen waren. Ein schwerer eichener Tisch trug eine Reihe von geschliffenen Glasflaschen, deren Inhalt als Schwefelsäure, Nitro-Benzin, Pikrinsäure und eine Reihe von chlorsauren Verbindungen bezeichnet war.

»Diese Stoffe verwenden Sie aber doch nicht zur Herstellung von Farben?« bemerkte der Italiener, auf den Tisch deutend.

»Nein,« erwiderte Marcel ausweichend, »die brauche ich zu anderen Versuchen.«

Als er seinen Gast mit ausgestreckter Hand auf eine der Phiolen zugehen sah, setzte er rasch hinzu: »Bitte, nicht anfassen, das ist gefährlich.... Wenn Sie zufällig den Inhalt ausschütteten, könnte es uns beiden schlecht bekommen... treten Sie lieber hier ein.«

Er öffnete die Thüre zum Laboratorium und wies dein Grafen seinen Alchimistenstuhl am Fenster an.

»So, hier können Sie sogar rauchen, hier hat's keine Gefahr,« sagte Marcel, »da können wir weder verbrennen, noch in die Luft gesprengt werden!«

»Im anstoßenden Zimmer dagegen?«

»Da könnte ein leichtsinnig weggeworfenes Streichholz die ganze Fabrik in die Luft sprengen und uns beide desgleichen.«

» Diavolo! Da werde ich das Rauchen lieber auch hier unterlassen! Ich möchte mich nicht gern durchs Dach empfehlen!«

Geduldig ließ sich der Graf Marcels gefärbte Wollproben vorlegen; er folgte auch scheinbar mit gespannter Aufmerksamkeit den erklärenden Worten, aber der unstete Blick, der immer wieder unter den halbgeschlossenen Lidern hervorschoß und suchend umherschweifte, verriet, daß seine Gedanken bei »den anderen Versuchen« verweilten, wovon Marcel gesprochen hatte. Aber nichts im ganzen Laboratorium schien sich auf die Arbeit zu beziehen, die so gefährliches Material verlangte.

»Sie müssen mir von diesen tief und leuchtend gefärbten Fäden etwas mitgeben,« sagte der Italiener. »Meine Schwester stickt wunderbar ... es wird sie in ihrer Einsamkeit aufheitern, irgend ein schönes Kunstwerk daraus entstehen zu lassen, an dem Sie dann das Zusammenwirken Ihrer Farben studieren können.«

»Wenn Sie gestatten, werde ich ihr die Wolle selbst bringen,« erklärte Marcel eifrig.

»Wie Sie wollen ... gegen fünf Uhr nachmittags sind wir immer von unseren Spaziergängen zurück und bleiben dann zu Hause. Nur muß es bald geschehen, wenn Sie mich noch treffen wollen, denn ich reise in den nächsten Tagen ...«

»Paßt es Ihnen morgen?«

»Gewiß ... also morgen!«

Der Italiener stand auf und beugte sich zum Fenster hinaus.

»Ach, Sie sind ja dicht überm Fluß ... Sie könnten vom Fenster aus angeln! Fürchten Sie nicht, daß man auf diesem Weg bei Ihnen einsteigen könnte? Ein paar Landstreicher brauchten nur mit dem Boot hier anzulegen ...«

»Das ist ein Einfall! Wer sollte darauf verfallen? Und was wäre hier zu suchen? Einfach nichts! Das weiß man in der Umgegend auch genau, und überdies sind die Leute grundehrlich.«

»So? Und in der Fabrik haben Sie keine fremden Arbeiter?«

»Selten. Ein paar Belgier oder Luxemburger höchstens. Wir vermeiden es, so viel wir können, denn die fremden Arbeiter sind viel schwieriger.« »Sie wohnen aber doch nicht in diesem Gartenhaus, schlafen nicht hier?«

»Nein, es ist gar keine Wohnung da. Dieses Erdgeschoß und ein Dachstuhl, das ist alles. Ich bewohne das kleine Haus der Direktorswohnung gegenüber. Es ist nicht groß, aber sehr behaglich: mein Onkel Graff hat jahrelang darin gewohnt ...«

»Wie glücklich Sie sind, solche Familienbeziehungen zu haben,« bemerkte Cesare mit schwermütigem Blick. »Meine Schwester und ich stehen ganz allein. Von den Briviescas scheiden mich alte Familienzwistigkeiten, und mein Schwager hatte gar keine Verwandte. So müssen wir fest zusammenhalten und einander alles sein.«

»Ihre Frau Schwester ist ja so jung, sie kann sich wieder verheiraten.«

»Sie denkt nicht daran! Nach allem, was sie in ihrer ersten Ehe durchgemacht hat, will sie nur noch Ruhe und Frieden haben.... Ach, wie hat sie gelitten! Der unglückselige Vignola, ein gebrochener, kranker Mann, war von einer wahnsinnigen Eifersucht! Nicht für eine Stunde durfte sich die Frau von ihm entfernen, denn sobald er sie nicht vor Augen hatte, war er wie ein Rasender. Bei seinem Tod hat er ihr ja ein großes Vermögen hinterlassen, aber das ist ein schlechter Ersatz für eine so traurige Jugend. ... Doch lassen wir das ruhen! Friede seiner Asche!«

»Ihre Frau Schwester hat kein Kind?«

»Nein, das ist der große Schmerz ihres Lebens.«

Das Bild der schlanken schwarzen Frauengestalt, die so einsam und traurig durch den Wald streifte, trat vor Marcels Seele. Sie kam ihm gar zu hübsch vor, um über den Tod eines alten Gatten untröstlich zu sein! Wie alt sie nur sein mochte? Allerhöchstens Fünfundzwanzig. Und nichts kennen gelernt vom Leben als Schmerz und Traurigkeit!

Cesare verabschiedete sich jetzt und Marcel begleitete ihn durch den Garten, an dessen Thor sie mit herzlichem Händedruck schieden.

»Auf morgen also, Herr Graf! Empfehlen Sie mich inzwischen Ihrer Frau Schwester.«

Marcel war im Begriff, ins Fabrikgebäude zu gehen, als ihm Cardez, der Bär, mit rotem Kopf und finster zusammengezogenen Brauen entgegenkam.

»Ach, Herr Marcel! Ich wollte eben zu Ihnen. Es gibt allerhand Aerger und ich bin nur froh, daß Sie gerade hier sind und sich und die Firma persönlich davon unterrichten können.«

»Ja, was ist denn los?«

»Die Färber und die Wollkartätscher fordern kürzere Arbeitszeit und drohen mit einem Streit.«

»Donnerwetter! Das sind Neuigkeiten!«

»So ganz aus blauem Himmel kommen sie nicht. Schon seit drei Wochen wird über der Geschichte gebrütet. Ich wußte wohl, was im Werk war, hoffte aber, der Sommer mit seiner langen Tageszeit werde uns die Möglichkeit geben, die Leute allmählich wieder zur Vernunft zu bringen. Aber fehlgeschossen! Nun heißt es nicht nur kürzere Arbeitszeit, sondern auch noch Lohnerhöhung.«

»Und ist der Anspruch berechtigt?«

Der Direktor steifte sich, wie eine Dogge die zum Sprung ausholt, und warf seinem jungen Herrn einen entrüsteten Blick zu.

»Sind die Ansprüche der Arbeiter je berechtigt? Diese Leute haben nur eine Losung – so wenig Arbeit und so viel Lohn als möglich.«

»Nun, dieses Verlangen haben sie mit allen Menschen gemein,« versetzte Marcel gelassen.

»Ach, Herr Marcel, so etwas sollten Sie gar nicht in den Mund nehmen, das können Sie den ›Führern‹ überlassen!«

»Warum denn?«

»Weil wir mit Volksbeglückungsideen und Gewähren bald nicht mehr Herr im Hause sein würden, überhaupt nicht mehr drin, sondern vor die Thüre gesetzt.«

Marcel sah den Beamten ernsthaft an.

»Ich bin ganz entgegengesetzter Meinung, Herr Cardez. Meine Ueberzeugung ist, daß wir bessere Arbeiter hätten, wenn wir sie als Mitarbeiter, als Teilhaber am Geschäft behandelten. Wir hätten bessere Leistungen und willigeren Gehorsam. Zwischen Kapital und Arbeit herrscht ein großes Mißverständnis; sie stehen einander feindlich gegenüber, statt als Bundesgenossen Hand in Hand zu gehen.«

»Aha! Da haben wir den Sozialismus!«

»Nein, sondern ganz einfach den Kollektivismus.«

»Und wissen Sie auch,« fragte Cardez, den jungen Mann spöttisch ansehend, »was die eigentliche Ursache der Aufsässigkeit unserer Färber ist?«

»Die eigentliche Ursache? Ja, die sprechen sie doch mit ihren Forderungen aus?« »Nein, der Arbeiter, für den Sie so besorgt sind, ist immer doppelzüngig; was er eigentlich denkt, soll man nie erfahren, aber ich weiß, daß bei ihren geheimen Zusammenkünften Reden gehalten werden gegen die Neuerungen, die Sie erfinden; diese erregen Anstoß.«

»Das ist ja blödsinnig!«

»Ich hab's Ihnen ja vorhergesagt,« brummte der Bär triumphierend. »Das ist ein Verfahren, das noch keiner begreift, nun heißt's, der eigentliche Zweck davon sei, die Handarbeit und folglich die Zahl der Arbeiter zu beschränken. Deshalb drängen sie jetzt zum Streit, um die Arbeitsstunden so zu vermindern, daß die Arbeiterzahl gleich bleiben müßte.«

»Die Leute sind vollständig falsch berichtet! Wenn man ihnen die Sache ordentlich erklärte, würden sie es leicht begreifen. Sie würden dann einsehen, daß die von mir eingeleitete Vervollkommnung des Fabrikats nicht ihr Schaden, sondern ihr Nutzen ist.«

»Das werden sie nie zugeben!«

»Wenn ich's ihnen aber beweise?«^

»So beweisen ihre Führer das Gegenteil!«

»Durch wen werden sie denn aufgehetzt?«

»Durch die Belgier.«

»So entlassen Sie diese Belgier.«

»Das wäre jetzt eine große Unvorsichtigkeit. Für den Augenblick ist's besser, Geduld zu zeigen, zu unterhandeln und eine friedliche Uebereinkunft anzubahnen. Diese Leute sind Wallonen, und wenn sie ein Gläschen Schnaps mehr im Leib haben, als sie vertragen können, so hat man das Aeußerste zu befürchten. Ein Belgier war's auch, der voriges Jahr seinem Werkführer das Messer in den Leib stieß! Sie sind tüchtig in der Arbeit, aber wilde Teufel. Uebrigens ist die Gefahr noch keine unmittelbare, man muß nur gut aufpassen. Wenn Sie eine Versammlung abhalten und mit den Leuten reden wollen, werden Sie ja sehen, was zu machen ist,« setzte Cardez, in sich hineinkichernd, hinzu.

Marcel wußte sehr wohl, daß der Bär ihm gegenüber auf seine lange Erfahrung pochte, daß er im stillen dachte: »Versuch's nur, du Grünschnabel, laufe dir die Hörner ab an diesem Volk, du wirst schon noch deine Erfahrungen machen. Halte ihnen schöne Reden, setze ihnen erbaulich auseinander, daß es ihr Vorteil ist, fleißig und artig zu arbeiten, damit du am Ende des Jahres eine schöne Dividende einstreichen kannst, während sie, gerade ihr Auskommen haben. Versuch's nur, ihre Zustimmung und ihren Beifall davonzutragen! Nachher kannst du mir erzählen, was du erreicht hast. Solang du ihnen nicht die Fabrik schenkst und Betriebskapital dazu, ihnen vielleicht sogar die Dividende versprichst, wird's mit der Zufriedenheit nicht weit her sein!«

Marcel wollte deshalb nicht länger mit Cardez streiten. Er erkannte auch, wie richtig es war, das Ansehen und die Macht des Direktors im Augenblick der Gefahr ja nicht zu schwächen, vielmehr ihn kräftig zu unterstützen, um den Schwierigkeiten vorzubeugen.

»Seien Sie überzeugt, Herr Cardez,« sagte er, »daß ich alles thun werde, Ihnen zu helfen. Sie brauchen mir nur den Weg zu weisen. Wir fassen die Arbeiterfrage ja wohl etwas verschieden auf, aber wenn das Haus in Flammen steht, muß man sich nicht über die Vorzüge der verschiedenen Löschsysteme zanken, sondern in Anwendung bringen, was man zur Hand hat! Treffen Sie also die Maßregeln, die Sie für angezeigt halten. Haben Sie meinem Vater schon Mitteilung gemacht?«

»Gewiß nicht! Es ist nicht meine Art, die Herren mit den Schwierigkeiten des inneren Betriebs zu belästigen. Dazu haben wir noch Zeit, wenn die Lage wirklich bedenklich werden sollte!«

»Sehr richtig! Warten wir's also ab.«

Um dieselbe Zeit kehrte Cesare Agostini in das Schweizerhaus zurück. Er durchschritt das Vorgärtchen und trat in das zu ebener Erde gelegene Wohnzimmer, wo die junge Dame in Trauer auf einem Ruhebett lag und einen Roman durchblätterte. Die sinkende Sonne fiel durchs Fenster herein und übergoß das Gesicht der Lesenden mit goldenem Schimmer. Sie war heute nicht die schwermütige, mädchenhafte Witwe, die Marcel im Wald hatte wandeln sehen; das hochgekämmte Haar brachte die stolze Verwegenheit des Profils zum Ausdruck, der Blick war hell und scharf, die roten Lippen lachten. Beim Geräusch von Cesares Schritten sprang die junge Frau, ihr Buch wegschleudernd, rasch auf.

»Da bist du ja, caro mio!« rief sie ihm fröhlich entgegen. »Was hast du ausgerichtet? Bist du befriedigt?«

»Ueber die Maßen! Unser Tauber hebt von selbst die Flügel, um dir ins Garn zu flattern. Den Burschen zu rupfen ist noch kein großer Triumph!«

»Daraus mache ich mir gar nichts!« rief Sophia, hell auflachend. »Ich will nur mein Ziel erreichen, nach Ruhm lechze ich nicht! Du hältst also den Boden für günstig?«

»Und wie! Man hat hier nicht viele Zerstreuungen, und dein Erscheinen im Walde hat seinen Eindruck nicht verfehlt.«

»Er wird also kommen?«

»Gleich morgen, um mich noch zu treffen ... ich habe ihm nämlich gesagt, daß ich abreisen müsse. Dann hast du freie Hand und kannst deine Kunst zeigen. Sieh zu, daß die Geschichte klappt, du hast es diesmal nötig, dich herauszubeißen.«

» Caro mio, daß sie das letzte Mal nicht geklappt hat, daran war nur Hans mit seinem dummen Eigensinn schuld! Hätte er mich nach meinem Willen verfahren lassen, der alte General würde mir seine Rezepte auf einem silbernen Teller zu Füßen gelegt haben, aber Hans war zu hastig, zu gewaltthätig, und da hat Trémont trotz aller Verliebtheit Verdacht geschöpft. Verdammte Geschichte, die Hans seinen Arm gekostet hat und uns alle um ein Haar ins Verderben gestürzt hatte! Das Allerschönste daran ist, daß der General Hans selbst seine Truhe gezeigt – eine von Fichets schönen, feuerfesten Truhen mit den Sicherheitsschlössern, die so rein nichts nützen! – und dabei gesagt hat: ›Sehen Sie, mein Lieber, dieser Verschluß kann ohne meinen Willen von niemand geöffnet werden. Hier halte ich all meine Geheimnisse verwahrt, wer den Deckel heben könnte, wäre im Besitz all meiner Rezepte und Berechnungen, aber wer ihn nicht zu heben versteht, kann dabei sein Leben einbüßen!‹ Hat man je so etwas erlebt? Und wie Recht hatte er nicht, der alte Trémont! Er hatte seine Truhe zu einer Art von Brandbombe gemacht, man mußte damit umzugehen wissen. Hans hat das auch wohl begriffen, er war sogar vorsichtig und hat die Truhe auf die Stufen zur Terrasse geschafft, dort hat er sich mit der Mechanik herumgeschlagen. Ach, caro mio! Ich war schon innerhalb von Paris mit meinem Wagen, aber die Explosion war so gewaltig, daß die Erde bebte und die Coupéfenster klirrten. ... Ich sagte mir sofort: ›Da hat unser Hans alles entzwei geschlagen!‹ Aber daß es wirklich so wäre, glaubte ich doch nicht. Es ist geradezu ein Rätsel, wie Hans, dem es ja gelungen war, das Schloß zu öffnen, und der nun zwanzig Meter davon, platt an der Erde liegend, mittels eines Strickes den Deckel hob – er hatte ja mit Recht irgend eine Teufelei erwartet! – nicht in Stücke gerissen wurde!«

»Wie konnte denn aber die Explosion entstehen, wenn das Schloß regelrecht geöffnet war?«

»Beim Heben des Deckels. Ob die Truhe umgestürzt ist? Sie war doch sehr schwer, ... Ob irgend ein Trick dabei war, wie man sie beim Oeffnen hätte aufstellen müssen, damit sich die Masse nicht entzünde? Ob ein Uhrwerk darin angebracht war, das sie unter bestimmten Umständen in Brand setzte? Das sind nur Vermutungen, Gewißheit aber ist, daß in einer Sekunde die Truhe, die Rezepte, das Haus, sein Arm und unsere Hoffnungen zunichte wurden. Kein Mensch außer Hans hätte die Willenskraft und Geistesgegenwart gehabt, die jetzt nötig waren, sollte er nicht entdeckt werden von den Leuten, die im Nu von allen Seiten herbeigestürzt kamen! Und du kannst dir denken, daß mir nicht sehr wohl in meinem Haus war, solange ich ihn nicht in Sicherheit wußte.«

»Das will ich meinen! Aber du bist eine Frau, die den Kopf nie verliert, Sophia, ebenso kühn als geschickt. ... Jetzt gilt es, eine Niederlage auszumerzen und diesem albernen Muttersöhnchen das Maul zu stopfen.«

»Darauf kannst du dich verlassen! Das Jüngelchen kam mir übrigens ganz niedlich vor.«

»Er ist nicht übel ... laß dir's aber nicht etwa einfallen, dich zu verlieben!«

»Weil ich so viel übrige Zeit für solche Lappalien habe?« warf Sophia lachend hin. »Und meinst du denn, es wäre so leicht, dich auszustechen, Cesare?«

Der Italiener zuckte die Achseln.

»Du hast so sonderbare Launen, Sophia! Was nicht leicht ist, reizt dich doch in der Regel.«

»Eifersucht ... zwischen dir und mir, Cesare?« sagte Sophia mit spöttischem Vorwurf. »Ich dächte, wir beide waren über uns gegenseitig zu sehr im klaren. Werde ich etwa eifersüchtig sein an dem Tag, wo ich dich mit dem Millionenmädchen, der kleinen Lichtenbach, verheirate? Was macht es mir aus, ob du mit einer anderen lebst, so lange dein Herz mein sein wird? Wirst du etwa Trübsal blasen wollen, wenn ich meine ganze Persönlichkeit einsetzen muß, um von dem jungen Marcel zu erlangen, was er besitzt und namentlich was nicht sein Eigentum ist? Meine Schönheit, Teuerster, die ist ein Kapital, woraus man die höchsten Zinsen ziehen muß, die zu haben sind ... die Hauptsache ist, daß die Dividende dir zufällt! Im übrigen mache du die Augen zu und lasse mir freie Hand, es würde dich auch gar nichts nützen, wolltest du es anders halten. Du weißt sehr genau, daß ich meiner Lebtage nur nach meinem Gefallen gehandelt habe, und zwar Gebietern gegenüber, die weit mehr zu fürchten waren, als du!«

»So rege dich doch nicht so auf, Sophia! Wenn ich dich weiterreden ließe, kämst du mir nächstens mit Drohungen! Weiß Gott, daß du deinen eigenen Kopf hast!«

»Jawohl und für den Augenblick habe ich nichts anderes im Kopf, als den jungen Baradier einzusacken.«

»Der arme Tropf! Er wird dir's fast zu leicht machen!«

»Wie rührend! Du bemitleidest ihn wohl gar?«

Beide lachten übermütig, dann fragte Sophia: »Du hast seine Wohnung gesehen?«

»Gewiß, er machte gar keine Schwierigkeiten, mich in sein Laboratorium zu führen.«

»Hast du irgend etwas Besonderes bemerkt?«

»Sehr viel Spinnweben, einen Haufen zerbrochener Fläschchen und Gefäße mit Farbstoffen, worin Wollproben eingeweicht waren.«

»Nichts, was mit dem Pulver in Beziehung stände?«

»Nichts, das heißt in einem anderen Raum machte mich unser junger Mann liebevoll darauf aufmerksam, daß die Berührung irgend einer von den Glasflaschen, die auf dem Tisch standen, eine Katastrophe herbeiführen könnte. Dort hantiert er also mit den Bestandteilen des Pulvers oder hält diese versteckt, während im eigentlichen Laboratorium nichts Verdächtiges ist. Er hat mir sogar Erlaubnis erteilt, dort zu rauchen ...«

»Gut, daß man's weiß.«

»Hast du im Sinn, hinzugehen?«

»Ich habe nichts im Sinn und alles ... weiß man je vorher, mit welchen Mitteln man einen Plan ausführen wird? Die Weisheit besteht eben darin, ihrer viele zur Hand zu haben, damit man nie in Verlegenheit kommt. Ich habe mich verpflichtet, die Erfindung des Generals von Trémont an mich zu bringen. Dabei steht für mich nicht nur Geld, sondern auch Ehre auf dem Spiel, und ich gebe die Möglichkeit eines Mißerfolges einfach nicht zu. Unsere Freunde im Ausland würden mich für ein unbrauchbares Werkzeug halten, wenn mir die That nicht gelänge, und du weißt, was ihre Unterstützung für mich bedeutet. So lang sie ihren Einfluß zu meinen Gunsten geltend machen, wird sich Grodsko fernhalten und sich nicht um mich kümmern. Bin ich heute schutzlos, so rechnet er mit mir ab, und Gott weiß, daß ich viel auf dem Kerbholz habe!«

Cesare sah die junge Frau mit leisem Staunen an.

»Du ... du bist ja beinahe bewegt, Sophia? Den fürchtest du also, diesen einen?«

»Du weißt, daß ich niemand fürchte auf der weiten Welt,« versetzte sie mit großem Ernst, »aber vor ihm graut mir. Besonders wenn er nüchtern ist ...«

»Was, wie ich höre, selten vorkommt! Trinkt er aus Lust am Trinken?«

»Nein. Er will vergessen ...«

»Dich?«

»Vielleicht ...«

»Er hat dich leidenschaftlich geliebt?«

»Wie alle.«

»Wie lang hast du ihn nicht mehr gesehen?«

»Mehrere Jahre.«

»Und er lebt die ganze Zeit in Monte Carlo?«

»Nur im Winter. Im Sommer ist er in Wien.«

»Und er trinkt in Wien wie in Monte Carlo?«

»Und spielt. Das Trinken stört ihn nicht beim Spiel, seine Gedanken umnebeln sich nie.«

»Und er gewinnt?«

»Häufig, aber was will das für ihn heißen?«

»Ist er so reich, daß ihn der Gewinn kalt läßt? Der Glückliche!«

»Grodsko ist Eigentümer einer ganzen Provinz in Mähren, er besitzt Wälder, Berge, Dörfer. Diese Wälder liefern das schönste Fichtenholz in ganz Europa, die Berge sind durchwühlt wie Maulwurfshaufen und bergen Zinn und Kupfer, Wenn Grodsko die Einwohnerschaft seiner Dörfer rekrutierte, könnte er im Kriegsfall zwei ganze Regimenter stellen.«

»Und diesen Nabob hast du verlassen?«

»Einem Jungen zuliebe, der nichts hatte, als sein frisches Gesicht!«

»Und was hat Grodsko dazu gesagt?«

»Gesagt? Nichts! Er hat uns verfolgt, eingeholt und mir den hübschen Burschen niedergeschossen.«

»Und du?«

»Ich war schon jenseits der Grenze, wo ich meinen Liebsten erwartete.«

»Und statt seiner kam Grodsko?«

»Ja – Grodsko kam.«

»Und was war die Folge?«

»Eine Auseinandersetzung, in deren Verlauf er die Hand gegen mich zu erheben wagte. Da stieß ich ihm eines von den Messern in den Arm, die vom Frühstück her noch auf dem Tisch lagen.«

»Reizende Umgangsformen! Hielt er das für eine Wiederherstellung seiner Ehre?«

»Nein. Er knebelte mich und brachte mich in seinem Wagen nach Wien zurück. Dort gelang es mir, ihm zu entwischen mit Hilfe von Einflüssen, gegen die er nichts ausrichten konnte ... ich habe sie teuer bezahlen müssen, meine Freiheit, aber von dem Tag an hatte ich ihn nicht mehr zu fürchten und konnte ungehemmt nach meinem Gefallen die Welt durchstreifen.«

»Und wer ist denn die großmächtige Persönlichkeit, die dir diesen Dienst erwies?«

Sophia sah ihren schönen Freund spöttisch an, dann schnalzte sie mit den Fingern, daß es klang wie Kastagnettengeklapper.

»Wenn dich jemand danach fragt, sage nur, du wissest es nicht.«

»Halt du kein Vertrauen zu mir, Sophia?«

»Ich traue keinem Menschen, kaum mir selbst! Du solltest mir Dank wissen für meinen Freimut! Ich könnte dir ja Geschichten erzählen, dir vorfabeln, der Polizeipräsident habe mir die Thür aufgeschlossen, oder ein Erzherzog oder ein fremder Botschafter ... oder alle drei miteinander! Dessen kannst du jedenfalls gewiß sein, daß ich Verpflichtungen auf mich genommen habe und meinen Befreiern Dienst für Dienst zahle.«

»Dann haben sie jedenfalls ein gutes Geschäft gemacht, welche Verpflichtungen du auch gegen sie haben magst. Eine Verbündete wie du! Wo in der Welt fände man eine, die dich aufwiegt? Du bist ein Genie der Verführung, ich glaube nicht, daß auch nur ein Gewissen die Kraft hätte, dir zu widerstehen! Was du auch unternehmen magst, um Menschen zu berücken und zu verführen, es wird dir gelingen! Eine große und eine unheimliche, furchtbare Macht.«

Sophia lächelte bitter: ein drohender Ausdruck erschien auf den ernsten Zügen.

»Meine Kraft beruht auf meiner Menschenverachtung,« sagte sie. »Ich halte jeden zu jedem fähig ... man muß nur das richtige Mittel finden, ihn dazu zu treiben. Die Tapfersten habe ich im Angesicht des Todes feige zittern sehen vor der Vorstellung, daß alle Freuden und Genüsse für sie vorüber seien; Fanatiker des Ehrgefühls habe ich im Kampf mit der Not des täglichen Lebens mürbe werden und schamlose Zugeständnisse machen sehen. Um aus einem ehrlichen Mann einen Dieb zu machen, genügt ein Frauenlächeln; um den mildesten, sanftesten Menschen blutdürstig zu stimmen, braucht man nur die Eifersucht in ihm zu erwecken. Die armen Schlucker, die diese Erde bevölkern, wissen nicht einmal, wer ihre Handlungen bestimmt, sie bewegen sich wie Marionetten an Schnürchen, die von kühneren Händen gehalten und gezogen werden, und vollbringen, je nachdem ein Fingerdruck geübt wird, die erhabensten oder die schmählichsten Thaten. Unter allgemeiner Bewunderung erheben sie sich bis in den Himmel, oder wälzen sich in Schmutz und Blut, daß alles mit Grauen und Empörung vor ihnen entweicht. Und was war zum einen wie zum anderen nötig? Ein günstiger oder ein verderblicher Einfluß, ein Schnürchen, das nach der guten oder der schlechten Seite gezogen wurde, und der Mensch, das unverantwortliche Werkzeug eines Schicksals, das er erleidet und nicht gestalten kann, wird Held oder Verbrecher genannt, gekrönt oder gestäupt!«

»Aber die Tugend, Sophia, die Liebe zum Guten?«

»Zufälligkeiten, mein Freund, woraus man keine allgemeinen Schlüsse ziehen darf. Die meisten Menschen bleiben tugendhaft, weil sie keine Gelegenheit haben, Schurken zu werden, aber zweifle ja nicht, daß sie es leicht hätten werden können und zwar ausbündige! Die menschliche Natur, Cesare, ist ein fruchtbarer Boden für Laster und Verbrechen, es kommt nur darauf an, was man aussäet. Ich bin, wie du gesagt hast, eine, die Samen streut und unter deren Hand die Verderbnis üppig ins Kraut schießt. Jetzt werde ich den jungen Marcel Baradier als Versuchsfeld benützen!«

»Wohl bekomm's ihm!«

»Wenn er sich begnügt hätte, Fabrikant oder Bankier zu sein, wäre ihm nichts von alledem zugestoßen, was ihm jetzt bevorsteht, er hätte ruhig und vergnüglich leben können. Nun hat er sich aber mit Chemie befaßt, und darin liegt sein Verhängnis.«

Die Sonne hatte sich hinter den Berg verzogen, das kleine Zimmer lag in tiefer Dämmerung. Sophia und Cesare konnten ihre Züge nicht mehr deutlich unterscheiden und auch die Stimmen klangen wie gedämpft durch die Dunkelheit.

»Jetzt hatten wir Weisheit genug geschwatzt,« sagte die junge Frau aufstehend. »Doch was beweist man damit? Es sind leere Worte! Das Glück ist nicht den Grübelnden, sondern den Handelnden hold.«


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