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Zweites Kapitel.

In einem alten Patrizierhaus der Provencerstraße, das im Hintergrund eines geräumigen Hofes steht, ist seit länger als fünfzig Jahren das Bankgeschäft von Baradier & Graff eingerichtet. Infolge des Krieges von 1870 hat sich in der Geschäftswelt die Bezeichnung Elsaß-Lothringische Bank dafür eingebürgert, ja man nennt sie kurzweg die Lothringerin«. Baradier & Graff führen diesen Namen nicht als Firma, aber der patriotische und deutschfeindliche Anstrich, der ihrem Geschäft dadurch verliehen wird, ist ihnen willkommen und schmeichelhaft, denn sie sind persönlich eifrige und ehrliche Patrioten, die seit dem Ausgang des Krieges Metz nicht wieder betreten haben. Andererseits mochten sie sich aber auch nicht von ihrem Grundeigentum trennen, und so haben sie denn auch auf deutschem Gebiet festen Fuß behalten.

Baradier ist ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, untersetzt, zur Fettleibigkeit neigend, mit stark gerötetem, fröhlichem Gesicht und hellen blauen Augen; Graff ist groß und schlank, er trägt die langen dunklen Haare schlicht hinters Ohr zurückgekämmt, das bartlose Gesicht hat einen fast abstoßend verschlossenen Ausdruck. Wie im Aeußeren, so sind diese beiden Associés auch im Wesen vollständige Gegensätze, denn der zuvorkommende, lebenslustige Baradier ist ein herrischer, nüchterner Geschäftsmann; der steife, frostige Graff hat die Empfindlichkeit und Erregbarkeit einer Dichterseele. Man kann sich kein besseres Gespann denken. Der Phantasie des einen legt die Besonnenheit des anderen Zügel an, der herrische Sinn des einen wird durch die wohlwollende Milde des anderen gemäßigt. In der Geschäftswelt ist die glückliche Verschmelzung dieser Gegensätze auch wohl bekannt, und nie verläßt ein Kunde, der bei Baradier abgewiesen wurde, das Haus, ohne noch bei Graff vorzusprechen, seine Vermittelung nachzusuchen und das tröstliche Wort: »Lassen Sie mich nur machen; ich werde schon dafür sorgen!« als Balsam auf die Wunde gelegt zu bekommen, worauf dann in der Regel ein für beide Teile befriedigendes Abkommen zu stande kommt. Lange Erfahrung hat nämlich die beiden Geschäftsfreunde gelehrt, die Verschiedenheit ihrer Veranlagung selbst auszunützen, und Baradier gibt sich das Ansehen, alles entzwei zu schlagen, in der Gewißheit, daß Graff ein Vergnügen daran finden wird, den Schaden zu kitten.

Baradier ist Familienvater; er hat einen Sohn von sechsundzwanzig und eine Tochter von achtzehn Jahren. Beide Kinder sind von der Mutter trefflich erzogen. Der gefühlvolle, schwermütige Graff ist Junggeselle geblieben und schickt sich an, der prächtigste Erbonkel in ganz Frankreich zu werden, wie sein Neffe Marcel oft im Uebermut sagt. Er liebt die Kinder seiner Schwester, als ob sie sein eigenes Fleisch und Blut wären, und so oft Marcel einen dummen Streich macht, sucht er beim Onkel Hilfe, weil der Vater so schwer »weichgibt«. Vater und Sohn sind leider nicht immer voneinander erbaut: der im Reichtum aufgewachsene Sproß, der früh erfahren hat, welcher Handelswert seinem Namen innewohnt, führt sich nicht immer zur Zufriedenheit der Seinigen auf.

»Nichts Ernstliches!« sagt indes der Onkel Graff. »Es handelt sich ja nur um Geld.«

So beurteilt der schweigsame, bedürfnislose Mann, der außer für seinen Haushalt nur für wohlthätige Zwecke Geld braucht, die Schulden, die sich der junge Marcel von Zeit zu Zeit durch ihn bezahlen läßt. So oft er ihn des Abends nach dem Essen aufsucht, weiß Onkel Graff, was die Uhr geschlagen hat. Er macht dann ein noch schwermütigeres Gesicht als gewöhnlich, vergräbt sich ganz in seinen Lehnstuhl und fragt mit hohler Stimme: »Und was noch?«

Während dann der junge Mann sein Mißgeschick schildert, Verluste auf dem Rennplatz oder am Spieltisch, Ausgaben für irgend eine entzückende kleine Sängerin, die ihm ein steinreicher Ausländer streitig macht, betrachtet sich der Onkel den Neffen, ohne im geringsten seinen Bekenntnissen zu folgen.

»Ein reizender Bursche,« denkt er bei sich. »Wie sollte ein Mensch, der so aussieht, keine Dummheiten machen? Natürlich reißt man sich um ihn, und weshalb sollte er sich ein Vergnügen versagen? Wozu würden denn Baradier & Graff den lieben langen Tag rechnen, wozu die Börsen von London, Petersburg und Berlin überwachen, von der Pariser gar nicht zu reden, wenn dieser bildhübsche, elegante, geistvolle, vornehme junge Mensch sich nicht amüsieren könnte, indes sie arbeiten? Genieße du nur, was dein Onkel nie genossen hat und nicht zu genießen verstünde, sei du der Prinz und laß ihn das Geld schaffen! Laß dich küssen von den hübschen Mädchen, von denen er geträumt hat, um in ihrer Gegenwart linkisch und verlegen zu verstummen. Zeige dich auf dem Rennplatz und wetteifere in Pferden und Wagen mit den Söhnen der ersten Häuser, deine Mittel, die Mittel des Hauses Baradier & Graff, erlauben dir das. Nur übertreibe nichts, um deiner Gesundheit willen, und mache deinem alten Onkel immer die Freude, daß er es sei, der dir Dienste leistet!«

Derlei Gedanken ließ der Onkel Graff aber beileibe nicht laut werden, er sagte vielmehr in dem lothringischen Tonfall, den er nie losgeworden war: »Mein lieber Marcel, du bist ein Schaf! Läßt dir von geriebenen Gaunern und Dirnen das Fell über die Ohren ziehen! So führt man sich nicht auf, wenn man der Sohn von Baradier & Graff ist! Wenn dein Vater solche Geschichten erführe, da bekämst du nette Dinge zu hören! Und was soll ich ihm sagen, wenn er mir den Vorwurf macht, deinen Leichtsinn zu unterstützen? Er hat vollkommen recht und ich begehe ein Unrecht, wenn ich dir Geld gebe, das du so thöricht verbrauchst. Ist dir vielleicht erinnerlich, wieviel du seit Neujahr von mir erhalten hast?«

Damit macht er Miene, in seinen Büchern nachzuschlagen, und dann ruft Marcel erschrocken und abbittend: »Onkel Graff! Es ist ganz gewiß zum letztenmal, daß ich ...«

»Wenn's nur nicht immer das letzte Mal wäre! Aber was soll man machen? Ist sie denn gar so hübsch, hm, mein Freund?«

Dann stimmt Marcel einen verliebten Lobgesang auf die jeweilige Dame seines Herzens an; der Onkel wird gerührt und gibt ihm, was er haben will.

Wenn aber Marcel Baradier auch dumme Streiche machte, so versäumte er deshalb doch die Arbeit nicht, und darin lag die Entschuldigung für Onkel Graffs Schwäche. Durch seine ungewöhnliche Begabung hatte es der junge Mensch ohne Anstrengung sehr weit gebracht im Studium. Er war einer jener widerstandsfähigen und ausdauernden Blonden der Ostmark, die Frankreich von jeher seine besten Soldaten geliefert hat. Ihn hatte die Laufbahn des Offiziers nicht gelockt, obwohl ihn der General von Trémont gern als Artilleristen gesehen hätte. Trémonts Laboratorium zog ihn mehr an, als dessen Uniform, und unter Leitung des väterlichen Freundes hatte er interessante Versuche mit mineralischen Farben angestellt, die den Vater in die angenehme Lage versetzten, mit Stolz sagen zu können: »In unserer Fabrik werden Färbverfahren angewendet, die mein Sohn erfunden hat und die unser ausschließliches Eigentum sind.«

Das war denn auch die Waffe, die der Onkel tapfer schwang, so oft es galt, Marcel zu verteidigen.

»Du weißt ja selbst,« sagte er dann zu seinem Schwager, »daß dein Sohn ein höchst begabter Mensch ist und daß ihm die Fabrik viel verdankt.«

»Wenn er nur dabei auch vernünftig werden wollte!« polterte dann Baradier. »An der Begabung fehlt's freilich nicht, aber am Willen, sie richtig anzuwenden. Der Schlingel arbeitet einen Monat im Jahr, um während der übrigen elf zu faulenzen!«

Seit einiger Zeit schien Marcel indes vernünftiger zu werden, oder vielmehr seine Arbeiten fesselten ihn derart, daß er keine Zeit zu dummen Streichen hatte. Er blieb des Abends meist zu Hause, ja, er hatte sogar seinen Klub aufgegeben, und wäre er nicht am Sonntag zu den Rennen gefahren, hätte man ihn für einen bekehrten Sünder halten können. Baradier wie Graff beobachteten diese Wandlung mit heimlichem Staunen, der Vater mit Spannung, der Onkel mit Besorgnis.

»Bei diesem Jungen müßt Ihr auf merkwürdige Anwandlungen gefaßt sein,« hatte der General Trémont gesagt, als beide ihm ihre Beobachtungen vorgetragen hatten, »denn er ist eben ein ungewöhnlicher Mensch. Außerordentlich talentvoll! Zur Zeit beschäftigt er sich mit Herstellung farbiger Photographieen und bereits hat er wirklich überraschende Erfolge erzielt. Laßt ihn gewähren und ungestört seinen Weg gehen, der kommt schon ans Ziel!«

Das war für Graff ein Triumph gewesen und für den Vater eine große Genugthuung. Marcel selbst war sich nicht einmal bewußt, daß er den Seinigen Rätsel zu raten gab; er war fast ein Fremdling in Paris geworden. Seit drei Wochen hielt er sich in der väterlichen Fabrik von Ars nahe bei Troyes auf und erschien nur hin und wider, um die Mutter flüchtig zu begrüßen und gleich nach Vanves zu eilen, wo er dem General über seine Arbeiten berichtete. Es waren köstliche Stunden, wenn der alte Chemiker und der junge Erfinder ihre Erfahrungen und Beobachtungen austauschten, um dann beim Frühstück auch über die Frauen zu plaudern. Dem General, dessen Herz so jung und feurig geblieben war wie das seines Schülers, konnte Marcel alles anvertrauen, und der väterliche Freund beneidete ihn im stillen um seine Jugend und freute sich der Kraft und Klugheit dieses jungen Menschen, der für den Genuß gleich befähigt war wie für den Ernst der Arbeit.

Trotz der Gewitterwolken, die Marcels Leichtsinn gelegentlich an ihrem Horizont aufsteigen ließ, wäre das Leben für die Baradiers und für Graff sonnig und friedlich dahingeflossen, hätte das Schicksal ihnen nicht die Lichtenbachs in den Weg gestellt. Der Chef des Hauses, Elias Lichtenbach, war der Sohn eines jüdischen Alteisenhändlers in Passy-sur-Moselle und hatte zugleich mit Graff die Schule in Metz besucht. Graffs Vater, ein Bierbrauer, hatte mit dem alten Lichtenbach in einer gewissen Geschäftsverbindung gestanden, indem er zersprungene Gläser, Faßreifen und alte Fässer an ihn verkaufte und den Juden, den er für sehr arm hielt, gern ein Sümmchen verdienen ließ. Moses Lichtenbach war eine ganz Metz vertraute Erscheinung gewesen, wenn er neben seinem alten Schimmel durch die Straßen gezogen war, um die Waren verschiedenster Gattung auf seinen Karren zu laden. Er war eine Art von Lumpensammler im großen und befreite die Hausfrauen von jeglichem Geräte und Geschirr, das, dienstuntauglich geworden, den Platz versperrte. Viel zahlte er natürlich nicht, aber geschenkt nahm er auch nichts, und wenn man beinahe beschämt ihm zersprungene Ofenroste, geborstene Töpfe, zerfetzte Teppiche, abgebrochene Schippen, ja altes Packstroh mitgab und ihm den Vorschlag machte, daß er dieses Gerümpel als Lohn fürs Fortfahren behalten solle, so erwiderte er: »Nein, nein. Jedes Ding hat seinen Wert, ich zahle nicht viel, aber ich zahle!«

Darein setzte er nun einmal seinen Stolz, die Geschäftsehre, und wer ihn achselzuckend für einen Narren erklärte, der sich mit Unbrauchbarem belaste, war sehr im Irrtum. Für Moses hatte wirklich jedes Ding seinen Wert gehabt, was man inne ward, als er nach dem Krieg Metz verließ und in Parts in der Chaussee d'Antinstraße ein Lädchen aufthat. über dessen Thüre zu lesen stand: »Lichtenbach, Wechsler.« In diesem bescheidenen Lokal fing der Alteisenhändler von Passy an, statt rostiger Nägel und Scherben, bares Geld umzusetzen. Dieser Umgestaltung seines Gewerbes waren freilich große Ereignisse vorangegangen.

Die ersten Kanonenschüsse bei Forbach waren für die meisten, die im Weichbild von Metz wohnten, das Zeichen zum Aufbruch gewesen, nur die unlöslich mit dem Boden verwachsenen Gärtner und Bauern waren auf ihrer Scholle geblieben. Wer Bewegungsfreiheit hatte, flüchtete sich und seine Siebensachen in die Städte, auf allen Landstraßen wimmelte es von Möbelwagen, Karren und Herden. Die meisten Flüchtlinge zogen sich ins Innere von Frankreich, Moses Lichtenbach dagegen ging dem Feind entgegen. Er war, allen unnützen Kram in seinen Vorratskammern in Passy zurücklassend, mit sechs sorgfältig verdeckten Leiterwagen in Metz eingezogen und hatte sich mit seiner Frau und seinem Sohn Elias in einem kleinen Haus nahe bei der Kathedrale eingerichtet.

Man hatte ihn wohlwollend aufgenommen, war er doch jung und alt bekannt. Einige Witzbolde meinten, der Vater Moses werde wohl deutsche Granatsplitter aufkaufen wollen und sei deshalb in die Stadt gezogen, sie täuschten sich aber, nach altem Eisen stand sein Sinn jetzt nicht. Er sah voraus, daß dieser wichtige Posten ernstlich belagert und ernstlich verteidigt werden würde, wobei die Lebensmittel für die Einwohnerschaft bald knapp werden mußten, und sagte sich, daß wer dann mit Eßwaren zur Stelle sei, ein glänzendes Geschäft machen könne.

Darum hatte er einen Teil seines Bargelds zum Ankauf von Branntwein, Kaffee, Zucker, Rauchfleisch und Salz verwendet, diese Vorräte auf seinen sechs Leiterwagen in die Stadt geschafft und sorgfältig in seinem Keller verstaut. Die lothringische Jugend zog mittlerweile in hellen Scharen ins Feld. Auch wer noch nicht militärpflichtig war, meldete sich als Freiwilliger, das alte kriegerische Blut pochte heiß in den jungen französischen Herzen. Auch der Sohn des Bierbrauers Graff hatte sich gestellt und kam eben mit seiner Kokarde am Hut vom Rathaus, als er auf Elias Lichtenbach stieß, der mit der Pfeife im Mund über den Marktplatz ging.

Wenn der alte Moses früher vor Graffs Thüre gehalten hatte, um Alteisen aufzuladen oder die Felle der Hasen einzuhandeln, die Graff am Sonntag zu schießen pflegte, so hatten die beiden Knaben manch liebes Mal miteinander gespielt. Der kleine Anton hatte Elias mitgenommen in den Garten, wo sie zu Frau Graffs großem Aerger miteinander über die unreifen Trauben hergefallen waren. Sehr beliebt war auch das Spiel mit Murmeln gewesen, und Elias hatte sich dabei nur schwer geärgert, daß es ihm nie gelang, seine Glaskugeln gegen Antons Achatmurmeln auszutauschen. Alle anderen Jungen in der Stadt wußte er stets zu übervorteilen, aber dieser Anton war so gerieben, daß er ihm einmal einen zerbrochenen alten Kindersäbel gegen sechs nagelneue Marmormurmeln aufgehängt hatte! Das war für Lichtenbachs Sohn eine schmerzliche Niederlage gewesen.

Allerdings war an diesem Tag Graffs Schwester Katharina zugegen und Elias hatte sich bemüht, ihr durch ungewohnte Großmut zu gefallen. In so jungen Jahren hatte sie schon die Macht gehabt, dieses Knabenherz zu verwirren.

Als Elias den Spiel- und späteren Schulkameraden im Vollgefühl seiner patriotischen That einherschreiten sah, hatte er die Pfeife aus dem Mund genommen und gefragt: »Wohin denn so stolz, Anton?«

»Nach Chalons. Dort trete ich ins 27. Infanterieregiment ein.«

»Was? Du hast dich einstellen lassen?«

»Wie alle jungen Leute meines Alters. Thust du es etwa nicht?«

»Ich weiß nicht ... mein Vater hat noch nichts gesagt...«

»Muß dir dein Vater erst sagen, was deine Pflicht ist?«

»Ja, weißt du, er wird mich eben im Geschäft brauchen,« hatte Elias, sich verlegen den Kopf krauend, zur Antwort gegeben.

»Frankreich braucht dich auch und für den Augenblick mehr als das Geschäft.«

»Ich bin erst Neunzehn ...«

»Und ich noch nicht Zwanzig!«

»Du hast nicht unrecht, ich werde mit meinem Vater sprechen.«

»Falls ich dich nicht mehr sehen sollte, leb wohl!«

»Ich wünsche dir Glück.«

Innerlich bewegter, als er es je gewesen, war Elias spornstreichs nach Hause gegangen, wo er den alten Moses im Keller traf. Dieser zog seinen Branntwein auf Flaschen ab, die er eigenhändig spülte, wobei in jeder ein viertel Liter Wasser zurückblieb, was vielleicht der einzige Zweck dieser Reinlichkeitsübung war.

»Koste einmal diesen Cognac,« rief der Vater seinem Sohn und Erben entgegen, indem er ihm ein Gläschen hinstreckte, »er ist wirklich gut! In einiger Zeit wird man gerne zwölf Franken für das Liter zahlen, dann sind wir die einzigen, die ihn umsonst trinken, mein Junge!«

»Du vielleicht, Vater, ich nicht ...«

»Wieso nicht? Was soll das heißen?«

»Weil ich wohl nicht mehr bei dir sein werde, wenn der Preis so hoch gestiegen sein wird.«

»Und wo wirst du denn sein, wenn man fragen darf?«

»Wo alle jungen Männer sind – im Feld.«

»Im Feld, Elias? Ja, wozu denn?«

»Um das Vaterland zu verteidigen, wie alle.«

Der Vater Moses starrte seinen Sohn beim Schein der Kellerlampe entsetzt an: so etwas Verblüffendes war ihm noch nie vorgekommen.

»Was für ein Land?«

»Frankreich, worin ich lebe, aufgewachsen bin, dessen Sprache ich rede, dem all unsere Kunden, all meine Freunde angehören.«

Der Vater Lichtenbach schüttelte schweigend den Kopf.

»Mein Junge,« entgegnete er in schneidendem Ton, »wir treiben hier unser Geschäft, wir sind nicht hier geboren. Ich stamme aus Hannover, deine Mutter aus Baden; als du zur Welt kamst, hielten wir uns in Genf auf, du bist nirgends militärpflichtig und kannst thun und lassen, was dir gefällt. Wir sind Deutsche von Geburt, Franzosen durchs Geschäft, wir gehören aber keiner Partei an und können nichts Besseres thun, als weit vom Schuß bleiben, wenn sie einander niederknallen. Was hätten wir dabei zu gewinnen? Du die Wunden, wir den Jammer! Und wenn Elias Lichtenbach sich als Soldat verkleiden und totschießen ließe und der alte Moses einsam sterben müßte, was hätte denn die Welt davon? Weiß unsereiner auch nur, weshalb diese Leute einander in Stücke reißen? Wissen sie es selbst? Was haben dir die Deutschen zuleid gethan, daß du sie bekämpfen willst? Was werden dir die Franzosen dafür zahlen, daß du sie verteidigst?«

»Aber Vater, alle jungen Leute ziehen fort! Morgen werden nur noch die Krüppel und Kranken zu Hause sein und auf mich werden die Leute mit den Fingern deuten!«

»Aha!« sagte Vater Moses mit einem Seufzer. »Du hast Ehrgefühl! Das kommt von den Schulen, wo man so viel Aufhebens von der Ehre macht! Merke dir's fürs ganze Leben, mein Sohn, diese Geschichten von Ruhm und Ehre sind hohles Geschwätz! Die Ehre besteht nur darin, zu bezahlen, was man schuldig ist, und einzufordern, was man ausstehen hat, alles andere ist Schwindel, das darfst du deinem alten Vater glauben! Die patriotischen Legenden werden nur erfunden, damit sich die Menschen, die Marseillaise singend, willig zur Schlachtbank führen lassen, zu Gunsten der Fürsten oder des Staats füttert man die Menschheit mit Phrasen, aber wer klug ist, geht nicht auf den Leim, denn hinterher haben all die Halunken, die sich selbst wohl geschont und die anderen vorwärts getrieben haben, nicht einmal ein Wort des Mitleids für sie übrig. Ich kenne die Welt, habe viel im Leben gesehen und kann dir nur sagen – hüte dich vor der Begeisterung. Sie ist das Gefährlichste und Erlogenste, was es auf der Welt gibt.«

Dann trat tiefe Stille ein in dem Keller. Rötlicher Lichtschein fiel da und dort flackernd auf die Gesichter der beiden Männer, das Glucksen des Branntweins, der durch den Faßhahn in die Flaschen lief, war der einzige Laut, der sich vernehmen ließ, und die Stille, Kühle und Dunkelheit wirkten merkwürdig niederschlagend auf das kriegerische Feuer des jungen Elias. Nach einer Weile fing der Vater wieder zu reden an.

»Ich begreife übrigens, daß du nicht als einziger von deinen Altersgenossen hier bleiben magst, und darum sollst du auch gehen. Du hast aber Besseres zu thun, als deine Haut zu Markt zu tragen oder die der anderen zu gerben. In kurzer Zeit wird Lothringen so gut wie das Elsaß vollständig vom Feind besetzt sein, und es wird sehr schwierig werden, das Heer zu verköstigen, das französische nämlich, denn dem siegreichen deutschen wird nichts abgehen. Die Aufgabe ist, nach der Seite von Chalons gegen Paris hin Lebensmittel aufzuspeichern. Du bist noch nicht volljährig, bist niemand Dienst schuldig, und kannst überdies Frankreich viel wichtigere Dienste leisten, als wenn du die Muskete trügest, wie diese Schafsköpfe. Ich will dir einen Beweis meines Vertrauens geben und Gelegenheit, deine Fähigkeiten zu zeigen. Komm... leuchte mir ....«

Moses ging in die fernste Ecke des Kellers, schob zwei Fässer beiseite, grub mit einem Spaten ein Loch in die Erde und legte den Deckel einer eisenbeschlagenen Kiste bloß. Mit Anstrengung hob er sie heraus, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, schloß auf und ließ seinen Sohn hineinblicken. Die Kiste war mit sorgfältig geordneten Geldrollen gefüllt. Der Vater riß eine davon auf und goß den Inhalt in die hohle Hand des Sohnes; es waren Zwanzigfrankenstücke in Gold.

»Hier liegen vierzigtausend Franken in Gold,« erklärte er. »Du bist kräftig genug, die Kiste zu tragen. Morgen früh fährst du mit dem ersten Zug nach Troyes, deponierst dein Geld auf Baradiers Bank, läßt dir aber keine Banknoten oder Wechsel dafür geben – das Gold wird bald rar werden und du steckst dann das Agio ein. Mit dem Kapital, das ich dir zur Verfügung stelle, kaufst du Vieh und bietest der Militärverwaltung Fleischlieferungen an. Die durch den Einzug des Feindes hervorgerufene Störung der Landwirtschaft macht, daß Vieh jetzt schon mit fünfundsiebzig Prozent Verlust verkauft werden muß, und die Schwierigkeit der Truppenverköstigung wird für den Wiederverkäufer eine Preissteigerung von hundert Prozent Gewinn zur Folge haben. Begreifst du den Handel? Richte dich nach dieser Annahme, dann wirst du der Armee tausendmal mehr nützen, als wenn du dich von einem dummen Feldwebel drillen ließest; du ziehst so gut wie alle anderen in den Kampf fürs Vaterland. Versäume nicht, das heute abend im Bierhaus auszuposaunen!«

»Wenn man mich aber fragt, in welches Regiment ich eintrete?«

»So sagst du, ich bin einberufen nach Rethel, dort wird man mich einem Regiment zuteilen.«

Lichtenbachs doppeltes Unternehmen gelang, wie alle auf einfacher Rechnung beruhenden Spekulationen zu gelingen pflegen. In der belagerten, von Truppen wimmelnden Stadt Metz gingen die Preise alsbald in die Höhe, das Salz, dem Moses am wenigsten zugetraut hatte, bereitete ihm eine sehr angenehme Ueberraschung, indem es teurer bezahlt wurde, als der Zucker, denn der Mangel an Salz war für die Soldaten, die ohnedies nur mit Widerwillen Pferdefleisch aßen, sehr empfindlich. Auch der reichlich gekaufte Cognac trug gehörig Geld ein, und doch fühlte sich der Vater Moses nicht getröstet über das Ausbleiben jeglicher Nachricht von seinem Sohn.

Der letzte Brief von Elias hatte am Tag vor der Schlacht bei Colombey-Nouilly seine Ankunft in Paris gemeldet. Er hatte dreißigtausend Franken im Bankhaus Baradier in Troyes hinterlassen, und war im Begriff, sich nach Orleans zu wenden, weil er die Sicherheit von Paris für gefährdet hielt. Er hatte fünftausend Hammel in die Stadt geliefert, wollte aber das Geschäft mit der Regierung nicht fortsetzen, weil er sie »zu engherzig und peinlich genau« fand. Seit diesem 14. August war jede Kunde ausgeblieben, und wenn der Vater Moses in schlaflosen Nächten den Donner der Geschütze hörte, quälten ihn schwere Sorgen. Er sagte sich, wie jung und unerfahren der Sohn doch sei, wie leicht er sich bestehlen lassen könnte, und daß die Summe, die er ihm anvertraut habe, zwanzig Jahre harter Arbeit, ständigen Wanderns neben Roß und Karren auf den staubigen oder schmutzigen Landstraßen Lothringens darstelle. Andere Väter hatten freilich andere Sorgen, und wenn seine Kunden und Nachbarn bange Fragen austauschten nach ihren Söhnen, die vielleicht verwundet, vielleicht längst tot waren, so konnte er mit ungleich größerer Ruhe zugeben, daß er vom seinigen auch ohne Nachricht sei.

Eines Abends kamen viele Ambulanzwagen in die Stadt, und eine größere Anzahl Verwundeter wurde gerade in den Häusern um die Kathedrale her einquartiert und in Privatpflege gegeben, da in den Spitälern längst kein Bett mehr frei war und alle Staatsgebäude in Lazarette verwandelt waren. Bei Moses Lichtenbach trugen die Wärter einen Füsilierhauptmann herein, zu Graff kam ein Artillerieoffizier, ein Herr von Trémont, der beim Rückzug seiner Batterie eine Kugel in den Oberschenkel erhalten hatte.

Die Pflege des Verwundeten, die Sorge um ihn waren für Graff eine glückliche Ablenkung von der Angst um den eigenen Sohn, die ihn manchmal dem Wahnsinn nahe brachte. Das Bild des prächtigen jungen Mannes und heldenhaften Offiziers, der jetzt in seinem Haus unter zärtlicher Pflege rasch wieder zu Kräften kam, stimmte ihn zuversichtlicher, hoffnungsvoller. Warum sollte es seinem Anton, wenn er überhaupt verwundet war, nicht auch ergehen wie diesem Herrn von Trémont? Den hatte man von weither hilflos und schwach in sein Haus gebracht, und nach sechs Wochen würde er wieder frisch und gesund sein! Trémonts Genesung erschien ihm als ein gutes Omen für seinen Sohn, er konnte wieder hoffen, sich freuen.

Sobald der Verwundete das Bett verlassen durfte, saß er des Abends bei seinen Wirten und Pflegern und erzählte ihnen viel von seinen Feldzügen in Algier und Mexiko und setzte ihnen auseinander, daß seiner Ansicht nach Deutschlands bessere Heeresorganisation und vor allem die Ueberlegenheit des Kriegsmaterials die Ursachen der französischen Niederlage seien. Nach Abschluß des Krieges müsse man ernstlich an die Arbeit gehen, neue Geschütze und vor allem anderes Pulver herstellen. Er erklärte ihnen klar und verständlich, welche Hilfsmittel die moderne Chemie biete, und wie heutzutage nur wissenschaftliche Ueberlegenheit den Sieg verleihe. Die Belagerung nahm ein Ende, die Tapferen, die Metz so gern bis zum letzten Blutstropfen verteidigt haben würden, mußten sich lebend dem Feind ergeben, die vom Hunger überwundenen Fahnen wurden als Siegestrophäen nach Deutschland gebracht. Dann fiel Paris, dann mußte Frankreich seinen letzten Truppen, die nicht todes- aber kampfesmüde im blutigen Schnee zerstreut waren, selbst Einhalt gebieten. Nach und nach trafen Nachrichten, Briefe ein, bald Trauer, bald Freude verbreitend. Viele von den braven Jungen, die so stolz und freudig ausgezogen waren, kamen nicht wieder, viele kehrten hohläugig und gedrückt aus der Gefangenschaft zurück, manche blieben lebenslang kränklich oder Krüppel.

Als die Familie Graff eines Morgens mit ihrem nahezu genesenen Pflegling beim Frühstück saß, ging die Hausthüre und die Treppe erdröhnte unter einem raschen Schritt, der Vater, Mutter und die junge Katharina seltsam berührte. Keines sprach ein Wort, aber alle lauschten angestrengt – wer konnte so ins Haus hereinstürmen und ohne sich mit Fragen aufzuhalten, je vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf? Sie hatten den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als die Thüre aufsprang und ein großer junger Mensch, bärtig, mager, beinahe unheimlich anzusehen, vor ihnen stand, dem die hellen Thränen über die Wangen liefen.

»Vater! Katharina ...Mama!«

Die Stimme, die war nicht unkenntlich geworden, und der mit so viel Angst und Not herbeigesehnte Sohn wurde unter Freudenrufen und Schluchzen umarmt, geküßt, mit Fragen bestürmt, von den Seinigen und allen Dienstboten umringt, während Hauptmann von Trémont gerührt zusah.

»Habe ich einen Hunger!« waren die ersten Worte, die Anton sprach und womit er sich aus den umschlingenden Armen befreite.

Dabei ruhte sein Blick mit der Gier eines Schiffbrüchigen auf den Kaffeetassen und dem Gugelhopf. Nun bediente man ihn natürlich so eifrig und wollte ihn derart stopfen, daß er schließlich um Gnade bitten mußte. Und dann ging es an ein Fragen und Erzählen, das kein Ende nehmen wollte. Anton hatte sich nach der Schlacht von Sedan, woran er teilgenommen hatte, in den Norden geflüchtet und war zu Faidherbes Corps gestoßen, in dem er den ganzen Feldzug mitgemacht hatte. Drei Monate war er in kein Bett gekommen, hatte bei Pont-Noyolles, Bapaume und St. Quentin im Feuer gestanden, ohne jedoch verwundet zu werden. Er war Feldwebel geworden, hatte aber das Soldatenhandwerk so gründlich satt bekommen, als die Seinigen nur wünschen konnten. Trémont befragte den jungen Soldaten über alle Einzelheiten des Feldzugs der Nordarmee, und Anton konnte kein Ende finden im Lob der Tugenden ihres besonnenen, unermüdlichen Führers Faidherbe, in Schilderung der Tapferkeit aller Kameraden, besonders eines jungen Freiwilligen, Namens Franz Baradier, dem Sohn eines Bankiers in Troyes, der ihm am Abend des Tags von Bapaume, wo er mit einem Dutzend Leuten in einem brennenden Bauernhaus umzingelt worden war, das Leben gerettet hatte.

»Er hat mir versprochen, mich zu besuchen,« setzte er hinzu. »Ihr werdet dann selbst sehen, was für ein prächtiger Mensch er ist!«

»Dein Lebensretter! Wie soll uns der willkommen sein! Aber laß dich einmal recht ansehen, mein armes Kind! Wenn ich dir auf der Straße begegnet hätte, ich wäre dir aus dem Wege gegangen – wie ein Bandit siehst du aus!«

Den ganzen Tag über ging's im Graffschen Hause aus und ein wie in einem Taubenschlag. Verwandte, Freunde und Kunden, alle wollten Glück wünschen, den heimgekehrten Sohn sehen und bewundern; er mußte die Episode vom Abend von Bapaume wohl hundertmal erzählen und der sonst so mäßige Vater Graff mußte in seiner Herzensfreude so vielen Bescheid trinken, daß er zuletzt etwas schwindelig wurde.

Am Tag darauf sollte das Stadtviertel schon wieder ein Ereignis erleben; Elias Lichtenbach kam nämlich in einem hübschen Wagen angerasselt. Er sah ungemein frisch und munter und behäbig aus und begab sich, kaum daß er die Seinigen begrüßt hatte, auf die Kommandantur, um mit den deutschen Behörden zu verhandeln. Rasch verbreitete sich das Gerücht, daß der Sohn des alten Moses im Auftrag der Regierung von Bordeaux gekommen und eine einflußreiche Persönlichkeit geworden sei. Es handelte sich in der That um einen Abschluß über Proviantlieferungen von der Ostgrenze her, und da man Lichtenbachs Geschäftskenntnis, seine Umsicht und Geschmeidigkeit schätzen gelernt hatte, war er mit dem Auftrag betraut worden, die Unterhandlung mit dem feindlichen Hauptquartier zu führen. So erschien er denn in Metz, ausgerüstet mit Vollmachten und großem Selbstbewußtsein, auf die von Kampf und Entbehrung erschöpften, über ihre Niederlage knirschenden Mitbürger stolz herabsehend.

Die Neugier rührte sich alsbald. Woher kam denn dieser Elias so frisch, rundlich und blühend? Alle, die mit ihm ausgezogen waren, sahen gedrückt und hohlwangig aus, er allein war heiter und vortrefflich genährt. Man forschte nach, erfuhr aber von amtlicher Seite, daß Herr Lichtenbach dem Land große Dienste geleistet habe und sich im französischen Hauptquartier des größten Wohlwollens erfreue. Was für Dienste? fragte man jetzt. Darüber konnte der junge Baradier, der richtig zum Besuch seines Kriegskameraden Graff in Metz eintraf, einigen Aufschluß geben.

Der blauäugige, blonde »Sergeant Baradier«, mit dem frischen roten Gesicht und dem energischen, offenen Wesen, gefiel den Metzern außerordentlich und war nach vierundzwanzig Stunden ganz zu Hause bei den wackeren Leutchen. Mit Trémont hatte er sofort Freundschaft geschlossen, und sein Vorschlag, alle in die Heimat zurückgekehrten Freiwilligen von Metz zu einem Bankett zu vereinigen, fand großen Anklang. Elias Lichtenbach hatte die Vermessenheit, sich in aller Ruhe wie die anderen zur Teilnahme daran zu melden und zur festgesetzten Stunde im Gasthof zu erscheinen. Allein man bereitete ihm einen frostigen Empfang. Von allen Anwesenden wußte man, trotzdem sie in Zivil waren, da die deutschen Behörden das Tragen der Uniform verboten hatten, woher sie kamen, in welchem Regiment sie gedient hatten, bei welchen Gefechten sie verwundet worden waren, nur Elias gab höchst unbestimmte Auskunft. Wenn man ihn hörte, war er einfach überall gewesen, bei der Armee von Chanzy, bei Bourbakis Corps, im Lager von Conlie und in der Nähe Garibaldis, er mußte wirklich die Gabe haben, allgegenwärtig zu sein, allein der Sergeant Baradier wußte seine Teilnahme am Feldzug etwas deutlicher zu beleuchten.

»Sind Sie denn nicht der Herr Lichtenbach, der mit dem Bankhaus Baradier in Troyes Geschäfte gemacht hat?« fragte er plötzlich. »Nicht derselbe Lichtenbach, der in den Ardennen Hammel aufgekauft und sie über die belgische Grenze nach Frankreich geschafft hat?«

»Allerdings,« gab Elias mit einigem Mißtrauen zu.

»Nun, dann ist es ja nicht zu verwundern, daß Sie auf dem ganzen Kriegsschauplatz herumkamen. Sie haben ja überall auf Rechnung der Militärverwaltung Fleisch gekauft.«

Elias wurde bleich und schien sich sehr unbehaglich zu fühlen.

»Ich mache Ihnen das wahrhaftig nicht zum Vorwurf,« setzte Baradier hinzu, »ich stelle nur die Thatsachen fest. Die Herren schienen mir über Ihre Rolle im Krieg im unklaren zu sein, und da möchte ich sie aufklären. Herr Lichtenbach ist auf seine Weise auch ein Patriot; statt am Kampf teilzunehmen, hat er zur Ernährung unserer Truppen beigetragen, eine sehr nützliche, ja rühmliche Leistung.«

»Wobei ich mein Leben ebensogut aufs Spiel setzte, wie alle anderen,« rief Elias gereizt. »Wenn ich den Deutschen in die Hände gefallen wäre, würden sie mich kriegsrechtlich erschossen haben.«

»Es ist sogar auffallend, daß Sie so ungestört durch ihre Linien kamen, denn Mangel an Vorsicht kann man den Deutschen nicht vorwerfen. Die gute Aufnahme, die Sie dort fanden, könnte einem zu denken geben ...«

»Was wollen Sie damit sagen?« brauste Elias auf.

»Genau das, was ich sage,« versetzte Baradier kühl, »Wenn Sie aber noch mehr hören wollen, so füge ich hinzu, daß außer Schußweite bleiben, während die anderen sich schlagen; am warmen Ofen sitzen und gut speisen, während sie vor Kälte und Hunger vergehen; das Unglück des Landes als eine Gelegenheit zu guten Geschäften benützen, eben noch keinen Anspruch auf den Ruhm eines Helden begründet.«

»Sie beleidigen mich!«

»Ich bin bereit, Ihnen Genugthuung zu geben.«

»Gut! Sie sollen von mir hören!«

»Nicht so laut! Sie wissen ja, wo ich zu finden bin. Ich wohne bei Herrn Graff und bin der Sohn des Bankiers Baradier in Troyes. Für heute nichts mehr von der Sache.«

Elias sah sich vollständig vereinsamt, alle kehrten ihm den Rücken zu. Mit einem haßerfüllten Blick auf seinen Gegner verließ er den Saal, im Hinausgehen aber hörte er Graff noch ausrufen: »Jetzt, da wir unter uns Patrioten sind, bringe ich mein Glas dem Vaterland!«

Baradier wartete am nächsten Morgen mit Trémont und Graff auf die Schritte, die der Gegner thun würde, aber nichts erfolgte. Der vorsichtige Elias schien im Frieden wie im Krieg gerne »weit vom Schuß« zu bleiben, dagegen wurden dem Bankier Baradier in Troyes unversehens zwanzig Mann Hessen ins Quartier gelegt, der Vater Graff wurde dreimal vorgeladen, um sich über angebliche Schmähungen der deutschen Armee zu rechtfertigen, und der junge Baradier erhielt den Befehl, binnen zwölf Stunden Metz zu verlassen.

Diese Vermehrung der Kriegslasten für Baradiers Haus konnte ja ein Zufall sein, die Ausweisung seines Sohnes vielleicht eine Folge des Banketts, wobei sich die Köpfe mehr als nötig erhitzt hatten, allein der Vater Graff war und blieb der Ueberzeugung, daß der Sohn seines Nachbars Lichtenbach ein Agent des Feindes sei und ihn ganz einfach verdächtigt und denunziert habe. Elias versäumte trotzdem nie, ihn auf der Straße mit ganz besonderer Hochachtung zu grüßen, und wo er sich Anton gefällig erweisen konnte, geschah es.

Der milde, in sich gekehrte Sohn des Hauses Graff ging indes dem einstigen Spielgefährten so viel als thunlich aus dem Wege; daß er nicht offen den Verkehr mit ihm abbrach, entsprang nur seiner allen Gewaltsamkeiten abholden Gemütsanlage. Er war bei gelegentlichem Zusammentreffen so wortkarg als möglich und ging auf keine Geschäftsverbindung mit Elias ein. Das Haus Graff pflegte Schafwolle im großen zu kaufen und an die Spinnereien in der Champagne und den Ardennen abzusetzen, und die Baradiers, die in Ars eine große Spinnerei eingerichtet hatten, gehörten zu seinen besten Kunden. Elias, der jetzt das väterliche Geschäft sehr ausdehnte und Handel jeder Art vermittelte, hatte den Graffs häufig deutsche Wolle zum Kauf angeboten, war aber immer abgewiesen worden. Trotz des sichtlichen Uebelwollens, das ihm dadurch gezeigt wurde, ließ Elias sich nicht abschrecken und kam mit der Zähigkeit, die zu den Tugenden seiner Rasse gehört, von Zeit zu Zeit wieder, um Vater und Sohn Graff in ein Geschäft zu verwickeln. Bei einem dieser unerwünschten Besuche traf er Katharina Graff, die zwei Jahre in einer der besten Erziehungsanstalten von Nancy gewesen war, im Garten, wo er ihren Bruder erwarten wollte.

Das kleine Mädchen von ehedem hatte sich zu einer großen, schlanken jungen Dame mit dunklen Augen, blondem Haar und leuchtenden Farben entwickelt, deren Schönheit den Nachbarssohn förmlich verblüffte. Er wagte nicht, sie anzureden, sondern ging mit stummer Verbeugung vorüber, daheim aber erzählte er dem Vater von dieser Begegnung, schilderte diese mit alttestamentlichem Schwung und verglich sie mit Jakobs Begegnung der Rahel am Brunnen. Auch verhehlte er ihm nicht, daß er sich ins Herz getroffen fühle und um die schöne Katharina werben wolle, und müßte er den Graffs sieben Jahre dienen wie Jakob um Rahel.

Der Vater Moses machte ihn darauf aufmerksam, daß die Graffs, abgesehen von der Verstimmung, die sie seit der Kriegszeit gezeigt hätten, nie und nimmer einen Juden als Schwiegersohn annehmen würden, Elias aber entgegnete, daß seine Religion nicht seine Haut sei und er sich leicht von ihr trennen könne. Sein Uebertritt werde von der katholischen Kirche mit Freuden begrüßt werden, und jetzt, wo Metz eine deutsche Stadt sei, würden die Graffs sehr übel daran thun, ihm die Zwistigkeiten der Kriegszeit ins Wachs zu drücken. Ueberdies habe er viel zu viel Geld verdient, um nicht überall willkommen zu sein, einem Freier, der mit zweiundzwanzig Jahren viermalhunderttausend Franken auf den Tisch legen könne, wenn der Ehevertrag unterzeichnet werde, weise man nirgends die Thüre.

Der alte Lichtenbach, der etwas tiefer blickte, weissagte zwar dem Sohn nichts Gutes, hatte aber gegen den Religionswechsel an sich nichts einzuwenden, denn er hielt ihn selbst für zeitgemäß und praktisch. Er stellte ihm aber vor, daß er weder als Christ noch als Jude die Hand des Fräulein Graff erringen und nur die Mißachtung der eigenen Glaubensgenossen davontragen werde. Allein er richtete nichts aus mit dieser Vorstellung, denn Elias war ein Mann von eisernem Willen. Er setzte die Geistlichkeit in großes Erstaunen durch seinen Entschluß, erbaute sie durch seinen frommen Eifer, gewann sie durch seine Freigebigkeit und wußte mit großem Geschick die vornehme und kirchlich gesinnte Einwohnerschaft günstig für sich zu stimmen. Zur Stunde, wo in den eroberten Provinzen der deutsche Protestantismus in Widerspruch mit der katholischen Kirche trat und diese den Gedanken der Nationalität und der Rachepläne auf ihre Fahne schrieb, wurde Lichtenbachs Uebertritt zu einem politischen Ereignis.

Wäre der Statthalter nicht ganz genau unterrichtet gewesen über die wahren Gesinnungen von Vater und Sohn Lichtenbach, so hätte er sich vielleicht entrüsten können, nun erhob er gerade nur so viel Einsprache, um die Vaterlandsliebe des neuen Christen durch einen leisen Schimmer von Märtyrertum zu verklären. Hätte man ihn weniger genau gekannt, Elias wäre geradezu ein Liebling der Stadt geworden. Nichtsdestoweniger wies die Familie Graff seine Werbung aufs schroffste zurück, und um die Kränkung noch empfindlicher zu machen, wurde die schöne Katharina schon ein paar Monate darauf die Frau des »Sergeanten« Baradier. Zu gleicher Zeit erfuhr man, daß die Graffs Metz verlassen würden; Anton folgte seinem Schwager nach Paris und trat in das dorthin verpflanzte Bankhaus ein, das nun die Firma Baradier & Graff führte.

Das waren der Enttäuschungen und Aufregungen zu viele für Elias. Er konnte nicht mehr schlafen, die blühenden Farben verschwanden von seinem Gesicht, und als er vollends den Graffs begegnen mußte, wie sie, von einem ganzen Zug liebender Freunde begleitet, zum Zweck ihrer Übersiedelung auf den Bahnhof gingen, befiel ihn, sobald er heimgekehrt war, im Ladenstübchen des Vaters eine tiefe Ohnmacht. Furchtbar erschrocken brachte der alte Moses seinen Sohn zu Bett und schickte nach dem Arzt, der ihm unverhohlen erklärte, der Bekehrte habe alle Aussicht, seine Seele nächstens in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche befehlen zu können. Ein heftiges Fieber kam zum Ausbruch, und in seinen Fieberphantasieen hatte es der Kranke ausschließlich mit Ein- und Verkäufen zu fabelhaften Preisen zu thun, die alle Geschäftszweige berührten, worin er während des Krieges thätig gewesen war. Staunend hörte ihn der alte Moses Fleisch, Mehl, Schuhwerk, Stoffe. Munition, Cigarren, Geschütze, Zucker einhandeln und losschlagen, und dazwischen hinein war so viel von Extrazugaben, Provision, Trinkgeldern und Schmierereien die Rede, daß der Vater einen interessanten Einblick bekam in die krummen Wege, die dieser Vaterlandsfreund gewandelt war. Wenn Elias annähernd zur Besinnung kam, so stieß er wilde Schmähungen und Drohungen gegen Baradier und Graff aus, und beruhigte sich nur, wenn der Vater immer wieder beschwichtigend sagte: »Jawohl, Elias, du wirst dich rächen an diesen Tröpfen! Du wirst sie zu Grunde richten, zermalmen!«

Dann huschte wohl ein befriedigtes Lächeln über die Züge des Kranken, und er konnte ein paar Stunden schlafen, um etwas gekräftigt zu erwachen. Bei ihm war es der Haß, der den Willen zum Leben spornte und vielleicht seine Rettung war. Rachepläne flackerten ohne Unterlaß in dem fieberglühenden Gehirn auf, und als der Arzt zu seiner eigenen Ueberraschung die Lebensgefahr für überwunden erklären konnte, waren die ersten Worte des Genesenden: »Recht so! Das Glück hätte es gar zu gut gemeint mit Baradier & Graff, wenn ich gestorben wäre!«

Diesen machte vorläufig ihr Gegner gar keine Sorge, ja sie ließen sich nichts träumen von den Rachegelüsten, die sie hervorgerufen hatten. Die beiden jungen Männer hatten in Paris das Bankhaus eines Onkels Baradier übernommen, der sich als reicher Mann vom Geschäft zurückzog, und beaufsichtigten in besonnener Weise die Arbeit von etlichen zwanzig Angestellten, die in dem stattlichen Haus der Provencerstraße von früh bis spät an ihren Pulten saßen. Sie hatten ihre Geschäfte mit Umsicht ausgedehnt, die Spinnereien beibehalten und vermehrt. Marcel Baradier und ein Schwesterchen Amalie waren zur Welt gekommen und diese in Liebe einige Familie kannte keine Anfechtung, bis Elias Lichtenbach nach dem Tod des alten Moses gleichfalls nach Paris übersiedelte.

Eine merkwürdige Veränderung war mit dem Mann vor sich gegangen, von dem blühenden, stattlichen, ruhmredigen Elias war keine Spur geblieben. Als Baradier ihn zum erstenmal auf der Börse traf, mußte er sich den Namen sagen lassen, denn er hätte Lichtenbach nicht wiedererkannt. Ein hagerer Mann mit gewölbten Schultern und gemessenem Auftreten, kahler Stirne und kaltem Blick trat ihm entgegen, sogar die Stimme klang anders als früher. Er sprach nur das Allernötigste, gab beim Händedruck nur die äußersten Fingerspitzen und blieb auch bei den wichtigsten Nachrichten kalt und gelassen. Die hinter einer goldenen Brille versteckten Augen verrieten niemals Erregung, höchstens entstand ein gewisses Zucken in den Kinnladen, das seinem Gesicht einen wilden, grausamen Ausdruck verlieh.

Die erste Berührung zwischen den Häusern Baradier & Graff und Lichtenbach war bedeutungsvoll. Elias schädigte die Gegner an einem kurzen Vormittag durch einen an der Börse von Troyes abgeschlossenen Verkauf ungarischer Rohwolle um dreihunderttausend Franken. Das war das erste Wetterleuchten, das ihr Verhältnis klarstellte. Von nun an wußte das Haus Baradier, daß der Feind auf der Lauer lag, um jede Schwäche auszunützen; glatte Form und geschäftlicher Anstand täuschten nicht über vorbedachte Tücke. Baradier & Graff fühlten sich auf Schritt und Tritt beobachtet, und dieser lautlose Kampf, der ihren Widerstand weckte, erwies sich fruchtbar für beide Teile.

Die steten Angriffe machten äußerste Vorsicht nötig, nichts durfte dem Zufall anheimgestellt bleiben, der Feind war mächtig und gefährlich. Als Lehensmann der ultramontanen Partei und unerbittlicher Lenker der monarchistisch-klerikalen Zeitung »Die weiße Helmzier«, die er aus eigenen Mitteln unterhielt, hatte sich Lichtenbach Zugang in die abgeschlossensten Kreise des alten Adels errungen, und die herbe Würde seines Auftretens, wie die Kühnheit seiner Vorschläge hatten ihm in Kreisen, die sonst nur am Priester Kraft und Beharrlichkeit kennen lernen, großes Ansehen verschafft. Er hatte im Elsaß eine Frau genommen, die aber bald gestorben war; sein einziges Kind ließ er bei den Schwestern vom Herzen Jesu aufs allerkirchlichste erziehen, kurz er war das Urbild des Konvertiten, der christlicher sein will als der Papst selbst. Natürlich war er auch monarchistischer als der König und beunruhigte die vertraute Umgebung des Prätendenten häufig genug durch einen Kampfeseifer, der nicht davor zurückscheute, die Partei zur entscheidenden That anzufeuern, während diese Herren doch ganz damit zufrieden waren, die Märtyrerrolle im Salon zu spielen, und durchaus nicht geneigt, für einen mehr als fraglichen Versuch einer Wiederherstellung des Königtums ihre Haut zu Markte zu tragen.

Aber wenn Lichtenbach auch manchen unheimlich war, so wurde er darum nicht minder verwöhnt und verhätschelt und sein Einfluß in der vornehmen Welt war um so mächtiger, als er in tiefster Verschwiegenheit ausgeübt wurde. Den großen im Niedergang begriffenen Familien leistete er unschätzbare finanzielle Dienste, und statt in den Fehler zu verfallen, seine Geldmacht gegen die nun einmal bestehende Regierung ins Feld zu führen, war er sehr vielseitig in seinen Unternehmungen, hatte bei jedem großen Syndikat in ganz Europa die Hand im Spiel und wußte vermittelst des um ihn gesammelten Kapitals die verschiedensten Spekulationen in Fluß zu bringen, wobei er immer der Gewinnende war und namentlich auch anderen Gewinn zuschanzte.

Scheinbar war er persönlich bedürfnislos und trieb die Einfachheit seines äußeren Lebens sehr weit. Er bewohnte mit seiner aus Lothringen stammenden, besser deutsch als französisch redenden Dienerschaft ein finsteres, schweigsames, altes Herrenhaus in der Barbey de Jouystraße, gab niemals Gesellschaften, ging aber jeden Abend aus, um Whist zu spielen, worin seine einzige Zerstreuung zu bestehen schien. Seine Geschäftsräume befanden sich der Börse gegenüber in zwei Stockwerken eines neuen Hauses der Vierten-Septemberstraße; dort allein war er zu sprechen selbst für seine vornehmsten Geschäftsfreunde. Die Thore seines Wohnhauses thaten sich äußerst selten für einen anderen Wagen als sein eigenes Coupé auf, und er selbst ging häufig zu Fuß, in gebeugter Haltung in sich versunken dahinschreitend, als ob er seine Schritte zählte. Trotzdem er erst fünfundvierzig Jahre alt war, hörte man nie etwas von Beziehungen zu Frauen, denen er auch in Gesellschaft fast scheu auswich, als ob ihm das ganze Geschlecht Furcht einflöße.

Die kleine Herzogin von Berry, die er als ihr Bankier wieder flott gemacht und in den Stand gesetzt hatte, ihre Schulden zu bezahlen, hatte einmal einer Freundin gegenüber geäußert: »Ich muß wirklich herausbringen, wie man eigentlich daran ist mit dem guten Lichtenbach! Seine Zurückhaltung Frauen gegenüber hat geradezu etwas Demütigendes – ist er ein Heiliger, oder traut er sich nicht, zu, uns zu gefallen?«

In einigen Gesellschaften hatte sie dann angesichts all ihrer Freunde heftig mit Lichtenbach kokettiert, er war aber nicht aufgetaut. Jählings hatte sie das kecke Spiel eingestellt und auf neckische Fragen gab sie nur ausweichend zur Antwort: »Da ist nichts zu machen! Es war verlorene Liebesmüh!«

Man beobachtete jedoch mit der Zeit, daß die Lebensführung der jungen Frau sich auffallend veränderte, daß sie großen Aufwand machen konnte und daß ihr Vermögen zu wachsen schien, je weniger sie gesellschaftlich mit ihrem Bankier verkehrte. Dieselbe Erscheinung fiel noch bei mehreren Damen der höchsten Gesellschaft, und zwar immer den jüngsten und hübschesten, auf. Lichtenbach aber blieb gleich schweigsam, finster und kalt, betrieb seine Spekulationen an allen Enden der Welt, war der Ratgeber des Prinzen, der geistige Urheber seiner Zeitung und der geschworene Feind von Baradier & Graff, wie von allen, die mit jenem Haus in Verbindung standen. Dieser Haß sollte offenbar nur mit seinem Leben erlöschen.


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