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Sechstes Kapitel

Jetzt hatte plötzlich das ganze Verhältnis für Regine eine völlig unerwartete und seltsam aufregende Wendung genommen. Sie liebte Herrn von Ayères, sie konnte es nicht leugnen. Aber auch ihre Ruhe gefiel ihr sehr wohl. Wie er es vermutete, hatte sie sich während der zwölf Jahre ihres einsamen, zurückgezogenen Daseins in Gewohnheiten eingelebt, die zu ändern ihr unstreitig schwer fallen mußte. Sie war unabhängig, sollte sie sich nun einen Herrn geben? Sollte sie sich der Gefahr aussetzen, das bequeme, müßige Leben, welches ihr so lieb geworden, durch das unruhige Treiben eines überschäumenden Mannes durchkreuzen zu lassen? Sie hatte durch eine verständige Verwaltung ihr Vermögen und das ihrer Tochter wiederhergestellt; sollte sie es nun neuerdings von einem Lebemanne dem Ruin ausgesetzt sehen?

Ferdinand war voll Freimütigkeit gegen sie gewesen, als er ihr gesagt, daß sie ihm ein Opfer zu bringen haben werde. Wie gut mußte er die Frauen im allgemeinen und Regine im besondern kennen, wenn er es nicht verschmäht hatte, ihre Selbstverleugnung anzurufen! Es war leicht möglich, daß die Besorgnis, egoistisch zu erscheinen, Frau von Croix-Mort zumeist bewog, seinen Antrag nicht zurückzuweisen. Zu all dem barg das Wort »Heirat« einen Zauber, dem sie sich nicht entziehen konnte. War sie doch in ihrer ersten Ehe so wenig verheiratet gewesen, war der skeptische, trockene, kühle Herr von Croix-Mort doch so gar nicht der Mann ihrer Träume gewesen.

Er hatte jede Gefühlsäußerung in ihr erstickt, jeden Zärtlichkeitsbeweis verschmäht. Er gab ihr seinen Namen und ein Kind, das war alles. Lange Zeit hatte sie ihn bloß im Speisezimmer und im Salon gesehen, und wenn sie von ihm sprechen gehört, so war es nur, um zu erfahren, daß er der Liebhaber der schönen Frau X. sei, oder daß er hunderttausend Frank im Baccarat verloren habe. Welch ein Unterschied zwischen ihm und Ferdinand, der sie mit Zuvorkommenheiten umgab und so sehr in sie verliebt war! Herr von Croix-Mort war brünett gewesen wie seine Tochter, Herr von Ayères war blond. Diese dunkle Vergangenheit ließ die goldige Zukunft nun um so verführerischer erscheinen. Und besaß schließlich Ferdinand denn nicht schon gewisse Rechte? Wäre es nicht höchst unklug, wollte sie die Genugthuung nicht annehmen, die er ihr in so ehrenhafter Weise anbot?

Während achtundvierzig Stunden wälzte sie diese Gedanken in ihrem Kopfe hin und her, und alle Gründe, welche sie sich gegen diese Verbindung vorhielt, steigerten nur ihr Verlangen, dieselbe einzugehen. Sie beschloß endlich, sich mit dem Abbé Levasseur, der heute auf dem Schlosse speisen sollte, zu besprechen, und war recht neugierig, zu erfahren, welchen Eindruck diese Nachricht auf ihn machen würde. Als er sich's dann im Lehnstuhl in der Kaminecke des kleinen Salons behaglich gemacht, ein Gläschen Chartreuse im Bereiche seiner Hand, ging sie an die vertrauliche Mitteilung.

Zuerst sprach sie in anerkennender Weise von den guten Eigenschaften des Herrn von Ayères, erinnerte den würdigen Priester, in welcher Weise er sich zwei Monate vorher über eine mögliche Verbindung mit ihm geäußert habe, und als sie sein verständnisvolles Lächeln gewahrte, endigte sie mit der Eröffnung, daß der Abschluß jenes Bündnisses nahe bevorstände.

»Wohlan, verehrte Frau,« sagte der Pfarrer, welcher glaubte, es sei von Edmee die Rede, »das ist ja vortrefflich ... Ich schätze mich glücklich, auch meinerseits etwas dazu beigetragen zu haben, indem ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Verbindung lenkte, welche die Beziehungen zwischen den zwei bedeutendsten Familien unsrer Gegend enger miteinander verknüpfen soll. Die künftigen Ehegatten sind, dünkt mir, wie füreinander geschaffen ...«

»Ein leichtes Mißverhältnis im Alter ist aber doch vorhanden,« warf Regine ein, »und ich muß gestehen, daß mir dies eine gewisse Unruhe einflößt ...«

»O, nicht doch,« entgegnete der Geistliche, welcher noch immer seinem Gedankengange folgte, »nicht doch! Ein reiferes Alter verleiht mehr Ansehen, das in einem Haushalte von großem Wert ist ... Man muß das Leben kennen, um sich vor dessen Gefahren zu schützen ... Und der Baron ...«

»O, ich weiß wohl, daß er bisher nicht so vernünftig gewesen, als er es hätte sein sollen; aber man behauptet doch stets, gerade darin liege eine Bürgschaft künftigen Glückes, denn ein Ehemann müsse vorher Abenteuer bestanden haben, um sie nicht später zu suchen. Freilich könnten Sie hier einwenden, daß Herr von Croix-Mort, der eine sehr stürmische Jugend hinter sich hatte, ein Leben voll Aufregungen fortgeführt hat ... Aber ich glaube nicht, daß ich mit Herrn von Ayères ein gleiches Schicksal zu befürchten haben werde ...«

Der Abbé, welcher seit einem Augenblicke einen Doppelsinn in den Reden der Frau von Croix-Mort herauszuhören meinte, riß die Augen weit auf und fragte sich, ob er nicht etwa träume. Es war ja, als hätte die Gräfin von sich selbst gesprochen. Er fand es angemessen, die Sachlage aufzuklären, und vorsichtig stellte er die doppeldeutige Frage: »Sieht Fräulein Edmee dieser Heirat mit voller Befriedigung entgegen?«

»Ich habe ihr noch nichts davon mitgeteilt,« erwiderte de Gräfin. »Sie begreifen, wie schwierig es für mich ist, über diesen Gegenstand mit ihr zu sprechen ... Das Mädchen hat einen sehr ungestümen Charakter, und ich besorge, daß sie sich nicht leicht in eine so völlige Umgestaltung unsres Lebens fügen wird ... Darum wünsche ich auch, daß Sie, unser beider Freund, sie auf dieses Ereignis vorbereiten mögen ...«

Jetzt war kein Zweifel mehr möglich. Der gute Pfarrer stotterte: »Gewiß, verehrte Frau, ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«

So geneigt der Geistliche indes auch war, den Willen seiner Patronin möglichst zu berücksichtigen, konnte er doch nicht umhin, sie ein wenig zur Vernunft zu mahnen. Es war eine gar löbliche Bemühung, die der Alte jetzt unternahm, denn er sagte sich: Ich setze mich der Gefahr aus, mir für immer die Thür dieses gastfreundlichen Hauses zu verschließen, und dann, adieu meine lieben Gewohnheiten! ... jedoch die Pflicht geht über alles. Und so begann er denn alsbald unerschrocken die Uebelstände und Gefahren nachdrücklich hervorzuheben, welche die Gräfin selbst angedeutet hatte. Er fand sie jedoch fest entschlossen – sonderbar genug, schien gerade dieser Widerstand sie zu ermutigen. Auf sich selbst angewiesen, hatte sie Bedenken, Befürchtungen, Zweifel gehegt, der Widerspruch bestärkte sie in ihrem Entschluß und sie wies nun alle Einwendungen mit stolzer Zuversicht zurück.

Der Priester beharrte nicht weiter bei seinen Ermahnungen. Er fand, daß er genug gesagt, um seinem Gewissen genügt und sich seiner Verantwortlichkeit als Seelenhirte entledigt zu haben. Uebrigens konnte er ja Herrn von Ayères nichts zum Vorwurfe machen, was nicht auch der Gräfin bekannt gewesen wäre. Der Baron hatte den größten Teil seines Vermögens durchgebracht und hielt nicht viel auf Beobachtung der Religionsgebräuche. Aber wer konnte sagen, ob nicht seine Frau ihn Sparsamkeit lehren und ihn vielleicht auch religiöse Ideen beizubringen verstehen würde?

Nachdem der würdige Mann mit sich zu Rate gegangen, war es ihm sogar lieber, daß der Lebemann eine Frau heiratete, die ihre Rechte zu wahren wußte, als die kleine, unschuldige, zartfühlende Edmee. Diese Waldblume bedurfte sanfterer Pflege, einer gesünderen Atmosphäre; der leichtlebige Pariser schien ihm keineswegs, ein geeigneter Gärtner für sie. Der Geistliche übernahm die ihm von der Gräfin zugewiesene Mission, die Tochter von dem bevorstehenden Ereignisse in Kenntnis zu setzen, und bat, man möge sie am nächsten Tage zu ihm ins Pfarrhaus senden. Hierauf wünschte er der Gräfin »Guten Abend« und trat, von einem Diener mit einer Laterne geleitet, den Heimweg nach dem Dorfe an.

Um folgenden Tage lag Regine in dem kleinen Salon auf dem Sofa, als ihre Tochter vom Pfarrhofe zurückkehrte. Sie vernahm deren raschen, kräftigen Schritt in der Vorhalle und dachte, daß sie ihr wie gewöhnlich ausweichen und sich auf ihr Zimmer begeben werde. Die Thür ging jedoch auf und Edmee trat ein. Bei ihrem Anblick richtete sich die Gräfin lebhaft in die Höhe und die beiden Frauen sahen einander einen Moment lautlos an. Eine dunkle Röte überflog das blasse Antlitz der Tochter, sie senkte die düstere Stirn und wartete schweigend, als sei sie ein Richter, der von ihrer Mutter Erklärungen zu fordern hätte. Dieses Schweigen wurde der Gräfin so peinlich, daß sie es nicht länger ertragen mochte und daher gerade auf ihr Ziel losging.

»Hast du den Herrn Pfarrer gesehen? Hat er mit dir gesprochen?« fragte sie kurz, da sie nicht gesonnen war, sich mit der Kleinen, deren unbändige stolze Gemütsart sie kannte, in Unterhandlungen einzulassen.

»Jawohl,« antwortete Edmee, in deren Augen große Thränen traten.

Die Mutter bemerkte diese Thränen. Tief bestürzt eilte sie auf ihre Tochter zu, schloß sie in die Arme, drückte sie fest an sich und rief, von Rührung ergriffen: »Mein Herzenskind, mein Schatz! ... Sag' mir doch, daß ich dir nicht gar zu viel Kummer bereite ... O, du weinst ... Aber ich werde dich ja ebenso sehr lieben als bisher ... ja noch mehr ... denn ich werde dir dankbar sein ... So hör' doch, wir werden jetzt zwei sein, um dich zu lieben ... Er ist so gut! ... Du wirst ihn gleichfalls lieben ...«

Bei diesen Worten machte sich das junge Mädchen mit einer heftigen Bewegung von der zärtlichen Umarmung ihrer Mutter los, ihr Antlitz glühte vor Zorn.

»Ihn? Niemals!«

»Edmee!«

»Nein,« wiederholte sie leidenschaftlich. »Niemals, diesen Fremden, der im Hause meines Vaters alles umgestalten, alles ändern wird ... bis auf den Namen, den du trägst! ...«

In großer Erregung blickte die Gräfin auf ihre Tochter, die zornesbleich, mit haßerfüllten Augen und zuckendem Munde, an allen Gliedern bebend, dastand. Endlich fand Frau von Croix-Mort ihre Ruhe wieder und sagte in strengem Tone: »Ich erwartete andre Gefühle von dir. Ich glaubte nicht, daß du in solchem Maße feindselig gegen einen Plan auftreten würdest, dessen Erfüllung das Glück der letzten Jahre meines Lebens bilden soll ... Deinen Bitten, deinem Kummer hätte ich vielleicht viel zu gewähren vermocht, deinem Zorn und deiner Heftigkeit nichts!«

Edmee, die noch immer an derselben Stelle stand, hatte ihrer Mutter zugehört. Ein bitteres Lächeln glitt über ihre Lippen, als die Gräfin von ihren Glückshoffnungen sprach; dann aber, als sie vernahm, daß deren Entschluß unwiderruflich sei, wurde ihr Gesicht unbeweglich, wie zu Stein erstarrt. Sie nickte mit dem Kopfe, als wolle sie sagen: »Es ist gut,« und eilte ohne ein weiteres Wort hinaus. Auf der Terrasse angelangt, wendete sie sich dem Park zu, stieg bis zur Divonette hinab, warf sich auf den Rasen nieder und brach in schmerzliches Schluchzen aus.

Lange Zeit war verstrichen, seitdem sie weinend dasaß, als das Knistern eines Zweiges hinter ihr sie veranlaßte, sich umzuwenden. Jean Billet trat ernst auf sie zu. Mitten unter ihren Thränen sah sie ihn mit einem freundlichen, traurigen Lächeln an.

»Ja, was ist denn los?« fragte der Waldhüter. »Jetzt weinen Sie gar? Was hat man Ihnen schon wieder angethan?«

Sie fuhr mit der Hand über die Augen.

»Ich habe Kummer, mein alter Billet!«

Er lehnte seine Flinte an einen Baumstamm, ließ sich auf dem Nasen an ihrer Seite nieder, sah sie mit seinen kleinen grauen Augen, die unter den langen, dichten Brauen schlau hervorblinzelten, forschend an und sagte: »Erzählen Sie mir alles.«

»O, das ist bald gethan! Du weißt, daß Mama sich niemals viel mit mir beschäftigt hat?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Sie hat Sie eben nicht lieb...«

»Das will ich nicht sagen,« unterbrach ihn Edmee rasch. »Aber sie hat ihre eignen Ansichten ... und ich fürchte, niemals Verstand genug zu haben, um diese zu begreifen ... Sie kennt vieles, wovon ich nichts weiß ... und es hat ihr niemals Freude gemacht, mit mir zu plaudern. Als sie ein Kind war, hat man sie in Paris in ein Kloster gebracht, wo sie viele Lehrer hatte ... Mich hat nur der Herr Pfarrer unterrichtet, und ich glaube, daß der treffliche Mann trotz der großen Mühe, die er sich mit mir gab, mich doch nicht in allem unterwiesen hat, dessen ich bedurft hätte ... Mama sagt immer, daß ich wild und unwissend sei ...«

»Das ist nichts Böses ...«

»Sie mußte sich ein wenig meiner schämen ... mich verachten,« sprach sie unter Thränen weiter. »O, Billet, wenn du wüßtest, wie ich sie angebetet haben würde, wenn sie es gewollt hätte! ... Ich fühlte mich von ganzem Herzen zu ihr hingezogen ... Nur zuweilen ein liebevolles Wort hätte mir schon genügt ... Ich liebe ja sogar das schöne Bild meines armen Papa, der sich freilich auch nicht mit mir unterhielt, aber mir doch stets freundlich zulächelte! ...«

»Ein prächtiger Mann, Ihr Vater! ... Und was für ein Jäger! ...«

»Nun denn, sieh! ... Jetzt ist alles zu Ende. Mama hat ihn völlig vergessen und wird einen andern heiraten...«

Hier benahm ihr das Schluchzen den Atem; sie konnte kein Wort weiter hervorbringen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Billet war blaß geworden.

»Ah! Es ist also schon so weit? ... Ich habe es gleich am ersten Tage gewittert, daß er uns Verdrießlichkeiten bereiten wird, der hübsche Zierbengel! Aber ich fürchtete, daß er sich an eine andre, nicht an die gnädige Frau wenden werde ... So ist es besser ... Es ist also schon ganz abgemacht? ... Nun, sie treiben sich schon lange genug miteinander im Walde umher ...«

Eine dunkle Röte überzog die Stirn des kindlichen Mädchens; sie gebot Billet mit einer Gebärde Einhalt und sagte:

»Schweige! Es ist meine Mutter! ...«

Er senkte die Nase, beugte den Nacken, indem er zwischen den Zähnen unverständliche Worte murmelte, und sagte dann, sich wieder an Edmee wendend:

»Und Sie, was werden Sie jetzt anfangen?«

»Nichts! aber ich bin sehr unglücklich!«

Von neuem fing sie zu weinen an, während der Alte ihr Vernunft zuzusprechen suchte und sie mit liebevollen Worten tröstete. Sie wisse doch, daß er da sei, der alte Getreue, der sie zur Welt kommen gesehen und sie auf ihren ersten, selbständigen Ausflügen begleitet habe. Er würde sie niemals verlassen, sie brauchte nur zu ihm zu kommen und sie würden wieder miteinander den Wald durchstreifen, in dem großen, friedlichen Schweigen, wo man alle Sorgen und alle Leiden vergißt. Wenn sich je einer unterstehen sollte, sie zu quälen, so könne sie auf ihn rechnen ... und man würde dann schon sehen ...

Traurig erwiderte sie: »Nein, Billet, versuche nicht, dich aufzulehnen, ertrage alles still, wie ich. Er wird hier der Herr sein ... er würde dich fortjagen ... und ich bliebe dann ganz allem ...«

Der alte Waldhüter schüttelte mit nachdenklicher Miene das Haupt: »Er könnte mich doch nicht zwingen, diese Gegend zu verlassen. Und sicherlich, ich würde um keinen Preis von hier fortgehen ... Ich habe diesen Boden über alles lieb ... bin auf ihm geboren ... habe mir an ihm beim Herumlaufen manches Paar Schuhe zerrissen ... in ihm soll man mich auch begraben ...«

In Nachdenken versunken blieben beide schweigend sitzen, indes der Abend sich ringsum niedersenkte und die Sonne, den Horizont entflammend, einen glutroten Schein über das seines Blätterschmuckes beraubte Gehölz breitete.

Billet erhob langsam die Augen, blickte nach dem Himmel und sprach in ernstem Tone:

»Sehen Sie sich die Sonne an, wie rot sie heute ist! ... Es ist, als ob sie Blut über den Wald ausgösse.«

Bei diesen Worten erbebte Edmee und ihr Herz zuckte schmerzlich zusammen, wie von einer unheilvollen Prophezeiung getroffen. Sie schlug die Augen, die von den letzten Sonnenstrahlen geblendet schienen, zu Boden und glaubte voll Entsetzen, ihn von blutigen Flecken durchtränkt zu sehen. Rasch erhob sie sich. Es war ihr, als sollte sie irgend ein Schreckenszeichen mit sich fortnehmen. Doch plötzlich sank der purpurleuchtende Ball hinter die Baumreihen hinab, langsam entfärbte sich das Himmelszelt, dann wurde alles dunkel wie die Zukunft.

»Gute Nacht, Billet,« sagte das junge Mädchen. »Ich habe mich verspätet und muß nun rasch nach Hause ... Denke nicht weiter an all das, was ich dir gesagt, es sind lauter Dummheiten.«

»Warum nicht gar!«

»Ich habe mich schwach gezeigt, aber es soll nicht wieder vorkommen ... Du aber sei vorsichtig und vor allem ein wenig artig.«

»Vielleicht.«

»Adieu!«

Sie durchschritt den Park, und als sie vor dem Schlosse anlangte, sah sie die Fenster des Salons erleuchtet und gewahrte den Schattenriß eines Mannes, der sich auf den Gardinen abzeichnete. Sie stieß einen Seufzer aus, stieg aber entschlossen die Freitreppe empor und trat ein. Herr von Ayères war in der That anwesend. Er trat dem jungen Mädchen aufs freundlichste entgegen und reichte ihr die Hand. Sie aber gab sich den Anschein, als hätte sie seine Bewegung nicht bemerkt, erwiderte kalt seinen Gruß und wendete sich dann ihrer Mutter zu, die sie angstvoll beobachtete.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mama, ich habe mich im Park verspätet ... Ich hatte Kopfschmerzen, doch die frische Luft hat mir gut gethan ... Uebrigens hat ja auch die Glocke noch nicht zu Tisch geläutet ...«

»Man ließ sich etwas länger Zeit, weil ein Gedeck mehr aufgelegt wurde,« erwiderte die Gräfin. »Herr von Ayères macht uns das Vergnügen, heute abend bei uns zu bleiben.«

Edmee machte keine freundliche Gebärde, sprach kein Wort der Zustimmung; sie setzte sich, nahm eine Arbeit zur Hand und schien die Gegenwart des Mannes, den sie so sehr haßte, nicht weiter zu beachten. Während die Gräfin an Ferdinands Arm nach dem Speisesaale schritt, flüsterte sie ihm in flehendem Tone zu:

»Ich bitte Sie, haben Sie Nachsicht mit dem Kinde ...«

»Ich finde sie sehr vernünftig,« entgegnete er. »Man darf an einem Tage nicht zu viel fordern. Sie hat mir kein allzu saures Gesicht gemacht ... Es liegt eben jetzt an mir, mich bei ihr beliebt zu machen... Ich werde es mir angelegen sein lassen, halten Sie sich dessen versichert.«

Regine warf ihm einen Blick liebevoller Dankbarkeit zu und ließ ihn an ihrer Seite Platz nehmen. Die Mahlzeit ging ohne Störung vorüber. Der Baron plauderte viel in seiner ungezwungenen, freundlichen Weise, wogegen Edmees Stimme sich kein einziges Mal vernehmen ließ. Nach dem Dessert stand sie auf, verneigte sich vor ihrer Mutter und Herrn von Ayères und zog sich zurück.

Das Benehmen des Fräuleins von Croix-Mort wirkte denn doch etwas befremdend auf den schönen Ferdinand. Auf der Heimfahrt vergegenwärtigte er sich bei einer Cigarre und dem leichten Schaukeln des Gefährtes den Gesichtsausdruck des jungen Mädchens und mußte zugeben, daß das kleine »Schwarzköpfchen« nichts weniger als freundlich ausgesehen hatte. Aber was lag daran! Wenn sie die Widerspenstige spielen wollte, würde man sie in eine Erziehungsanstalt bringen, und damit wäre alles abgethan. Es würde ihm nicht schwer fallen, sie der Gräfin als lästig darzustellen und sich ihrer zu entledigen.

Am folgenden Tage kam er wieder, um der Gräfin jetzt in aller Form den Hof zu machen. Er musterte das kleine Schwarzköpfchen, wie er Edmee nannte, und gewahrte zu seinem Verdruß, daß dieses fast ebenso groß war als ihre Mutter. Jedenfalls mochte sie schon nahe an sechzehn Jahre sein, dazu war sie kräftig, wie alle auf dem Lande erzogenen Mädchen, hatte breite Schultern, einen mageren, etwas platten Wuchs, derbe, sonnengebräunte Hände, aber unter einer gewölbten, willenskräftigen Stirn ein paar leuchtende Augen mit langen, gebogenen Wimpern, wie er sie noch niemals gesehen.

Ihr gehässiges, verschlossenes Wesen blieb sich immer gleich, ebenso wie ihr stetes Stillschweigen, das nur durch die Anforderungen der Höflichkeit zuweilen unterbrochen wurde; auch zeigte sie stets dieselbe Lust, bei seinem Erscheinen aus dem Salon zu flüchten.

»Wenigstens verbirgt sie ihre Karten nicht,« sagte er heiter, »und man weiß, woran man mit ihr ist.«

Indessen lag doch in dieser kalten, überlegten Zurückhaltung eine Beharrlichkeit, die so wenig in dem Wesen eines solch jungen Geschöpfes lag, daß der Baron sich einer Empfindung unbestimmter Besorgnis nicht erwehren konnte. Er fühlte beständig Edmees Augen beobachtend auf sich gerichtet. Wenn er sie fest ansah, wendete sie ihre Blicke ab, doch gleich darauf fing sie ihn von neuem zu belauern an. Er wollte versuchen, wie er es der Gräfin versprochen, sich bei der Kleinen beliebt zu machen; er war aufmerksam, liebenswürdig, brachte ihr aus Paris, wohin er der nötigen Familienpapiere wegen gereist war, einen sehr schönen Arbeitskorb, mit goldenen Nähutensilien. Sie dankte, stellte den Korb auf einen Tisch und – am nächsten Tage bemerkte der Baron, daß sie denselben noch nicht einmal geöffnet hatte. Er konnte sich nicht über offenen Widerstand ihrerseits beklagen, ihr Benehmen war äußerlich vollkommen korrekt, aber kalt wie Marmor. Dadurch entmutigt, bemühte er sich nicht weiter um ihre Neigung. Die Gräfin hatte bereits alle Mittel aufgeboten, um diesen unbeugsamen Charakter gefügiger zu machen. Liebe und Zärtlichkeit hatten Edmee Thränen entlockt, vermochten aber nicht, sie nachgiebiger zu stimmen. Mit unversöhnlicher Logik entgegnete sie: »Je liebreicher und zärtlicher du gegen mich bist, desto peinlicher ist es mir, daß du einen Teil dieser Liebe, und vermutlich den größten Teil, einem Fremden widmen wirst ...«

Eines Tages ließ sich Frau von Croix-Mort hinreißen, diese Frage ausschließlicher Zuneigung, welche ihre Tochter zu beanspruchen sich für berechtigt hielt, zu erörtern, indem sie entrüstet erklärte: »Das Leben einer Frau wird ja doch nicht von der mütterlichen Liebe allein ausgefüllt, es gibt auch eine eheliche Liebe ...«

Edmee sah ihre Mutter mit kaltem Blicke an. und erwiderte: »Ja, doch nur ein einziges Mal!«

Die Gräfin erbleichte und getraute sich nicht, das Gespräch fortzusetzen. Es war mithin diese Nachfolge, welche man dem verstorbenen Vater geben wollte, was die Kleine abstieß. Es erregte ihre Mißbilligung, daß ihre Mutter dem toten Gatten nicht länger die Treue bewahrte, und sie sprach ihre Meinung offen aus. Der Kampf zwischen Mutter und Tochter nahm infolge dieser Aeußerungen einen derart leidenschaftlichen Charakter an, daß Frau von Croix-Mort in heftigen Zorn geriet, was Edmee wieder ihrerseits außer sich brachte, sie die schuldige Rücksicht vergessen ließ, und Entgegnungen hervorrief, welche ihr nicht verziehen werden konnten.

»Weshalb sollte ich dir denn meine Freiheit zum Opfer bringen,« rief eines Abends die Gräfin erregt aus, »wenn du mir zu Gefallen nicht deine völlig unbegründete Voreingenommenheit aufgeben willst? Bin ich etwa verpflichtet, die Großmütigere zu sein?«

»Vielleicht solltest du die Vernünftigere sein.«

»Was willst du damit sagen?«

Edmee schien einen Moment unentschlossen, ihre Wangen bedeckten sich mit Röte, ihre Augen blickten düster, man hätte das heftige Pochen ihres Herzens an dem Wogen ihres Kleides bemerken können. Endlich sprach sie mit einer Kühnheit, zu der sie sich bis jetzt noch niemals aufzuraffen vermocht hatte: »Ich meine, daß du blind sein mußt, um nicht zu sehen, daß derjenige, um dessentwillen du alles hintansetzest, ein Heuchler und Lügner ist. Wenn er mit dir spricht, achtest du bloß auf den Sinn seiner Worte, du hörst nicht, ob sie wahr oder falsch klingen. Er spricht zärtlich mit dir, und das genügt dir ... Ich aber, die ich ihn nicht nur anhöre, um ihm Beifall zu spenden, ich fühle es, daß er lügt; ich, die ich ihn nicht nur beobachte, um ihn zu bewundern, ich sehe, daß er bloß eine Rolle spielt ... Er hintergeht dich.«

»In welcher Absicht?«

»Jedenfalls in einer eigennützigen.«

Und mit einer ironischen Betonung, die ihre Mutter wie ein Peitschenhieb traf, fügte sie hinzu: »Uebrigens solltest du dies lieber mit deinem Notar besprechen.«

»Ich weiß, was ich zu thun habe,« entgegnete die Gräfin, vor Aufregung zitternd. »Was dich betrifft, so verzichte ich, dich zu bessern Gefühlen zurückzuführen. Dein Benehmen wird ein weiteres gemeinschaftliches Leben zwischen uns unmöglich machen. Wir werden uns demnach trennen müssen.«

Frau von Croix-Mort hatte sich diese Drohung als letztes Mittel bewahrt. Sie hoffte, Edmee zu beugen und sie zu etwas mehr Zurückhaltung und größerer Sanftmut zu bewegen. Das junge Mädchen verzog keine Miene, ihre Lippen zitterten kaum merklich, indes sie mit niedergeschlagenen Augen erwiderte: »Das habe ich vorausgesehen. Wenn ich recht verstanden habe, was in meiner Gegenwart gesprochen wurde, so gedenkt ihr, euch in Paris niederzulassen, um dort den Winter zu verbringen. Ich wünsche auf Croix-Mort zu bleiben. Rosalie und ihr Mann werden das Hauswesen besorgen, und ich werde so zufrieden leben, als ich es zu sein vermag. Unser guter Pfarrer wird mir Gesellschaft leisten, und zudem langweile ich mich niemals, wenn ich allein bin.«

»Ich werde dich nicht mit Entziehung deiner Freiheit strafen, indem ich dich in eine Erziehungsanstalt nach Paris gebe, wie ich es könnte und vielleicht thun sollte. Die Schroffheit deines Charakters zu mildem, würde ein Zusammenleben mit Fremden erforderlich sein; aber ich will den Kummer, den du zu empfinden vorgibst, berücksichtigen und deiner Gemütserregung die Schuld an den Bosheiten zumessen, die du mir sagst. Bleibe also hier, da du es nun einmal so wünschest; ich hoffe, daß dir eine ruhige Ueberlegung von Nutzen sein wird. In jedem Falle, und ich sage dies auch im Namen des Herrn von Ayères, kannst du sicher sein, daß es dich nur ein Wort kostet, um von uns so aufgenommen zu werden, als ob nichts zwischen uns vorgefallen wäre.«

Edmee neigte stumm den Kopf als Zeichen des Dankes und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück.

Von diesem Abende an gab es keine Erörterungen und keine Zwistigkeiten mehr. Der Stoff war erschöpft. Frau von Croix-Mort, welche jetzt den künftigen Verbleib ihrer Tochter, sowie deren Vermögensverhältnisse geordnet hatte, glaubte nun, ihrer Pflicht vollständig Genüge geleistet zu haben.

Der Vermählungstag nahte heran. Die Trauung sollte in der kleinen Kirche von Clairefont in alleiniger Gegenwart der Zeugen stattfinden, und noch am selben Abend wollte man die Reise nach Paris antreten. Regine hatte es so gewünscht, und Ferdinand hatte sich willig in ihr Begehren gefügt. Am Vorabend trat die Gräfin in das Zimmer ihrer Tochter, um irgend einem unsinnigen Streiche, den sie von seiten Edmees befürchtete, vorzubeugen.

»Morgen dürften wir wohl kaum Zeit finden, uns zu sprechen,« begann sie, »und ich wollte doch noch einmal freimütig zu deinem Herzen reden ... Du hast mir großen Kummer gemacht, mein liebes Kind; ich setze nicht wie du meinen Stolz darein, nicht zu weinen, sondern ich gestehe dir, daß du mich viele Thränen gekostet hast. .. Aber ich hoffe wenigstens, daß unsre Uneinigkeit geheim bleiben und nicht klatschsüchtigen Zungen preisgegeben wird ... Morgen werden wir uns in der Oeffentlichkeit befinden ... ich erwarte, daß du mir nicht neue Ursache zur Betrübnis geben wirst ...«

»Sei unbesorgt, Mama,« erwiderte Edmee ... »Ich habe alles gethan, was in meiner Macht stand, um dich von deinem Vorhaben abzubringen ... Wenn du darunter gelitten hast, so bitte ich dich, es mir zu verzeihen ... es geschah keineswegs aus Bosheit ... Ich wünsche von ganzer Seele, daß du deinen Schritt niemals bereuen mögest ... Niemand wird so innig wie ich zu Gott beten, daß er jedes Unheil von dir fernhalte ...«

Hierauf umarmte sie ihre Mutter und geleitete sie mit der größten Ruhe bis zur Thür, doch als sie allein war, warf sie sich mit einem Schrei der Verzweiflung auf ihr Bett und weinte lange Zeit bitterlich. Frau von Croix-Mort, auf die die Worte ihrer Tochter einen tiefen Eindruck gemacht hatten, verbrachte die Nacht in fürchterlicher Aufregung. Sie wurde von entsetzlichen Träumen heimgesucht, in denen sie von dem schönen Ferdinand gefoltert wurde und keinen andern Zufluchtsort finden konnte, als bei Edmee.

Des Morgens erhob sie sich wie gebrochen an allen Gliedern, und zum erstenmal fand sie in ihrem Innern das unerschütterliche Vertrauen nicht wieder, das sie bisher beseelt hatte. Doch fand sie keine Muße, dieser peinlichen Empfindung nachzuhängen. Der Vormittag verrann schnell wie ein Traum. Vor dem Maire von Clairefont, ihrem Pächter, sprach sie feierlich ihr »Ja«, unterzeichnete das Register, ließ sich mit liebenswürdiger Freundlichkeit von dem Alten küssen, durchschritt eine Gruppe von fünfzig oder sechzig Personen, die vor der Thür des Gemeindehauses umherstanden, und betrat die Kirche unter dem Geläute aller Glocken, von denen eine, die von ihrem ersten Gatten gespendet worden, sie zur Patin hatte.

Der Vorhof war düster, indes der hellerleuchtete, mit Laubgewinden und Blumen geschmückte Altar im Hintergrunde erstrahlte. Ein Teppich bedeckte die Steinfliesen, auf denen Regine vier Monate früher den Schritt des schönen Ferdinand vernommen hatte. An jenem Tage hatte ihre Tochter ihr zur Seite gesessen, und sie hatte sie zur Andacht ermuntern müssen, weil sie neugierig den Gutsnachbar musterte, statt der Messe zu folgen. Wie anders war es heute! Jetzt war es Herr von Ayères, der neben ihr in stolzer, vornehmer Haltung vor dem samtnen Betpulte stand, während Edmee, von ihr getrennt, sich abseits hielt, und, wie sie es versprochen, für das Glück ihrer Mutter betete, die plötzlich eine Fremde für sie geworden.

Ein Gefühl peinlicher Unruhe überkam die Gräfin, ihr Herz zog sich in schmerzlicher Angst zusammen. Jetzt ertönte die Glocke des Chorknaben zur Erhebung der Hostie und mechanisch verneigte sich Regine. Im selben Momente vernahm sie ein Schluchzen, sie schlug die Augen auf und gewahrte Edmee, in dem gutsherrlichen Kirchenstuhl knieend, welchen die Familie der Croix-Mort seit zwei Jahrhunderten in der Kirche innehatte. Das Mädchen hatte ihr Haupt so tief gesenkt, daß die Bank leer zu sein schien. Keiner der Diener hatte gewagt, an ihrer Seite Platz zu nehmen, nur Jean Billet stand neben ihr, seine athletische Gestalt hoch aufgerichtet, offenbar bereit, Edmee zu beschützen. Allein und einsam saß das Kind an dem alten Familienplatz.

In diesem Augenblicke fragte sich Regine, ob sie ihre Pflicht an ihrem Kinde auch wirklich erfüllt habe, ob sie ihre Tochter genug geliebt, der sie doch nur den einzigen Vorwurf machen konnte, daß sie ihrem Vater zu sehr glich; ob sie deren Ruhe gesichert und für ihr Glück hinlänglich gesorgt habe. Aufregende Angst bemächtigte sich ihrer Seele und eine reuige Empfindung erfüllte ihr Herz mit Bitterkeit.

Eine plötzliche Müdigkeit befiel sie und erinnerte sie, daß sie nicht mehr jung sei. Die Illusionen, die ihr am Arme eines zweiten Gatten zahllose Freuden vorgespiegelt hatten, verflogen gleich leichten Nebeldünsten, und wie in einem Traumgebilde lag der große Salon des Schlosses Croix-Mort vor ihr. Sie sah sich selbst darin, in vorgerücktem Alter, mit ergrautem Haar; lächelnd saß sie da, indes zwei Kinder, deren Großmutter sie war, auf dem Teppich spielten. Durch die Glasthür blickte sie auf die Terrasse hinaus, wo ein liebendes Paar lustwandelte. Es war Edmee und ihr Gatte, die sich eines ungetrübten Daseins erfreuten und durch ihr Glück die selige Heiterkeit ihres Alters sicherten.

Dieses Bild war so lieblich, so frisch, so friedensvoll, daß sie ihre Blicke nicht abwenden konnte. Gleichzeitig flüsterte eine innere Stimme ihr zu: »Das wäre wahres Glück gewesen, welches zu genießen nur von dir abhing. Du hättest, um es dir zu sichern, nur nicht Chimären nachjagen, dich nicht ins Blaue verirren sollen, sondern bloß hübsch ruhig auf der Erde zu bleiben gebraucht. Du hattest eine Tochter, die es dir verschaffen konnte. Sie hätte dir ihre Kinder gleich lebenden Blumen auf den Schoß gesetzt, und dein nach dem Idealen dürstendes Herz hätte selige Freuden genossen. Du aber begehrtest eine andre Liebe. So schreite denn jetzt auf dem Wege, den du dir selbst gewählt, dahin, und beklage dich nicht, wenn du ihn oft rauh und abschüssig findest.

Eine Rauchwolke stieg empor, die letzten Worte des Priesters schlugen an Regines Ohr. Das entzückende Traumgebilde verschwand und vor ihren Augen sah sie nur noch den schönen Ferdinand, der ihr zulächelte und seinen goldblonden Bart strich. Was nun folgte: der Besuch in der Sakristei, um dem Pfarrer zu danken; die Begrüßung der Bauern, welche sie mit Blumensträußen vor dem Thor erwarteten; das Frühstück, welches den Pächtern der Besitzung auf der Schloßterrasse gereicht wurde; die letzten in der Eile getroffenen Anordnungen – all dies verlor sich in der fieberhaften Aufregung der Abreise.

Klar und lebendig verblieb in Regines Erinnerung nur der ernste Abschiedsgruß und der traurige Blick ihrer Tochter, die, auf dem Trittbrett des Wagens stehend, sie nochmals in die Arme schloß, und der mürrische Ausruf des Herrn von Ayères, welcher, die gewohnte Höflichkeit beiseite lassend, unwillig drängte: »So macht doch einmal ein Ende! Wir werden noch den Zug versäumen!«

Die Wagenthür fiel zu, die Pferde enteilten, Edmee blieb zurück. Das Schloß verschwand, die Bäume der Allee zogen gleich flüchtigen Gespenstern vorüber und die staubige Heerstraße wurde sichtbar, jene erträumte Straße, die der Vernunft den Rücken kehrte und zu den ersehnten Phantasiegebilden führte.


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