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Marquis de Brandebourg

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Es ist das Bildnis eines Grandseigneurs. In Schlesien und Böhmen schlägt er die Schlachten, die Europa überraschen, verblüffen und überwältigen, der kleine Marquis de Brandebourg, der in Feldlagerhärte der Große ward. Mit höflichem Kompliment bedauert er, daß er bei Roßbach die geschniegelte Hoheit Soubise verklopfte, der dann Frau Pompadours bittendes Wort den Marschallstab von Frankreich beschert, aber in den Schlachten selbst ist Friedrich ohne Emphase, ohne Komplimente, sein Genie hat den herben, kühlen, nordischen Hauch des schwedischen Eroberers Karl. Mit scharfer, deutlicher, deutscher Grobheit saust das Kommandowort, das allen »Kerls, die ewig leben wollen,« erneutes Heldentum gebietet: rauh, rücksichtslos bleibt dieses Königs Aufstieg. Er ist das umstellte Wild, das lüstern in der Vorbereitung, im Anlauf voll kecker Attacken, voll verzweifelter Zähigkeit im Festhalten der Beute war, er erholt sich stets von neuem, bevor er raubfroh endgültig entschlüpft, von des Kampfes Erschöpfung im Winterquartier. Aus der Hauptstadt bringen dort die Estaffetten die Berichte, Beschwerden und Bittschriften. Der Pflichtfeste kritzelt einem gekränkten, unfähigen Beamten, den all die Jahre die Karriere übersah, vielleicht noch grimmig an den Rand, daß er, der Preußenkönig, »mehr alte Maulesels im Stalle hätte, von denen noch keiner Stallmeister« geworden, aber der Unbeugsame, der klare Wirtschaft mit schroffer Derbheit führt, dieser Barbar, der für seine Grenadiere, weil er an seiner Großmacht mit eiserner Sicherheit schaffen will, noch die Rute kennt: dieser alte Fritz von Preußen wird der Marquis, wenn er zwischen Schlacht und Schlacht, wie er's bei Friedenszeit im Park in Potsdam übte, nach Büchern und Manuskripten greift. Seine Episteln beginnen plötzlich zu schwärmen. Sie sind erfüllt von Zärtlichkeit, von Aufmerksamkeit, von Galanterie, wenn sie die Markgräfin von Bayreuth, die vergötterte Schwester empfängt. Der rauhe Witz der Marginalverfügung wird zum Esprit. Tausend Artigkeiten auf artige Art. Jetzt ist's ein Mann der großen Welt, die zu Paris den Künstlern und Gelehrten huldigt, verwöhnt, verfeinert und voll Anspruch, der die Grenzen der Heimat verächtlich macht. Er ist Phantast, Philosoph, Mäzen. Er liebt sie alle, diese zierlichen, höflichen Marquis, die so sicher in der Gesellschaft brillieren, möchte ganz so sein, wie sie, und ist nur – man merkt den Deutschen im Fremden wieder – viel gründlicher, als sie alle. Wie sie, versucht auch er sich in den schönen Künsten. Er dilettiert. Nach Kolin dichtet er Oden. Vielleicht holt er auch die Flöte hervor. Und wenn das Kriegsgetümmel völlig schweigt, diktiert er die Grabrede auf Voltaire.

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Blatt 2: Voltaire und der alte Fritz.

Voltaire war nicht die große Passion, Voltaire war die Überzeugung dieses heroischen Lebens, das immerzu, wenn Preußens wachsende Macht und Unantastbarkeit es zuließ, nach Frankreich drängte. Früh ist die Neigung und unbezwinglich. Die Rocoulles, die heimlich den kleinen Prinzen verwöhnt, gibt ihm französische Kosenamen. Die ersten Dichter erklärt Duhan de Jandun, ein gefährdeter Protestant, der aus dem Reich der allerchristlichsten Könige an den Hof des Soldatenkönigs entwich. Selbst Friedrich Wilhelm dünkt nächst der Gottesfurcht der Nachbarn Bildung wichtig. »Die französische Sprache, worin mein Sohn einen guten Anfang gemachet, kann man kontinuieren, Ihm durch die Übung im Reden und dann mit der Zeit durch Lesung guter französischer Bücher beibringen.« Die Bücher freilich verbrannte er. Die Flöte zerbricht er dem Querpfeifer über dem Kopf, und Duhan de Jandun schickt er, als die Flucht mit Katte mißglückt, nach Wesel ins Exil. Und man weiß, daß er den Thronerben mißhandelte, würgte, vor aller Augen entehrte. Daß er ihn störrisch, mißtrauisch, verschlagen machte. Vielleicht war's später ein halbes uneingestandenes Bedauern der tollen Härte, die Friedrich einst gar mit dem Tod bedrohte, vielleicht indes nur selbstzufriedenes Behagen, daß endlich der Beschränkte Milde fand. Der pardonnierte Fritz war fleißig. Er pflanzte Bäume und schrieb demutvolle Briefe an den Vater. Nicht ganz so an den General von Grumbkow: »Ich kenne das Verdienst des Roten Zimmers und die Tabakswolke, welche den mittleren Luftraum desselben einnimmt. Dennoch ist hier ein Senat, in welchem oft das Los und Geschick von uns anderen entschieden wird. Der Senat der Römer wurde bei der Ankunft der Barbaren für eine Versammlung von Göttern angesehen, wegen des Schweigens, des Ernstes und des würdevollen Aussehens der Senatoren; aber derjenige von Berlin könnte wohl, anstatt mit Göttern verglichen zu werden, bis zur Schenke hinabrücken.« Indes: kein Widerspruch wird weiter laut. Er nimmt auch die Prinzeß zur Frau, die ihm gleichgültig war und bleibt. »Elle danse comme une oie.« Aber man wird ihr später eins der Schlösser geben und alle Neujahr höflich Glückwunsch sagen. Der Kronprinz darf nach Rheinsberg. Dem Alten schickt er lange Kerle, Pasteten, frischen Spargel und Geflügel. Der Alte schweigt. In Rheinsberg atmet Friedrich frei.

Und ein Reigen von Festen zieht ein. Es ist das jugendlich heitere Vorspiel der Tafelrunde von Sanssouci. Im Übermut sprüht die Laune auf, die das Kindheitsleid verschollen nennt: man holt die Notenpulte, die Flöten, die Geigen jetzt lachend hervor. Kein Präzeptor mehr befiehlt die Minuten der Mahlzeit: Champagnerbankette währen bis Mitternacht. Und man stutzt seinen Garten nach eigenem Wunsch, man spaziert zwischen Hecken französischen Stils, verschreibt aus Paris die Bücher und Schriften, die hier keiner verbrennt. Erschreckt stünde Friedrich Wilhelm vor dem Sohn, der ungehemmt in sicherer Ferne von Berlin jetzt alles enthüllt, was zwei Dezennien zuvor das gutgläubige Arbeitsprogramm »vor das Fritzchen« verhindert. »Die Disputationen über Geschichte und Literatur waren oft höchst interessant, aber als Hauptthema der Unterhaltung mußten die Abgeschmacktheiten der in der Welt vorhandenen Religionen herhalten. Die Vermessenheit, mit der bei solchen Gelegenheiten Glaubenslehren und Namen, welche der ganzen Christenheit ehrwürdig waren, behandelt wurden, erregte Entsetzen, sogar bei Personen, welche an die Gesellschaft französischer und englischer Freidenker gewöhnt waren.« Und Macaulay, der schiefe Pedant, der kritiklos in geschickter Auswahl an Friedrichs verletzlicher Menschlichkeit zerrt, spricht noch als Nachwelt völlig in Friedrich Wilhelms Sinn: alle bösen Geister waren in Rheinsberg schon losgelassen. Stetig ging all die Jahre schon des Prinzen Sehnsucht auf Reisen nach Frankreich. Dort wird er den gemessenen Sturm der Enzyklopädisten miterleben, und fiebernd verfolgt er, wie auf Bayles, seines Größten, Vermächtnis Diderot und die Erben bauen. Von ihnen nimmt er die Skepsis auf, die Skepsis nährt den Atheisten, mit Bayle hat er Moral ohne Gottessinn. Er hat die Bücher der Zeit erforscht, über Frankreich dringt er, der nie Latein hatte lernen dürfen, in Rom, in Hellas ein, mit den Franzosen umkreist, durchsucht er den Erdball. Dann naht Voltaire. Noch ist es nicht der Patriarch von Ferney, dessen einsames Unsterblichkeitswerk den letzten Groll des einst gekränkten Fürsten in Bewunderung sich verlieren läßt, noch ist es nicht der blendende, geistreiche, verführerische Schmeichler, der den Hochgeborenen durch Artigkeiten in unmittelbarem Verkehr bestricken könnte. Und doch ist Voltaire das Ereignis, der Umsturz, der letzte Entschluß einer Welterneuerung, das Signal innerer Revolution, die im Wahlverwandten gärte, die überraschendste Offenbarung schlummernder Träume, deren Wirklichkeit nur mit neuem Enthusiasmus füllt. Jetzt flattert der erste Brief nach Paris:

»Mein Herr! Obgleich ich nicht den Vorzug habe, Sie persönlich zu kennen, sind Sie mir doch nicht weniger bekannt durch Ihre Werke. Dies sind, wenn man so sagen darf, Schätze des Geistes und Werke, die mit so viel Geschmack, Feinheit und Kunst gearbeitet sind, daß ihre Schönheiten jedesmal neu erscheinen, wenn man sie wieder liest. Ich glaube aus ihnen den Charakter ihres geistvollen Verfassers erkannt zu haben, der unserem Jahrhundert und dem menschlichen Geiste zur Ehre gereicht. Die großen Männer der Neuzeit werden Ihnen eines Tages – und Ihnen allein – den Dank schulden, wenn der Streit, ob einem von ihnen oder von den Alten der Vorzug gebührt, wieder ausbricht und Sie die Wage auf Seiten jener zum Sinken bringen.

Mit der Eigenschaft eines ausgezeichneten Dichters vereinigen Sie eine unendliche Fülle von Kenntnissen, welche in Wahrheit einige Verwandtschaft mit der Poesie haben, mit ihr aber doch erst durch Ihre Feder in Verbindung gebracht worden sind. Niemals brachte ein Dichter metaphysische Gedanken in Rhythmen; die Ehre, hierin der erste zu sein, blieb Ihnen vorbehalten.

Die Liebenswürdigkeit und die Unterstützung, die Sie allen denen zuteil werden lassen, die sich den Künsten und Wissenschaften widmen, lassen mich hoffen, daß Sie mich nicht ausschließen werden aus der Zahl derer, die Sie Ihrer Belehrung würdig finden. So nenne ich den Briefverkehr mit Ihnen, der für jedes denkende Wesen nur vorteilhaft sein kann. Ich wage sogar zu behaupten, ohne dem Verdienst eines andern Abbruch zu tun, daß es in der ganzen Welt ausnahmslos niemand gibt, dessen Lehrmeister Sie nicht sein könnten. Ohne Ihnen einen Weihrauch zu streuen, der nicht wert ist, Ihnen dargeboten zu werden, darf ich Ihnen sagen, daß ich Schönheiten ohne Zahl in Ihren Werken finde. Ihre Henriade entzückt mich und triumphiert glücklich über die wenig urteilsvolle Kritik, die man an derselben geübt hat. Die Tragödie César zeigt uns ausgeprägte Charaktere; die Empfindungen in derselben sind sämtlich großartig und erhaben, und man fühlt, daß Brutus entweder ein Römer oder ein Engländer ist. Alzire verbindet mit dem Reiz der Neuheit einen glücklichen Gegensatz zwischen den Sitten der Wilden und denen der Europäer. An dem Charakter Gusmans zeigen Sie, daß ein schlecht verstandenes und vom Glaubenseifer geleitetes Christentum sogar barbarischer und grausamer macht als das Heidentum.

Corneille, der große Corneille, der die Bewunderung seines ganzen Jahrhunderts erregte, würde, wenn er in unseren Tagen wiedererstände, mit Erstaunen sehen, und vielleicht mit Neid, daß die tragische Göttin verschwenderisch über Sie ihre Gunst ausschüttet, mit welcher sie gegen ihn geizig war. Was kann man nicht erwarten von dem Verfasser so vieler Meisterwerke! Welche neuen Wunder werden nicht hervorgehen aus der Feder, die vorzeiten so geistvoll und so geschmackvoll den Temple du goût schilderte …

Ich werde im Besitz Ihrer Werke mich reicher fühlen, als ich es sein würde durch den Besitz aller flüchtigen und verächtlichen Güter des Glückes, welche derselbe Zufall uns erwerben und verlieren läßt. Man kann sich die bedeutendsten, ich meine Ihrer Werke, zu eigen machen vermittelst der Hilfe des Gedächtnisses, und sie haben für uns dann eine ebenso lange Dauer wie dieses. Da ich die geringe Ausdehnung des meinigen kenne, so schwanke ich lange, bevor ich mich in der Wahl dessen entscheide, das ich für würdig erachte, darin aufbewahrt zu werden.

Wenn die Poesie noch in demselben Zustande wäre wie ehedem, d. h., wenn die Dichter nur langweilige Idyllen zu trillern verständen, Eklogen, die nach einer Schablone gearbeitet sind, unverständige Stanzen, oder wenn sie höchstens ihre Leier auf den Ton der Elegie zu stimmen wüßten, so würde ich für immer darauf verzichten; aber Sie veredeln diese Kunst, Sie zeigen uns neue Wege und Pfade, die Lefranc und Rousseau unbekannt waren.

Ihre Dichtungen haben Eigenschaften, welche sie verehrungswürdig und der Bewunderung und des Studiums rechtschaffener Menschen wert machen; sie bilden einen Lehrgang der Moral, bei dem man denken und handeln lernt. Die Tugend ist darin mit den schönsten Farben gemalt. Die Idee des wahren Ruhmes ist darin dargestellt; und Sie bringen den Geschmack an den Wissenschaften auf eine so zartsinnige und feine Art bei, daß jeder, der Ihre Werke gelesen hat, von dem Ehrgeiz beseelt wird, Ihren Spuren zu folgen. Wie oft habe ich mir nicht gesagt: Unglücklicher! befaß dich nicht mit einer Bürde, die deine Kräfte übersteigt; man kann Voltaire nicht nachahmen, noch viel weniger Voltaire selbst sein.

In solchen Augenblicken habe ich empfunden, daß die Vorzüge der Geburt und jener Dunst von Größe, in den die Eitelkeit uns einhüllt, nur zu wenigem, oder besser gesagt, zu nichts dienen. Es sind Unterscheidungsmerkmale, die unserem Selbst fremd sind und nur die Außenseite zieren. Wie sehr sind ihnen nicht die Talente des Geistes vorzuziehen! Was verdankt man nicht den Leuten, welche die Natur schon dadurch ausgezeichnet hat, daß sie sie hat geboren werden lassen. Sie gefällt sich darin, Wesen zu bilden und mit aller Fähigkeit auszustatten, die erforderlich ist, um in den Künsten und Wissenschaften Fortschritte zu machen; Sache der Fürsten ist es, diese Männer für ihr nächtliches Wachen zu belohnen. Ach! warum bedient sich der Ruhm nicht meiner, um Ihre Erfolge zu krönen! Ich würde nichts anderes fürchten, als daß dieses Land, an Lorbeeren wenig fruchtbar, nicht so viele liefern könnte, wie Ihre Werke verdienen.« Hier ist kein Wort unechter Empfindung. Nie hat ein Fürst dem Geist, der hier Dichter, Philosoph, Wahrheitssucher, Künstler und Revolutionär in einem Mann war, rückhaltsloser, bescheidener, heftiger zugejubelt. Und nie intelligenter.

Friedrichs Zusammentreffen mit Voltaire war kein bloßer Zufall, die Begegnung war nur logisches Ergebnis. Beide die Repräsentanten gleicher Epoche. Beide unvergleichlich über aller Umwelt. Sie verachten die Menschen, von deren Idealen sie in fanatischen Theorien reden. Beide sind Künstler. Es verschlägt nichts, daß der eine die Grenzen des Genies mühelos passiert, indes der andere in Mittelmäßigkeit und Dilettantismus verharrt. Beiden malt Geschichte, Wissenschaft, Kunst, malt alles sich in einem Sinn: nur auf französische Art. Sie beide sprechen die gleiche Sprache, die beiden allein des Redens wert dünkt. Und selbst im Wesen der Persönlichkeit bleibt ihnen mancherlei gemein. Voltaire ist geizig. Man weiß, daß Friedrich zuletzt sparsam bis zur Entbehrung war. Voltaire ist boshaft. Friedrich war spitz, malitiös, voll Schadenfreude an geglückten Streichen. Maßlos war des Franzosen Eitelkeit, indes auch Friedrich nie vergaß, daß einer seinen Stolz verletzt. Sie schmeicheln, sie intrigieren, sind beide skrupellos, wenn irgendwo ein Zweck sie lockt. Im weiten, kühlen Raum des Grand Siècle spüren sie einander, suchen sie einander und treffen sich. Da beide von Gesicht zu Gesicht sich schauen, ertragen sie die Gleichheit nicht und gehen voneinander. Und noch nach Jahren heißt die Gleichheit sie, sich abermals zu nähern.

»Ich schreibe nur zu meiner Zerstreuung.« Irgendwo steht der Satz. Aber man muß sich nicht mit Friedrichs Oden quälen, mit den allegorischen Helden darin, die auf länglichen Stelzen stapfen, muß auch nicht erst im »Antimacchiavell« nachlesen, dieser glänzenden Entrüstungspose, die der Autor vergaß, wenn er in seiner realen Politik selbst gern den Spuren des Italieners folgte, oder in anderen Bänden all der »Oeuvres posthumes«, deren Verzeichnis allein emsigen Registratoren einen starken Sonderband bescherte. Man muß nur in den Briefen blättern, da und dort in der unerschöpflichen Korrespondenz mit Voltaire, d'Argens, d'Alembert und Algarotti, um überall rasch das eine Kuriosum zu empfinden: wie sich neben den König stets von neuem der Literat von ausgesprochener Neigung drängt. Er korrespondiert mit Mathematikern, Philosophen und Dichtern; korrespondiert mit ihnen nicht als Fürst. Schon in Rheinsberg ist die Liste der Adressaten kaum zu übersehen: Maupertuis, der Mitbegründer der Enzyklopädie, der Mathematiker Gravesand, der überschätzte Poet Gresset, der Systemsucher Fontenelle und die Historiker Hénault und Rollin empfangen dort die zahlreichsten Briefe. Unaufhörlich wechseln die Themen in den Seiten an Voltaire: Meditationen über Menschenrechte, Gespräche über Kunst, Streitfragen der Politik, Untersuchungen der Naturwissenschaft, alle Themen der Aufklärungszeit, die die Kirche nicht schonen, Verse, Glossen zur Literatur, Ästhetik, Theaterkritiken. »Le Kain hat den Ödipus, Mahomet und Orosman gespielt. Als Ödipus haben wir ihn zweimal gehört. Er ist ein gewandter Schauspieler, hat ein schönes Organ, ein würdevolles Benehmen, eine edle Haltung, und unmöglich kann jemand der Mimik mehr Aufmerksamkeit zuwenden, als er es tut. Aber soll ich Ihnen ganz offenherzig sagen, welchen Eindruck er auf mich gemacht hat? Ich wünschte, daß er nicht so sehr übertriebe, alsdann hielte ich ihn für vollkommen. Im vorigen Jahre sah ich Aufresne, dem wäre etwas mehr Feuer nützlich, jener hat dessen zu viel.« Und er ist ein Rezensent voll kühler Klugheit. Sein Geschmack trifft sicher, denn er schult ihn stets von neuem, überprüft ihn. Allmählich ist die »Zerstreuung« ihm Bedürfnis geworden oder sie war ihm immer schon Zwang bei mäßiger Begabung. Verse sandte er, neunzehnjährig, an die Oberstin von Wreech. Hätte der Erbe Preußens nicht Schlesien erobern müssen, war's möglich, daß er, der Journalist, der fingierte Artikel an die Zeitung sandte, unter die »Schreiber« von Anbeginn ging.

Im Kriegsjahre 1759 lebte er spartanisch. Er nährte sich von Käse, genoß nichts anderes, schlief wenig und saß hart im Sattel. Er war Soldat im Felddienst, Friedrich Wilhelms Sohn, der die Preußenzucht übte. Aber den Marquis de Brandebourg entzückte das Rokoko. Um ihn war alles abgeklärte Pracht, war alles Luxus, der reinere Spiegel einer Verfeinerung, die dann im Stürzen der Capets zerbarst. Er liebte die Watteau, Lancret, Pater. Er liebte die Möbel, die Uhren, die Tapeten, die der Pöbel der Revolution in den Palästen des Hochadels von Frankreich fand. Seine Bücher standen im zierlichsten Regal der Welt. Sein Sanssouci umschloß das achtzehnte Jahrhundert. Durch die Stille drang das Rufen deutscher Kunst nicht. Er hörte weder Lessing noch Goethe. Man nannte ihn den Weisen, aber von der Zukunft wußte er nichts. Und sah auch nicht nach ihr aus. Nur dies Zeitalter der Aufklärung war seine Zeit, nur in ihren Tendenzen war er ein Weiser, nur in ihrer Schönheit ein erlauchter Genießer. Keine Epoche könnte je, so meinte er, über die Epoche Voltaires triumphieren. Ihr Reiz und ihr Wissen sollte ganz, sollte auch aus dem edelsten Kelche getrunken sein. Und kein Franzose hat so dies achtzehnte Jahrhundert Frankreichs erschöpft.

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