Novalis
Fragmente II
Novalis

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Fragmente über den Menschen

Glück und Unglück – beides negativ und positiv. 2132

Handeln nach Grundsätzen ist nicht der Grundsätze halber schätzenswert, sondern der Beschaffenheit der Seele wegen, die es voraussetzt. Wer nach Grundsätzen handeln kann, muß ein schätzenswerter Mann sein – aber seine Grundsätzc machen ihn nicht dazu, sondern nur das, was sie bei ihm sind – Begriffe seiner wirklichen Handlungsweise – Denkformen seines Seins. 2133

Die Geschichte rückwärts erzählt.
Philosophie der Menschheit.
Die Gattung wird zum Individuo – nach unsrem Gesichtspunkte. Die Menschen werden immer persönlicher – die Gattung immer weniger persönlich.
Die Menschheit grünt und blüht, welkt und ruht zu gleicher Zeit. 2134

Scheinbar gehn wir vorwärts. 2135

Für Gott gehn wir eigentlich umgekehrt.
Vom Alter zur Jugend. 2136

Jeder denkende Mensch wird allemal Wahrheit finden – Er mag ausgehn, wo, und gehn, wie er will. 2137

Vollendeter Mensch – Person, zu sein – das ist die Bestimmung und der Urtrieb im Menschen. 2138

Die unendliche Idee unsrer Freiheit involviert auch eine unendliche Reihe unsrer Erscheinungen in eincr Sinnenwelt. – Wir werden nicht an die einzige Erscheinung in unserm irdischen Körper auf diesem Planeten gebunden sein. 2139

Stärke läßt sich durch Gleichgewicht ersetzen – und im Gleichgewicht sollte jeder Mensch bleiben – denn dies ist eigentlich der Zustand seiner Freiheit. 2140

Über die Menschheit. Ihre reine vollständige Ausbildung muß erst zur Kunst des Individui werden – und von da erst in die großen Völkermassen und dann in die Gattung übergehn. Inwiefern ist sie ein Individuum? 2141

Pflichten gegen die Menschen – Attention – Liebe – Nachgiebigkeit. Was sie reden, gehe dir nichts an. 2142

Man setzt sich immer dem Gesetz entgegen – und dies ist natürlich. 2143

Hang – Trieb. (Der Mensch kann alles werden, worauf er reflektieren, oder was er sich vorsetzen kann.) 2144

Wo der Mensch seine Realität hinsetzt, was er fixiert, das ist sein Gott, seine Welt, sein Alles. Relativität der Moralität. (Liebe) Unsre pedantischen Grundsätze. (Was gefällt – was mißfällt uns – was zieht uns an – was stößt uns ab – Realität der menschlichen Phantasie und des Willens. Freiheit der Selbstbestimmung) . Mich muß sogar das mir Unangenehme an andern Menschen interessieren. Des Schicksals usw. 2145

Ayez le courage d'être vertueux, et vous le serez. 2146

"Religionen sind die ersten Versuche der Philosophie. Der Gott ist zugleich die erste Ursache aller Dinge. Vervielfältigung der Ursachen. Aufsuchung des Wie dieser Kausalität." [Hemsterhuis.]
(Götterkriege. Homogene – Oxygene.)
Der Mensch sucht überall außer sich das, was ihm am angemessensten ist – das Ich – das agens jedes Dings. 2147

Wünsche und Begehrungen sind Flügel – Es gibt Wünsche und Begehrungen – die so wenig dem Zustande unsers irdischen Lebens angemessen sind, daß wir sicher auf einen Zustand schließen können, wo sie zu mächtigen Schwingen werden, auf ein Element, das sie heben wird, und Inseln, wo sie sich niederlassen können. 2148

Sur l'homme et ses rapports. Von mir. Einleitung. Das wunderbarste, das ewige Phänomcn, ist das eigene Dasein. Das größeste Geheimnis ist der Mensch sich selbst – Die Auflösung dieser unendlichen Aufgabe in der T a t ist dic Weltgeschichte. – Die Geschichte der Philosophie, oder der Wissenschaft im Großen, der Literatur als Substanz, enthält die Versuche der idealen Auflösung dieses idealenProblems – dieser gedachten Idee. Dieser Reiz kann nie aufhören zu sein – ohne daß wir selbst aufhörten sowohl der Sache als der Idee nach. So wenig also die Weltgeschichte aufhört – das Sein en gros, so wenig wird das Philosophieren oder das Denken en gros aufhören.
Wenn man aber bisher noch nicht philosophiert hättc ? sondern nur zu philosophieren versucht hätte ? – so wäre die bisherige Geschichte der Philosophie nichts weniger als dies, sondern nichts weiter als eine Geschichte der Entdeckungsversuche des Philosophierens.
Sobald philosophiert wird, gibt es auch Philosopheme, und die reine Naturgeschichte (Lehre) der Philosopheme ist die Philosophie.
Jede Affektion schreibt der Mensch einer andern Affektion zu, sobald er zu denken anfängt.
(Jeder Gedanke ist in Rücksicht auf seinen Grund – ein Philosophem, denn dies heißt einen Gedanken im Großen betrachten – in seinem Verhältnis zum Ganzen, an dem er ein Glicd ist.)
So überträgt er den Begriff von Ursache, den er zu jeder Wirkung hinzudenken muß, zum Behuf einer Erklärung auf ein außer ihm befindliches Wesen – ohnerachtet er sich in einer andern Rücksicht zu der tJberzeugung gezwungen fühlt, daß nur er selbst sich affiziere – diese tJberzeugung bleibt aber trotz ihrer Evidenz auf einem höhern Standpunkt auf einem niederen, id est für den bloßen Vcrstand unbegreiflich – und der Philosoph sieht sich daher, mit voller Besonnenheit, eingeschränkt urteilen. Auf dem Standpunkt des bloßen Urteilens gibt es also ein Nichtich. Der geheimnisvolle Reiz für die Urteilskraft zu erklären, was auf diesem Wege ewig unerklärbar ist, bleibt also trotz der t~bersicht des Philosophen, und muß, damit die Intelligenz blcibe, in alle Ewigkeit so bleiben.
Passiv fühlt sich demnach der Mensch nur auf der Stufe des bloßen Urteilens.
Begreifen werden wir uns also nie ganz; aber wir werden und können uns selbst weit mehr als begreifen. 2149

Wie wenig Menschen haben sich nur zu einer mannigfaltigen – schweigend totalen Aufmerksamkeit auf alles, was um und in ihnen, in jedem Augenblicke vorgeht, erzogen. Bonnets Bemerkung – Aufmerksamkeit ist Mutter des Genies. 2150

Man würde mit vielen Menschen zufrieden sein, wenn man die Betrachtung nicht ganz über der entgegengesetzten vergäße, was diese Menschen alles nicht sein könnten – oder wieviel schlimmer – und geringer sie so leicht sein könnten. 2151

Was fehlt einem, wenn man brave, rechtliche Eltern, achtungs- und liebenswerte Freunde, geistvolle und mannigfache Bekannten, einen unbescholtenen Ruf, eine gefällige Gestalt, konventionelle Lebensart, einen meistens gesunden Körper, angemessene Beschäftigungen, angenehme und nützliche Fertigkeiten, eine heitere Seele, ein mäßiges Auskommen, mannigfaltige Schönheiten der Natur und Kunst um sich her, ein im ganzen zufriednes Gewissen – und entweder die Liebe, die Welt und das Familienleben noch vor sich – oder die Liebe neben sich, die Welt hinter sich und eine gut geratene Familie um sich hat – ich dächtc dort nichts als fleißiger Mut und geduldiges Vertrauen – hier nichts als Glauben und ein freundlicher Tod. 2152

Jeder sich absondernde, gewöhnlich affektiert scheinende Mensch ist denn doch ein Mensch, bei dem sich ein Grundsatz regt. Jedes unnatürliche Betragen ist Symptom einer angeschoßnen Maxime. Selbständigkeit muß affektiert anfangen. Alle Moral fängt affektiert an. Sie gebietet Affektation. Aller Anfang ist ungeschickt. 2153

Durch allzu häufiges Reflektieren auf sich selbst wird der Mensch fur sich selbst abgestumpft und verliert den gesunden Sinn für sich selbst. 2154

Mensch werden ist eine Kunst 2155

Der Mensch: Metapher. 2156

Nur w enn wir uns, als Menschen, mit andern Vernunftwesen vergleichen könnten, würden wir wissen, was wir eigentlich sind, auf welcher Stelle wir stehn. 2157

Über den Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich. 2158

On dédaigne la Boue – pourquoi? Ne sommesnous pas de la boue parvenus? Partout de la boue, rien que de la boue, et on s'étonne, que la boue n'a pas changé de Nature. 2159

S'il faut, que Dieu nous aime, et que Dieu est tout, il faut bien aussi, que nous soyons rien. 2160

Une forte quantité d'opinions est fondée sur le principe que nous sommes rien. Les Meilleurs ajoutent, que nous sommes pourtant susceptibles d'une certaine Espèce de Valeur absolue – en nous reconnaissant pour rien, et en croyant à l'amour de Dieu. 2161

Man kann immer zugeben, daß der Mensch einen vorwaltenden Hang zum Bösen hat – desto besser ist er von Natur, denn nur das Ungleichartige zieht sich an. 2162

Böse Menschen müssen das Böse aus Haß gegen die Bösen tun. Sie halten alles für böse, und dann ist ihr zerstörender Hang sehr natürlich – denn so wie das Gute das Erhaltende, so ist das Böse das Zerstörende. Dies reibt sich am Ende selbst auf und widerspricht sich sogar im Begriff, dahingegen jenes sich selbst bestätigt und in sich selbst besteht und fortdauert. Die Bösen müssen wider ihren und mit ihrem Willen zugleich böse handeln. Sie fühlen, daß jeder Schlag sie selbst trifft, und doch können sie das Schlagen nicht lassen. Bosheit ist nichts als eine Gemütskrankheit, die in der Vernunft ihren Sitz hat und daher so hartnäckig und nur durch ein Wunder zu heilen ist. 2163

Es fehlt uns nicht an Gelegenheit, Menschen außer der Welt, und zwar vor und nach der Welt zu betrachten, – zu Menschen und nicht zu Menschen bestimmte Stamina. Jenes Kinder; dieses Alte. 2164

Kunst zu leben – gegen die Makrobiotik. 2165

Müssen denn alle Menschen Menschen sein? Es kann auch ganz andere Wesen als Menschen in menschlicher Gestalt geben. 2166

Wir sind aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus. 2167

Menschenlehre. Ein Mensch kann alles dadurch adeln (seiner würdig machen), daß er es will. 2168

Durch die Gemeinschaft und den Umgang mit andern Menschen wird der Glaube an die Existenz der äußern Welt befestigt. 2169

Man sollte stolz auf den Schmerz sein – jeder Schmerz usw. ist eine Erinnerung unsers hohen Rangs. 2170

Wir sollen nicht bloß Menschen, wir sollen auch mehr als Menschen sein. – Der Mensch ist überhaupt soviel als Universum – Es ist nichts Bestimmtes – Es kann und soll etwas Bestimmtes und Unbestimmtes zugleich sein. 2171

Manchen fehlt es an Gegenwart des Geistes – dafür haben sie desto mehr Zukunft des Geistes. 2172

Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben – ihm müssen beständig ein weiter Kreis und mannigfache Begebenheiten gegenwärtig sein. Hier bildet sich dann die wahre, großartige Gegenwart des Geistes – die den Menschen zum eigentlichen Weltbürger macht und ihn in jedem Augenblicke seines Lebens durch die wohltätigsten Assoziationen reizt, stärkt, und in die helle Stimmung einer besonnenen Tätigkeit versetzt. 2173

Freiheit ist wie Glück – dem schädlich – und jenem nützlich. 2174

Im Grunde lebt jeder Mensch in seinem Willen. Ein fester Vorsatz ist das universalberuhigende Mittel. Unser Charakter, unsere Vorneigungen usw. machen uns alles angenehm und zuwider. 2175

Über die Veränderungen des Menschen – Kann man eigentlich sagen, daß sich der Mensch verändre? 2176

Mühe und Pein haben eine angenehme Reaktion – Sie sind Heilmittel und daher scheinen sie den Menschen so verdienstlich und wohltätig. 2177

Ein verkehrter Tag, wo man mit dem Abend anfängt und mit Morgen endigt. 2178

Das Gefühl der Gesundheit, des Wohlbefindens, der Zufriedenheit ist durchaus persönlich, zufällig und hängt nur indirekt von äußern Umständen ab. Daher alles Suchen es nicht hervorbringt, und vielleicht liegt hier der reale Grund aller mythologischen Personifikationen. 2179

Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung. Man muß sie durch tägliche Bemerkungen zu benutzen suchen. Ist denn nicht das Leben des gebildeten Mcnschen eine beständige Aufforderung zum Lernen? Der gebildete Mensch lebt durchaus für die Zukunft. Sein Leben ist Kampf; seine Erhaltung und sein Zweck Wissenschaft und Kunst.
Je mehr man lernt, nicht mehr in Augenblicken, sondern in Jahren usw. zu leben, desto edler wird man. Die hastige Unruh, das kleinliche Treiben des Geistes, geht in große, ruhige, einfache und vielumfassende Tätigkeit über, und die herrliche Geduld findet sich ein. Immer triumphierender wird Religion und Sittlichkeit, diese Grundfesten unsers Daseins.
Jede Bedrängnis der Natur ist eine Erinnerung höherer Heimat, einer höhern, verwandtern Natur 2180

Märtyrer sind geistliche Helden. Jeder Mensch hat wohl seine Märtyrerjahre. Christus war der große Märtyrer unsers Geschlechts. Durch ihn ist das Märtyrertum unendlich tiefsinnig und heilig geworden. O! daß ich Märtyrersinn hätte? 2181

 


 


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