Charlotte Niese
Das Tagebuch der Ottony von Kelchberg
Charlotte Niese

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Oktober.

Die Königin ist hingerichtet. Ich sah sie in ihrem geborgten weißen Kleide auf dem Karren sitzen und weinte keine Träne. Woher sollten auch noch Tränen kommen? Täglich fahren die unseligen Karren an unserem Hause vorüber, und man sieht lieber nicht hin. Ich kann nicht helfen, nur zittern und für die armen Seelen beten, die vor ihren Schöpfer treten.

Ich kann auch nicht mehr lachen, und die alte Duplay zankt mit mir, weil ich so einsilbig bin. Ein so junges Mädchen wie ich, müßte heiter sein, und ich hätte es doch so gut bei ihr! Dann versuche ich, Tante Amelie zu vergessen, die vielleicht noch in St. Pélagie schmachtet; vielleicht aber zu denen gehört, die mit König Ludwigs Schwestern auf die Guillotine gesandt wurden. Lauter Herzoginnen und Marquisen – Tante Amelie wird sich standesgemäß zwischen ihnen ausgenommen haben.

Von Peter nichts gehört. In der Vendée sieht's traurig aus; die Soldaten der Republik werden oft aus dem Hinterhalt erschossen, wie Robespierre neulich berichtete. Ich stand daneben, wie Lenore ihn fragte. Ich glaube, sie empfand ein gewisses Mitleid mit meinen blassen Wangen und müden Augen. Weiß sie doch, daß mein Liebhaber in der Vendée ist. Aber ich gräme mich nicht sehr um Peter, ich denke an die arme Tante, an alle, die guillotiniert werden.

1794.

Der Februar des neuen Jahres ist bereits gekommen, und ich lebe immer noch. Eigentlich wundert's mich; manchmal empfinde ich Lust, Robespierre zu sagen, wer ich bin, damit ein Ende kommt. Es ist so schwer, allein zu sein unter seinen Feinden. Denn die, die täglich ungezählte Opfer töten, sind meine Feinde. Niemand aber beachtet mich. Ich bin das Enkelkind der alten Lenoir – weiter nichts. Daß ich denken kann, glauben weder Lenore noch ihr Verlobter. Daher beachten sie mich gar nicht. Gleichmütig sieht Lenore jeden Morgen die Karren fahren oder hört wenigstens ihr grausames Rollen – es muß so sein. Frankreich kann nicht eher glücklich werden, bis es gereinigt ist. Ach, das arme Frankreich muß sehr schmutzig gewesen sein! Jetzt sind es nicht allein Aristokraten, hohe Beamte und Geistliche, die der Republik gefährlich sind – einfache Bürger müssen auch sterben. Niemand darf mehr weinen oder einen Hingerichteten beklagen: dann wird er als verdächtig eingesperrt, und wenn er Unglück oder auch Glück hat, darf er bald sterben.

Bürger Samson verlangt Gehaltserhöhung; er muß noch mehr Henkersknechte annehmen. Manchmal sind es siebzig, die an einem Tage hingerichtet werden. Jeanne ist auch nicht wiedergekommen – sie ist gut daran.

Bürgerin Vallier läuft noch immer zu den Sitzungen des Wohlfahrtsausschusses und klatscht Beifall, wenn Robespierre redet. Sie flüsterte mir aber kürzlich zu, daß die Herren sich untereinander erzürnen. Ich glaube schon, wenn der Deputierte Besuch hat, geht's immer lebhaft zu, und einig sind sie selten. – – –

Gestern abend schrieb ich diese Worte. Als ich am heutigen Morgen in der Küche stand, um einige Gemüse zu reinigen, hörte ich einen lauten Schrei, dann eiliges Gehen und Waffengeklirr. Ich wollte nachsehen, was los war, da erschien Augustin Robespierre, der mir befahl, mich nicht vom Fleck zu rühren. Er war blaß und verlangte ein Glas Wasser, das ich ihm brachte.

»Sie wollten meinen Bruder töten!« murmelte er, als er das Wasser hinuntergestürzt hatte.

»Wer wollte es?« fragte ich gleichmütig, und er sah mich finster an.

»Erschrickst du nicht, wenn ein Mann wie mein großer Bruder vom Tode bedroht wird?«

»Weshalb sollte ich erschrecken? Der Tod trifft heute auch die Größten.«

»Aber nicht meinen Bruder, Tony!«

Er wischte sich von neuem die Stirn.

»Die Mörderin ist gleich ins Gefängnis gebracht worden. Es ist natürlich eine Verschwörung! Heutzutage sind selbst die jungen Mädchen verderbt wie Charlotte Corday!«

Ich achtete nicht weiter auf ihn und putzte an meinem Salat. Vielleicht war es schade, daß das Mädchen Robespierre nicht getroffen hatte – vielleicht nicht. Ich gewöhne mir das Denken ab.

Augustin saß noch eine Weile bei mir und berichtete weiter. Das Mädchen hatte den Deputierten wegen seiner Großmutter, die seit einem halben Jahr eingesperrt war, sprechen wollen: dann zog sie plötzlich ein Messer. Aber der große Robespierre hatte scharfe Augen. Er griff nach der Mörderhand und schrie um Hilfe.

»Ich saß in seinem Schlafzimmer und kam gleich herbei, und ein Nationalgardist, der ihm eine Bestellung machen sollte, trat ins Zimmer. Das Mädchen hat seinen verruchten Plan nicht ausführen können!«

»Wie heißt sie?« fragte ich, um nur etwas zu fragen, aber Augustin wußte dies noch nicht. Es sollte alles nachgefragt und erforscht werden, ob die Mörderin Mitverschworene hatte.

Das Haus ist von Besuchern nicht leer geworden. Sie kamen alle, um Robespierre zu beglückwünschen, daß er der Mörderhand entronnen wäre. Deputierte, Offiziere, alle, die ihn fürchteten. Der große Mann ließ sich beglückwünschen und sprach lächelnd von einer Bewahrung. Nach einigen Stunden erfuhren wir auch den Namen der Unseligen. Es war meine Freundin Cécile Renaud!

Ich glaube nicht, daß sie Robespierre ermorden wollte, an solche Dinge dachte sie wahrlich nicht. Es ist auch kein Messer bei ihr, noch in ihrer Nähe gefunden worden. Der große Mann ist ein Feigling, und er will sich interessant machen. Denn das Volk beginnt zu murren. Die Hinrichtungen werden langweilig, und die Lebensmittel sind nicht mehr zu bezahlen.

Cécile Renaud! Als ich ihren Namen zuerst hörte, wurde es mir schwarz vor Augen. Dann nahm ich mich übermenschlich zusammen und klopfte, als es stiller im Hause geworden war, bei dem Deputierten an.

Er rief herein, saß vor seinem Schreibtisch und hob ängstlich den Kopf. Als er mich auf der Schwelle stehen sah, schien er erleichtert.

»Was willst du? Ich habe dich nicht gerufen!«

»Bürger, willst du mir einen Erlaubnisschein geben, diese Cécile Renaud im Gefängnis zu besuchen?«

Seine Augen schimmerten grünlich.

»Was will die kleine dumme Tony bei dieser schlechten Person?«

Ich trat näher, und er zuckte zusammen.

»Bürger Deputierter, ich habe Cécile Renaud gesehen, als meine Großmutter im Hause ihres Vaters arbeitete, da war sie immer freundlich zu mir. Ich habe wenig Menschen hier, seitdem Großmutter tot ist – ich möchte Cécile noch einmal sehen. Denn, nicht wahr, sie wird wohl sterben müssen?«

Meine Augen standen voll Tränen, obgleich ich nicht weinen wollte, und der Deputierte rückte auf seinem Sessel.

»Mein Kind«, seine Stimme klang nicht so trocken, wie sonst. »Natürlich muß sie sterben und ihre Mitverschworenen mit ihr. Aber ich lobe dich, daß du Gedächtnis hast für empfangene Güte. Du darfst das unglückliche Mädchen sehen und ich bitte dich, ihr zu sagen, daß ich ihr nicht zürne. Sie muß die Folgen ihres Verbrechens tragen, sie soll meine Verzeihung mit in den Tod nehmen!«

Bei diesen Worten machte er eine Bewegung, als stände er auf der Rednerbühne, schrieb dann einige Zeilen auf und gab mir das Papier.

Cécile ist in St. Pélagie – ich werde sie sehen und vielleicht auch Tante Amelie. Gott wolle es geben!

Andern Tags.

Robespierre hat gelogen. Schon an diesem Morgen ist Cecile mit noch zwölf jungen Mädchen an unserem Hause vorübergefahren. Alle trugen sie rote Hemden, wie es Mörderinnen ziemt, und die Jüngste unter ihnen zählt noch nicht vierzehn Jahre. Sie soll zu Samson gesagt haben: »Liege ich auch recht so, mein Herr?« Und dabei legte sie den Kopf auf den Block. Bürgerin Vallier erzählte es mir. Sie weinte dabei und schüttelte den Kopf. »Die waren alle unschuldig!« setzte sie hinzu. »Die Renaud hat wirklich für ihre Großmutter bitten wollen, die seit einem Jahre eingesperrt ist, aber der Deputierte ist furchtsam geworden!«

»Er ist ein Mörder!« gab ich zur Antwort, und die Vallier stieß mich in die Seite.

»Halte den Mund, Tony! Sonst mußt du auch noch deinen Kopf springen lassen!«

Mir war's gleichgültig. Wie schrecklich ist diese Welt geworden! Bürgerin Vallier berichtet auch von den Strafgerichten, die über viele Städte ergehen, weil sie nicht wollen wie die Mörder in Paris. In Nantes sind siebentausend Menschen ertränkt worden. In Nantes. Manchmal ist es mir, als hätte Peter auch von Nantes gesprochen. Ob er wohl noch lebt? Wie einsam bin ich doch!

Robespierre hat sich heute halbwegs bei mir entschuldigt, daß er Cécile Renaud so schnell hat hinrichten lassen. Ich wischte Staub in seinem Zimmer, da trat er ein und sagte einige wohlwollende Worte. Zuerst über den Kanarienvogel, der einen lahmen Flügel hatte, und dann darüber, daß alle Wünsche nicht in Erfüllung gehen. »Ich hätte dir gegönnt, daß du das arme Mädchen noch gesehen hättest, Tony«, sagte er. »Aber es wäre für dich sehr schwer gewesen und auch für die Verblendete. Das Volk verlangte zudem die schnelle Strafe, und ich war machtlos!«

Er schwieg, als erwartete er eine Antwort. Als ich nichts sagte, räusperte er sich.

»Hast du sonst eine Freundin im Gefängnis, die du besuchen möchtest, so sage es nur. Mein Bruder Augustin kann dich geleiten.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Freunde, und meine Großmutter ist tot!«

Die Lüge wurde mir schwer, aber ich sah das grüne Licht in den Augen des Deputierten, er wollte mich aufs Glatteis führen.

Wieder sprach er einige salbungsvolle Worte, und dann ging er zu Lenore, um ihr ein neues Buch zu bringen. Oh, ich hasse ihn, ich könnte ihn töten. Wie lange noch soll hier gemordet werden?

August.

Wie sonderbar: seitdem ich schrieb, ist alles wieder anders geworden. Robespierre ist hingerichtet, die Gefängnisse haben sich geöffnet, und meine liebe Tante Amelie sitzt neben mir im Lehnstuhl und freut sich am eignen Hause, an dem Garten, der eben so verwildert ist wie das Innere des Hauses. Aber wir dürfen wahrhaftig in unserm Eigentum wohnen, und wir werden wieder menschliche Wesen.

Noch am Abend des neunten Thermidor war ich in St. Pélagie, um Tante Amelie zu suchen, sie war aber vor einiger Zeit nach den Karmelitern gebracht worden, und dorthin lief ich mit der Bürgerin Vallier, die plötzlich auf Robespierre schalt, als hätte sie ihn ewig gehaßt. Aber Paris kochte vor Wut. Das Morden war denn doch zu arg gewesen. Jeanne aber traf ich in Pélagie, wo sie sich nicht schlecht belustigt hatte. Wahrhaftig, sie hatte sich belustigt. Sie hatte mit Marquis und Grafen Karten und auch Theater gespielt.

Diese Aristos sind wahrlich nette Leute, mein Vater hat's auch immer gesagt!« Ich ließ sie bei ihren Grafen und rannte nach den Karmelitern. Vor der Pforte standen schon die Mengen, die ihre Freunde und Verwandten abholen wollten, aber die Wärter wußten nicht, ob sie öffnen sollten, oder nicht. Die Vallier wußte Rat.

»Im Namen der Republik!« kreischte sie, und wir schrien es alle mit. Da ließen sie uns hinein in die dunklen Gänge, die kleinen Zellen, und in wenigen Minuten drückte ich meine Tante ans Herz. Sie war still und konnte nicht viel sagen, aber sie zeigte auf eine schöne jüngere Frau, die neben ihr stand.

»Ottony, wir wollen Frau von Beauharnais bitten, mit uns zu kommen und unser Weniges mit uns zu teilen!«

Frau von Beauharnais ist erst seit kurzem im Gefängnis, ihr Mann ist General gewesen, aber auch guillotiniert. Nun hat sie nichts, aber allerdings einen Freund, der ihr schon versprochen hat, für sie zu sorgen. Es ist der Bürger Barras, den ich wohl ein- oder zweimal bei Robespierre gesehen habe. Ich dachte, er wäre eben so abscheulich, wie alle andern, es scheint aber nicht der Fall zu sein; jedenfalls ist er nicht mit den andern herrlichen Männern auf die Guillotine gefahren, sondern will sich der Armen und Verlassenen annehmen, also auch unser!

Durch seine Vermittlung sind wir wieder in das Haus des »Cidevant Montmédy« gekommen. Es gehört allerdings noch der Republik, aber wenn wir uns vorsichtig benehmen, kann es sein, daß wir es vollständig wieder als Eigentum erhalten. So also hoffen wir das Beste und freuen uns, obgleich Tante Amelie immer wieder weint. Denn sie weiß nicht, wo ihr Bruder geblieben ist. Zusammen sind sie verhaftet, aber gleich in andere Gefängnisse gebracht worden. Und sie hat ihn nie wiedergesehen!

»Er wird bei den Septembermorden umgekommen sein!« sagt Josephine Beauharnais, die sehr gefaßt vom Tode ihres Mannes spricht. Tante Amelie ringt die Hände.

»Mein armer unschuldiger Bruder! Kann solche Schlechtigkeit möglich sein?«

Josephine zuckt die Achseln: »Es ist damals viel Entsetzliches vorgefallen!«

Und sie berichtet einige Dinge, die die arme Tante aufschreien machen, während ich nur die Achseln zucke. Mein Herz ist kalt geworden, und Tante Amelie sieht mich traurig an.

»Kindchen, du hast ein so altes Gesicht bekommen und so harte Augen. Wo ist dein lustiges Kindergesicht geblieben?«

Bin ich je ein Kind gewesen? Fast möchte ich's bezweifeln, aber ich habe hinter dem Paneel mein altes Tagebuch gefunden und darin geblättert. Bin ich's gewesen, die so harmlos schrieb?

Josephine tröstet die Tante über mich. »Sie ist ein bißchen stark im Bratofen gewesen, nun muß sie erst wieder darüber klar werden, daß es noch was andres gibt als Robespierre und die Guillotine!« Sie schaudert selbst ein wenig bei diesen Worten, aber dann spricht sie schon wieder über ein Kleid, das sie notwendig haben muß. Tante Amelie gibt ihr Geld dazu. Ihr Bruder und sie hatten mehrere tausend Goldstücke in der Wand des Speisezimmers verborgen, und obgleich das ganze Haus durchsucht und ausgeräubert ist, so war das Geld noch an seinem Platz. Ebenso wie meine kleine Barschaft und das Kästchen vom Onkel, in dem sich einige Schmuckstücke befinden. Wir haben das Geld nötig. Sobald wir die Erlaubnis erhalten, wollen wir nach Holstein reisen. Niemals mehr will Tante Amelie nach Paris zurück, wo sie nur Entsetzliches erlebte. Mir schaudert ein wenig vor Plön und denselben langweiligen Menschen, aber im Grunde genommen ist mir alles sehr gleichgültig. Wir haben fast keine Dienerschaft in dem großen Hause, nur Jeanne nahm ich mit, die sich lächerlich wundert, daß ich nicht Lenoir heiße und eine Aristokratin bin.

»Gedacht hab ich mir's zwar immer, daß du, daß Sie besser waren als die Duplays!« versichert sie treuherzig, aber sie hat es sich nicht gedacht. Ich bin eine echte Proletarierin gewesen.

Heute morgen war ich bei den Duplays. Am neunten Thermidor lief ich von ihnen weg und in die Gefängnisse. Ganz Paris stand auf dem Kopf; ich dachte erst an sie, als ich mit Tante Amelie wieder in unserm halbzerstörtem Hause war. In den folgenden Tagen mochte ich mich nicht zeigen. Der Pöbel, der einst Robespierre bejubelte, hatte ihr Haus gestürmt, und es sollte dort böse hergegangen sein. Also wartete ich wohl zwei Wochen und nahm dann Eugen mit. Das ist ein netter Junge und der Sohn von Josephine. Er will Tischler werden, und wie ich von Duplays berichtete, wollte er sich die Leute ansehen. »Bei Duplays, bei den Jakobinern?« fragte ich, und er lachte.

»Pah, sie werden schon keine Jakobiner mehr sein! Wenn die Royalisten wieder an die Regierung kommen, dann werden sie Royalisten werden!«

So arg war das Haus nicht zerstört, als wir es betraten. Nur die Fenster wurden gerade neu eingesetzt, und Lenore stand vor der Tür, um die Arbeiter zu beaufsichtigen. Als sie mich sah, trat sie mit einem großen Schritt auf mich zu.

»Kommst du jetzt wieder, du ungetreue Katze? Die ganze Zeit hast du uns allein gelassen! Mach, daß du jetzt an die Arbeit kommst! Meine Mutter ist sehr krank gewesen, und du Pflichtvergessene bist weggelaufen!«

»Ich wollte nicht wieder in den Dienst gehen, sondern nur mein Kleid holen und meine andern kleinen Sachen«, begann ich.

»Nichts erhältst du, wenn du so wegrennst! Schäme dich!« »Sie können meine Sachen nicht behalten, Bürgerin, da sie mir in den letzten Monaten keinen Lohn gegeben haben!« entgegnete ich möglichst ruhig, und sie lachte höhnisch.

»Hatte ich denn selbst Geld? Marsch, an die Arbeit! Meine Mutter wartet!«

Eugen wollte das Wort ergreifen, aber ich gab ihm einen Wink, daß er schweigen sollte. Ich bedauerte das stolze Mädchen, das sich auf den Höhen der Menschheit geglaubt hatte, und nun grausam hinuntergeworfen war.

Sie sah den Blick, aber verstand ihn natürlich nicht!

»Wollt Ihr hier über mich lachen? Meint Ihr, ich lasse mich verspotten, nur, weil ein anderer Wind weht? Ihr werdet beide noch merken, daß Menschen wohl sterben können, aber niemals ihre Gedanken!«

Schweigend ging ich in die kleine Mansarde, die mir als Gemach gedient hatte, und als die arme Frau Duplay Schritte hörte und laut rief, trat ich einen Augenblick bei ihr ein.

Sie lag zitternd im Bett.

»Ach, Tony, bist du es? Warum bist du weggelaufen, da wir dich so nötig hatten? Denke doch, das Volk war so böse auf uns und wollte das Haus anstecken! Und wir haben doch nichts Übles getan! Robespierre war ein prächtiger Mensch, und sein armer Bruder tat niemand etwas zu Leide! Auch mit dir sind beide immer freundlich gewesen, und nun mußten sie sterben!« »Nachdem sie Tausende hatten sterben lassen!« erwiderte ich ernsthaft, und die Alte sah mich unsicher an.

»Es war gut für die Republik!« erwiderte sie, und auch hier hatte ich nicht das Herz, meinen rechten Namen zu sagen. Eilig packte ich meine wenigen Sachen zusammen und schlüpfte unbemerkt die Treppe hinunter. Die Vallier, die jetzt nichts mit den Jakobinern zu tun haben wollte und sich bei uns eingenistet hat, mochte ihnen die Wahrheit über mich sagen. Eugen, der unten auf der Straße auf mich wartete, trug mir dann mein Bündel nach Haus. Er und Hortense, seine Schwester, wohnen ebenfalls bei uns, aber Barras wird ihnen schon eine andere Wohnung besorgen, wenn wir abreisen dürfen.

Wie Eugen vor dem Duplayschen Hause stand, sah er viele Vorübergehende sich die einstige Wohnung des blutdürstigen Tyrannen zeigen. Sie hoben geballte Fäuste und drohten dorthin.

Und er wunderte sich mit mir, daß plötzlich ein so großer Umschwung gekommen war. Er sagte, die Hinrichtung von Cécile Renaud mit zwölf unschuldigen Genossinnen wäre der Anstoß zur allgemeinen Wut gewesen. Dann ist meine liebe Freundin also nicht umsonst gestorben.

* * *

Wir können noch immer nicht reisen. Der Nationalkonvent muß seine Zustimmung geben, sonst werden das Haus und die Güter des Onkels konfisziert. Wir warten also geduldig und suchen das Schicksal des armen Onkels zu erfahren. Es ist aber unmöglich.

Als ich gestern mit Eugen und Hortense spazieren ging, wurde Marats Sarg gerade aus dem Pantheon gebracht. Der Porphyrsarg kam wieder ins Louvre, die Gebeine des einst so großen Mannes wurden weggefahren, um in eine Kloake geworfen zu werden. Einige Gassenjungen liefen hinter dem Zuge her und jubelten: gerade, wie sie gejubelt hatten, wenn ehemals der Karren zur Guillotine fuhr. Niemand achtete auf ein Häuflein Nationalgarden, das langsam die Straße hinabkam. Lauter junge Soldaten mit finstern Gesichtern und schlechten Uniformen. Vor ihnen ging ein älterer Offizier und zu allerletzt kam Peter Fuchs. Ich erkannte ihn gleich, obgleich er einen dünnen wilden Bart hatte und einen Arm in der Binde. Auch er sah mich, wollte aber weitergehen und blieb wie unwillig stehen, als ich ihn anrief: »Holla, Peter, was machst du?«

Er zögerte mit der Antwort und sah geradeaus.

»Wie soll's gehen? Die Royalisten haben mich in den Arm geschossen, und ich heiße jetzt Pierre Renard, und so will ich genannt sein!«

»Auch gut!«

Ich und Eugen gingen jetzt neben ihm. »Freust du dich nicht, daß die Bluthunde allmählich hingerichtet werden?«

Er antwortete nicht, und ich fragte, woher er eigentlich käme?

»Aus Nantes!«

Ich blieb stehen.

»Peter, du bist doch nicht mit dem Unhold Carrier dort gewesen?« Denn wir hatten alle von den entsetzlichen Dingen gehört, die dort geschehen waren.

Peter sah mich wieder nicht an.

»Ich habe gehorchen müssen!«

Seine Stimme klang rauh, und über mich lief ein Schauer.

»Peter, du hast doch keine Menschen aneinander gefesselt und ins Wasser geworfen?«

Heftig wandte er sich ab.

»Was geht's dich an! Ich war Soldat und mußte gehorchen!«

Dann ging er mit langen Schritten seiner Truppe nach. Ich aber kämpfte mit den Tränen. War das mein Kinderfreund, der übermütige Peter Fuchs? Hatte den auch das viele vergossene Blut vergiftet?

Hortense war der Karre mit Marats elenden Resten nachgelaufen: nun kehrte sie zu uns zurück, hatte irgendein kleines Abenteuer erlebt und plauderte lustig darüber. Aber ich konnte nicht mit ihr lachen.

* * *

Herr Barras hat erlaubt, daß ich Madame Royale im Tempel besuche. Sie ist noch immer gefangen, und der kleine König lebt auch noch. Der aber wird nicht gezeigt. Barras sagt, daß sich um diesen Knaben eine Legende bildete, die eine Lüge wäre; aber von der Vallier weiß ich andere Dinge. Ich darf nicht davon reden und helfen kann ich auch nicht.

Mit klopfendem Herzen ging ich in den Tempel, den ich schon oft aus der Ferne betrachtet habe. Eine enge Treppe führt in das Gemach, in dem Marie Therese bei der Handarbeit saß. Gerade wie damals in den Tuilerien. Aber aus dem ernsten Mädchen war eine finstere Frau geworden. Sie reichte mir die Hand, die ich zu küssen versuchte, aber sie entzog sie mir gleich.

»Lassen Sie diese Dinge, Bürgerin!« sagte sie. »Weshalb besuchen Sie mich? Aus Neugierde?«

»Aus Liebe!« entgegnete ich, und sie bohrte die Nadel in ihre Arbeit.

»Es wird Neugierde sein oder Mitleid. Ich hasse beides. Man soll mich in Ruhe lassen.«

»Freut es Sie nicht, Madame, wenn die Menschen Ihrer gedenken?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mich freut nichts mehr. Freuen, was ist das für ein Wort? Glauben Sie wirklich, es gäbe noch eine Freude für mich? Meine Eltern hingemordet, mein Bruder –« sie hielt inne und schien nach etwas zu horchen.

»Ehemals habe ich ihn noch einmal singen hören. Es war jämmerlich, aber er hatte noch eine Stimme. Jetzt ist er still geworden.«

Sie sprach nicht mehr, und ich ging leise wieder weg. Die Prinzessin soll nach Österreich geschickt werden, für sie will man gefangene Generale wieder eintauschen. Der kleine König aber, was geschieht mit ihm?

Am Abend sprach ich mit Frau Josephine darüber, die wohl mitleidig war, aber auch sehr gleichgültig.

»Zergrübeln Sie sich nicht Ihren hübschen Kopf über die Politik! Es gibt immer schreckliche Dinge, die man vergessen muß!«

Aber es gibt Schrecklichkeiten, die man nicht vergessen kann. Ich denke an die arme Prinzessin und an meinen Freund Peter. Ach, ich bin traurig!

Plön.

Es ist Winter, und es ist kalt. Im Ofen zerknistern die Buchenscheite, und draußen läuten die Glocken. Am Weihnachtabend sind wir hier wieder angekommen, und Fräulein Georgine Ahlefeld weinte vor Freuden. Herr von Treusch weinte nicht, aber sein Gesicht war so voller Sorgenfalten, daß es eine Erleichterung war, ihn lächeln zu sehen. Er hat eine kleine Erbschaft gemacht, und Tante Amelie bringt etwa tausend Louisdor mit. Das ist heutigentags ein Kapital, und ich finde es begreiflich, daß die zwei Liebenden nun nicht länger warten, sondern sich möglichst schnell heiraten wollen. Es ist ein stilles Brautpaar, aber ein sehr glückliches. Tante Amelie ist im Gefängnis förmlich lebhaft geworden: sie kann lange von ihren Erlebnissen berichten, und Tante Georgine wird nicht müde zu fragen.

Ich schleiche mich leise davon. Mir wird schwer, an alles zu denken, das vergangen ist. Ich gehe in den winterglitzernden Garten und sehe hinüber zu den Erdbeerbeeten des Herrn Fuchs. Sie gehören ihm nicht mehr. Er soll nach Hamburg gezogen sein und den größten Teil seines Geldes verloren haben. Was aus ihm geworden ist, weiß kein Mensch. Der Herzog macht jetzt bei einem andern Kaufmann Schulden und ist ebenso gnädig mit ihm, wie ehemals gegen Herrn Fuchs.

Hier wohnen noch eine Menge von Emigranten, die Frankreich verließen und nicht wieder hinein dürfen. Marquis, Grafen und Barone, alle Titel sind vertreten, und in Eutin und Lübeck sollen noch mehr sein. Wenn Tante Amelie einem dieser Herren begegnet, fragt sie ihn gleich nach ihrem Bruder, aber niemand hat ihn gesehen.

Sie sprechen von den Septembermorden und zucken die Achseln. Wer so unvorsichtig war, bis zu diesem Augenblick in Paris zu bleiben, der mußte die Folgen tragen. Mon dieu, eine entsetzliche Geschichte – besser, nicht davon zu reden!

Aber sie fragen, ob die Baronesse ihnen vielleicht einige Taler leihen könnte. Die Zeiten sind schlecht, und selbst in diesem Barbarenlande braucht man Geld! Tante Amelie hat ihr Geld schon Herrn von Treusch übergeben; das ist ein Glück, sie würde keinen Groschen für sich behalten.

Der Herzog gibt dem jungen Paare eine Freiwohnung auf dem Schloß, und Fräulein von Ahlefeld will mich bei sich behalten.

»Ottony muß wieder rote Bäckchen bekommen und ein fröhliches Gesicht,« sagte sie. »Dann wird schon der rechte Mann für sie kommen!«

Auf diese Worte erwiderte ich nichts. Barras hat mir gesagt, daß Tante Amelie und ich die rechten Erben des Marquis von Montmédy sind. Er hatte zwei Güter und das Haus – also brauche ich vielleicht nicht zu heiraten, um mich satt essen zu können. Wir werden sehen!

Februar.

Herr von Treusch und Tante Amelie sind miteinander in der Schloßkirche getraut worden. Der Herzog war zugegen und viele Emigranten, die sehr gerührt taten. Aber sie wollten nur an dem Essen teilnehmen, das der gute Herzog ausrichtete. Im Rittersaal fand es statt, und einige lustige Herren führten ein Schäferstückchen auf, bei dem mehrere ältere Damen weinten, weil es sie in die Zeiten ihrer Jugend und nach Trianon versetzte. Denn auch französische Damen gibt es hier; sie tragen große Perücken und benehmen sich hoffärtig gegen den eingeborenen einfachen Adel. Aber man muß sie ertragen, wie sie sind; sie alle sehnen sich nach Frankreich und nach den Zeiten des Glücks. Vorläufig aber sind sie noch geächtet und müssen das Brot der Fremde essen, das ihnen nicht immer mundet.

* * *

Ich will immer viel schreiben, komme aber nicht dazu. Fräulein von Ahlefeld hat mit mir den Hof von Eutin besucht, wo auch ein Peter regiert, er hat aber mehr Verstand als unser lieber Herzog!

Auch hier sind viele Emigranten, und einer von ihnen, ein Graf Brantôme, hat mir erzählt, daß der Marquis von Montmédy in Kiel gestorben wäre. Er soll auf dem dortigen Kirchhof bestattet sein. Jean Barival hat's berichtet. Der ist nämlich auch hier und wohnt in Lübeck. Gelegentlich kommt er hierher, um sich bei dem Herzog in Erinnerung zu bringen, weil dieser ihm eine Anstellung versprochen hat.

Also Jean ist auch in der Nähe! Wie wunderbar! Aber ich will nicht an ihn denken. Er ist feige davongelaufen und mag sehen, wie er allein durchkommt.

* * *

Tante Amelie und ich waren in Kiel und haben das Grab des Onkels gefunden. Ganz versteckt liegt es in einer Ecke des alten Kirchhofs, nur ein hölzernes Kreuz bezeichnet die Stätte. Wir haben einen ordentlichen Grabstein machen und seinen vollen Namen darauf schreiben lassen. Wir wissen sonst nichts Näheres und können auch nichts erfahren. Es ist im vorigen Jahr ein großer Zuzug von Emigranten nach Holstein gewesen, weil sie anderswo ausgewiesen wurden. Der Marquis von Montmédy war von einem Diener begleitet, über dessen Verbleib niemand etwas sagen kann. Die Behörden sind dem großen Fremdenandrang gegenüber ratlos gewesen; später haben sich die Emigranten über Schleswig verstreut. Einige mußten Unterstützung haben; andere waren im Besitz reichlicher Geldmittel.

Onkel Ferdinand, wie ich jetzt Herrn von Treusch nenne, hat alle diese Nachrichten zusammengetragen, und Tante Amelie schüttelt den Kopf. Nach ihrer Ansicht mußte der Marquis eine große Summe bei sich haben, die er gewiß nicht gleich verausgabte wie die meisten Emigranten. Wo ist dieses Geld geblieben?

»Charles wird es genommen haben!« sage ich, und sie wird nachdenklich.

»Charles! Meinst du, daß er mit meinem Bruder gegangen ist? Ich glaube nicht viel Gutes von ihm!«

Wer soll aber sonst der Diener gewesen sein? Und wenn es Charles war, dann wird er natürlich mit dem Rest des Geldes verschwunden sein. Jedenfalls ist der Marquis gestorben, wir haben durch einige bei ihm gefundene Papiere die Beweise, und sie sind beruhigender, als hätte er seine Seele unter den Hieben der Septembermörder ausgehaucht.

Die armen Emigranten! Es soll einige im Kieler Armenhaus geben; der Stadtschreiber hat's an Onkel Ferdinand berichtet. Eine alte Frau ist dort, die sich in lichten Augenblicken eine Herzogin nennt, aber ihren Namen vergessen hat. Auch ein Mann, der seinen Namen nicht sagen kann, ein älterer Mann, der eines Abends hilflos und in Lumpen auf der Landstraße aufgefunden wurde. Woher er kam, konnte er nicht angeben, er konnte kaum sprechen noch hören. Herr von Treusch fragte, ob wir uns diese armen Menschen ansehen wollten, aber Tante Amelie lehnte hastig ab. Ihr war es eine Beruhigung, daß ihr Bruder Frieden gefunden hatte, den andern konnte sie doch nicht helfen. Nein, wir können nicht allen bedürftigen Franzosen helfen, die in Scharen in dies Land gekommen sind. Die meisten verlangen viel und sind außerdem undankbar. Man kann Angst vor ihnen bekommen.

Itzehoe im April.

Mit Fräulein von Ahlefeld wohne ich im adligen Damenstift Itzehoe. Es ist ein vornehmes Stift, und die Äbtissin ist eine Prinzessin. Alle Damen sind sehr artig gegen mich, und da ich einen deutschen Namen trage, klagen sie offen über die Anmaßung der Emigranten, die sich auch hier eingenistet haben. Natürlich sind auch gute Menschen darunter, aber die andern sind in der Überzahl. Doch die Äbtissin freut sich an den klangvollen Namen, an den feinen Manieren, an allem Glanz, der manchmal über den Gestalten des ancien régime liegt; und an diesem Abend gibt sie eine große Gesellschaft, zu der die vornehmsten der in Itzehoe wohnenden Franzosen geladen sind. Tante Georgine hat abgesagt, well sie nicht mehr den Schwibbelschwabbel hören mag, wie sie die französische Sprache nennt; ich aber komme mit Freuden. Es ist doch schön, einmal wieder Französisch sprechen und vielleicht auch Bekannte sehen zu dürfen. Denn in Gedanken bin ich noch immer in Frankreich. Das Leben hier ist einförmig, und ich bin jung!

Andern Tags.

Ich habe eine Bekannte getroffen: Koralie! Sie trägt seidene Kleider, schnürt sich stark, spielt die große Dame und nennt sich Fräulein von Brielle, nach dem einen Gut des verstorbenen Onkels. Sie begrüßte mich mit großer Unbefangenheit.

»Ach, Baronesse, sind Sie auch hier? Also das Gefängnis hat Sie nicht behalten!«

Wie frech war sie! Jedenfalls mußte ich ihr antworten.

»Ja, trotz Ihrer Liebenswürdigkeit bin ich der Guillotine entronnen!«

Sie zeigte ihre spitzen Zähne.

» Mon Dieu, haben Sie mir die Sache übel genommen? Es war doch gut, daß Sie ins Gefängnis kamen und nicht auf die Straße! Nach meiner Ansicht habe ich Ihnen das Leben gerettet!«

Ich hatte meine Fassung wiedergewonnen.

»Wie interessant, daß Sie sich Brielle nennen und nicht Lenoir. Für den Adel scheinen Sie eine große Schwäche zu haben!«

»Ich bin adelig! Mein Vater war der Marquis von Montmédy, und es war immer seine Absicht, mir seinen Namen zu geben. Der Tod hat ihn an diesem Vorhaben gehindert. In den Septembertagen ist er wahrscheinlich ums Leben gekommen, wie auch Sie wissen werden!«

Ich wußte es anders, aber ich ließ sie stehen und sprach mit einer alten Marquise, die in der Stadt eine Kleinkinderschule gegründet hat. Sie kommt aus Hamburg und hat dort arbeiten gelernt. Sie ist eine energische stolze Dame, und wie ich ihr die Hand reiche, nickt sie mir zu.

»Gut, daß Sie sich nicht mit dieser Brielle abgeben mögen. Wir kennen alle nicht ihren Stammbaum und glauben, daß sie sich den Adel anmaßt. Aber das tun augenblicklich viele Franzosen. Ich wollte dagegen nichts sagen, aber da sie mit dem Vicomte Barival zusammenlebt, so ist ihr Ruf doch schlecht!«

»Mit Barival?«

«Ja, ja, ich glaube sogar, daß er jetzt Marquis ist. Sein Vater soll tot sein. Ein gewissenloser Mensch, aber ein kluger. Dem wird's noch einmal gut gehen, gerade wie Herrn Barras, der den Mantel nach dem Winde hängt!«

Und sie berichtete von Barras, dem einstigen Freunde der Schreckensmänner, der jetzt andere Saiten aufzieht und sich überall unentbehrlich macht. Ich antworte nicht viel darauf. Vor mir steht das Bild, wie Jean und Koralie sich küßten! Ich wurde ins Kloster verbannt – Koralie blieb im Hause und warf ihre Netze weiter nach Jean aus. Hat er wirklich kein Gewissen? Die ganze Gesellschaft ist mir verleidet. Zum hundertsten Male höre ich die Emigranten von ihren Reisen, ihren Abenteuern berichten. Jetzt geht ihr Sehnen danach, wieder nach Frankreich zurückkehren zu dürfen; aber sie stehen auf den Konskriptionslisten.

Koralie sitzt plötzlich neben mir, lächelt mich an, und ich forme einige Worte.

»Stehen Sie auch auf den Listen, Mademoiselle?«

Sie funkelt mich zornig an. Dann wird sie geschmeidig.

»Baronesse, Sie werden mich nicht verraten, nicht wahr? Sie wissen doch selbst, daß ich Ihre Verwandte bin – und Sie sind ein edler Charakter. Wenn Ihr Onkel lebte, dann würde er mich beschützen!«

Das würde er, und die Rücksicht auf sein Andenken bindet mir die Zunge. Koralie sieht, daß ihre Worte Eindruck machen, und sie benutzt meine nachdenkliche Stimmung.

»Sagen Sie selbst, Baroneß, was sollte ich hier in Deutschland machen ohne einen adligen Namen? Ich ging aus Paris weg, weil mir Gefahr drohte. Charles, dieser abscheuliche Diener, stellte mir schon lange nach. Sie merkten's natürlich nicht. Sie sind eben eine feine Dame, und ich bin auf dem Korridor groß geworden. Wäre ich in Paris geblieben, mein Schicksal wäre dasselbe, wie das der meisten Aristokraten gewesen; daher zog ich vor, zu fliehen. Nun muß ich Sie treffen; ist das nicht wunderbar? Wir wollen zusammenhalten, nicht wahr?«

»Ich denke, daß Sie genug Schutz an Barival haben,« sage ich möglichst gleichgültig, und Koralie wird unter ihrer Schminke rot. Dann schlägt sie die Augen nieder.

»Ist auch zu Ihnen schon die Verleumdung gedrungen? Mon Dieu, wie bei uns geklatscht wird, ist nicht zu sagen! Aber Sie sind zu vornehm, um diesen Unsinn zu glauben!«

In diesem Augenblick schickt die Äbtissin ihr Hoffräulein zu mir, um mich an ihre Seite zu befehlen. Ich soll einer alten Baronin aus Hannover vorgestellt werden, die mich lange durch ihre Lorgnette betrachtet und dann fragt, ob ich etwas von der Milchwirtschaft verstände.

Auf mein erstauntes Nein macht sie ein enttäuschtes Gesicht und flüstert der Äbtissin einige Worte zu, die mit lauter Stimme erwidert, daß diese Dinge von einem vornehm geborenen Fräulein mit Leichtigkeit gelernt werden können. Dann muß ich ein Kreuzfeuer von Fragen über meine Familie, meine Ahnenreihe, meinen Onkel über mich ergehen lassen, bis ich ungeduldig werde und mich verabschiede. Auf der Diele steht Fräulein von Ahlefelds Mädchen; mit ihr bin ich eilig über den Klosterhof gelaufen.

Tante Georgine, der ich heute diese Unterhaltung berichtete, machte ein ernstes Gesicht. Die Baronin sucht eine Frau für ihren verwitweten Sohn. Er hat nur drei Kinder und ein schönes Gut. Viele Fräuleins würden ihn mit Freuden nehmen.

* * *

Tante Amelie schreibt heute. Josephine Beauharnais hat sich wieder verheiratet, und zwar mit dem General Bonaparte, dessen Namen jetzt so oft genannt wird. Er soll sehr tapfer sein. Ich meine, ihn einmal gesehen zu haben, damals, als die arme Königsfamilie aus den Tuilerien vertrieben wurde. Hübsch war er nicht; der gute Peter war viel hübscher. Der gute Peter! Wo steckt er wohl, und macht er immer noch das finstere Gesicht wie damals, als er aus Nantes kam?

Die alte Baronin hat Tante Georgine besucht, und ich mußte den Kaffee schenken. Sie ist eine steife Frau mit einem kalten Gesicht. Aber es hat den Anschein, als fände ich Gnade vor ihren Augen. Mir schaudert, aber Fräulein Georgine sagt jeden Tag, daß es eine Gnade von Gott ist, eine christliche und adelige Ehefrau zu werden. Sie selbst ist Klosterdame und kann ohne Ehestand fertig werden; ein armes Fräulein aber, das nur wenig Geld hat, muß sich nicht lange sträuben, wenn ihm eine gute Gelegenheit geboten wird. Ich antworte nicht viel auf diese Reden. Vor unserer Abreise aus Paris hat Barras mir gesagt, daß ich wahrscheinlich Anspruch hätte auf einen Teil vom Besitz meines Onkels. Jedenfalls wollte er sich in meinem und in Tante Amelies Interesse bemühen. Dann also würde ich noch einmal über ein stattliches Vermögen verfügen, und es ist mir auch, als hätte die Äbtissin einiges darüber mit der Baronin geflüstert. Natürlich: die französische Republik gibt vorläufig kein konfisziertes Eigentum heraus, aber die Zeiten könnten sich doch einmal ändern. Jedenfalls will ich keine hannöversche Baronin mit einer Milchwirtschaft werden!

Ende April.

Heute war ein so herrlicher Tag. Ich ging lange allein im Klostergarten spazieren, horchte auf die Nachtigall und dachte an die Zeit vor einem Jahre. Da sah ich Robespierre täglich und fütterte seinen Kanarienvogel. Und dann kam bald der Tag, an dem meine kleine Cécile im roten Hemde bei uns vorüberfuhr. Wie sonderbar ist es, im grünenden Walde zu wandern, auf den Schlag der Amsel zu lauschen und die Wildtauben gurren zu hören! Daß es solchen Frieden gab, habe ich kaum mehr geahnt. So alt bin ich geworden, so müde! Ich sehne mich nach allem, das vergangen ist, nach allem, über dem ein schwarzer Schleier liegt! Bin ich wirklich noch jung, und habe ich ein klopfendes Herz?

Solche Gedanken wanderten in mir, und dann begann mein Herz wirklich zu klopfen. Jean Barival stand vor mir. Kein geputzter Jüngling mehr: ein Mann mit scharfen, klugen Zügen, in einfacher Kleidung und doch mit dem Stempel der Vornehmheit! Er faßte meine Hand und führte sie an die Lippen.

»Ottony, welch ein Wiedersehen nach so viel schweren Tagen!«

»Waren die Tage auch schwer für Sie, Vicomte?«

Er wurde ernst. »Sie haben recht, ich bin der Gefahr aus dem Wege gegangen, weil ich die bodenlose Leichtgläubigkeit des Hofes nicht teilte; aber das Brot der Fremde zu essen, ist nicht immer leicht; und ich stehe natürlich auf der Konskriptionsliste. Das ist kein Vergnügen, wenn es einen mit allen Fasern ins geliebte Vaterland zieht; aber eine große Freude beschert mir der heutige Tag: Ihre holde Gegenwart!«

Er küßte mir noch einmal die Hand und sah mich mit den flimmernden Augen an, die meine Pulse schon früher lebhafter schlagen machten. Aber ich war kein törichtes Kind mehr, ich ging in gerader Haltung neben ihm, sprach vom Frühjahr, von der kleinen sonderbaren deutschen Stadt, von allem, das mir gerade einfiel, und dann auch von Koralie.

»Sie haben sie mitgenommen, Vicomte. So wenigstens verstand ich neulich von ihr!«

»Sie ist mir gefolgt und hat mich getroffen,« erwiderte er ruhig. »Da sie doch in näheren Beziehungen zu Ihrem Herrn Onkel stand, durfte ich ihr meinen Schutz nicht versagen. Ich kenne sie außerdem seit meiner Kinderzeit – ein Barival läßt keine Frau im Stich, die sich vertrauensvoll an ihn wendet!«

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, das er mit einem ernsten Blick erwiderte.

»Liebe Ottony, Ihnen sind Klatschgeschichten zugetragen, die ich sehr bedaure. Eine Dame Ihres Standes sollte darüber erhaben sein, und außerdem sollten Sie sich des Wunsches Ihres verstorbenen Onkels entsinnen, der eine Verbindung unserer Familien fest bestimmte. Wir sollten so bald wie möglich diese letzte Bestimmung ausführen.«

»Ich denke nicht daran, Sie zu heiraten!« rief ich trotzig. »Behalten Sie Ihre Koralie – ich bleibe lieber allein, als mich mit Ihnen zu verbinden!«

Mein eigenwilliger Ton erschreckte mich selbst, aber Jean lachte plötzlich.

»Sie sind noch ganz die Alte, Ottony! Nur viel, viel hübscher geworden!«

Er ergriff meinen Arm und flüsterte mir allerhand Schmeicheleien zu, und als ich ihn abwehrte, wurde er wieder vernünftig, berichtete von seinem Leben in Lübeck, wo er eine Stellung bei einem Kaufmann angenommen hat und eifrig den Handel studiert. Er war in mancher Beziehung unverändert; obgleich wir uns so lange Jahre nicht gesehen hatten, und ich ihm noch immer grollte, weil er Koralie mir vorzog, so konnte ich doch nicht umhin, auf seine Worte zu hören und ihm zu antworten.

Er ist anders als die französischen Herren, die ich hier kennen lerne. Sie denken nur an sich, klagen über ihr Geschick und verlangen immer Rücksicht ohne Gegenleistung. Jean hingegen sieht ein, daß er arbeiten muß, wenn er leben will. Ja, er ist vernünftig, aber ich will doch nicht anders an ihn denken als an einen Jugendfreund, der mir Enttäuschungen bereitete. Außerdem hat er ja Koralie.

Mai.

In Frankreich hat sich der Nationalkonvent aufgelöst, und es ist eine Direktorialregierung eingesetzt. Wahrscheinlich werden bald geregelte Zustande eintreten. Die hiesigen Emigranten sind aufgeregt, und einige versuchen, nach Frankreich zurückzukehren. Das soll zu früh sein. Barival sagt es, der einmal wieder hier ist. Er hat Tante Georgine einen Besuch gemacht, und diese empfindet Wohlwollen für ihn. Mehr allerdings noch für den Baron Neuhof, dessen Mutter mich so lange betrachtete, und der jetzt erschienen ist. Ein dicker großer Mann, mit einer Perücke, die er im Hause mit einer Wollmütze vertauscht. Dabei raucht er eine Kalkpfeife nach der andern und spricht über seine Kühe und seinen Stammbaum. Aber Tante Georgine behandelt ihn sehr freundlich, und als ich mich etwas abweisend verhalte, fragt sie spöttisch, was ich denn noch vom Leben erwarte? Ich bin arm, die Republik wird sich hüten, die Güter meines Onkels herauszugeben; in ein evangelisches Kloster gehöre ich kaum, da ich katholisch bin. Auch über diesen Übelstand will der Baron wegsehen, wenn ich ihn heirate. Im allgemeinen ist ihm die Religion überhaupt gleichgültig.

Dies sind schwere Tage. Ich hätte manchmal Lust zu weinen, so überflüssig komme ich mir vor. Weshalb wohl die Guillotine mich verschont hat? Dann wäre mein irdischer Leib mit Kalk übergossen, und meine Seele hätte den Frieden.

Jean fragte mich, weshalb ich verweinte Augen hätte; aber ich habe eine ausweichende Antwort gegeben. Er soll nicht mit Koralie über mich lachen. Baron Neuhof ist ein Bauer, aber er ist doch ein ehrlicher Mann.

* * *

Eine Nichte von Tante Georgine ist heute zu Besuch gekommen, ihr Vater ist gestorben, und sie muß lange Zeit hier bleiben. Deshalb wohl will mich das gute Fräulein los sein. Also werde ich den Baron heiraten, der noch immer bei einer entfernten Verwandten auf dem Kloster wohnt und eifrig zur Jagd geht. Ich werde ihm eine gute Frau, seinen Kindern eine gute Mutter sein.

Gerade wie ich diesen tapferen Entschluß gefaßt und mich mit einem Spaziergang durch den Klostergarten für mein Vorhaben stärken will, sehe ich in der Ferne den Freiersmann, wie er die dralle Magd des Klosterpächters umfaßt und küßt. Sie hält ganz still: ihr scheint diese Zärtlichkeit nichts Ungewohntes zu sein. Und gerade, wie ich mich entrüstet abwende und nicht weiß, ob ich weinen oder lachen soll, tritt mir an einer Wegbiegung Jean Barival entgegen und zieht mich leise zu sich. Da habe ich versprochen, ihn zu heiraten.


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