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[Einleitung]


Einleitung zur ersten Geschichte

In der ersten Hälfte der Sagazeit, noch tief im Heidentum, trug sich im Weißachlande, Westisland, eine Fehde zu, die über das damals gewohnte Maß hinausging. Ein angesehener Großbauer, Thorkel Blundketilssohn, wurde mit seinen Hausgenossen in seinem Hofe verbrannt. Urheber der Tat war ein Emporkömmling niederer Herkunft, der Hühnerthorir; ihm half ein Häuptlingssohn, Thorwald. Die Verfolgung dieses Mordbrands wuchs aus zu einer gewaltigen Dingfehde. An die Spitze der Mordbrenner trat der Vater des genannten Thorwald, der Zungen-Odd, der mächtigste Gode der Weißachgegend. Zum Häuptling der Klage gewann der Sohn des Verbrannten, Herstein, den Mutterbruder seiner Frau, den Thord Brüller, der in der Gegend nordwärts der führende Mann war.

Die beiden Goden brachten außergewöhnliche Streitkräfte auf, zusammen über 700 Mann. Einen ersten Zusammenstoß gab es auf dem örtlichen Ding an der Weißach. Hier kam der Zungen-Odd in die Oberhand und hintertrieb die Verhandlung der Klage; aus Thord Brüllers Schar fielen mehrere, darunter eine Respektsperson. Dann ging die Klage ans Allding, und da schlugen sie sich wieder. Diesmal zog Odd den kürzern. Das Ende war, daß mehrere der Brandstifter geächtet wurden, darunter der Hühnerthorir, und ihn erschlug man später.

Thord Brüller aber hielt auf dem Gesetzesfelsen des Alldings eine Rede und legte dar, wie mißlich es für den Kläger sei, die Klage vor das dem Tatort nächste Ding zu bringen, wenn dieses, wie in seinem Falle, von dem gegnerischen Goden geleitet und beherrscht würde. So schritt man zu einer Neugestaltung der isländischen Gerichtsverfassung, indem man unter anderm je drei Godentümer zu einem Dingverband zusammenschloß, so daß die landschaftlichen Gerichte nicht mehr einem einzelnen Goden unterstanden.

Dies berichtet uns Ari, der älteste, sehr glaubwürdige Geschichtsschreiber Islands.

Nun war aber dieser Stoff zu einem Vortragsstück der Sagamänner geworden. Man baute ihn erzählerisch aus, bis er etwa hundert Jahre nach Ari zur Niederschrift kam. Dies ist unsre Geschichte vom Hühnerthorir.

Es ist der einzige Fall, daß wir eine Familiensaga vergleichen können mit einem so viel ältern, freilich nur skizzenhaften Berichte. Die Hauptabweichung betrifft die Person des Verbrannten: Thorkel wurde zuerst verwechselt mit seinem Vater Blundketil und dann dieser wieder mit einem Namensvetter aus andrer Sippe und Gegend, dem Sohn des reichen Geir (Kap. I). Ferner wird der Bösewicht Hühnerthorir in der Saga schon abgetan, eh es zu seiner Ächtung kommt. Nach Ari geschah der erste große Kampf auf dem Dinge selbst, »und das Ding konnte nicht nach dem Gesetz abgehalten werden«. Also ein gewaltsames Hindern der Gerichtshaltung, ein aus andern Sagas wohlbekanntes Fehdemittel. In unsrer Geschichte kehren die Kläger schon vor der Dingmark um, und die Dinggeschäfte wickeln sich dann ruhig ab (Kap. 15-17). Endlich wird man aus Aris Worten folgern, daß es auf dem Allding zu einer gerichtlichen Verurteilung kam; unsre Saga hat den schiedlichen Vergleich.

Vor allem bemerke man das Verneinende: Thords Dingrede und die daran schließende Verfassungsänderung, diese unpersönlich-politische Seite, hat unsre Sagamänner gar nicht gefesselt. Davon schweigt die Geschichte. Aber mehr als das: der Mordbrand selbst wird in erstaunlicher Kürze erledigt; die Sätze von Kap. 9 sind nur die Schablone der isländischen Brandlegungen: man wußte, in diesen Stufen spielte sich solch ein Hergang ab. Erlebnisse, die diesen besonderen Fall kennzeichneten, hat die Saga nicht gerettet. Wie anders ist dies bei dem berühmten Mordbrand der Geschichte vom weisen Njal! (Thule Bd.4.)

Aber auch die Hauptakte der Dingfehde, Kap. 15, 18, 20, sehen wir nur in chronikenhaften Umrissen vor uns, fast ohne geschaute Augenblicke. Auch für solche Handlungen verfügen andre Isländer über ein viel reicheres Farbenbrett. Gleiches gilt von den Totschlägen; selbst in dem breit unterbauten Zwischenspiel Kap. 19 werden sie nur eben gemeldet.

Mag nun der Aufzeichner unsrer Saga oder schon seine mündlichen Vorgänger dafür verantwortlich sein, genug, eine Bezirksfehde mit viel Menschenopfern und von politischen Folgen hat unser Hühnerthorir sehr entschieden nach der privaten, landwirtlichen, genrehaften Seite gewandt. Was er mit den Mitteln der Sagakunst liebevoll ausgestaltet, sind die vorbereitenden, verhältnismäßig friedlichen Teile. Auch ein leidenschaftlicher Höhepunkt, die Erschießung des Knaben, ist mit dem vollen Maße der Gegenwärtigkeit nacherlebt (Kap. 8); aber auch dies ist keine Politik und keine Massenhandlung.

 

Wer von den andern Sagas kommt, fühlt sich hier in einer milden, verträglichen Luft. Man spürt, daß diese Männer zunächst einmal erwerbsame Bauern sind, und daß es schon etwas braucht, sie zu wagehalsigen Kriegern zu machen. Die Leiden und Freuden des isländischen Landwirts werden uns in dieser Saga so anschaulich wie selten sonst.

Der eigentliche Held der ersten Hälfte, das Opfer des Mordbrandes, ist denn auch einer der ausgeprägt friedliebenden und opferwilligen Sagabauern. Unser Erzähler spiegelt ihn in den Urteilen von hoch und niedrig, und wie nun dieser Prachtsmensch dazu kommt, einen gesetzwidrigen Heuraub zu begehn, das macht er uns mit weitausholender Begründung nachfühlbar (Kap. 4 f.), besonders durch die sorgfältig gesponnenen Gespräche in Thorirs Hofe, ein Meisterstück des Sagadialogs. Die folgenden kleinen Auftritte bei den Goden zeigen uns, wie eine solche Gesetzwidrigkeit von Unbeteiligten und selbst Gegnern gewertet wurde: nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Manneswert. Wie es dem unversöhnlichen Hühnerthorir dann doch gelingt, einen aus der guten Gesellschaft zu gewinnen, stellt der Auftritt in Arngrims Stube gar lebendig vor uns (Kap. 7).

Ein Hauptanliegen des Erzählers ist wieder, uns begreiflich zu machen, wie der alleinstehende Sohn des Verbrannten die unentbehrliche Hilfe großer Herren gewinnt. Hier läßt er seiner Fabellust die Zügel schießen – man kann es kaum anders nennen! Überwirklich ist ja nur der Anfang, mit dem zauberkundigen Pflegevater, das Folgende hält sich in den Grenzen der isländischen Wirklichkeitskunst. Aber die kostbare Schalkhaftigkeit, wie uns die dreifache Übertölpelung vorerzählt wird, hebt uns hier besonders hoch über den Chronikenernst hinaus. Die nächtliche Szene in Kap. 12 mit dem tapsigen Knecht und dem Hausherrn, dem man bei kaltem Nordwind auf die Mantelschöße sitzt und seine Tochter abnötigt, ist ein reizendes Pröbchen epischer Kleinmalerei. Man achte auf die feinen Unterschiede und die Steigerung in diesen drei Beschwatzungen. Thorkel Zipfel, der erste, erscheint hier freilich nicht als der bösartige Ränkeschmied, wie wir ihn anderswoher kennen.

Die steigernde Verdreifachung – manchmal nur Verdoppelung – spielt auch sonst im Hühnerthorir eine Rolle, und sie verstärkt den Klang von Fabulierendem. Aus den Märchen sind wir ja an derlei gewöhnt. Von besonderm Schlag, mehr heldenhaft, pathetisch, sind die Gelübde an der Hochzeit (Kap. 14). Solche Auftritte kennen wir von sagenhaften Kriegerhöfen, ohne daß wir dem isländischen Großbauernhof die Möglichkeit gradezu bestreiten könnten. Auch von der lebhaften Erzählung, wie der Unheilstifter eine letzte Falle stellt und die verdiente Strafe findet (Kap. 19), darf man sagen: sie könnte passiert – aber sie kann auch sehr leicht erfabelt sein!

Der Eindruck im ganzen ist, daß sich über das Gerüste der großen Fehde eine reiche Hülle von unterhaltsamem Schmuck gezogen hat. Nur ist es eben der Realismus der guten Saga, keine Ritterromantik! Es wäre sehr voreilig, alles, was nicht bei Ari steht, für Erdichtung zu halten. Aber wenn Ari sagt: Thord Brüller wurde Häuptling der Klage, weil Herstein seine Schwestertochter zur Frau hatte, so regt sich der Verdacht, daß dieses Band nicht erst im Augenblick improvisiert wurde; womit denn ein großes Stück der Saga zum epischen Schmuck überträte!

 

Von dem Nachspiel, dessen Held Thorodd ist, hat Ari keinen Anlaß zu reden. In diesen Auftritten lebt die Herzensfreundlichkeit unsres Erzählers. Das Idyll im Zelte; der Junge, der so tapfer reinen Mund hält; dann der Bogenschütze, der sein gutes Holzhaus gegen ein kleines Heer verteidigen will – bis es mit einer Heirat endet: das ist zum mindesten kein Rohstoff aus der Wirklichkeit! Aber gar nicht romanhaft, echt Saga, ist wieder der Schluß: daß der brave Thorodd, der junge Ehemann, in der Fremde verschellt. Er hätte es besser verdient; aber die Isländersaga erzählt, wie es im Leben geht, nicht wie es verdient wäre.

Vorbereitet wird dieses Nachspiel durch die Erzählung in Kap. 10, wie der Zungen-Odd auf das Grundstück des Verbrannten seine Hand schlägt. Dies ist wohl der Teil der Geschichte, wo man sich am meisten auf schwankem Boden fühlt. Dieses Umreiten des keineswegs herrenlosen Baugrundes sieht aus wie eine trübe Erinnerung an den Brauch der alten Landnehmer, ihren Grundbesitz mit Feuer zu umziehen. Auch die Entfernung von Odds Gehöft ist stark unterschätzt, und wir verwundern uns billig, daß dieser Hexenmeister Thorbjörn just von Odd, dem Neider Blundketils, Hilfe für Blundketils Sohn erwartet. Frei erfunden wird das Stück nicht sein (sonst fiele auch das Nachspiel); irgend etwas Überliefertes ist wohl verdunkelt und dann neu ins Licht gerückt worden. Wir müssen bei den Sagas immer damit rechnen, daß Erhaltenes, Geschichtliches unter der Decke steckt.

 

Die Hühnerthorirgeschichte hat nichts Buchmäßiges; so wie sie ist, mochte ein ungelehrter Sagamann sie vortragen. Ihre Stärke ist das naive, quellende Erzählergemüt, der süffige Dialog und die Anschaulichkeit, die auf die längsten Strecken hin ohne eignes Hereinreden auskommt und in Örns Frage, Kap. 8, vielleicht das feinste Beispiel zeichenhafter Darstellung bietet. Die Stimmung tragischer Ironie wird immer wieder abgelöst durch einen gutmütigen Humor, der auf kein Lachen, nur ein Lächeln zielt. Dem Aufbau nach ist die Saga eine von den rund begrenzten Novellen; nur ein Stück, Kap. 16, wäre kurzweg entbehrlich; nur einmal, mit Kap. 19, wird die Handlung zwiesträngig. Der Zusammenhang im kleinen ist ein paarmal unklar; man sehe die Noten. Das Zeitgefühl ist wenig entwickelt; über wieviel Jahre spannt die Saga? Auch die Rechtsformen kommen nur in mittlerer Schärfe heraus; ein Stoff wie dieser hätte mehr vertragen! Auf zwei blöde Stellen sei hier hingewiesen.

Der Hühnerthorir hatte von seinem Helfer ausbedungen: gerichtliche Ächtung des Gegners oder Abtretung des Selbsturteils. Und nun bietet der Gegner zweimal, für die private und die öffentliche Seite, dem Kläger das Selbsturteil an (Kap. 8): jetzt aber genügt dies nicht mehr; der Klagführer muß, wiewohl ungern, den andern Weg, den der gerichtlichen Ächtungsklage, beschreiten. Nebenbei: wäre diese Klage vors Ding gekommen, so hätten sich, zehn gegen eins zu wetten, die Honoratioren für einen schiedlichen Vergleich eingesetzt; Blundketil hätte den wohlgeborenen Kläger mit einer schönen Summe abgefunden, und der mißliebige Plebejer hätte das Nachsehn gehabt. All dem kam aber Helgis Erschießung und die heiße Rache zuvor.

Auch bei den Brautlaufsgelübden Kap. 14 heißt es: volle Acht (= Friedlosigkeit) oder Selbsturteil! Nun wird ja die Alldingsklage in Kap. 18, Ende, zum Vergleich umgebogen; daß der Schiedsspruch einseitig war, Selbsturteil, hätten andre Erzähler nicht so zwischen den Zeilen gelassen. Auf Friedlosigkeit wird also verzichtet, denn die schuf nur der Gerichtsspruch. Wenn es dennoch heißt, Arngrim und andere hätten »volle Acht« erlitten, so muß der Ausdruck in sonst nicht üblichem Sinne gebraucht sein, am ehesten für lebenslängliche Landesverweisung; das ist die strengste Form der »milden« Acht, die härteste Ahndung, die man schiedlich verhängen konnte. Unser Rechtsgefühl berührt es seltsam, daß Thorwald, der Urheber der folgenschweren Vorladung, mit dreijähriger Verbannung davonkommt. Hier wirkte wohl zusammen die Rücksicht auf seinen mächtigen Vater und darauf, daß Thorwald in die Rechte des Klägers (in der Raubsache) eingetreten war. Daß man dem Goden Arngrim die Rache für seinen Sohn nicht mildernd anrechnete, fällt auf. Die Zahlung »um freie Einschiffung« ist ein auch sonst bezeugtes Lösegeld. Der Gedanke ist: dem Friedlosen verwehrt man die Einschiffung – dem Landesverwiesenen erlaubt man sie, aber er muß dafür zahlen; er kauft sich gleichsam von der Friedlosigkeit frei.

Die Geschichte vom Hühnerthorir, altisländisch H&#339;nsna-&#254;&#243;rissaga, ist hier übertragen nach der Ausgabe von A. Heusler, Zwei Isländergeschichten, Berlin 1913.

Andreas Heusler

 

Einleitung zur zweiten bis fünften Geschichte

Unter den vier Geschichten steht die von Gisli dem Geächteten, »die Gisla«, nicht ohne Grund voran. Sie bedeutet einen Höhepunkt altisländischer Erzählungskunst und kanns mit der »Geschichte vom Hühnerthorir« wohl aufnehmen.

Die dem Kunstwerk zugrunde liegenden Geschehnisse lassen sich nicht so klar erfassen wie dort, da die unabhängige Paralleldarstellung fehlt. Doch bezeugt uns das »Besiedlungsbuch«, daß Ingjald auf der Hergilsinsel es um Gislis willen mit dem dicken Börk verdarb (unser Kap. 25) und die Geschichte vom Goden Snorri (Thule VII) erwähnt wohl unabhängig von der Gisla die Tötungen Vesteins und Thorgrims, die Geburt des Thorgrim-Snorri, die Vermählung der Thordis mit Börk und ihren mißglückten Versuch, den Bruder an Eyjolf zu rächen Vergl. die Anmerkungen zu Kap. 18 und 36.. Die überlieferten Strophen Gislis machen nach Versmaß, Stil und Inhalt durchaus den Eindruck der Echtheit, bei manchem der Traumverse oder bei der herrlichen letzten Strophe, die der todwunde Held spricht, erscheint es sogar kaum denkbar, daß ein anderer als Gisli selbst sie gefunden haben könnte: kein Zweifel, daß die in der Geschichte erzählten Ereignisse in ihren Hauptzügen und bis in manche Einzelheiten hinein historisch, in den Jahren 962-978 tatsächlich geschehen sind. Der Stoff, aus dem unser Künstler sein Werk schuf, war in hervorragendem Grade die noch wenig geformte mündliche Ereignisüberlieferung.

Das Ziel, das ihm bei seiner auswählenden, verknüpfenden, gestaltenden Arbeit vor Augen stand, war einmal die lebendige und reiche Charakterzeichnung. Was für eine Fülle klar und vielseitig geschauter Gestalten! Gisli, der friedfertige, besonnene, dabei wenn es gilt, furchtlos und kräftig dreinschlagende und listenreiche Held, zugleich ein Meister in der Kunst der Skalden; in seiner Jugend sitzt ihm das Schwert noch locker, da wahrt er die Familienehre mit scharfer Klinge; nachher in den Zwist zwischen Schwager und Bruder verwickelt, sucht er solang es möglich scheint, auszugleichen und zum Frieden zu reden; erst nachdem der lang drohende Schlag gefallen ist, rächt er den Schwager am Schwager und nimmt die Folge seiner Tat, die Ächtung, unerschrocken auf sich. Als einer der Berühmtesten und als der Edelste der großen Geächteten der isländischen Heldenzeit trägt er dreizehnjähriges Ächterleben; aber er ist keine geborene Reckennatur: den Entbehrungen und Schrecken der Einsamkeit gegenüber, die sein Wille standhaft erträgt, versagen seine Nerven, immer häufiger quälen ihn die unheilverkündenden Träume, bis er die Augen kaum mehr zu schließen wagt und es nicht mehr aushält, allein zu bleiben; zwar bezwingt er die Angst immer wieder, indem er seine Gesichte zu kunstvollen Strophen formt, aber in diesen Strophen spricht sich zuletzt doch deutlich die Sehnsucht nach »des Wehs Lindrung«, nach dem Ende aus, und wie in halbbewußtem Herausfordern des Schicksals läßt der sonst so Vorsichtige die Spähne auf den Weg fallen, die den Verfolgern als Führer dienen. Erst im letzten Kampf und in der letzten Strophe erhebt Gisli sich noch einmal zur vollen freudigen Heldengröße.

Neben Gisli sein Bruder Thorkel, der Anstifter alles Unheils, dessen wesentlicher und verhängnisvoller Charakterzug die körperliche Bequemlichkeit und innere Trägheit ist. Er scheut entscheidende Schritte und jede eigene Tat: wie er in der letzten Stunde seines Lebens am Strande sitzt, kostbar gekleidet und untätig, während seine Leute und sein Schwager um ihn her für ihn arbeiten, so zeigt er sich gleich im Anfang der Geschichte lässig der Liebelei Bardis gegenüber, so bleibt er zu Haus, wenn Gisli zur Arbeit geht und legt sich derweil als heimlicher Lauscher an die Wand des Frauenhauses; er bringt es nicht fertig, mit Asgerd zu brechen, deren Untreue er doch aus ihrem eigenen Munde gehört hat; er steht dem Bruder nicht weiter bei als seine persönliche Sicherheit zuläßt. Thorkel ist kein eigentlicher Bösewicht; aber der selber nicht handelt, hat seine Freude dran, andere aufzuhetzen: er treibt den Zweikampf-Skeggi gegen den eigenen Bruder und läßt den Liebhaber seiner Frau durch den Schwager beseitigen. Gegen ihn richtet sich darum die Rache der Vesteinsöhne.

Den beiden Brüdern stehn, weniger ausgeführt, die drei Schwäger zur Seite: Vestein, von Gislis Art, nur weicher, wie Gisli vom Christentum angerührt, ohne doch Christ zu sein; ein kleiner Zug charakterisiert ihn: die Versöhnung der streitenden Knechte auf Thorvardshof. – Thorgrim, das Werkzeug von Thorkels Rachsucht, ist rauher und wilder als dieser: er schlägt zu, wo Thorkel nur haßt; seine Begegnung mit den beiden Norwegern läßt uns schon erkennen, daß mit ihm nicht zu spaßen ist. – Der dicke Börk scheint mehr von Thorkels Natur zu haben: er übernimmt zwar die Bruderrache, läßt sie aber von andern ausführen; das einzige Mal, wo er selber aufbricht, ist auch nicht dazu angetan, zu Wiederholungen zu locken.

Wundervoll ausgeführt ist wieder Gislis Aud, die kluge, tapfere und doch weiche liebende Frau: Wie demütig beichtet sie ihrem Manne in jener Nacht, daß ihre Zunge schärfer gewesen ist als ihre Klugheit; wie verständnisvoll vermeidet sie den Konflikt in ihres Gatten Seele, indem sie die Vesteinssöhne mit Wegzehrung weiterschickt; wie herrlich offenbart sich ihre furchtlose Treue in der Szene mit Eyjolf, der mit blutender Nase einsehn muß, daß Gislis Frau mit Geld und guten Tagen nicht zu kaufen ist; wie handfest schlägt sie zu, wenn es das Leben des Gatten zu verteidigen gilt! – Hinter Aud treten die andern Frauen der Gisla weit zurück: Thordis, die Schwester der beiden Brüder, in ihrer Jugend das vielbegehrte Mädchen, nachher die starkwillige Rächerin: sie muß den Gatten rächen, auch wenn es dem Bruder das Leben kostet, und wenn Gisli gefallen ist, muß sie das Schwert gegen seinen Töter zücken. – Asgerd dient in der Szene vom Frauenzank dazu, Auds Bild durch den Kontrast zu heben: skrupellos hält sie an ihren Beziehungen zu Vestein fest und bezwingt den trägen Gatten nicht durch Demut, sondern durch Unverschämtheit.

Im weiteren Kreis um diese Hauptpersonen, zwischen denen sich die innere Tragödie abspielt, die Fülle der Nebenfiguren, oft nur mit einem einzigen sicheren Strich gezeichnet: der wackere Ingjald, die immer wieder betrogenen Verfolger Eyjolf und Helgi, das derbe Paar der Alten, Ref und Alfdis, und die feinempfindenden Kinder Geirmund und Gudrid, der blöde Knecht Thord und die tüchtige Magd Bothild, und all die andern – eine abwechslungsreiche Reihe wirklichkeitsnaher, lebendiger Gestalten; kaum daß man bei einigen der humoristisch wirkenden eine leis übertreibende Karikierung im Spiele glaubt.

 

Wirklichkeitsnähe und Lebenswahrheit, diese Merkmale der besten Isländersagas, zeichnen auch den Erzählstil der Gisla aus: die Sätze schmucklos, der natürlichen, gesprochenen Sprache gemäß, ohne jede dichterische Erhöhung oder buchmäßige Unnatur; die Gespräche einfach, nirgends unwahrscheinlich in Länge oder Spitzfindigkeit; auch die Ereignisse selber realistisch gesehen, ohne pathetische Übertreibung und Schönfärberei – wie menschlich erscheint uns Gisli auf seiner Flucht von der Hergilsinsel: das Schwert verliert er beim Schwimmen vor Müdigkeit, im Walde kann er kaum mehr weiter vor Müdigkeit und Erstarrung – und bei all dieser Schlichtheit der Form sind wir doch niemals in Gefahr zu vergessen, daß wir es mit einem Werk edelster Kunst, nicht mit einfachem Tatsachenbericht zu tun haben.

Was diesen Eindruck so gleichmäßig von Anfang bis zu Ende festhält, ist neben der Anschaulichkeit der Einzelszene und der eindringenden Charakterisierung der meisterhafte Aufbau des Ganzen. Darin steht die Gisla vielleicht allen Isländersagas voran. Die Einheitlichkeit der Handlung ist in einem in altisländischer Prosakunst nicht oft erreichten Grade gewahrt. Wo einmal eine Szene vom Hauptstrang der Erzählung abseits zu führen scheint, erkennen wir bald den Platz, den sie im Plan des Ganzen einnimmt: der einsam und schweigend sich Rache holende Thorgrim aus der Norwegerszene steigt vor unserer Erinnerung auf, wenn wir von dem Unbekannten hören, der schweigend bei Nacht in Vesteins Schlafkammer tritt.

Das Grundprinzip der kompositionellen Kunst der Gisla ist die gegensätzliche oder steigernde Wiederholung. Dem Gespräch zwischen Asgerd und Thorkel folgt das so anders geartete zwischen Gisli und Aud, dem ergebnislosen Spähgang der törichten Rannveig der erfolgreiche der klugen Gudrid; dreimal wird Vestein gewarnt, dreimal nennt Hallbjörn dem Berg die Eigner der hereinsegelnden Schiffe; dreimal fragt Gisli seinen Bruder, welche Hilfe er von ihm zu erwarten hat; zweimal täuscht er die Verfolger in den Kleidern des Knechts. – Besonders aber folgen die beiden Hauptschläge, die Tötungen Vesteins und Thorgrims, einander wie zwei Brandungswellen in gewaltig sich wiederholendem Rhythmus: alle Einzelheiten der Tötung Vesteins, das Winteranfangsopfer, Vesteins Teppichgeschenke, der nächtliche Überfall durch den Unbekannten, die Antwort des Totschlägers auf die Meldung der Tat, das Leichenbegängnis mit der symbolischen Handlung des Totschlägers, der die Rückkehr des toten Feindes nachhaltig verhindern will, das anschließende Gespräch zwischen den Brüdern und die Schlagballspiele, bei denen sich der Täter durch eine Strophe verrät: all das wiederholt sich in der gleichen Reihenfolge bei Thorgrims Tötung durch Gisli nur in kunstvoller Variierung; und wie ein abklingendes Echo wiederholt die Steinigung der beiden zauberkundigen Geschwister durch Börk und Gisli die beiden Hauptschläge in schnellerer Folge. – Die zweite Hälfte der Geschichte baut sich mit nicht geringerer Kunst als eine sich steigernde Wiederholung der Verfolgungsfahrten auf; die erste erfolglose Fahrt Eyjolfs und Helgis wird mit kurzem Bericht abgetan; die zweite bekommt durch Eyjolfs vergeblichen Versuch, Aud durch Geld und Drohungen zu gewinnen, schon etwas Inhalt; das drittemal endet der Wettkampf der Listen mit gründlicher Beschämung der Verfolger; das viertemal endlich spielt sich der Listenwettkampf allein auf der Seite der Verfolger ab und die Beschämung wird zur schimpflichen Züchtigung gesteigert. – Und auch die in Norwegen spielenden Eingangskapitel, die auf den ersten Blick vielleicht aus dem geschlossenen Bau des Ganzen hinauszuragen scheinen, lassen Motive erklingen, die im Hauptteil in breiterer Ausführung wiederkehren: Thorkel trennt sich in Norwegen schon einmal von Gisli wie später auf Island nach dem Frauenzank und spielt hier wie dort den heimlichen Ratgeber der Gegenpartei; das Schwert Grauseite tut in Norwegen seinen ersten Todeshieb, dem nachher die beiden Hauptschläge folgen; und selbst der dritte Surssohn Ari, der mit dem zweiten Kapitel aus der Geschichte zu verschwinden scheint, taucht im letzten Kapitel noch einmal auf und gibt dem Ganzen durch seinen Rachehieb an Thorkels Mörder Rundung und Rahmen.

 

Auf das Kunstmittel der Wiederholung macht der Erzähler uns zweimal ausdrücklich aufmerksam. Nach den Gesetzen des unpersönlichen isländischen Stils gliedert er seinen Hinweis in die Erzählung ein, ohne selber das Wort zu nehmen: »Die Leute« reden davon, daß die Vorgänge bei Thorgrims Totenfeier denen bei Vesteins Bestattung auffallend ähneln, und Gisli selber erinnert Ingjald daran, daß er schon einmal durch den Kleidertausch mit dem Knecht seinen Verfolgern entronnen ist. Wir haben es also – was auch sonst nicht zweifelhaft wäre – mit völlig bewußter Kunst zu tun. Die Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen gibt der Erzählung die großartige Geschlossenheit des Kunstwerks; aber noch mehr: sie gibt dem gesamten Geschehen in der Gisla den Charakter des Schicksalhaften. Es ist, als seien diesen Menschen immer wieder durch das Voraufgehende die Bahnen vorgezeichnet, in denen ihre späteren Taten sich bewegen sollen. Und das ist mehr als ein bloßer Eindruck. An Gisli tritt der Schicksalsglaube als die ihn beherrschende religiöse Stimmung deutlich hervor: »Jeder redet, was das Schicksal ihm eingibt, und was geschehen soll, das geschieht«, sagt er zu Aud, und auch seine vorausdeutenden Träume sind geheimnisvolle Einblicke in ein Schicksal, dessen Wege bereits festgelegt sind. Aber es ist kein stumpfer, es ist der tätige Fatalismus des Germanen, der dem, was kommen muß, nicht tatenlos entgegenwartet, sondern den Kampf mit dem Schicksal aufnimmt und das drohende Unheil mit allen Mitteln abzuwenden sucht: Gisli ahnt, daß all seine Bemühungen umsonst sein werden, aber er betreibt die Blutsbrüderschaft, er versucht Vestein zu warnen und zuletzt noch Thorkel durch Vesteins Geschenke versöhnlich zu stimmen; er kämpft die ihm im Traum bestimmten sieben Jahre redlich durch und verteidigt, als sie abgelaufen sind, bis zum letzten Atemzug tatfreudig sein Leben.

Auch für den Erzähler selber ist der Fatalismus die beherrschende Grundstimmung dem irdischen Geschehen gegenüber. Auf diesem Boden sind – von den direkten Äußerungen über das dem Helden fehlende »Glück« gar nicht zu reden – die Weissagungen und Vorausdeutungen erwachsen, mit denen er die unentrinnbare Notwendigkeit der in so strengen Bahnen laufenden Ereignisse noch unterstreicht. Bei dieser Schicksalsfrommheit des Erzählers könnten wir vielleicht mit mehr Recht von müder Hoffnungslosigkeit reden. Es liegt über der ganzen Geschichte ein Hauch von elegischer Resignation: alles ist doch umsonst, wenn das Glück nicht mit dir ist. Was nützt es gegen ein Schicksal anzukämpfen, das solche Zufälligkeiten wie den doppelten Weg zwischen Moosfeld und dem Hof unterm Hengstberg als entscheidende Waffe führt, und das die Edelsten selber den Lauf des Verhängnisses beschleunigen läßt: ein vorschnelles Wort der Aud leitet das Unheil ein, ihr vorschneller Schlag, mit dem sie den Gatten zu verteidigen meint, rettet den Führer des letzten Angriffs vor Gislis Schwert! In dieser Gesamtstimmung, die durch das ganze Kunstwerk festgehalten wird, bekommt selbst der an manchen Stellen aufklingende Humor einen gedämpfteren Klang: der Hörer wagt kaum herzhaft zu lachen, denn er weiß, daß die heitere Stimmung nur zu bald wieder der bangen Sorge um das Leben des Helden weichen wird.

 

Ein ganz anderer Geist lebt in der Geschichte von Havard aus dem Eisfjord: der Geist frischen, diesseitigen Heldentums, das dem Lauf des Geschehens nicht weiter nachdenkt, als es für das Dreinschlagen zur rechten Zeit nötig ist. Der Erzähler ist keine besinnliche, fromme Natur wie der Dichter der Gisla. Das Christentum, das mit Havards Gelübde und Bekehrung so viel stärker in die Handlung eingreift, bleibt bei ihm rein äußerlich; der Gisladichter hat dessen Wesen viel tiefer erfaßt; er ist auch in die Charaktere seiner Menschen viel tiefer eingedrungen. Die Gestalten der Havardssaga sind weniger reich, sind einseitiger gesehen: die Bösewichter Thorbjörn und Vakr und der Zweikampfs-Ljot, der gute und tapfere Jüngling Olaf, das »Kernweib« Bjargey, der wieder jung gewordene Wiking Havard. Aber für den Mangel an Innerlichkeit entschädigt uns die Havardgeschichte durch ihre köstliche Frische, durch das lebhaftere Tempo, das erregtere Pathos, den freier entfalteten Humor.

Der Unterschied in Stimmung und Stil der beiden Erzählungen war schon in den zu Grunde liegenden geschichtlichen Ereignissen und Personen vorgebildet. Denn auch für die Havardssaga gilt, daß sie in ihren Hauptzügen wirklich Geschehenes berichtet. Auch bei ihr sind es wieder die Strophen des Helden, die uns den Eindruck der Echtheit machen, um so mehr als sie zum Teil nicht recht zur Erzählung stimmen wollen, also nicht wohl erst mit der Erzählung entstanden sein können. Und gerade in diesen Strophen spricht sich die grundsätzliche Verschiedenheit der Naturen ihrer Dichter deutlich aus: Gislis Strophen sind hellseherische Ahnungen des herannahenden Unheils, Havards Strophen gestalten immer aufs neue den stolzen Jubel über den so glänzend gelungenen Rachekampf.

Es ist als sei dieser Jubelklang aus den Strophen auch in die Erzählung hinübergedrungen, als habe sich die stolze Erregung Havards dem Erzähler mitgeteilt und ihn das geschilderte Geschehen in einer Weise steigern lassen, die dem Gisladichter fernliegt. Havard wird in der Überlieferung fortgelebt haben als der Alte, den die Tötung des Sohns und die Aussichtslosigkeit der Rache aller Lebensfreude und -kraft beraubte, bis sich die Gelegenheit zum Racheschlage bot; in der geformten Saga muß er dreimal hintereinander zwölf Monate das Bett hüten, er muß wie ein hilfloser Greis in Steinthors Dinghütte liegen, damit gleich nachher seine plötzliche Verwandlung, der jünglingshafte Sprung über den Ring der Männer und die seit dem Aufbruch zur Rache andauernde Verjüngung die ganze Größe des Erlebnisses zur Wirkung bringen. Bei der Umwandlung des elenden Atli geht der Erzähler in ähnlicher Weise über das einfach Wahrscheinliche erregt hinaus: in Havards Nähe wird selbst der filzige Sonderling zum großartigen Helden. Die scharfen Worte Havards lassen unter Olafs Händen den Hammelknochen gegen die Wand splittern; in ihrer Begeisterung über den Aufbruch zur lang erwarteten Rache fahren die Valbrandssöhne in die Stiefel, daß ihnen die Haut von den Hacken geht; und nur aus der erregten Stimmung des Erzählers erklären sich die Wellen, die bei der Fahrt über den Eisfjord den Ruderern über Bord branden. – Die ganze Erzählung ist erfüllt von einer den Hörer mitreißenden begeisterten Erregtheit.

In der so anderen Stimmungssphäre wirkt auch das Kunstmittel der Wiederholung, das der Erzähler der Havardgeschichte so reichlich verwendet, sehr anders als in der Gisla. Zweimal bringt Olaf dem Thorbjörn die Hammel, zweimal kämpft er mit dem toten Thormod, dreimal bleibt Havard zwölf Monate in seinem Bett, zweimal holt er sich von Thorbjörn die beleidigende Antwort auf seine Bußforderung; den Hieb Thorbjörns gegen den toten Olaf erwidert Havard, indem er der Leiche Thorbjörns die Kiefer spaltet; in den drei Besuchen Bjargeys bei ihren Brüdern wiederholt sich der durchsichtig rätselnde Dialog dreimal in fast wörtlichem Gleichlauf. Bei alledem haben wir aber nirgends den Eindruck, daß sich wie in der Gisla das Schicksal nach inneren Gesetzen auf diesen vorgeschriebenen Bahnen bewegen müßte, sondern wir genießen diese meist kunstvoll sich steigernden Wiederholungen nur als die formalen Mittel des zusammenschließenden, übersichtlich und wirkungsvoll gestaltenden Aufbaus. Die Handlung ist auch in der Havardssaga einheitlich durchgeführt; nur Kap. 14 bleibt Episode ohne notwendigen inneren Zusammenhang mit dem Ganzen.

 

Die Geschichte von Hörd macht viel weniger den Eindruck des geschlossenen, nach einheitlichem Plan gebauten und von einheitlicher Stimmung erfüllten Kunstwerks. So wie sie uns überliefert ist, wäre sie eher als ein Werk zu charakterisieren, das, in seiner Anlage alt und vortrefflich, von einem jüngeren Erzähler im veränderten Geschmack seiner Zeit bereichert und umgestaltet wurde. Szenen von großer Anschaulichkeit, feiner Charakterzeichnung und geschlossenem Aufbau wechseln mit locker gereihten Episoden, deren Wert zum Teil nur in ihrem phantastischen Inhalt liegt.

Die eine Neigung des späteren Bearbeiters läßt sich deutlich erkennen: er liebt das Fantastische, Märchenhaft-Gruslige. Die Gisla hält sich in ihren Weissagungen, Träumen und Zaubereien durchaus in der Sphäre dessen, was dem Isländer der epischen Blütezeit einfache Wirklichkeit war; wenn der Dichter der Havardssaga in seinem Bedürfnis nach stark gesteigertem Geschehen das menschenfreundliche Heldentum seines Olaf (von dem die Überlieferung wohl wenig zu erzählen gewußt hat) durch den doppelten Kampf mit dem Wiedergänger malt, so leiht er sich dies Motiv zwar aus dem Schatz typischer Gruselszenen, überschreitet aber die Grenze des einem Durchschnittsisländer als möglich Erscheinenden noch kaum. In der Geschichte von Hörd führt uns dagegen die Episode der Hügelerbrechung mit dem geheimnisvollen Björn-Odin mitten in die Phantasiewelt der erfundenen, mythischen und romantischen Erzählungen (Thule, Einleitungsband S. 106); ähnlich sind die wiederholten Kämpfe mit den Hexen Katla und Skroppa zu bewerten; und auch die Szene vom Aufbruch der Götter von ihren Altären im Tempel der (ganz unisländischen!) Thorgerd Hölgabrud gestaltet das Motiv der Todansage nicht im Stil der klassischen Bauernerzählungen, sondern im Geschmack einer Zeit, die sich aus dem Heidentum der Vorfahren den phantastischen Aufputz für ihre an seelischen Problemen ärmeren Geschichten holte. Bei der Heerfessel, der zauberhaften Lähmung, mit der Hörd in seinen letzten Augenblicken zu kämpfen hat, möchte man zweifeln, welcher Schicht sie angehört; der Ton dieser Szene ist so stark und heldenliedhaft, daß man sie dem schwächeren Überarbeiter kaum zutrauen möchte.

Denn das ist sicher: der Isländer, der die Geschichte von Hörd zum erstenmal aus der Überlieferung gestaltete, hatte sich sein Ziel sehr viel höher gesetzt als sein jüngerer Nachfahr. Des Älteren Kunst und Geist sind am deutlichsten in den anscheinend wenig entstellten Partien des Eingangs (bis Kap. 12), der Mitte (Kap. 20-24) und des Schlusses zu spüren (von Kap. 31 ab). Hier haben wir die komplizierten Charaktere, den Reichtum der seelischen Verwicklungen und die Schwere der tragischen Stimmung, die wir aus der Gisla kennen. Der empfindliche Torfi, der seinen Schwager schon haßt, weil man ihn bei der Verlobung der Schwester nicht befragt hat, und noch mehr, weil er der geliebten Schwester einen besseren Gatten gewünscht hätte, als den alten und harten Goden; der durch Signys frühen Tod verbittert, den Haß auf Grimkels Kinder überträgt; der sein Wohlgefallen an harten Entschlüssen so köstlich durch das Lob verrät, das er dem Neffen spendet, als der mit der Schar der Bauern gegen ihn anrückt; – dann vor allem Hörd selber, dessen edle Gesinnung durch die ererbte Empfindlichkeit und den plötzlich ausbrechenden Jähzorn aus der Bahn gerissen wird: er zwingt sich um Torfis willen zur Nachgiebigkeit gegen Aud und rast dann um so fesselloser, als er einsieht, daß all sein Werben um des Oheims Anerkennung umsonst gewesen ist; der zum Räuberhauptmann gewordene Edle, um den sich allerlei Schicksalsgenossen, ehrliche Ächter und lichtscheues Gesindel, scharen, und der nur widerwillig ihr Räuberleben und ihre Schandtaten mitmacht; – Hörds Schwester Thorbjörg, die sich, der Thordis aus der Gisla vergleichbar, im Kampf des Bruders gegen den Gatten so tapfer auf Illugis Seite stellt, nach Hörds Tod aber nur noch den Rachegedanken im Sinn hat; – Hörds willensstarke Witwe, die zum Schein auf die Liebelei mit Thorolf Staar eingeht, um sich an ihm das Werkzeug der Rache zu gewinnen – all diese Gestalten verraten die Hand eines starken Künstlers.

Sehr ähnlich wie in der Gisla herrscht in den besten Partien der Saga von Hörd die schicksalsfromme Stimmung der religiösen Übergangszeit. Vor Hörds Geburt deutet ein Traum der Mutter den frühen Tod des Jungen an, sein erster Schritt trägt ihm den Fluch der jähzornigen Mutter ein, der dann im weiteren in Erfüllung geht; Hörd ahnt es voraus, daß ihm von der Seite der Bettlerfamilie nichts gutes kommen kann und läßt sich trotzdem durch Geir bereden, den Helgi zum Begleiter zu nehmen; dieser Helgi, der Unglücksmann, in dem das Unheil gleichsam verborgen wartet, bis es in der Schicksalsstunde, bei dem Handel mit Aud, herausbricht, ist eine echte Schöpfung des isländischen Fatalismus; ähnlich Geir, dessen arglose Leichtgläubigkeit immer wieder den Unglücksrat geben muß. In schicksalsmäßigem Gleichlauf wiederholt sich an Hörd, was sein Oheim erlebte, dem er auch in seinem Charakter so nahe verwandt ist: daß man bei der Verlobung der Schwester seinen Rat nicht einholte, verfeindet ihn von vornherein mit seinem Schwager; nur daß Hörd, weicher und edler veranlagt als Torfi, zunächst noch einmal zur Versöhnung bereit ist. Der vergebliche Kampf des Helden gegen das über ihm hängende, besser: schon in ihm schlummernde Schicksal ist der ergreifende tragische Inhalt der alten Dichtung von Hörd.

Leider ist es nicht möglich, diese alte Dichtung etwa durch Ausscheidung der jüngeren Zutaten zurückzugewinnen. Der Übersetzer mußte, wollte er nicht ein auch wieder unechtes Drittes schaffen, die Überlieferung in ihrer Zwitterhaftigkeit unangetastet lassen.

 

Die Geschichte vom Hochlandskampf ist nur als Bruchstück auf uns gekommen: der Eingang fehlt völlig; vom Mittelstück kennen wir wenigstens den Inhalt aus der Nacherzählung des Isländers Jón Olafsson vom Jahr 1729, die zwar bewundernswert ausführlich ist, uns aber den alten Text doch nicht ersetzen kann (Kap. 1-14); im Original erhalten ist nur der Schlußteil der Geschichte, und auch er noch mit einer beträchtlichen Lücke (vor Kap. 27).

Dieser Zustand der Überlieferung ist um so schmerzlicher, als die Geschichte vom Hochlandskampf unter den Isländergeschichten einen ganz eigenen Platz einnimmt: sie ist unter ihnen die altertümlichste. Der brüchige, aller Schmiegsamkeit entbehrende Satzbau, der in der Übersetzung nicht völlig wiederzugeben war, die ungleichmäßige, bald umständlich, zuweilen beinah unbeholfen schleppende, bald wieder erregt springende Darstellung, vor allem die eigentümliche Art, wie der Erzähler zwischen eigenem Bericht und direkter Rede seiner Personen wechselt, (Kap. 15!), machen den Eindruck höchster stilistischer Sorglosigkeit, als handle es sich mehr um die zufällige Niederschrift einer noch ganz in mündlicher Überlieferung lebenden Saga als um ein am Schreibpult ausgeführtes, für die schriftliche Verbreitung bestimmtes Buch. Und dieser Eindruck der Altertümlichkeit drängt sich uns auch sonst immer wieder auf.

Den Hauptinhalt des erhaltenen Stückes bildet der geschichtliche Kampf auf der Zweitageheide im Nordwesten Islands vom Sommer des Jahres 1014, der sich der Erinnerung der Isländer tief eingeprägt hatte: In der Fehde zwischen den Leuten vom Borgfjord und denen vom Welpensee, die sich an die Ermordung des Totschlag-Styr knüpfte, war Hall Gudmundssohn vom Asbjörnskap im Welpenseegau durch Leute aus dem Borgfjord erschlagen worden; die Totschläger selber waren bei einem Schiffbruch ertrunken. Halls Bruder Bardi war also an der Reihe, den Antworthieb zu tun, wenn die Fehde nicht einschlafen sollte. Er wählte sich den Gisli Thorgautssohn aus dem Borgfjord zum Opfer und erschlug ihn in sorgsam vorbereitetem Rachezug am hellen Tag unweit von seinem Hof. Auf der Zweitageheide, dem öden Hochland, der Wasserscheide zwischen Borgfjord und Welpenseegau, stellte Bardi sich mit seinen Begleitern den nachsetzenden Verfolgern und es kam zu dem blutigen Kampf, in dem die Borgfjordleute die schwersten Verluste erlitten.

Diese Ereignisse werden in unserer Erzählung mit einer Breite und Ausführlichkeit vorgetragen, die auf den ersten Blick allein von der Freude an den Tatsachen, am reinen Stoff eingegeben erscheinen könnte: kein noch so kleiner Zug der Vorbereitung und nachher der Ausführung des Racheschlages, keiner der vielen Einzelkämpfe auf dem Hochland wird uns geschenkt. Aber die Tatsachenfreude ist doch längst durch die Freude am Seelischen und an der Gestaltung veredelt: Auch der kleinste Zug in den Vorbereitungen hat seine Bedeutung für das Gelingen des Ganzen; all die Vorbereitungen werden auch gar nicht um ihrer selbst willen so eingehend erzählt, sondern weil sich in ihnen die überlegene Voraussicht von Bardis Ratgeber offenbart, und die Ausführung bestätigt dann alle Einzelheiten von Thorarins Rat; die Schilderung der Einzelkämpfe ist reich an Abwechslung und erhält durch die immer wieder anders höhnenden und blutig scherzenden Wechselreden der Gegnerpaare wirksame Lebendigkeit.

Lebendigkeit der Einzelszene, das ist ein wesentliches Merkmal der Kunst dieses Erzählers. Ein grell beleuchtetes Bildchen nach dem andern taucht vor uns auf, verschwindet schnell wieder und läßt doch die Erinnerung nicht mehr los. Den Gipfel dieser Kunst bildet wohl die Zeichnung der mähenden Thorgautssöhne: wie sie den Kopf heben und zum Waldrand hinüberschauen und nicht wissen, wieviele es sind, die da auf die Wiese heraustreten!

In ihrem Aufbau ist die Geschichte vom Hochlandskampf naturnäher als alle drei voraufgehenden. Der Erzähler folgt dem Gang der Ereignisse, ohne sie merkbar stilisierend zu vereinfachen oder umzubiegen, und er gibt ohne vorgefaßte künstlerische Absicht den wechselnden Forderungen des Stoffes nach. Bezeichnend dafür ist der unruhige Szenenwechsel in den nächsten Ereignissen vor und nach dem Rachehieb, wo der Blick immer wieder von einer Partei zur andern hinüberspringt. Diese Naturnähe ist nicht etwa formlos, man denke nur an die verschiedenen Antworten der Fahrtgenossen auf Bardis Aufforderung zum Zuge, oder besser noch an den mit der Zeit fortschreitenden Grad ihrer Bereitschaft am Samstagmorgen: der eine hat noch den Seifenschaum im Gesicht, der zweite reitet eben ab, der dritte ist erst nicht zu finden und kommt so in den Verdacht des Wortbrechers, bis es sich herausstellt, daß er bereits einen vierten abgeholt hat, der fünfte sprengt den Genossen schon von weitem im Galopp entgegen, und als letzte schließen sich Bardis Neffen noch unaufgefordert dem Zuge an – das ist gewiß nicht ungeformter Stoff. Aber der Aufbau der Geschichte hat eine Ungezwungenheit und Ursprünglichkeit, von der aus gesehen die abgeklärten klassischen Formen der Gisla ein wenig akademisch erscheinen.

Die Stimmung ist gänzlich diesseitig. Zwar werden die angegriffenen Thorgautssöhne durch vorausdeutende Gesichte gewarnt und Bardi trägt eine zauberkräftige Halskette, an der ein Hieb seines stärksten Gegners erlahmt; aber diese Züge bestimmen nicht den Charakter der Erzählung. Die Rolle, die in den andern Geschichten das Schicksal spielt als die alles irdische Geschehen gestaltende Macht, hat hier der kluge Ratgeber Thorarin: er sieht und sagt voraus, wie alles kommen wird, und weiß für alles die richtigen Gegenmaßnahmen; und diese Voraussicht fließt nicht aus irgendeiner übernatürlichen Sehergabe, einem geheimnisvollen Vorgefühl des Kommenden, sondern sie ist das Ergebnis nüchterner, aber genialer Berechnung des Gegebenen, einer Berechnung, die mit den Charakteren aller Beteiligten ebenso sicher zu arbeiten weiß wie mit den genau bekannten Einzelheiten des Ortes und allen Entfernungen.

Tagklar ist die Stimmung, und frei von allen Begriffen christlicher Moral ist die Bewertung der Charaktere. Bardis Langmut ist wohl eine bewundernswerte und bewunderte Eigenschaft, aber sie ist Kriegslist: ihm kommts darauf an, seiner Sache Sympathie zu gewinnen ehe er losschlägt. Daß er imstande ist, sich solange zu beherrschen, macht ihn zum Helden im Sinne dieser Sittlichkeit. Seine Langmut steht auf einer Stufe mit der listigen Verteilung des Angriffs auf die verschiedenen Trupps und mit Snorris Übertölpelung des Thorgils in der köstlichen Szene, die uns den uralten Friedensspruch bewahrt hat. Sehr eigentümlich kommt der Widerspruch dieser Sittlichkeit zu den Lehren des Christentums am Schluß der Geschichte in dem Urteil Olafs des Heiligen zu Wort: als christlicher König versagt Olaf den Totschlägern die Aufnahme in sein Hofgefolge, weil er in der Blutrache-Ethik das alte Heidentum wittert; als Mensch von germanisch-sittlichem Empfinden aber schenkt er ihnen seine Freundschaft. Nicht anders urteilte auch der Erzähler unserer Geschichte, nur daß ihn, der nicht König, auch wohl kaum Geistlicher war, nichts zwang, sein menschliches Empfinden zu verstecken.

 

Bisher ist allein von dem im Original erhaltenen Teil unserer Geschichte die Rede gewesen. Nur aus ihm können wir die Kunst des Erzählers wirklich kennen lernen. Aber das in J&#243;n Olafssons Nacherzählung vorliegende Stück ergänzt doch unsre Vorstellung von dieser Kunst in mancher Hinsicht. Vor allem sehen wir aus ihm, daß die dort im Kleinen beobachtete Hingabe an die wechselnden Forderungen des Stoffes auch den Gesamtaufbau der Saga charakterisierte: die Voraussetzung für den Hochlandskampf war die aus dem Totschlag an Styr herausgewachsene Fehde zwischen den beiden Gauen; dieser Totschlag erscheint nun nicht etwa als ein Auftakt zum eigentlichen Thema, sondern wir finden der Erzählung vom Hochlandskampf die ausführliche Geschichte vom Totschlags-Styr vorangeschickt, die fast wie eine selbständige Saga aussieht. Dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, daß der Nacherzähler sich gerade der Gliedstücke zwischen der Geschichte von Styr und der vom Hochlandskampf nicht mehr deutlich erinnert zu haben scheint. Und innerhalb dieser Geschichte von Styr wechselt die Teilnahme des Erzählers zweimal die Partei: anfangs ist Styr der Held; dann fesseln uns auf lange Zeit die Schicksale seines Töters Gest, der zur Partei der Borgfjorder gehört; darauf tritt Snorri in den Vordergrund, der zur Rache für seinen Schwiegervater den Thorstein aus dem Borgfjord erschlägt; und erst wenn dieser Totschlag beglichen ist, wendet sich der Blick auf Hall Gudmundssohn und seinen Bruder Bardi. Unsre Erzählung war also, wie schon ihr Titel andeutet, nicht biographisch angelegt; ihr Thema war die Geschichte einer Fehde von ihren Anfängen bis zum letzten Austrag, wobei das Interesse am Menschen den Erzähler zweimal, bei Styr und Bardi, zur biographischen Darstellung ausholen ließ. – Bemerkenswert ist, wie einmal mit dem Stoff auch die Stimmung wechselt: in der Erzählung von Thorsteins vergeblichen Versuchen, den Vater an Gest zu rächen, tritt plötzlich der Schicksalsglaube stark hervor, der dem Erzähler sonst so fern liegt: nur den Todverfallenen triffts!

Die sittliche Unbefangenheit erscheint in dem nacherzählten Teil womöglich noch größer als im erhaltenen: von dem Totschlags-Styr, der, tückisch und grausam, kein Sittengesetz kennt als den eigenen Vorteil, der sich rühmt, dreiunddreißig Totschläge begangen und keinen gebüßt zu haben, spricht der Erzähler mit dem gleichen Anteil wie von Gest und Bardi, die beide erst durch die Rachepflicht zum Totschlag getrieben werden.

Von der Kraft der Darstellung kann uns die Nacherzählung keinen vollen Begriff geben. Daß darin der vordere Teil dem Folgenden nicht nachstand, verraten uns Bilder wie das der Gefährten Styrs, die ohne Hosen auf der gefrorenen Erde hinter dem Totschläger her rennen, oder des Manns, der im Morgengrauen auf dem Dach von Thorsteins Schlafhaus das Gras ausrauft und dabei fest und gleichmäßig hineinfaßt, als wenn da ein Pferd weidete. Wie stark muß die Leuchtkraft und die nervöse Lebendigkeit solcher Szenen im Original gewesen sein!

 

Die Geschichte von Gisli ist nach der Ausgabe Finnur Jónssons (Halle 1903) übersetzt, Eine Sonderausgabe der Übersetzung (ohne die Strophen) ist im Jahr 1907 im C. H. Beckschen Verlag in München erschienen. die Geschichte von Havard nach der Ausgabe von G. Thordarson (Kjöbenhavn 1860), die Geschichte von Hörd nach der Ausgabe des Thorleifr Jónsson (Reykjavik 1908), die Geschichte vom Hochlandskampf nach der Kalundschen Ausgabe (Köbenhavn 1904). Andreas Heusler hat bei einer Reihe schwierigerer Stellen, besonders in der Geschichte vom Hochlandskampf, seinen Rat beigesteuert. Die Übersetzung der Strophen verdanken wir der Skaldenkunst Felix Niedners.

Friedrich Ranke


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