Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Die Grenze

Der Frühling kam. Der König und der Necker erwarteten die Niederkunft Carlottas. Sie hielten sich in diesen Wochen ruhig, ließen das Reich von den Erschütterungen und Gefährlichkeiten der winterlichen Geschehnisse sich erholen und legten die Politik gleichsam vor Anker, die schwere Stunde der Königin als Signal für die neue Fahrt erharrend. Der König war skeptischer als der Necker, der mit sonderbarer Sicherheit auf eine glückliche Geburt und auf den Sohn rechnete. Ludwig bemerkte oft, daß in seiner Ehe, überhaupt auch in seiner und ihrer Familie die weiblichen Geburten in der Überzahl seien. Oliver schüttelte immer zuversichtlich und lächelnd den Kopf: das sei doch kein Beweis und schließe ein männliches Kind nicht aus.

»Hast du die Dame Savoyen deiner Magie unterworfen, Oliver?« hatte Ludwig einmal diese Sicherheit ironisiert.

»Ich habe sie«, antwortete der Necker ernst, »auf die Magie ihres eigenen Willens aufmerksam gemacht und dann auch auf die Kraft der Anemone, die nach einem geheimen Rezept aus der karolingischen Zeit die Frucht des Leibes viril macht. – Ich glaube an den Willen wohl mehr als an die Blume; aber die Blume stärkt der Frau die Energie, die ja durch kein anderes Gefühl als das der Pflicht und des Zweckes begleitet wird. – Sire, ich glaube an den Dauphin, weil er notwendig ist.«

»Notwendig?« fragte der König leise und versonnen. –

»Notwendig sind nur ich und du ...«

Der Necker betrachtete ihn.

»Sind wir nicht sterbliche Menschen, Sire?«

Der König ergriff hastig seine Hände; er flüsterte, ringsum blickend, als scheue er Horcher:

»Ich habe den tiefen Wunsch, es zu bezweifeln. Ich habe den Willen, es zu beweisen. – Wir haben die menschliche Einzahl überwunden, Bruder; warum sollen wir dann auch nicht die Dauer des einzelnen Lebens verdoppeln können? Ich glaube an die Überlegenheit unseres verbundenen Geistes über unsere getrennten Körper. Ich glaube an die Überwindung der irdischen Grenze, Oliver, durch meine Macht und deine Magie.«

Der Necker lächelte unmerklich.

»Sie fürchten also den Tod, Sire?« fragte er nüchternen Tones. Und als Ludwig nicht antwortete, fügte er langsam hinzu:

»Halten Sie das, was Sie meine Magie nennen, für ein Werk des Teufels?«

Der König hob abwehrend die Hand.

»Warum fragst du es den einzigen Menschen, der weiß, daß du nicht des Teufels bist, Oliver? Bin ich nicht der Nutznießer deiner ...«

Er stockte, als suche er das Wort. Oliver zeigte ein schönes Lächeln. Ludwig vollendete leise:

»... deiner Menschlichkeit ...«

Der Necker senkte den Kopf.

»Vielleicht ist es das richtige Wort, Sire, vielleicht auch nicht. Aber sehen Sie: das Wort erfreut mich. Wir beide kommen doch wohl aus menschlichen Begriffen nicht heraus. Und glauben Sie mir, die irdische Grenze zu überwinden ist sehr schwer oder unmöglich, scheut man das eine ...«

»Ich scheue das eine, Bruder«, murmelte Ludwig, »ich hasse es, ich werde dagegen kämpfen, wie ich noch nie kämpfte!«

»Ist das Leben denn gut!« rief Oliver mit seltsamer Heftigkeit.

Der König sah ihn verwundert an.

»Ich kenne nichts Besseres, Freund«, sagte er traurig; »und ich kenne nur den Tod für andere, und der ist niemals noch zu schauen schön und zu lieben würdig gewesen. – Und als Lebendiger bin ich der König; nicht nur durch den Zufall der Geburt allein! Ich bin in Wahrheit der einzige Mann im Reich, der Herrscher sein kann. Was wäre das große Land in diesem Augenblick, würde ich nicht sein, ich nicht mit dir? Ich habe die Pflicht, unser Leben zu lieben, Freund, und du wirst mir helfen müssen, wenn der große Feind naht.«

Oliver sah zu Boden; er schien durch das Gespräch in besonderer Weise erregt, wie ein Mensch, welcher Gedanken hört, die er seit langem schon und voller Teilnahme durchdacht hat. Er hob jetzt schnell den Kopf; Stirn und Backen waren schwach gerötet. Er sprach stockend, gleichsam verlegen:

»Haben wir beide uns nicht schon sehr weit entfernt von – Gott? – Sire, wollen wir niemals an eine Rückkehr in Demut denken? Herr, es könnte sein, daß wir die Verbindung mit dem Menschlichen verlieren. – Es ist fast schon so weit, da Sie mich – mich, Herr! – als Gleichnis für Humanität nehmen, und ich mich dessen freue. – Was sollen wir dann tun, wenn wir ganz einsam sind? Werden Sie dann den Mut haben, Gott zu vermissen oder ihn mit sich selber zu ersetzen?«

Der König prüfte ihn mit einem langen Blick. Dann sagte er langsam:

»Ich glaube, ich bin Christ, trotz alledem. – Ich glaube, ich werde Gott nicht verlieren können. – Ich glaube, daß Gott in mir bleibt, auch wenn wir einsam sind, auch wenn wir unchristlich gegen den Tod kämpfen.«

Oliver nickte, als gefiele ihm die Antwort.

»Und wäre dieser Kampf nicht leichter«, rief er plötzlich, »leichter für den Christen, wenn er auch das fremde Leben höher zu schätzen und als kostbar zu behandeln lernte?«

Ludwig schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Gott will nicht, daß dieser Kampf leicht sei«, sagte er zögernd; »denn er wollte nicht, daß ich ein sanfter König sei.« – Er wartete einige Sekunden und sagte dann nachdrücklich: »Du kannst helfen, Bruder, und du darfst dich nicht auf ihn ausreden wollen.«

Oliver ging bewegt im Zimmer auf und ab; seine Augen leuchteten vor Güte.

»Ich will es mir nicht mehr leicht machen«, flüsterte er, »ich will Ihnen in die große Einsamkeit und gegen den großen Feind folgen, Sire. – Aber es gibt noch vieles schwere Leid bis zur Grenze. Mißachten Sie es nicht, Herr, nur weil es irdisch ist.«

Ludwig preßte die Hände gegeneinander und atmete rascher.

»Wird die Anne noch gesund?« fragte er schnell, wie in Angst vor der Antwort. Der Necker unterbrach sein Hin und Her.

»Blieben Sie dann noch diesseits der Grenze, Sire?«

»Ja«, antwortete Ludwig mit schmerzlichem Lächeln.

»Vielleicht wird sie gesund«, sprach Oliver mitleidig.

 

Die erste Nachricht, die sofort nach der Niederkunft ein Eilbote dem erwartungsvollen Necker brachte, war niederschmetternd. Oliver biß sich auf die Lippen und befahl dem Kurier mit einer Handbewegung zu gehen. Er blickte durch das Erkerfenster des Vorzimmers, aber er sah nicht die weite aufgrünende Landschaft unter der jungen Sonne, er schüttelte abwesend den Kopf, die Weigerung des Schicksals nicht begreifend. Wie konnte etwas nicht sein, das sein mußte, das mit solchem Aufwand an Willen, Entsagung und Leid begonnen wurde und dessen gutes Ende er mit keinem Gedanken bezweifelt hatte? Das vor allem bedrückte ihn: die Nutzlosigkeit der Opfer, die vier Menschen gebracht hatten, und die Überwindung seines Willens. Er grübelte mit durchfurchtem Gesicht über seine Niederlage. Er schüttelte wieder den Kopf, weil ein starkes inneres Gefühl nicht zugab, sie anzuerkennen. – Er ging dann langsamen Schrittes zum König, der mit Jean de Beaune ein neues Steuersystem ausarbeitete. Oliver wartete kaum, daß jene die Köpfe nach ihm hoben; er suchte keine Einleitung und keine Vorbereitung. Er sagte kalt:

»Sire, die Königin ist mit einem toten Kind niedergekommen. – Es war ein Knabe.«

Ludwig stand schweigend auf, die dicken Lippen verziehend, zwischen den Brauen zwei schwere Falten. Er sah nicht den Necker noch Beaune an, der betreten in den unförmigen Rechnungsbüchern blätterte, verließ den Arbeitsraum des Schatzmeisters und ging in seinen Turm. Er trat ans besonnte Fenster, die Hände im Rücken kreuzend und die Schultern hochziehend und so blind für die heitere Erde draußen wie eben Oliver. Er hörte ihn hinter sich ins Zimmer kommen und wandte sich nicht um.

»So hast du dich geirrt, mein Freund«, sagte er böse. »So war vieles unnütz.«

»Sire«, entgegnete der Necker nach einer kleinen Pause, »das Schicksal steht über dem Irrtum und ist niemals unnütz.«

Der König löste die Hände vom Rücken und ballte sie zu Fäusten; seine Schultern bebten wie in der Anstrengung, den Zorn nicht loszulassen und sich nicht umzuwenden.

»Oliver«, sprach er durch die Zähne, »wenn du das Opfer der Anne nicht unnütz nennst, so nennst du es nützlich, und so war dein Irrtum eine höllische Klugheit!«

»Sire!« rief der Necker so laut, daß der andere im Schrecken den Rücken krümmte, »vergessen Sie das Opfer der Königin und die Schmerzen ihres zerrissenen Leibes?«

Ludwig hob langsam die Hände zum bronzenen Fensterriegel und legte seine Stirn auf sie.

»Ich bin ein armer Mensch«, stöhnte er. Es herrschte Stille dann. Jetzt hörte er den Necker näher kommen, fühlte seine Hand auf dem Arm und vernahm sein Flüstern:

»So wird die Anne Sie reich machen ...«

Er drehte sich heftig um und packte Olivers Handgelenk. Er wollte aufjubeln, die glückselige Frage wagen ... – aber er sah des Neckers Augen so hart und seine Lippen so dünn – wahrhaftig, so von Verachtung gerändert, daß er nicht sprechen und den Mund doch nicht schließen konnte. – Er senkte den Kopf, ließ den anderen beschämt los und setzte sich still an den Schreibtisch, verwirrt mit der Hand über Augen und Stirn streichend.

»Es ist die Stunde des Königs jetzt«, sprach Oliver sachlich; »es sind wichtige Entscheidungen zu bedenken. Das Unglück der Königin ist auch politisch. Das Problem des Herrn von Guienne ist so schwer geblieben, wie es vor dreiviertel Jahren war. Aber es wird wohl gelöst werden müssen, da seit Nancys Fall die Tätigkeit des Herrn von der Bretagne und Sieur d'Urfés bedenklich lebhaft geworden ist. – Im Augenblick sehe ich die Lösung allerdings noch nicht.«

Ludwig war durch die kalten Worte klar und nüchtern geworden, wie ein Schlaftrunkener, den frischer Wind trifft. Jetzt hob er unwillig den Kopf.

»Die Lösung ist die gleiche, die ich vor neun Monaten wünschte, dünkt mich«, sagte er scharf. »Und sie bliebe immer die gleiche, auch wenn dein kühner Plan geglückt wäre. So war es verabredet. Jetzt ist der dynastische Stützbalken für Herrn Karl und für unser Gewissen zusammengebrochen, und wir stehen vor demselben Zwang zur Härte wie vor dreiviertel Jahren – wie vorher noch in der Péronner Entscheidungsnacht. Nur die Reihenfolge hat sich verändert: Herr Karl führt nicht mehr den Reigen auf, sondern beschließt ihn. Denn das Jahr wurde gut genutzt.«

Oliver sah ihn mit leiser Verwunderung an und lächelte ein wenig.

»Sie sind kein sanfter König, Sire«, entgegnete er, »und Sie finden immer sehr schnell Ihren beruflichen Rigorismus wieder. – Aber wenn die Lösung die gleiche ist, so sind doch auch meine Einwände geblieben: Sie nehmen Ihrem Reich den Thronfolger, Sire.«

Ludwig trommelte erregt auf die Tischplatte.

»Ich erinnere mich sehr gut, mein Freund«, sagte er und hielt seinen Ärger nicht mehr zurück, »daß deine und der Gevattern Einwände sich damals dem Urteilsspruch des Schicksals unterwarfen. Das Schicksal hat entschieden, daß mir kein männlicher Erbe beschieden sei. Solltest du wahrhaftig wagen, Oliver, mich ein zweites Mal ...«

Er schwieg, als der Necker abwehrend die Hand hob.

»Nein, nein, nein, Sire!« rief Oliver schaudernd, »Sie werden die hohe Frau kein zweites Mal hierher rufen!«

»Gewiß nicht«, bekräftigte der König. »Warum also hemmst du mich von neuem und zeigst mir doch gleichzeitig die Notwendigkeit zu handeln?«

Der Necker zuckte mit den Achseln.

»Ich sehe selber noch nicht klar«, gestand er. »Es gelingt mir nicht, die Entscheidung anzuerkennen, Sire. Es fällt mir schwer.«

Der König fragte nach einigem Zögern:

»Bedeutet dies alles, Oliver, daß mir auch jetzt wieder das Gewissen nicht gehorchen will? – Und wäre es denn gehorsam, auch wenn der Dauphin lebte?«

»Geben Sie mir eine Frist für die Antwort, Sire?« bat der Necker bedrängt. Ludwig schüttelte wortlos verwundert den Kopf. –

Es klopfte. Der König blickte unwillig auf, ein scharfes Wort für den Störenden auf den Lippen. Doch Oliver, im Gesicht eine seltsame Erwartung, machte eine beschwichtigende Geste und rief schon:

»Wer ist da?«

»Eilkurier vom Oberstkämmerer Ihrer Majestät mit dringender Nachricht«

Oliver hatte schon die Tür geöffnet und riß aus einer behaarten, vor Müdigkeit zitternden Hand die Schriftrolle. Er brachte sie mit zwei Sprüngen dem König, der ruhig sitzengeblieben war und jetzt langsam und ernst die Siegel entfernte.

»Warum erregst du dich?« fragte er, den Necker flüchtig ansehend. »Was erwartest du anderes als eine Bestätigung?«

Er öffnete das Pergament und las. Sein Gesicht blieb unbewegt; doch Oliver sah Glanz in seinen Augen und lächelte schon vor Freude. Ludwig wandte den Kopf ihm zu und betrachtete ihn lange.

»So hast du dich doch nicht geirrt, Bruder«, sprach er dann, »wie jene in der ersten Bestürzung, die dir und mir die falsche Kunde zujagte. – Die Geburt war schwer und das Kind scheintot. Aber man schwang es so lange kunstgerecht durch die Luft, bis es sich zu seinem königlichen Sein bequemte. – Der Dauphin lebt und ist lebensfähig, Madame von Savoyen ist außer Gefahr. – Der König darf sich freuen.«

Er stand auf und trat wieder ans Fenster.

»Wie grün das Land schon ist«, meinte er. – Oliver lehnte noch neben dem Schreibtisch, hatte rasch die Botschaft überflogen und blickte jetzt wieder ernst und bedächtig. Genugtuung über einen Sieg seines Willens durfte niemals lange währen, noch gar die neue Überlegung stören. Und der Gedanke, der ihn jetzt beschäftigte, schien schwer zu sein. Er starrte auf Ludwigs Rücken mit verdüstertem Gesicht. Der König bewegte die Schultern, als ob er den Blick spürte.

»Das Reich hat den Dauphin«, sprach er mit veränderter Stimme. »Du nanntest ihn notwendig, Oliver. – Er kann erst in zwanzig Jahren zeigen, ob er seiner Geburt würdig ist, in dreißig Jahren erst, ob er notwendig werden kann. – Bruder, ich gebe nichts von unserer Notwendigkeit her und nichts von meinem Lebenswillen.«

Der Necker hinter ihm schüttelte den Kopf.

»Ist dieser Turm und sein Bewohner wirklich noch auf der Menschenerde, die Sie grünen sehen?« fragte er leise. – »Sire, der Dauphin lebt erst eine winzige Zahl von Stunden – und Sie hassen ihn schon. – Die Freude des väterlichen Menschen lebt in Ihren Augen kaum so viel Minuten, wie Ihre Hand Finger hat. – Sire, Sie nannten sich Christ!«

»Ach, Oliver«, klagte Ludwig, »es ist sehr schwer für den König, Christ zu sein. – Sieh, ich würde ihn wohl lieben, wäre er nicht bestimmt, mich zu ersetzen. Aber es ist der Fluch der Könige, ihre Erbsöhne zu hassen oder zu fürchten. Ich liebte ihn, wenn sein Leben mich nicht zum Tode verurteilte, Oliver, wenn ich nicht sterben müßte. – Und ich will ehrlich sein und alles sagen, weil du alles wissen mußt: meine kurze Freude war nicht die des Vaters, Bruder, sie war Blasphemie ...«

Er unterbrach sich, beugte den Kopf zurück wie ein Mensch, der einem feinen Ton nachlauscht, und flüsterte dann:

»Ich möchte wohl, daß du jetzt für mich weitersprichst, Bruder.«

Oliver lächelte, von der Innigkeit der Stimme gefangen, und gehorchte.

»... Freude über den Sieg dessen, was Sie meine Magie nennen«, vollendete er. Der König schien erregt.

»Und dies ist nicht einmal alles, Oliver! – Nicht die ganze lästerliche Hoffnung!«

Der Necker wurde blaß.

»Das wage ich nicht mehr zu sagen«, entgegnete er leise. »Das zu sagen ist nicht gut, Sire!«

Doch Ludwig wandte sich um, das Blut im Kopf, mit brennenden Augen, die Arme reckend.

»Aber ich wage es zu sagen!« rief er. »Die Magie, die zum Leben verhilft, wird auch gegen den Tod helfen! – Du kannst die Grenze überschreiten, Bruder: du wirst mich mitnehmen!«

Oliver wich einige Schritte zurück, traurig blickend und den Kopf senkend.

»Wir sind noch diesseits der Grenze«, flüsterte er und schien bekümmert. »Sire, waren Sie nicht eben noch ein armer Mensch?«

Der König nickte langsam, wie zurückgerissen in Leid, und sah ihn nicht an.

»Ich bin es ja noch«, stöhnte er, »denn du willst mich jetzt wohl nicht mehr reich machen lassen. – Ich dränge ja nicht zur Grenze hin. – Was du sagtest – von Anne: gilt es noch?«

»Es gilt noch«, sprach der Necker weich und sah dem König in die Augen. »Und ich danke Ihnen, Herr, daß Sie nicht wieder das andere aussprachen, was mich auch jetzt noch und gleich schwer belastet: den anderen Namen und sein Schicksal. Denn ich kämpfe wohl lieber gegen den großen Feind, als daß ich ihm diene, und Ihr Gewissen sollte es auch. – So gewähren Sie sich noch Frist für Ihre neue Frage und mir für die Antwort, Sire?«

Ludwig ging rasch auf ihn zu und küßte ihn auf die Stirn.

»Ja, Bruder«, sagte er erschüttert, »ich will jetzt nicht wissen, ob das Gewissen gehorsam sein wird. Ich will jetzt nicht an den Tod denken, auch nicht an den Tod für den anderen.«

 

Oliver ging zu Anne, mit zögernden Schritten, oft stehenbleibend, den Blick nach innen gewandt. – Bin ich nicht schon näher an der Grenze als er, sann er, und kenne ich nicht schon die letzten Biegungen des Weges? Doch warum laufe ich nicht und reiße ihn nicht mit? Warum schleiche ich immer langsamer – wie jetzt – und zwinge ihn hinter mir in den gleichen Schritt und lasse das letzte Leid in aller Schwere auf uns fallen? Liebe ich denn in ihm den Menschen mehr als den König? Denn es ist doch Liebe, wenn ich den Menschen gegen den König schütze: den einen Freude und Leid zu achten lehre, den anderen nur das Gewissen. – Oder ist alles nur Grausamkeit der zerspaltenen Seele, die mich und ihn straft und den Menschen mit dem König geißelt und den König mit dem Menschen? – – Die Grenze! Die Grenze! Sie beschließt des Menschen Glück, Leid, Buße, Lüge! – Er will es noch haben: alles vier – oder ich will es! Er soll es noch haben. – Und dann? Der König wird die Grenze überschreiten. Der König sind er und ich, die Macht und die Magie. – Gut formuliert, Sire! Zwei dämonische Worte ohne den kleinsten Beiton von Lebensdemut! – Oliver lachte. – Glauben Sie, Sire, es wird so leicht sein, den Menschen zu vergessen? Sire, ich verrate Ihnen mein Geheimnis, mein väterliches Erbe: ich liebe die Menschen, weil sie mir weh taten und ich ihnen. Sire, das ist die Mitgift, die ich Ihnen mitbrachte! Ich bin ein humaner Teufel, und wir werden es ohne das Menschliche schwer haben, zu leben und uns zu gefallen. – Sire, die große Einsamkeit und der große Feind sind unmenschlich. Sie, Sire, werden stärker im Kampf sein und ich stärker in der – Niederlage ... –

 

Anne verlöschte allmählich. Sie schlief fast immer, war in den wachen Augenblicken von seltsamer, fast beschwingter Klarheit der Gedanken, auch ganz ohne Schmerzen und ohne viel Schwermut. Sie hatte einen absonderlichen Trost gefunden: die spielerische, gewiß leise, fast auch schon wieder selbstentrückte Freude an ihrer eigenen Schönheit. Das langsam arbeitende Gift in ihrem Blut zerstörte nicht den äußeren Körper, nahm ihm nach und nach wieder das fiebrige Gelb und gab ihm die durchsichtige Farbe sehr matten Elfenbeins. Das Gesicht vollends war von einer rätselhaften Ruhe, Glätte und Anmut, einem nicht mehr morbiden, sondern schon unkörperlichen Ausdruck, der vom Mund die Linien des Leides und vom Oval jede Schärfe gelöst hatte und die Stirn unsäglich sanft und rein über den nächtigen Augen wölbte. – Neben ihrem Bett standen Spiegel. Im Erker vor dem Lehnstuhl stand ein kleiner Tisch mit einem Spiegel. Und der Gang vom Bett zum Erker war ihre tägliche Bewegung. Wenn sie erwachte, betrachtete sie sich im Spiegel, still, aufmerksam und sehr glücklich. Sie bewegte nicht das Gesicht; sie sah sich an wie ein Bild und versank in die Traumtiefe ihrer eigenen Augen. Dann rief sie leise den Daniel Bart oder eine ihrer Frauen, ließ sich zum Erker führen, schaute kurz und fremd in die Landschaft und suchte schon wieder ihr Spiegelbild, das unsagbar vertraute und beglückende, spielte sich zuweilen wohl auch ein kleines Lächeln vor, eine kleine Traurigkeit, wurde bald müde, schlief ein und träumte von sich. – Sie pflegte wenig zu reden und wenig auf die Außenwelt zu achten. Ihre Umgebung wußte oft nicht, ob sie die Worte hörte, die man an sie richtete. Aber sie vernahm sie wohl, fand sie nur nicht zu beantworten der Mühe wert. Allein des Daniel Bart unbeholfener Zärtlichkeit gönnte sie Rede und Erwiderung. Und wenn der Meister zu ihr kam, machte sie ihn oft durch ihre Aufmerksamkeit und die Beweglichkeit und Scharfsicht ihres Geistes staunen. –

Als Oliver eintrat, schlief sie im Lehnstuhl des Erkers. Er setzte sich still neben sie auf ein Taburett und betrachtete sie. Ihr Kopf lag fast auf der linken Schulter, die sie ein wenig gehoben hatte, und der Mund, nicht ganz geschlossen, atmete in kurzen, leichten, etwas hastigen Zügen. Der Wimpernkranz der gesenkten Lider warf ein schmales, wehmütiges Schattenhalbrund auf die Wangen. Das Gesicht war vollkommen ruhig, und die Hände lagen im Schoß friedlich gefaltet. Doch jetzt zitterte ein Lächeln um die Lippen, und sie flüsterte, ehe sie noch die Augen öffnete:

»Oliver ...«

Der Necker beugte sich vor und küßte ihre Hand. Sie seufzte leicht auf wie ein Kind, das zufrieden ist, und sagte:

»Gib mir den Spiegel.«

Oliver reichte ihn ihr; sie hob ihn zum Gesicht, strich mit den Fingern der Linken über die Brauen und prüfte sich.

»Warum will mich der König jetzt nicht sehen?« sprach sie unerwartet; »ich brauche mich nicht mehr zu bemalen und möchte ihn nicht mehr enttäuschen.«

Er sah ihr voll Staunen in die Augen, die unter seinem Blick die Pupille veränderten, ohne ihm doch zu begegnen.

»Wie kommst du auf diesen Gedanken, Anne?« fragte er gespannt.

Sie legte die Hand auf den Spiegel, als wollte sie für die Antwort nicht durch ihr Bild abgelenkt werden, schloß und öffnete die Lider und sah ihn dann an.

»Mir ist, Oliver, als ob du den Gedanken hierher gebracht hast.«

Auch ihre Stimme hatte sich verändert; sie war höher und schmächtiger geworden, dem immer leise gesprochenen Wort nachklingend wie der feine Ton von Silber. Sie war zauberisch geworden, wie es ihr Lächeln gewesen war. – Oder aber – und Olivers betrachtende Augen wurden weich – ihr Lächeln war jetzt in der Stimme. Sie hatte bei ihren letzten Worten nicht das Gesicht bewegt, und doch waren sie lächelnd gesprochen, mit einer ganz verhaltenen, unendlich süßen Heiterkeit der Vibration. Und wie einst das Lippenlächeln auf wunderbare Art mit dem Blick verbunden war und mit sacht goldenen Stäubchen in der Pupille aufleuchtete, so schien jetzt das Goldflirren der Augen sich im Ton zu wiederholen und köstlich die Farbe dem lauschenden Gehör zu schenken. In dem blumenhaften Mirakel ihres Zerfalls war es, als lösten sich die Sinne lieblich ab von ihrer Einseitigkeit, die eigenen Sinne und die berührten fremden, und als tauschte sie sie spielerisch aus, als gaukelten sie wie leichte und bunte Dinge hierhin und dorthin.

Auch Oliver lächelte.

»Wenn du dies erkennst, Anne«, sprach er gütig, »dann weißt du doch auch noch mehr.«

Er brachte sein Gesicht ihr näher. Sie sah in seine Augen und auf seine Stirn und wieder in seine Augen. Sie beugte den Kopf leicht zur Seite, entblößte ein wenig die Zähne und blinzelte durch die Wimpern mit der holden List des Kindes, welches zugibt, es schlafe nicht, und doch gewiß ist, daß man es nicht schelten wird.

»Ich weiß viel! Oh, ich weiß viel!« flüsterte sie voller Geheimnis, im Ton immer noch das Lächeln; »ich weiß, Oliver, daß nur du, nicht er, nicht ich jetzt an den Tod denken dürfen. – Und mir sollte es am schwersten fallen, und sieh, Oliver, mir fällt es am leichtesten ...«

Der Necker senkte den Kopf, plötzlich bedrängt und schwach durch schwere Schläge des Herzens. Ihre Stimme flatterte ängstlich auf:

»Oliver! Oliver! Mich ansehen! – Ich meine sonst, ich bin blind! – Ich weiß sonst nichts mehr! – Und ich muß doch wissen, willst du!«

Er hob langsam, mit großer Anstrengung den Blick zu ihr auf ... –

Ihre Stimme wurde tonlos vor Erstaunen.

»Oliver, du weinst?« hauchte sie. »Oliver, du kannst weinen? – Oh, nicht weinen! – – Ich meine sonst, ich bin blind!«

Der Necker schluchzte wild und kurz auf, ein einziges Mal, und riß den Kopf zurück. – Dann war es vorbei, und seine Augen blickten wieder klar.

»Es war wohl kein Weinen«, sann Anne und schaute in den Spiegel; »denn du weißt ja, wann es zu Ende ist.« – Sie nickte vertraut und eines heimlichen Glückes voll sich zu, leiser noch sprechend: »Du weißt es und ich sehe es ... wo, darf ich nicht sagen. – Aber ich darf nicht daran denken« –

Sie sah den Mann an. – »Wir wollen ihm den Gefallen tun, Oliver. – Und wenn der Spiegel mir so viel andere Freude noch macht, dann könnte ich sie ihm doch auch geben, nicht wahr, Oliver?«

»O ja«, nickte der Necker, »denn der Spiegel zeigt dir doch dein Leben, Anne.«

Er redete mit so verhaltener Stimme, als fürchtete er, die Worte könnten ihr schaden. Und sie schien auch getroffen.

»Mein Leben?« staunte sie seltsam. »Warum willst du nicht sagen: mein Bild? – Oliver, ich kann mit meinem Leben nicht mir und nicht ihm eine Freude machen ...« Sie hob in großer Besorgnis die Hand. – »Oliver, ich fühle nichts mehr und ich habe vor dem lebendigen Körper Angst ... Oliver, die Angst des Todes! – Oliver, ich gebe ihm meine Spiegelfreude! Aber er soll sie mir nicht abkürzen, er darf nicht mehr wollen ... Oder hast du doch geweint, Oliver?«

Der Necker strich mit der Hand über die Stirn, wie zur Entscheidung sich sammelnd, und hob dann das entschlossene Gesicht.

»Nein«, sagte er ernst und bestimmt, »er darf nicht mehr wollen!«

Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände, zog ihn nahe an sich heran und betrachtete ihn.

»Jetzt ist es gut«, flüsterte sie glücklich, »und seine Liebe ist doch Oliver! – Was du jetzt tun willst, ist gut. Jetzt mag es noch eine Weile dauern. – Und, Oliver, er weiß, daß du Gutes tust!«

Sie ließ ihn los, und ihr Blick glitt langsam von seinem Blick, sah ins Leere erst, versonnen und froh, und dann in den Spiegel. Er lehnte sich sacht zurück, ganz leicht ihr mit den Fingern über Stirn und Schläfen streichend. Sie schaute sich noch einige Sekunden lang mit großen, verzückten Augen an, blinzelte jetzt nur noch durch die Wimpern mit der süßen Müdigkeit des Kindes und schlief dann ein. Ihr Kopf sank allmählich auf die linke Schulter, die sie zärtlich hob. Der Mund öffnete sich ein wenig, der Atem war kurz und kaum hörbar. Oliver saß noch eine Weile neben ihr, alt und vergrämt. Dann stand er auf, nahm vorsichtig den Spiegel von ihrem Schoß und stellte ihn auf das Tischchen zurück. Und er öffnete das Wandschränkchen, streute reichlich Pulver von unbekanntem Magisterium auf eine Räucherpfanne und verbrannte es auf dem Erkertischchen vor der Schlafenden. Schwerer süßer Rauch erfüllte das Zimmer mit betäubendem Duft.

»Die Meisterin wird sehr fest schlafen heute, Daniel. Du wirst sie in einer Stunde in das Turmkabinett tragen. Dort werde ich sein, und ich werde dafür sorgen, daß du nicht gesehen wirst.

Doch du wirst ihr Gesicht für jeden Fall verhüllen, auch die Umrisse des Körpers. Es wird das beste sein, du trägst sie unter einem weiten Mantel.«

Der Bart sah ihn entsetzt an.

»Herr! Herr! Was wollen Sie tun?« rief er. Oliver lächelte schwach.

»Nichts Böses, Daniel, die Meisterin sagt sogar: Gutes.«

»Die Meisterin weiß es?« staunte der Geselle. Oliver nickte.

»Sie will dem König ihre Spiegelfreude geben, Daniel, nicht mehr.«

»Bei unserem Herrn Jesus Christus!« entsetzte sich Bart, »was bedeutet das?«

Der Necker umklammerte Daniels Nacken und stöhnte in sein Ohr:

»Die Todesfreude!«

Oliver ging zum König. – Er sann: Warum habe ich geweint? Für ihn? Um seiner guten Liebe willen, die von mir kommt? Wegen seines bösen Körpers, den ich nicht aufkommen lassen werde? – Für mich? – Ja und ja! Für ihn, für mich: es ist das gleiche, immer! – Aber ich trage doch mehr als sie ... – Mehr? – Ich trage sie beide an die Grenze! – Und doch nennen mich beide gut. Und wenn ich es auch nicht bin, so möchte ich es doch sein. Ich will es versuchen; denn ich bin doch viel: für ihn der Mensch und für sie die Liebe. Ich fühle seit langem, daß ich stolz bin auf ihr Lob. Und wenn ich jetzt das Letzte für sie tue – sehr Schweres wahrhaftig: wird er dann nicht dem Menschen die Krone geben und diesseits der Grenze bleiben – oder wie ein Mensch zu sterben bereit sein? – Wieviel ersparte ich ihm und – mir? –

Ludwig speiste mit den beiden Gevattern. Er sah den eintretenden Necker aufmerksam an, aber er fragte ihn nichts. –

Das Gespräch drehte sich um die Geburt des Dauphin und ihre politischen Folgen. Doch weder der König noch die beiden Räte sprachen von irgendwelchen Maßnahmen gegen Karl Guienne. Man schien es zu vermeiden, das Problem zu erwähnen, und unterhielt sich zumeist über die Wirkung der Nachricht auf Burgund und seine Unternehmungen in Deutschland. Die wichtigste außenpolitische Aufgabe sei – einigte man sich – ein Ablösen von seinen ausländischen Interessen zu verhüten, indem man sie immer mehr kompliziere. Nach Ansicht des Königs war dem Burgunder eine überraschende Abkehr vom Osten nicht mehr möglich – und daß ihm die Lothringer und Schweizer keine Ruhe mehr ließen, dafür sei gesorgt.

Der Necker schwieg zumeist. Es war dem König, der ihn beobachtete, als hörte er, mit anderen Dingen beschäftigt, kaum zu.

In einer Gesprächspause fragte er ihn:

»Hast du mir etwas zu sagen, Freund?«

Oliver sah kurz auf.

»Nein, Sire«, meinte er, »ich bin nur schweigsam, weil in dem Geplauder über den großen Karl meine Stimme entbehrt werden kann. Denn ich bin freimütig genug zu gestehen, daß ich im Augenblick die Person des kleinen Karl für würdiger der Erörterung halte und seine Frage zu lösen für dringlicher.«

Ludwig sah ihn voller Erstaunen an.

»Nun, Oliver«, sagte er ein wenig unsicher, »und ich will dir gestehen, daß ich aus Gründen, die dir nicht unbekannt sein dürften, vorhin die Gevattern gebeten hatte, den Herrn Guienne aus dem Redespiel zu lassen. – Ich muß mich wohl ein wenig wundern, Freund!«

»Warum, Sire?« fragte der Necker mit einem guten Lächeln. »Die Freude dieses Tages soll so wenig geschmälert werden wie Ihr schönes Bedürfnis, den harten Ernst des politischen Gesichts nicht anzuschauen. Und doch brauchen Sie zu diesem Zweck nicht den Kopf in den Sack zu stecken. – Im Gegenteil, Sire, heute scheint mir die beste Gelegenheit, das Problem einmal mit gnädigem Geist und ohne den tödlichen Gedanken anzurühren. Ich will ja nicht sagen, daß es so gelöst werden kann, Sire; aber Sie schulden diesem Tag vielleicht den Tribut des Versuches.«

Ludwig sah ernst und bedrückt vor sich hin. Oliver wandte sich an die beiden Räte:

»Wir kommen vielleicht zu einem brauchbaren Vorschlag, Seigneurs«, sagte er lebhaft, »wenn wir jetzt sorgfältig, gerecht und leidenschaftslos alle politischen und diplomatischen Möglichkeiten bedenken und besprechen, welche die durch Guienne dem Thron und dem Thronfolger drohenden Gefahren nach menschlichem Ermessen paralysieren könnten. Begreifen Sie gut: wir wollen nicht die bedingte Gewalt, sondern nur die unbedingte Vergewaltigung der Person und seines Lebens aus der Beratung ausschalten.«

Die Räte griffen das Thema mit Eifer auf und formulierten je nach ihrem moralischen und beruflichen Temperament die unterschiedlichsten Aktionsvorschläge. Herr Tristan dachte mehr als Jurist, Jean de Beaune als Finanzier. Der eine wollte die gesicherte Nachfolge des Dauphin durch das gefügige Gesetz erpressen, der andere durch ungeheure Bestechungen erkaufen. Der König bemerkte zu keinem der Projekte ein Wort, und sein Gesicht hellte sich nicht auf. Der Necker machte den bündigen Vorschlag, Herrn Guienne mit einem Fräulein aus dem Hause Maine zu verheiraten und ihn auf den Thron von Anjou zu setzen.

Ludwig hob den Kopf.

»Anjou ist Frankreich«, sagte er kalt, »dann hat das Reich ja seinen offiziellen Gegenkönig und verliert den Vorteil, den ich mit unermeßlichen Opfern errungen habe: die Nachfolge meines regierenden Hauses, wenn der alte René Anjou stirbt. Damit gefährdete ich zugleich die Krone und zerstörte die Reichseinheit, die das Ziel meines Lebens ist.«

»Dann machen Sie ihn zum König von Sizilien, Sire«, schlug Jean de Beaune vor.

Herr Tristan lächelte.

»Warum nicht zum König von Jerusalem?« fragte er. »Das ist noch weiter; und der Großherr verspräche uns zudem gerne, ihm zuerst die langen Ohren und dann den langen Hals abzuschneiden.«

Ludwig blieb ernst. Es herrschte eine Zeitlang Schweigen. – Plötzlich stand der Necker auf.

»Beurlauben Sie mich für einige Minuten, Sire«, bat er unvermittelt. Der König sah ihn erstaunt an und nickte. – Als der Necker nach einer Viertelstunde zurückkehrte, war die Debatte wieder im vollen Gange. Die beiden Räte bewegten sich bereits in sehr abgelegenen Gebieten der politischen Hypothese, und zumal der Schatzmeister erfand die merkwürdigsten Manöver finanzstrategischer Art, um Karl Guienne zu entmachten, sogar eine groß angelegte Korruption seiner Verwaltungsbeamten, die zusammen mit einer künstlichen Wirtschaftsnot ihn zugleich aller Mittel berauben und der Gefahr einer partiellen Empörung aussetzen sollte. Der König hatte den wieder ins Zimmer tretenden Necker mit einem kurzen Blick der Neugierde und wohl auch etwas unruhig angesehen und blieb gegen alle Reden wortkarg und gleichgültig wie zuvor. Allmählich erschöpfte sich die Eingebung der beiden Hofmänner, die sich durch Ludwigs Haltung entmutigt fühlten und auch von Oliver keine Unterstützung mehr erfuhren.

»Ist eure Weisheit am Ende?« fragte der König lächelnd und erhob sich, »und möchte einer von euch beiden Guten, Jean und Tristan, im Ernst behaupten, daß er das Arkanum gegen meines Bruders Fronde und Prätendentenschaft gefunden und ausgesprochen habe?«

Die beiden schwiegen betreten. Der König ging zur Tür.

»Laßt euch sagen, Compères«, sprach er ernst, »es gibt keine Garantie gegen den bösen Willen des Menschen, der lebt! – Gute Nacht, Freunde! – Komm, Oliver.« –

Sie schritten zum Turm. – Ludwig durchquerte erregt das Arbeitskabinett, streifte mit dem Blick die geschlossene Paneeltür, warf sich dann in seinen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände.

»Wir wollten doch nicht vom Tod sprechen, Bruder!« murmelte er.

Der Necker lehnte an der Wand, nahe der beweglichen Holzverkleidung.

»Wir sprachen vom Leben, Herr!« entgegnete er dringlich.

Der König schüttelte den Kopf und sah nicht auf.

»Du weißt doch, daß es nicht erhalten werden kann, Oliver!«

»Welches Leben kann erhalten werden, Herr?« –

Ludwig zuckte zusammen und krümmte den Rücken. Er schlang die Finger über seinem Kopf ineinander, als wollte er die Hirnschale zusammenhalten. Er stöhnte durch die Zähne, mit maßloser Widerspenstigkeit:

»Jedes ...jedes ... jedes ...«

Plötzlich fielen seine Hände auf die Tischplatte, sein Kopf drehte sich langsam dem Necker zu, seine Augen wurden groß und vor Wissen leuchtend, seine Lippen bewegten sich wie zu einer Frage – und dann war es schon ein schönes Lächeln. Und er stand auf, nicht hastig und nicht langsam, stark wie ein glücklicher Mensch. Er trat in die Mitte des Zimmers, übersonnt von Freude, und hob den Blick zur Decke.

»Jedes, Bruder!« rief er im Jubel, als sähe er durch die Balken hindurch, »jedes!«

Oliver hob den Arm gegen die Täfelung. Sein Gesicht war weiß und ein wenig verzerrt, wie wenn er Lachen oder Weinen zurückhielte, und seine Lippen schienen ohne Blut.

»Versuchen Sie es, Herr«, sprach er langsam und schwer; »ich will es auch versuchen.«

Er schob behutsam die Paneeltür zurück und legte einen Finger an den Mund.

Der König nickte und trat an ihm vorbei in die Öffnung der Wand, drehte sich hastig noch einmal um und küßte den Necker.

»Ich entbinde uns vom Tod des Bruders«, flüsterte er feierlich, »von jedem Tod ... Es komme, wie es wolle!«

Oliver lächelte schmerzlich und schwieg. Ludwig stieg auf leisen Sohlen die zwanzig glückseligen Stufen der Wendeltreppe hinauf. –

Anne lag auf dem Rücken und schlief, den Mund ein wenig offen, den Kopf zur Seite gewandt. Sie atmete laut und rasch. Ihr Gesicht, ihr Hals und ihre Hände leuchteten vor Blässe. Ludwig kniete vor ihr nieder und streichelte mit den Augen die Liegende, von der Stirn bis zu den Füßen. Er berührte mit den Lippen ihre Haare und ihre Schläfe ...

Er drehte sich in heftigem Erschrecken um: der Necker stand hinter ihm.

»Oliver ...«

Der hob ernst und traurig die Hand.

»Sire«, flüsterte er, »das ist kein Körper mehr, der fühlt und gefühlt werden darf. – Wissen Sie es?«

»Sie lebt doch noch, Oliver ...«

»Sie lebt nur noch für die Augen, für unsere und für ihre Augen. – Sire, besitzen Sie den Grad der Güte, dieses Leben zu erhalten?«

Der König senkte den Kopf immer tiefer und barg jetzt die Stirn in den dunklen Fellen des Lagers.

»Ja, Oliver, ich werde ihren Schlaf nicht anrühren und nicht ihr Wachen. – Ich will nicht mehr töten, Bruder ...«

Der Necker bat erschüttert und vor Erregung bebend:

»Sehen Sie mich an, Sire.«

Ludwig hob mit großer Anstrengung den Kopf.

»Sie weinen, Sire. – Haben Sie jemals schon geweint? –

Sie sind ein guter Mensch jetzt ...«

Er kniete neben dem König und küßte seine Hand.

»Ich bin ein alter Mann«, sagte Ludwig leise, »und das ist gut so, scheint mir.«

Er umklammerte plötzlich Olivers Arm.

»Der König will nicht mehr töten!« stöhnte er gequält.

Der Necker lächelte seltsam.

»Der Mensch will nicht mehr töten, Sire, und ich gehöre dem Menschen und dem König ...«

Ludwig nahm Olivers Kopf zwischen die Hände und suchte in seinen Augen lange Zeit.

»Wir kennen uns nicht zutiefst, Bruder«, flüsterte er endlich, »und das ist gut so. – Gott wäre sonst unnütz.«

Sie schwiegen. Anne rührte sich im Schlaf und lächelte ihr Spiegelbild an. Dann wurde sie wieder ernst, schon traurig, gar gequält von schweren Gesichten. Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Ihre Arme streckten sich in Abwehr.

»Hast du doch geweint, Oliver ...«, lallte sie mit silbern verschwindender Stimme. Ludwig hob das ernste Gesicht.

»Warum hattest du geweint, Oliver?« fragte er traurig. Der Necker sah ihn an.

»Für Sie, Sire. – Denn ich wußte nicht, daß Sie weinen konnten.«

»Ich wußte es selber nicht, Oliver ...«

»Gib mir den Spiegel ...«, hauchte die Träumende und sah dann wieder ihr Glück. Das Gesicht war aus unirdischer Heiterkeit geformt und lächelte, ohne sich zu bewegen.

Dem hingerissenen König schien, als wäre das Lächeln die Farbe ihrer Haut.

»Laß mich jetzt mit meinen Augen allein, Oliver«, bat er leise.

 

Zu den Tauffeierlichkeiten in der Residenz der Königin erschien auch Karl Guienne. Die Ereignisse des letzten Jahres, in dem der König mit unfaßlicher Energie und ungewöhnlichem Glück die Liga zertrümmerte, hatten die seelische und körperliche Konstitution des Herzogs auf bedenkliche Weise zerrüttet und den klugen Urfé gezwungen, trotz der Gefährlichkeit jeden Schrittes das Bündnis mit der Bretagne und Burgund zu erneuern, um dem jungen Fürsten wieder Lebensmut zu geben. Die Schwangerschaft der Königin und die Geburt des Dauphin rief in den Oppositionsländern eine starke Erregung hervor und belebte den Gedanken an die Gegenwehr in einer Weise, daß Urfé an eine nicht allzu ferne Aktionsmöglichkeit glaubte und darum als erfahrener Politiker dem König die loyalste und beruhigendste Miene zeigte. So durfte Herr Karl keinen Augenblick zögern, der Einladung des Bruders zu folgen und den Thronfolger mit der gebührenden Freude zu begrüßen. Und da ein persönlicher Ehrgeiz, der niemals groß war, durch die Angst vor dem gewaltigen Bruder und durch die nervösen Krisen der letzten Zeit kaum mehr bestand und er unglücklich genug in seinem fatalen Beruf war, der Hauptfaktor der frondierenden Politik zu sein, so fiel es ihm nicht einmal schwer, seine Prätendentengefühle zu verbergen und resigniert zu scheinen.

Er fand den König voll einer abgeklärten und gütigen Ruhe, die ihn und auch den schärfer blickenden Urfé sehr verschieden von seiner gewöhnlichen Vieldeutigkeit und dialektischen Tücke dünkte. Seine Worte und seine Haltung dem Bruder gegenüber waren in unerwartetem Maße von jedem politischen Zweck entfernt, gewiß auch frei von jedem intriganten Gedanken. Die kluge Carlotta, die Herrn Karl mit einem barmherzigen Blick empfing und die beiden aufmerksam beobachtete, von ihrer eigenen tragischen Stellung zwischen den Zusammenhängen tief bewegt, fragte den Seigneur Le Mauvais, den sie wie einen Freund begrüßte und dessen Gesellschaft sie gerne suchte: »Gibt es wahrhaftig einen solchen Grad der königlichen Heuchelei?«

»Nein, Madame«, entgegnete Oliver ernst, »das gibt es nicht. Der König hat eine Güte gewonnen, die er noch nicht kannte und die ihm Freude macht.«

Carlotta richtete sich im Sessel auf, und die Überraschung machte ihr Gesicht schön:

»So spricht dort der König mit keinem Todgeweihten?«

»Doch, hohe Frau«, sagte der Necker leise. Die Fürstin senkte bekümmert den Kopf.

»Wie soll ich Sie verstehen, Messire? Wie soll ich an seine Güte glauben, wenn er doch töten will?«

Oliver betrachtete ihre kahle Stirn.

»Der König muß töten«, flüsterte er; »aber jener alte Mann dort ist in Wahrheit ein gütiger Mensch und denkt nicht an den Brudermord. Ludwig weiß nicht, daß er mit einem Verurteilten spricht.«

Carlotta hob den entsetzten Blick zu ihm.

»Und wer weiß es, Messire?« fragte sie mit bebenden Lippen.

Des Neckers Augen waren traurig.

»Sie, gnädigste Frau, und – ich.«

Carlottas Hände flatterten wie aufgescheuchte Vögel von der Seitenlehne; doch dann falteten sie sich.

»Der Herr sei Ihrer großen Seele gnädig und verzeihe Ihnen und belohne Sie, Messire«, sprach sie fromm. Oliver lächelte voll Leid und schwieg. Die Fürstin blickte ihn sinnend und suchend an.

»Wie lange bleibt er ein guter Mensch?« fragte sie plötzlich.

»So lange er ein liebender Mensch ist und rein.«

»Anne ...«, hauchte Carlotta mit blassen Lippen und hob die Schultern. Oliver schloß die Augen, als schmerzte der Name auch ihn.

»Solange die Kranke noch lebt«, murmelte er.

»Und wie lange lebt sie noch?«

Der Necker strich sich über die Stirn und sah über die Fragende hinweg ins Leere.

»Das ist der göttliche Sinn des Kreises«, antwortete er seltsam: »Solange er gut ist.«

Die Königin sah sich mit raschem Blick um, beugte sich schnell vor und berührte die hängende Hand des vor ihr Stehenden und etwas zur Seite Gewandten mit ihren Lippen. –

Oliver zuckte ein wenig zusammen; aber er beschämte sie durch kein äußeres Zeichen des Erstaunens oder des Stolzes.

Es geschah zuweilen, daß der König den Necker ein wenig beunruhigt und unsicher ansah, zumal wenn Oliver mit Karl Guienne sprach. Aber er fragte ihn niemals, noch gestand er je den Gedanken eines Verdachtes oder ein ahnendes Gefühl. Oliver, der hin und wieder diesen Blick auffing, begegnete ihm mit dem freien und klaren Gesicht des Menschen, der nichts zu verbergen hat. Und Ludwig senkte dann den Kopf. – Während des Abschiedsbanketts, das zu Ehren der Gäste gegeben wurde, bediente der Necker als Mundschenk den König und Herrn Guienne. Ludwig schien während des ganzen Abends von einer heimlichen Erregung nicht frei zu kommen, er war schweigsamer und abgekehrter, als es bei feierlichen Gelegenheiten seine Art war; sein Mund zeigte einen gespannten und fast verquälten Zug, und seine Augen ruhten oft und lange auf dem gutgelaunten Bruder, den die Freundlichkeit des Souveräns und der zutunliche Verlauf seines Aufenthaltes ehrlich hatte alle Politik vergessen lassen.

Und plötzlich hob Ludwig wie unter der Gewalt eines schlimmen Gedankens den Kopf: er sah den Necker hinter dem Bruder stehen und mit verdunkelten Augen auf Karls Genick starren. Guienne hob den Pokal, den der Mundschenk eben gefüllt hatte. Den König würgte ein jähes Entsetzen. Er streckte mit sinnloser Bewegung die Hand aus.

»Auf Ihr Wohl, Sire«, sagte Herr Karl, der die Geste nicht begriff.

»Halt!« keuchte der König – und zwang sich schon zu einem Lächeln, das Trinkgefäß des Bruders ergreifend und ihm seinen Pokal zuschiebend –, »halt, Herr Bruder, tauschen wir die Becher und trinken wir jeder aus dem des anderen auf eine gute Zukunft!«

Guienne lächelte geschmeichelt und trank aus Ludwigs goldenem Humpen. Der König umklammerte den fremden Becher und sah den Necker durchdringend an. Oliver antwortete mit einem ruhigen, ein wenig verwunderten Blick.

Ludwig wurde rot und trank. Er strich sich versonnen über die Stirn.

»Behalten Sie meinen Pokal, Herr Bruder«, sprach er gütig, »und ich will den Ihren gut verwahren. Er soll mich an die Stunde erinnern, in der ich wie ein Bruder dachte. – Hören Sie, Karl, daß ich dieses Mal andere Worte spreche als sonst?«

»Sie waren stets zu mir wie ein Bruder«, sagte Guienne beklommen und blickte Herrn d'Urfé an. Ludwig zog schmerzlich die Brauen hoch.

»O nein, Karl«, sprach er leise, »ich war es nie, und du warst es auch nie. – Es kommen im Menschen und zumal im alten Menschen Augenblicke, in denen man nur das Gute begreift und das Böse nicht faßt und vergißt. Ich möchte glauben, daß ich in solcher großen Sekunde lebe. Ich möchte glauben, daß ich wie ein Bruder sein kann. – Es liegt jetzt nur an dir, Karl, nur an dir, unserem Haus und dem Reich den inneren Frieden zu geben. – Gib Frieden, mein Bruder!«

Er fühlte Olivers Blick und hob den Kopf. Er staunte über die Größe des Mitleids, das er in Olivers Augen las. – Warum beklagst du mich? fragte sein trauriges Lächeln hinüber.

Der Necker wandte sich ab.

Herr Karl wand sich in arger Pein, alle Schleusen des Mißtrauens und der Angst öffneten sich in ihm. – Will er mich jetzt noch fangen? quälte ihn das Hirn, rückt er jetzt noch und auf solche unheimliche Art mit seinen Praktiken heran? Was will er, und wie kann ich mich retten?

»Ich war stets Ihr loyaler Bruder, Sire«, sprach er stockend, »und ich werde es bleiben. – Aber ...«

Auch Herr d'Urfé bewegte sich voller Unruhe auf seinem Platz.

»Monseigneur wird sich aus den Gründen seiner politischen Position die Aufgabe seiner Prätendentenrechte noch überlegen müssen«, sagte er verlegen, »aber er verspricht Ihnen, Sire, jede mögliche Garantie loyal zu bedenken.«

Der König wurde sehr blaß und preßte die Lippen zusammen. Er betrachtete stumm und voll Verachtung den einen und den anderen. Er hob dann wieder den Blick zu Oliver und sah seine barmherzigen Augen. Aber er sah nicht mehr, sosehr er in ihnen suchte. Er fand auch in sich keinen anderen Gedanken, keine Härte, nicht das Aufglimmen der politischen Repressalie. Nur Müdigkeit empfand er und Kummer und den Wunsch, nicht an das Vergangene und nicht an das Zukünftige zu rühren. Er lenkte das Gespräch ab, redete und hörte Gleichgültiges. Er sah auch nicht mehr zu dem Mundschenk auf. Doch sein Gefühl, das sich von neuem an den Necker heranschlich und seine Hantierung belauerte, trieb wieder das Herz zu raschen Schlägen an. Er prüfte das graue Gesicht des Bruders.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte er plötzlich mit leiser Stimme.

»Ich fühle mich wohl, Sire.«

 

Etwa acht Tage nach der Rückkehr in seine Residenz La Rochelle klagte Herr Karl über ungewöhnliche Schwere in den Gliedern und über stechende Schmerzen in der Herzgrube. Bald darauf verfiel er in einen seltsamen Dauerschlaf. Achtundvierzig Stunden später trat der Tod durch Lähmung des Herzens ein, ohne daß es den Ärzten geglückt war, den Herzog auch nur für Sekunden ins Bewußtsein zurückzurufen. Die Obduktion der Leiche rechtfertigte nicht des Herrn d'Urfé Verdacht, daß Guienne vergiftet worden sei. Man fand keine Spur eines der damaligen Heilkunde bekannten Toxikums noch eine der typischen Entzündungen in irgendeinem Organ. –

Als der König die Todesnachricht hörte, blieb er absonderlich ruhig und gab sofort die notwendigen Befehle für den Einmarsch in die Guienne und für die Behandlung des Herzogtums als erledigtes Krongut. Der Necker hörte kein Schwanken seiner Stimme und erkannte nicht den geringsten Wandel in seiner Haltung; vielleicht nur ein wenig fahler dünkte ihn die Farbe seines Gesichts und die Backen noch schlaffer. Doch die Arbeit des Hirns hinter der blassen Stirn schien dem Beobachtenden im gefährlichen Gegensatz zu der äußeren Gemessenheit. Während des Tages sprach Ludwig zu ihm nichts von seinen drängenden Gedanken, nichts anderes von Karls Tod, als es die politischen Folgen und die Erwägungen der Regierungsgeschäfte wie von ungefähr mit sich brachten. Am Abend, mit ihm allein im Arbeitszimmer des Turms, rang er schweigsam lange Zeit mit den Gefühlen, die ihn bewegten. Oliver störte ihn nicht.

»Ob es gut war«, formte der König leise und mit Anstrengung dann die Frage, »ob es gut war, daß sich das Gewissen von mir trennte?«

Der Necker antwortete nicht. – Als er den Apfel, der das geheimnisvoll tötende Präparat aus esoterischen Pflanzengiften und Alkaloiden enthielt, auf Karls Teller gelegt und gesehen hatte, wie die Frucht gegessen wurde, erstarrten die Gedanken und Empfindungen, die er eben noch dachte und empfand – Liebe, Mitleid und Opfer für den König – in einer fast körperlich schmerzenden Kälte, in einer Vereisung der Seele. Es war nicht Schuldgefühl oder Reue, es war das Grauen der Einsamkeit, weil er seit jenem Augenblick wußte, daß er die Grenze überschritten hatte und daß er allein war, ohne den König – nein, daß er allein König war, ohne Ludwig, den Menschen. Er sehnte sich nach dem anderen und nach dem, was er ihm von sich gegeben hatte; aber er verbot sich, seine Sehnsucht zu zeigen, um Ludwig nicht mitschuldig zu machen und aus seinem menschlichen Glück zu reißen. – Jetzt schwieg er, fürchtend, schwach zu werden und den anderen zu sich zu winken.

»Ob es gut ist?« wiederholte Ludwig. – »Bin ich denn ohne Schuld?«

»Sie sind ohne Schuld, Sire«, sagte Oliver rasch und dringend.

Der König schüttelte langsam den Kopf.

»Will ich es denn sein, Bruder? – Sieh, ich weiß es nicht. –

Und muß ich nicht dankbar sein?«

Der Necker entgegnete nichts; aber er fühlte sein Herz schneller schlagen.

»Muß ich nicht dankbar sein?« fragte der König wieder mit sonderbarer Hartnäckigkeit. – »Glaubst du, daß ich es sein werde?«

»Ja«, entgegnete Oliver leise. Ludwig sah ihn an; seine Augen waren wie Abgründe.

»Kennst du mich denn besser, als ich dich gekannt habe?« flüsterte er. – »Bruder, ich wußte wahrhaftig nicht, wie weit du für mich gingest. – Glaubst du, daß ich so weit gehen kann? – Kennst du mich zutiefst, Bruder?«

»Nein«, sagte Oliver gepreßt, »und es wäre gut, wenn Sie nicht bis zu mir kommen wollten ...«

Ludwig stand auf und ging zu ihm hin.

»Ist dieser Weg so weit?« lächelte er, »und glaubst du, daß ich nicht zu dir finde? – Willst du allein sein, Oliver?«

Der Necker senkte den Kopf und wagte nicht zu antworten. – Ludwig sagte freundlich und ohne Übergang gute Nacht, schob die Paneeltür zurück und stieg zur Kranken hinauf, die seit der Geburt des Dauphin in dem oberen Zimmer wohnte. –

In dieser Nacht gegen drei Uhr fuhr Oliver aus dem Schlaf, von einer Hand angerührt. Der König stand vor ihm. Die Wachsfackel bebte in seiner Hand, und der Körper schlotterte unter dem Schlafmantel, als ob ihn fröre. Doch die Stirn glänzte von Schweiß. – Oliver, nicht gewiß, ob der schwere Traum eben nicht noch dauerte – schloß vor Entsetzen wieder die Augen.

»Komm!« sagte Ludwig mit ganz fremder Stimme. Der Necker sprang auf und rieb sich die Augen. Er erkannte in dem Flackerlicht nicht mehr des Königs Gesicht: ein graues, von unruhigen Schatten hin und her gezerrtes Greisengesicht – ungeheure Augenhöhlen ohne den Glanz des Blickes –, ein solches Leiden um den Mund und im Zittern der Wangen, daß Olivers Frage nicht mehr Wort wurde.

»Komm schnell, Bruder!« drängte Ludwig. Der Necker warf sich einen Pelzrock über und stürmte voraus, durch die Zimmer und Gänge zum Turm, durch die offene Paneeltür die Wendeltreppe hoch. – Das Lager war zerwühlt. Anne lag mit bläulichem Antlitz und ohne Besinnung auf den Fellen. Oliver beugte sich über sie und sah, daß sie unter den seidenen Decken nackt war. Er stöhnte auf und hob die geballten Fäuste. – Der König stand in der Tür, mit seinem zerrissenen Gesicht und den erloschenen Augen, alt, unkenntlich.

»Ja«, sagte er mühsam und hob demütig die Arme, »hast du den Mut, mich zu töten? – Du hast ihn nicht, Bruder ...«

Oliver sah ihn mit einem dunklen, klagenden Blick an und antwortete nicht. Er wandte sich der Kranken zu, entblößte ihre Brust und behorchte sie. Der Atem ging schwer, die Herzstöße erschütterten die ganze Brustwand, die Halsvenen pulsierten rasend. Der Necker beruhigte sie mit magnetischen Strichen über Stirn, Schläfen, Wangen und die Schlagadern. Er hob sacht ihre Lider, legte sein Gesicht fast auf das ihre und drängte seinen Blick in ihre Augen.

Ihr Herz schlug schwächer, Oliver richtete sich auf: sie erwachte. Sie wandte schwach den Kopf nach rechts und nach links und sah dann den Necker an.

»Oliver«, hauchte sie und versuchte zu lächeln.

Sie drehte den Kopf dem König zu und betrachtete ihn ernst, anklagend.

»Oliver ...«, nannte sie auch ihn.

Und sie wies mit schwankem Finger auf den Necker wie auf ein gutes Beispiel. Ludwig nickte gehorsam, stumm und die Lippen verzerrend.

Oliver hatte den Kopf in den Arm gelegt und erstickte sein Stöhnen.

Anne schlug die Augen auf, wurde jetzt wie von einer Überraschung sanft erregt, hob schwach die Hand und zeigte zum Deckenspiegel.

»Welche Freude, Oliver!« flüsterte sie beglückt, »welche Freude kommt zu mir, Oliver ...«

Augen, Gesicht und Ton lächelten. Und als sie so einschlief, lächelte ihre Haut. – Der Necker hob den Kopf und betrachtete die Frau und dann den König. Ludwig ertrug seinen Blick.

»Dieser Dank ist schon jenseits des Menschlichen, Sire«, sprach Oliver langsam; »aber ich habe ihn vielleicht verdient.«

Ludwig kam zaghaft näher.

»Konntest du denn allein sein, Bruder?« fragte er sanft.

»Und weiß ich denn ohne dich, was gut ist? Was nützt es mir und dir, wenn ich nur weiß, daß du der Bessere bist und ich dich nicht habe? – Der Weg zu dir war nicht so weit, Oliver – und dann, Bruder: du riefst nach mir und ich liebte doch die Anne!«

Der Necker ergriff überwältigt die Hände des Königs.

»Das ist die Grenze, Herr! – Das mußte so sein: ob es Liebe oder Haß war oder Strafe oder Opfer. Es war, Herr, und wir haben es nicht mehr zu erleiden und zu ergründen. – Jetzt werden wir nichts anderes mehr haben als uns – und dann ...«

»Oliver! Oliver!« lispelte die Träumende ganz schwach und doch von Heiterkeit, »was geht mich der König an ...«

Der Necker und Ludwig schraken zusammen.

»Wer ist für sie der König?« fragte Ludwig gequält. –

»Ich? Immer nur ich?«

Oliver schüttelte den Kopf:

»Nein«, sagte er gütig, »die Lieblosigkeit ...«

Er horchte auf ihrer Brust: das Herz schlug kaum mehr hörbar.

»Ihr Ende ist leicht und schön«, flüsterte er und sah den König an. – »Warum fürchten Sie den Tod, Sire?«

Ludwig fuhr auf, die Arme in Abwehr und Angst ausstreckend:

»Was geht dieser Tod den König an!« stieß er hervor. »Und warum sprichst du dies? Warum hilfst du mir nicht gegen ihn?«

Oliver ließ Annes Handgelenk los.

»Ich werde Ihnen helfen, Sire – aber welches Leben kann erhalten werden?«

»Das Leben des Königs!« –

Über Annes Antlitz ging Verzückung auf wie eines Mondes süßes Licht. Ihre Kinderhand zeigte wieder in die Höhe. Die Lippen bewegten sich, aber sie formten kein Wort mehr. Jetzt öffneten sich für eine Sekunde die Lider und enthüllten entrückte, selige, goldflirrende Augen; aber sie erkannten nichts Irdisches mehr. Aus dem Mund doch, der ein wenig offen war, schwang sich ein feiner, hoher, ganz kurzer Ton, silbern wie von einer angerührten Saite.

»Was ist das?« fragte Ludwig ganz leise und lauschte.

»Die Todesfreude«, sagte Oliver, der lächelte. –

Gegen Morgen stand das Herz der Anne still.

 


 << zurück