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Erstes Kapitel.
Alter ego

Anfang November, während noch in der eroberten Stadt die durch den starken Widerstand und durch schwere Verluste gereizte Soldateska mordete und plünderte, die Limburger Brandkommandos des Herzogs planmäßig das dritte Mal die Feuersbrunst entfachten, zwischen den Eisschollen der Maas die aufgetriebenen Leichen der Ersäuften wie Flöße des Entsetzens trieben und burgundische Reiter den ins bergige Hinterland geflohenen Rest der Bevölkerung – Männer, Frauen und Kinder – auf ihre Lanzen spießten, verließ der König mit seinem Gefolge und seinen Truppen Lüttich. Sein Vetter Karl geleitete ihn bis Huy, der Kanzler Crèvecœur bis an die Landesgrenze. –

In den Tagen des Anmarsches und der Belagerung war es Ludwigs Sorge gewesen, ein Verhandeln mit Parlamentären zu vermeiden. Um nicht durch Aussagen des Landsknechtführers kompromittiert zu werden, zeigte er eine Erbarmungslosigkeit, die dem Herzog sehr gefiel, auch als sein Statthalter und der Bischof ohne leiblichen Schaden sich zu ihm retten konnten. Vor Lüttich setzte der König seinen Schotten eine größere Summe auf den Kopf des Wildt aus und formierte eine Gruppe von Scharfschützen, die kein anderes Ziel hatten als die Beseitigung des einen Mannes. Während eines furchtbaren Ausfalles der Landsknechte, der die Belagerer sechshundert Mann kostete, fiel Wildt. Die Söldner, denen durch eine vom Herzog persönlich geführte Elitetruppe der Rückweg verlegt worden war, wurden aufgerieben. Bei der schließlichen Erstürmung der Stadt wurden auf Befehl des Königs keine Gefangenen gemacht. –

Der Necker, immer in der Nähe seines Herrn und immer der erste Hörer seiner zum Wort gelangten Überlegungen, bestaunte die Geschicklichkeit und Schwungkraft, mit der Ludwig sein Netz über die offenen und die heimlichen Feinde warf. Und schließlich zog der König den gesamten gegensätzlichen Willen wie ein plumpes, gezähmtes Untier hinter sich her.

Der einzige, der still und sicher aus den Maschen der königlichen Allmacht schlüpfte, war merkwürdigerweise der Konnetabel. In Cambrai, dem ersten Rastort auf dem Zug gegen Lüttich, schlossen sich ohne viel Lärm dem französisch-burgundischen Heer drei seiner besten Regimenter an, die er während der Belagerung mit aller Selbstverständlichkeit kommandierte, wie der Großbastard oder Savoyen oder Poncet de Rivière die ihren, und die sich dann beim Abmarsch des Königs als eine der französischen Truppe zum mindesten gewachsene Mannschaft erwiesen. So nahmen der lächelnde Ludwig und der lächelnde Saint-Pol im Aisnegebiet, das den Hoheitsbereich des Konnetabels abschloß, sehr freundlichen Abschied voneinander.

Weniger glücklich war der Kardinal. Verwirrt durch die scheinbar wieder gnädige Form des Königs, der seit dem Abzug aus Péronne jedes verfängliche Wort vermied und ihm die alte Freundlichkeit zeigte, und vom Herzog auf unzweideutige Art zurückgestoßen, wagte er seinen Wunsch, in Burgund zu bleiben, nicht einmal auszusprechen. Auch ein Versuch, durch Herrn d'Urfé an den Hof Karls von Frankreich zu kommen, scheiterte, da der König den Geschäftsträger seines Bruders durch Oliver hatte warnen lassen und da der kluge Mann den leicht errungenen und reichen Gewinn seines Herrn nicht wieder aufs Spiel setzen wollte. Die Flucht Balues zum Konnetabel vereitelte Ludwig durch das sehr einfache Mittel, daß er ihn beständig in seine unmittelbare Nähe zwang und daß er zwischen seine Person und die Leute Saint-Pols stets seine Schotten manövrierte. Ob der Konnetabel willens war, Balue in Sicherheit zu bringen, oder ob auch er von der ruhigen Höflichkeit des Königs gegen seinen Minister geblendet wurde oder ob er gar seine Situation nicht durch die provokante Hilfeleistung für Balue belasten wollte, konnte auch von Oliver nicht erkannt werden. Als sich der Graf Saint-Pol vom lächelnden König beurlaubte, hatte Lord Milford, der Führer der Schotten, den Befehl, sich hinter dem Kardinal zu halten und ihn bei einem Fluchtversuch zu erschießen. Balue aber saß ruhig und würdig auf seinem weißen Zelter, vielleicht ein wenig abgemagert durch die Erregungen der letzten Zeit, und wechselte mit dem Konnetabel freundlich formelle Worte des Abschieds.

Doch am selben Abend, im Quartier zu Laon, als der Kardinal dem lächelnden König eine gute Nacht gewünscht und sich auf sein Zimmer begeben hatte, klopfte es gegen seine Tür mit den drei langsamen Schlägen einlaßbegehrender Gerichtspersonen. Herrn Tristans sanfte Stimme sprach:

»Im Namen des Königs!«

Balue öffnete mit weißem Gesicht; die linke Hand griff ans Kruzifix. Der Generalprofos trat ein, ruhig, ernst und höflich, ein Pergament mit königlichem Siegel tragend, ging auf ihn zu, berührte mit der Rolle leicht die Soutane des Prälaten und sagte leise:

»Monsignor Jean Balue, Kardinalbischof von Angers, Eminentissime, im Namen des Königs mache ich Sie zu meinem Gefangenen.«

Als Tristan L'Hermite, der mit zweien seiner Leute im Zimmer Balues übernachtet hatte, am anderen Tag mit dem verschlossenen und sich nicht schwach zeigenden Kardinal aufbrach, hatte der König mit kleinem Gefolge und einem Teil der Truppen die Stadt bereits verlassen. Die starke Mannschaft, die zurückgeblieben war, marschierte als Sicherung vor und hinter dem höflich schweigenden Profos und seinem Gefangenen.

»So viel Lanzen, um einen Priester zu bewachen?« spottete Balue mit dünnen Lippen.

Herr Tristan lächelte ein wenig.

»Um so mehr mag sich der Politiker geschmeichelt fühlen«, sagte er verbindlich.

Der König blieb in Compiègne und entließ seinen Schwager Bourbon und den Großmeister, die nicht nach dem Kardinal zu fragen gewagt hatten. Ludwig verlor über die Verhaftung kein Wort, nur Oliver und Jean de Beaune wußten von dem Auftrag des Profosen. Nicht aus Zartgefühl, sondern als Psychologe vermied der Herrscher eine Begegnung des Verhafteten mit den hohen Würdenträgern seines Reiches. An ihrer Verurteilung seiner tückischen Art lag ihm wenig; doch er wollte die Männer, die ihm nützlich oder notwendig waren, vor Depressionen schützen, die der Anblick eines scheinbar so willkürlich und unvermutet geformten Schicksals zur Folge haben mußte. So wurde Balue zur Nachtzeit nach Compiègne gebracht und in ein Turmzimmer des Schlosses eingeschlossen. Und so wurde es nochmals Nacht, bis sich die Tür wieder öffnete und der König, gefolgt von Herrn Tristan und Oliver, eintrat.

Der Kardinal kniete in einem kleinen Gebetstuhl vor dem Kruzifix aus Ebenholz und unterbrach seine Andacht nicht. Ludwig und seine Begleiter warteten stumm in der Tür und nahmen die Hüte ab. Jetzt schlug Balue das Kreuz, sagte Amen und erhob sich.

»Amen«, sagte der König, bekreuzigte sich und setzte den abgegriffenen Filzhut auf, dessen Krempe Heiligenbilder zeigte.

»Amen«, sagte Herr Tristan, Oliver bewegte, sich bekreuzigend, die Lippen.

Der Prälat verbeugte sich gemessen vor dem Herrscher und bot ihm wortlos den einzigen Stuhl an, der in dem kahlen Raum stand. Ludwig setzte sich, sah einige Sekunden sinnend vor sich hin und hob dann den ernsten Blick zu Balue, der aufrecht vor ihm stand.

»Ich halte Sie für einen Verräter«, begann Ludwig mit ruhiger Stimme, bewußt jene Frage aufgreifend, die Balue in der Nacht nach dem Dionysius-Tag verzweifelt gerufen hatte. Er hob rasch die Hand, als er auf dem Gesicht des Kardinals einen Schein von Hoffnung zu sehen vermeinte. »Ich weiß es, Balue.«

Der Prälat sah ihn an, ohne eine Bewegung oder ein Zeichen der Angst. Der König fuhr fort: »Sie bestreiten mein Wissen nicht, Balue, Sie verteidigen sich nicht?«

»Sire, ich habe mit meinem Leben abgeschlossen«, sagte der Kardinal mit Festigkeit.

Ludwig senkte ein wenig den Kopf und schien zu überlegen. Dann sprach er:

»Aber wenn ich aus Ihrer Antwort noch kein Geständnis heraushören will, Balue, wenn ich selber mein Wissen anzweifeln möchte, wenn ich Sie bitte, sich jene erste Nacht in Péronne in die Erinnerung zurückzurufen, da Sie zu mir kamen und mich vor den Absichten des Herzogs warnten – wenn ich Sie jetzt ein drittes Mal frage: wußten Sie es ...«

Er stand auf, streckte den Arm aus und berührte das goldene Kreuz auf der Brust des Kardinals.

»... wenn ich Sie bei dem Kreuz unseres Herrn Jesus Christus frage: wußten Sie es? – was antworten Sie mir dann, Balue?«

Der Kardinal hob das Kreuz an den Mund und küßte es; er sprach mit lauter und klarer Stimme:

»Bei unserem Herrn Jesus Christus, der für uns sein Blut vergossen hat, antworte ich: Pater peccavi! Ich wußte es!«

Jetzt herrschte eine große Stille. Der König strich sich versonnen über die Stirn, blickte zu Boden und setzte sich dann wieder. Oliver nagte an den Lippen.

»Balue«, fragte Ludwig nach einer Spanne Zeit, sehr leise, »Sie wußten es nicht allein?«

»Ich wußte es nicht allein.«

»Mein Bruder Karl von Frankreich wußte es, Nemours wußte es, der Konnetabel wußte es ...«

Der Kardinal sah über die Schulter des Sprechenden hinweg den Necker an, das erstemal während des Verhörs, ohne Haß, kalt und ruhig.

»... und mein treuer Diener Oliver«, vollendete der König. Der Kardinal antwortete nicht. Ludwig beobachtete ihn sehr aufmerksam. Oliver fühlte seine Erregung wachsen. Der König begann wieder zu sprechen, und seine immer leisere, immer langsamere Stimme war eine furchtbare Folter der Seelen:

»Ihr Schweigen ist ein Ja, Balue. Daß Sie zu den ersten drei Namen nichts mehr zu sagen brauchen, sehe ich ein. Daß Sie aber bei dem Namen dessen, der hinter mir steht, stumm bleiben, ist große Klugheit oder große Resignation. – Schweigen Sie aus Überlegung oder aus Müdigkeit, Balue?«

Der Kardinal tat eine gequälte Geste und antwortete zögernd:

»Aus der Erkenntnis, daß der Meister als Ihr treuer Diener und seiner Pflicht gemäß handelte.«

»Wann fühlten Sie den ersten Verdacht gegen ihn?«

»In Péronne.«

»Wundert es Sie jetzt nicht, daß er mich hat nach Péronne kommen lassen?«

»Nein, Sire, da Sie die Anschläge kannten und ihnen zu begegnen wußten.«

Der König schwieg einen Augenblick. Oliver fühlte seine Knie zittern und schloß die Augen unter dem Blick Balues, der ihn bei seinen Antworten ansah.

»Können Sie«, fuhr Ludwig leise und erbarmungslos fort, »können Sie, Balue, der Sie die Menschen durchschauen und jetzt wissen, daß Oliver in meinem Auftrag gehandelt hat, rückblickend bis zu Ihrem Aufbruch von Amboise seine Komödie in Wort und Haltung erkennen oder nicht?«

Wieder suchte der Kardinal die Augen des Neckers, der von der rätselhaften Inquisition stärker erschüttert war als der Gefangene und jetzt in neuem Auffluten seines Schuldgefühls, mit fiebrigem Blick sich vergessend, in die Stille zwischen Frage und Antwort hineinstöhnte:

»Nein!«

Der König rührte sich nicht, als hätte er das Wort nicht gehört. Balue preßte wie fröstelnd die Arme gegen den Körper, hob etwas den Kopf und sagte – lauter als Oliver:

»Ja.«

Ludwig nickte leicht mit dem Kopf.

»Um die Sicherheit zu gewinnen, die mir notwendig und wichtig erscheint«, sprach er wieder in seiner grausamen Sanftheit, »möchte ich die Frage in anderer Form wiederholen: könnten Sie auch jetzt noch, rückblickend bis zu Ihrem Aufbruch von Amboise, Worte oder Handlungen des Meisters für wahr und echt erklären, wenn auch nur innerhalb einer kurzen Zeit für nicht gespielt und vorgetäuscht?«

»Ja«, warf Oliver wieder dazwischen, bedrängt, den Mund kaum öffnend.

»Nein!« sagte der Kardinal laut und fest.

Der König stand auf, den feierlichen Ernst des Richters im Gesicht.

»Eminenz«, sprach er mit klarer Stimme, »Sie haben gutgetan, daß Sie auf die Einflüsterungen des Bösen nicht hörten. Ihr Ja vorhin und Ihr Nein jetzt rettet Ihren Kopf, der sonst verloren gewesen wäre wie die Köpfe der drei von uns genannten Männer. Sie werden selber wissen, ob Ihre Antworten klug oder christlich waren. Wir meinen, sie waren beides; denn eine Beschuldigung des Mannes, der dem Reich den König gerettet hat, würde den König gezwungen haben, sein Gewissen und den Beschuldiger – den einzigen, der beschuldigen kann – zu töten, und das Christliche Ihrer Antwort gibt uns den Respekt vor Ihrer geweihten Person wieder. – Als verletzte Majestät sind wir gezwungen, Sie unschädlich zu machen, Kardinal Balue. Wir werden es nicht tun, indem wir Ihnen den Tod geben, den heimlichen oder öffentlichen wie jenen dreien: Wir bringen Sie, ohne ein Haar Ihres Körpers zu berühren, auf unsere Art in Vergessenheit

Ein Beben schütterte durch den breiten Körper des Priesters, schüttelte seine Schultern. Es schien einen Augenblick – seine Hände griffen ins Leere – als wollte er umsinken. Oliver sprang herbei. Doch schon stand Balue fest, die Beine gespreizt, riß das Kreuz von der Brust und hielt es ihm entgegen:

» Apage Satana!«

Der Necker wich zurück, mit verstörtem Gesicht. Ludwig schien einen Augenblick zu lächeln. Dann wandte er sich an Herrn Tristan:

»Wir befehlen dir, Profos der Marschälle Frankreichs, in unserem Namen dem Jean Balue, Kardinalbischof von Angers, den Prozeß wegen Hochverrats und Majestätsverbrechen zu machen. Wir werden dir die Mitglieder des Gerichtshofes nennen.«

Der Kardinal kniete im Gebetstuhl und sprach mit starker Stimme:

» Solve vincla reis, profer lumen caecis!«

Dann betete er still weiter. Der König hatte den Hut abgenommen.

»Amen«, sagte jetzt der Priester.

»Amen«, sagten Ludwig und Herr Tristan.

Oliver schwieg.

 

Der König hatte beabsichtigt, am folgenden Tag in die Touraine zurückzukehren, ohne Paris zu berühren. Die Ereignisse in Péronne und Lüttich waren von einer Art gewesen, die triumphale Gesten lächerlich oder sogar gefährlich machen konnte. Zudem hatte Ludwig vor öffentlichen Empfängen, Prozessionen und Paraden eine lebenslange Scheu. Und schließlich wurde die Verhaftung Balues in solchem Augenblick das entscheidende Motiv, sich den scharfen und mißtrauischen Blicken der Hauptstadt nicht auszusetzen.

Als der König noch vor dem Verhör des Kardinals seinen Entschluß den Vertrauten mitteilte und die Freude in den Augen des Neckers sah, unterdrückte er rasch und mit etwas verlegenem Gesicht die Worte, die er noch hatte sprechen wollen. Während der Szene mit Balue war die unvermutete Art seiner Fragen und ihre tragische Wirkung auf Oliver von ihm gewiß berechnet und erwartet gewesen; denn er betrachtete nach der Rückkehr in sein Arbeitszimmer den Meister ernst und ohne Verwunderung, als der noch immer Erschütterte ihn fragte:

»Eure Majestät haben für mich zweifellos noch Arbeit in Paris?«

»Ja«, antwortete Ludwig ruhig und freundlich und wandte sich zugleich an den Profos: »Du, Gevatter, bist mir für die Person Balues verantwortlich und bringst ihn in die Oubliette. Du, Oliver, gehst nach Paris und bereitest beim Parlament das gerichtliche Verfahren und die Konfiskation der Balueschen Güter vor, übergibst den von mir zu Mitgliedern der Untersuchungskommission ernannten Parlamentsräten ihre Mandate, bedeutest ihnen, welches Verfahren und welches Urteil ich wünsche, und wartest, bis Tristan selber in Paris eintrifft. Dann kannst du nach Amboise kommen.«

Der König und der Necker waren dann allein. »Bin ich dir eine Aufklärung schuldig?« fragte Ludwig sofort.

»Nein«, entgegnete Oliver leise; »aber Sie wissen, Sire, daß die beiden Worte, die ich dem Kardinal zurief, unbefragt und unbefugt ... Sie wissen, daß sie ihn nicht in den Tod locken wollten ...«

»Ich weiß«, sprach der König bewegt, »daß du meines Selbstes besserer Teil bist, Bruder.«

Und er küßte den Necker auf beide Wangen.

Oliver begleitete den König bis Meaux. Während der Reise wurde zwischen beiden von nichts anderem gesprochen als von der Pariser Mission des Neckers und von Dingen der Politik. Weder Ludwig noch der Meister schienen hinter ihren überlegten und sachlichen Worten einen Raum für heimliche Gedanken zu haben. Doch als Oliver Abschied nahm, um mit Daniel Bart und einigen Dienern in die Hauptstadt zu reiten, und als der Schmerz in seinen Augen wie ein trübes Licht aufglomm, hielt der König seine Hände fest.

»Willst du mit mir kommen, Freund?« fragte Ludwig und bewegte kaum die Lippen. »Soll ich noch einmal den Kampf mit mir aufnehmen, Oliver?«

Der Necker schüttelte den Kopf.

»Sie müßten einen neuen Kampf beginnen, Sire«, antwortete er tonlos, »und das darf ich nicht mehr wollen.«

Der König sah an ihm vorbei. Dann sprach er sinnend:

»Weil wir zusammengehören, müssen wir wohl gleich an Schuld sein.«

»Ja«, sagte der Necker.

»Dann mag es für mich nicht schwer sein zu wissen, daß du meines Selbstes besserer Teil bist, Bruder.«

Oliver sah ihm in die Augen.

»Der bessere Teil sei für Sie, der schlechtere für mich und das Ganze sei das Gewissen«, sprach er rätselhaft und kühn.

Der König schwieg; dann sagte er sehr ernst:

»Gott sei unserer Seele gnädig, Bruder. Lebe wohl!«

Der Necker küßte seine Hände und brach in derselben Stunde auf, dem Lauf der Marne folgend. Der König reiste über Melun und Orleans in die Touraine. –

Am Abend nach seiner Ankunft in Amboise ging Jean de Beaune zu Anne. Die Heiterkeit seines lebenswarmen Gesichts verscheuchte die erste Angst der Frau. Dem Meister gehe es vortrefflich, beeilte er sich zu sagen, er habe sich außerordentliche Verdienste um die Krone erworben, die Gunst und die Liebe des Königs gehöre ihm in noch höherem Maße, möchte eine Steigerung möglich sein; er weile in ehrenvollem Auftrag in Paris und werde in kurzer Zeit zurück sein; er schicke dieses kleine Angebinde voraus. – Herr Jean überreichte der Neckerin mit anmutiger Geste ein schweinsledernes Kästchen. Sie lächelte dem Sprechenden zu und sagte schlicht:

»Ich danke Ihnen, Seigneur, und ich freue mich.«

Der Hofmann beugte sich ein wenig vor und hob mit listigem Ausdruck die Augenbrauen.

»Und ein anderer noch freut sich, Madame ...«

In der Erregung über diese Worte mochten die Finger der Frau sich zusammengezogen und den Mechanismus des Kästchens berührt haben: der Deckel sprang auf, ein kleingefaltetes Pergament fiel zu Boden. Sie sah eine Kette wertvoller Perlen, die nach florentinischer Art in die Haare zu flechten waren. Jean de Beaune hob das Billett auf und gab es ihr lächelnd. Sie stellte hastig das Schmuckkästchen auf den Tisch und entfaltete abgewandt das Pergament. Es enthielt nur die wenigen eiligen Worte von Olivers Hand: »Er ist der Herr, Anne, und Er ist Ich.« Sie ließ es fallen und zeigte dem anderen wieder ihr Gesicht, das bleich und starr geworden war. Jean de Beaune sagte leise: »Der König erwartet Sie, Madame.«

»Ja«, sagte Anne, leiser noch, und setzte ganz langsam hinzu, »ich – freue mich.«

Eine halbe Stunde später warf sie in dem lüsternen Turmzimmer, das sie kannte, den Schleier ab, der auf dem Wege durch die schweigenden Gänge und Gemächer, an Posten und Lakaien vorbei, ihr Gesicht verhüllt hatte. Jean de Beaune zeigte ihr noch einmal sein diskretes Lächeln, verbeugte sich und schlüpfte durch die Tapetentür. Anne trug dasselbe Kleid aus glattem hellem Samt wie an jenem Abend nach Olivers Abreise und seine Perlen in den schweren Flechten der Haare. Wieder roch es nach Zibetpuder und Myrrhe, wieder flirrte das Silberlicht der Ampeln über den Spiegel der Decke und den matthellen Brokat der Wände, über die zärtlichen Farben der Teppiche und des ledernen Bodens. Wieder lockte das breite, niedrige, mit Blaufuchsfellen bedeckte Lager. Aber Anne blieb an der Wand stehen, mit steifem Körper, den Kopf gegen die Seide des Behanges gelehnt, mit den Augen rastlos und verwirrt den Kreis des Zimmers nachkreisend. Sie versuchte mit einem dunklen drängenden Willen sich in den Mut zurückzudenken, den sie hier einmal gefühlt hatte, und in die dreiste Bereitschaft des Körpers. Aber es mißlang ihr; der Geist fand nicht mehr den Geist des Neckers, die Gedanken flatterten in den Raum hinaus und suchten Halt an ihm; aber sie fanden ihn nicht. Sie begriff jetzt den ganzen Sinn seiner hastig geschriebenen Worte. Und sie weinte vor Verlassenheit. Es war ein Weinen ohne Laut und ohne Bewegung; langsam rollten die Tränen aus den weit offenen Augen über ein wächsernes Gesicht.

Wieder hörte sie das Geräusch der zurückgeschobenen Paneeltür und den rasch steigenden Schritt auf der Treppe. Doch ihr Herz schlug nicht rascher, ihr Körper löste sich nicht von der Wand, ihr Mund mochte nicht lächeln, und ihre Hand rührte sich nicht, die Tropfen aus dem Gesicht zu streifen.

Ludwig trat so dicht neben ihr ins Zimmer, daß er sie streifte und einen Laut der Überraschung oder des Schreckens ausstieß. Er wandte sich rasch ihr zu, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und zwang sie sanft in seinen Blick. Sie suchte in seinen Augen mit einem seltsam fragenden Ausdruck; ihre Pupillen wurden groß und ein wenig verschleiert.

»Oliver ...«, stöhnte sie dann, die Stimme ein wenig hebend, als frage sie von neuem.

Der König brachte ihren Kopf langsam sich näher und küßte sie auf den Mund.

»Anne«, flüsterte er und umschlang sie, »ich bin auch Oliver.«

Er drängte sie sacht auf das Lager. – Und sie sah dann, den Kopf zurückbiegend, noch einen Augenblick sich selbst im Spiegel der Decke, ihres hingestreckten Körpers sanftes Fleisch und die ungewissen Umrisse ihres Gesichtes. – Jetzt senkte sich über sie der schwere Schatten.

 

Als der Necker etliche Tage später, von Paris heimkehrend, die finsteren Konturen des Schlosses unter dem grauen Novemberhimmel sah, dachte er an den sommerlichen Abend, an dem er und Anne zum erstenmal diesen Anblick hatten, und er dachte an Annes Worte der Angst. Und plötzlich fror ihn. Er kehrte mit Daniel Bart und seinen Leuten in einer kleinen Dorfschenke ein und trank viel. Er ließ sich Zeit. Er stützte die Ellenbogen auf den ungefügen Tisch und barg das Gesicht in den Händen.

»Ihre Haare werden schon grau, Meister«, sagte Daniel, der den Schweigsamen betrachtet hatte.

»Ja, ja«, nickte Oliver, »mir ist so, als hätte ich die Fünfzig schon hinter mir ...« – er sah seinen Gesellen mit einer schmerzlichen Grimasse an – »als wäre ich so alt wie der König.«

Sie schwiegen beide. Oliver trank viel.

»Sage mir einmal, guter Daniel«, sprach er dann und stützte das Kinn auf den Handrücken, »sieh mich an, Daniel: bin ich dem König nicht schon ähnlich geworden?«

Bart war sichtlich verwirrt und wußte nicht recht, was er antworten sollte, zumal er annahm, daß der Meister berauscht war und eine Schmeichelei verlangte. Er bedachte auch seines Herrn merkwürdiges Gebaren in Paris, wo er sich ganz gegen seine Gewohnheit jede Nacht in übler Gesellschaft bis zur Besinnungslosigkeit betrank. Ob ihm seine Erfolge, die Huld des Königs, die Fülle seiner heimlichen Macht in den Kopf gestiegen waren? – Daniel begriff ihn nicht mehr.

»Vielleicht, Meister«, entgegnete er verlegen, »vielleicht die Augen und die Stirn ... und sicher der Verstand ...«

»Aber jetzt, Gevatter«, sprach Oliver, trefflich Ludwigs tönende Stimme nachahmend, stülpte die Lippen auf, bog mit den Fingern die knochige Nase schief nach unten und hob die eine Augenbraue, wie es die Art des Königs war.

»Mein Gott, Meister!« flüsterte Bart, sich erschrocken vorbeugend. »Sehen Sie sich vor! Wir sind nicht allein!«

»Pah!« lachte Oliver und trank. –

Es war schon spät am Abend, als der Meister mit seinen Leuten das Tor von Amboise passierte. Und wieder machte Oliver vor einem Gasthaus der Innenstadt halt, schickte die Diener mit den Pferden nicht aufs Schloß, sondern ließ sie in einer Kaserne übernachten, und ging mit dem erstaunten Daniel in die menschenleere Trinkstube.

»Meister«, wagte Bart einzuwenden, »wir bekommen auch im Schloß Wein, und Sie haben die Dame Necker seit vielen Wochen nicht gesehen!«

Oliver, der sich schon gesetzt hatte, schien die Mahnung nicht zu hören. Er schlug mit der Hand auf den Tisch und verlangte vom besten Grave, auch Speisen. Er aß und trank und sprach kein Wort. Daniel beobachtete unruhig sein graues, verschlossenes Gesicht.

»Wollen Sie heute abend nicht mehr aufs Schloß, Meister?« fragte er schließlich.

»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Oliver kurz und versank wieder in seine Apathie.

»Der König erwartet Sie heute gewiß nicht mehr«, meinte Bart, der müde war. Der Necker wurde aufmerksam. Ein bestimmter Gedanke schien ihn zu beschäftigen. Über seine Züge irrte ein trunkenes, quälendes Lächeln.

»Nein, nein«, kicherte er, »der König erwartet mich nicht mehr. Als ob ich es nicht wüßte! – Weißt du denn nicht, Daniel«, fügte er mit leiserer Stimme hinzu, geheimnisvoll, »Daniel, weißt du denn nicht, daß ich der Teufel bin und daß der Teufel im König ist? – Begreifst du also, mein Gesell, daß ich auch sagen könnte: ich im König erwarte mich, Le Mauvais, heute nicht mehr? – Begreifst du, begreifst du?«

In seinen Augen brannte es wie Fieber. Er beugte sich über den Tisch und packte den Mann am Handgelenk.

»Begreifst du, Daniel?«

Bart sagte unwillig und heimlich in Sorge:

»Sie sind betrunken, Meister.«

Oliver reckte sich noch weiter vor und rüttelte den anderen an der Schulter.

»O du Schwachkopf!« fistelte er in heftiger Erregung, »wie du mich quälst, du Ungläubiger! Das eben ist es ja! Wenn ich hier betrunken bin, mag ich im König auch betrunken sein. – Und vielleicht ...«

Er schlang halb aufstehend den Arm um Daniels Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht liege ich jetzt bei der Anne, Daniel, vielleicht mag ich mich jetzt nicht stören!«

»Um aller Heiligen willen, Meister!« rief Bart in blassem Entsetzen und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, »Sie reden irre! – Gott will Sie schlagen! – Meister, ich will für Sie beten! Lassen Sie mich!«

Doch Oliver hielt ihn so fest, daß sich der Riese nicht losreißen konnte.

»Nein, Daniel!« rief er gefoltert, »nein! Bete nicht für mich! Gott schlägt mich nicht auf solche Art. – Begreife es doch! Hilf mir doch! Glaube mir doch!«

Es war eine so große Not der Seele in seinem Flehen, daß selbst der plumpe und rauhe Geselle erschüttert und feinfühlig wurde.

»Ja, mein Meister«, sagte er sanft, »ich begreife Sie.«

Oliver ließ ihn los und sank erschöpft auf seinen Stuhl zurück. Seine Arme blieben schlaff auf der Tischplatte, der Kopf fiel nach vorne. So blieb er lange Zeit, schweigend, mit geschlossenen Augen. Daniel glaubte schon, er sei eingeschlafen, und wollte aufstehen, um für das Nachtlager zu sorgen: doch jetzt tasteten die Finger des Neckers wieder nach dem Zinnbecher und umklammerten ihn. Bart blieb wartend sitzen. Oliver öffnete die Augen, hob das Gefäß an den Mund und trank es in einem Zug leer.

»Nein, Daniel«, sprach er ruhig und bestimmt, »ich will doch stören.«

Er stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und verließ die Schenke mit sicheren, raschen Schritten. Bart hielt sich dicht neben ihm, weil er glaubte, der Meister würde in der kalten Nachtluft schwanken und auf der steil ansteigenden Straße zu Schaden kommen. Doch Oliver schien durchaus nüchtern zu sein; er ging schnell, mit kurzem, festem Tritt über die hartgefrorene Erde, seines Weges gewiß, sah nicht rechts und nicht links auf die schlafenden Häuser und wählte ohne Zögern den abkürzenden, schmalen und durch die tückischen Verteidigungsanlagen für einen unsicheren Gänger gefährlichen Fußweg auf den Schloßfelsen. Er sprach mit seinem Gefährten kein Wort und rief nur mit etwas heiserer Stimme: »Le Mauvais! – Le Mauvais!«, sooft der erzenklirrende Schatten eines Postens ihm den Weg vertrat. Das böse Wort öffnete ihm Straße, Tor und Tür.

Er eilte, immer mehr den Schritt beschleunigend, die letzten Stufen hinaufspringend, die letzten Gänge entlang laufend, seiner Wohnung zu, schickte den nachkeuchenden Daniel mit raschem Gutenacht in seine Kammer und blieb dann mit fliegenden Pulsen vor der Tür zum Schlafzimmer stehen. Er zog geräuschvoll die schweren Reitstiefel aus, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, durch das Toben im Ohr und das Rasseln des Atems einen Laut von drinnen zu erlauschen. Doch er hörte nichts als den Lärm in sich selber. – Er hustete laut, rückte Stühle, warf Waffen ab, ließ sie auf die Bodenziegel klirren: – alles blieb ruhig. – Er rief leise und immer lauter:

»Anne! Anne! Anne!«

Er schrie:

»Anne!«

Nichts rührte sich. – Er nahm mit sehr wehem Lächeln eine Wachsfackel von der Wand und öffnete die Tür. Er trat lächelnd in die Schlafkammer. Das Bett der Frau war leer, unberührt. Einige Kleidungsstücke lagen umher. Vor dem Spiegel die Schminknäpfchen und silbernen Phiolen in Unordnung, geöffnet, eben noch benutzt. Es roch nach Ambra, Moschus und Mandel. Oliver atmete die vertrauten Düfte ein, strich über das Leinen des Kissens, als ob er Annes Gesicht streichelte, und betrachtete sein zugedecktes Bett, immer lächelnd.

Und er verließ wieder das Zimmer, fackeltragend, blieb auch nicht in den anderen Räumen, glitt wie ein Gespenst hinter dem flatternden Lichtschein durch Gänge und Galerien, über Treppen, an stummen und müden Gardisten vorbei, die den Vertrauten des Königs hastig grüßten, durch das Wachzimmer der Schotten, die Ludwigs Privaträume beschützten und deren Offizier schlaftrunken von der Pritsche aufsprang und diensteifrig – mit schwerer Zunge doch – meldete:

»Die Majestät arbeitet noch.«

Der Necker nickte und schritt zum erleuchteten Turmzimmer. Er klopfte leise das geheime Zeichen, das nur ihm zustand: einen betonten und zwei kurze Schläge – dreimal hintereinander. Niemand antwortete. – Die Tür war verschlossen; er öffnete sie behutsam mit seinem Nachschlüssel. – Das Gemach war leer, die Paneeltür zur Wendeltreppe zurückgeschoben. Von oben her scholl ein Lachen, dumpf und gedämpft.

Oliver klomm auf leisen Sohlen die Treppe empor, langsam Stufe um Stufe. Jetzt stand er vor der Tapetentür. Er hörte Ludwigs trunkene nackte Worte und Annes zärtlich stöhnendes Geflüster. – Er hörte den keuchenden Kampf der Körper – er hörte ihn aufschreien – er hörte ihren ersterbenden Ruf:

»Oliver ... Oliver ...«

Er drängte das Gesicht gegen die Tür, die Arme rechts und links an die gebogenen Wände pressend, und verbiß sich in den Tuchbehang. So blieb er durch die Zeit der Ermattung drinnen, durch die Zeit des neuen Geflüsters, des neuen Trinkens, des neuen Schmeichelns brutaler Worte und Bewegungen, des neuen Kampfes –: da aber riß er den Körper zurück und straffte ihn, breitbeinig stehend, kniff die Lippen ab und pochte gegen die Tür, klopfte das geheime Zeichen, das nur ihm zustand: einen betonten und zwei kurze Schläge – dreimal hintereinander –, dumpf durch Stoff und Holz.

Und drinnen wurde es totenstill. Minuten vergingen. Jetzt fragte Ludwigs Stimme, heiser, fast unkenntlich:

»Oliver?«

Der Necker antwortete nicht und stieg lärmend die Treppen hinunter. Er hörte noch Anne weinen. –

Und er setzte sich im Zimmer unten auf den hochlehnigen Stuhl des Königs vor des Königs mächtigen Tisch. Er umklammerte mit den Händen die geschnitzten Löwenköpfe der Seitenlehnen und wartete. Jetzt erst fühlte er seine Trunkenheit: das runde Zimmer kreiste immer schneller um ihn, den Mittelpunkt. – Oder war es nicht Trunkenheit? – War es Rausch der Königlichkeit? – Er wartete mit hochmütigem Gesicht.

Jetzt wurde oben die Tür aufgestoßen, schwere Schritte polterten die Treppe herab, Ludwig wankte ins Zimmer, mit gedunsenem Gesicht und geränderten Augen, kaum bekleidet. Er hielt sich am Tisch fest. Oliver stand nicht auf.

»Habe ich dich gestört, Bruder?« fragte er den König und hielt ihn mit dem Blick fest.

»Oliver ...«, stotterte Ludwig und faßte sich an die Stirn.

Der Necker lächelte böse:

»Wer ist Oliver? – Wo ist Oliver?«

»Hier ist Oliver!« schrie der König und schlug sich auf die Brust.

Der Necker hob die eine Augenbraue in die Höhe und sprach mit Ludwigs sonorem Organ:

»Dann geh nur zur Dame Necker zurück, Bruder. Ich will dich nicht mehr stören.«

Ludwig preßte die Finger auf die Schläfen und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein«, flüsterte er, »ich kann jetzt nicht mehr! Ich kann jetzt nicht mehr. – Gott sei unserer Seele gnädig, Bruder!«

»Wer kann nicht mehr?« rief der Necker mit starker Stimme und stand auf; »wer ist der König?«

Ludwig taumelte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Dann aber faßte er sich.

»Ich bin der König«, sagte er leise, wie beschämt.

»Und ich, Sire?« fragte Oliver demütig.

»Du, Bruder? Du bist mein Gewissen.«

Er wandte sich plötzlich ab, mit verlegener Geste, als ob er jetzt erst seine Blöße fühlte. Oliver zog seinen langen pelzgefütterten Mantel aus und legte ihn um die Schultern des Königs.

»Sire«, flüsterte er. »Oliver war betrunken. Und der König ist müde.«

»Ja«, sagte Ludwig, und es fröstelte ihn. Oliver öffnete ihm die Tür des Turmgemachs, trat nach ihm auf die geschlossene Verbindungsgalerie hinaus, die den Turm mit den Wohnräumen verband, und wollte ihm ins Schlafzimmer folgen. Doch der König wehrte freundlich ab:

»Geh du nur zur Dame Necker zurück, Oliver, ich will dich nicht mehr stören. – Gute Nacht, mein Freund.«

Der Necker verbeugte sich.

»Gute Nacht, Majestät.«

Der König ging seinen Gemächern zu, etwas vorgebeugt, in den Mantel gehüllt, ungleichen Schritts. Oliver kehrte in das Turmzimmer zurück, verschloß die Tür und stieg die Wendeltreppe hinauf. Auf seine rasche Art – wie ein Mensch, der nach kurzer Abwesenheit in den vertrauten Raum zurückkehrt – glitt er in das lüsterne Zelt. Anne lag leuchtend weiß auf den dunklen Fellen, mit großen, glanzlosen Augen und wächsernem Gesicht.

»Oliver ...«, hauchte sie.

»Wir wollen jetzt schlafen, Anne«, sagte der Necker und küßte sie leicht auf die Stirn. »Der König stört mich heute nicht mehr. Er schläft auch.«


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