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Siebentes Kapitel.
Der Pseudo-Dionys

Als die Glocken der anderen Frühe Angelus läuteten, brach der König auf. Der Konnetabel, der sich mit dem scharfsichtigen Balue beraten zu haben schien, folgte dem Befehl, sich der Suite anzuschließen, ohne ein Wort des Widerspruchs oder ein Zeichen des Unwillens. Er schickte auch einen Herrn seines Stabes in das Ardennenquartier des Landsknechtsführers, wohl wissend, daß es zu dieser Stunde verlassen war, und dem Offizier mit einem Lächeln bedeutend, die Order des Königs den schönen und schweigsamen Eichen und Buchen mitzuteilen.

Es war der neunte Oktober und ein Sonntag. Es war der Tag des heiligen Dionys von Paris, der eigenhändig seinen abgeschlagenen Kopf an die Stelle trug, wo er begraben zu werden wünschte; so berichtet es der milde Jakobus de Voragine.

»Das war ein frommer Mann und hoher Prälat wie Sie, Eminenz«, lächelte Ludwig, der in absonderlicher Laune den Kardinal an die Legende erinnerte, »aber sehr fern der Politik sein Speculum Sanctorum schreibend. – Sie sind mehr für das Theatram Mundi, nicht wahr?«

Balue nickte ein wenig unsicher mit dem Kopf. Er liebte nicht seines Herrn verschleierte Ironien, zumal nicht heute. –

Kalter Wind jagte die Wolkenfetzen über das weite Ackerland der Pikardie. Zuweilen fiel Regen. Glocken läuteten in den Dörfern, die passiert wurden. Lagen sie nahe beisammen, dann schlugen die Töne im Wind erregend ineinander. Manchmal klang es wie Sturmläuten. Der König war zumeist schweigsam. Plötzlich sagte er vor sich hin:

»Mir gefällt der Tag nicht und sein Heiliger nicht.«

Er wandte sich wieder an den Kardinal, mit peinlichem Lächeln:

»Ob ich wohl kanonisiert werde, Eminenz, wenn ich jetzt, noch den Kopf auf den Schultern, meiner Grabstätte zureite?«

»Was sind das für Späße, Sire!« murmelte Balue und sah den Konnetabel an. Oliver, dicht hinter ihnen, senkte den Kopf. –

Zur Mittagsstunde erreichten sie das Weichbild von Péronne. Auf dem Felde östlich der Ortschaft Cappy erwartete sie der Herzog in pompösem Aufzug. Die burgundischen Heerhaufen bedeckten die weite Ebene bis zu den Stadtmauern.

Karl Burgund, barhaupt, schön wie ein Kriegsgott in einer Rüstung von wundervoller Mailänder Arbeit, ritt allein dem König entgegen. Auch Ludwigs Herren blieben zurück. Die beiden begrüßten sich: der schmächtige Valois mit einem zauberischen Lächeln auf den Lippen, der Riese Karl mit einem Gesicht, das so kalt und hart war wie sein stählernes Kleid. Des Königs Lächeln erstarb, und seine zutunlichen Worte dehnten sich, als sein scharfer Blick sich über die Schulter des Herzogs hob und, die Gruppe gepanzerter Herren erkannte, die sich langsam näherte, den Helm in der Hand. Burgund, der ihn beobachtete, verzog spöttisch den Mund und sagte:

»Das sind die Ehrenkavaliere für Eure Majestät, große und edle Herren, die sich in die königliche Erinnerung zurückzurufen wünschen.«

Die infernalische Regie des Herzogs setzte früh und mit deutlichen Mitteln ein. Es kam Philipp von Savoyen, des Königs Schwager, Bruder der Königin, der zwei Jahre lang in den Kerkern des Schlosses von Loches gequält wurde, weil er der Führer der savoyischen Opposition gegen Ludwigs rücksichtslose promailändische Annektionspolitik war. – Es kam der Seigneur du Lau, vor zwei Jahren noch Großkämmerer des Königs, Großmundschenk und Seneschall, der dann gleichsam über Nacht, durch einen der schicksalsträchtigen Haßanfälle Ludwigs, von seiner Günstlingshöhe in den Gefängniskeller der Burg von Sully-sur-Loire stürzte, der etliche Monate später von Herrn Tristan in die Auvergne – auf das Schloß Usson – übergeführt wurde, um das brutale Gerichtsverfahren des Profosen zu erdulden, und dem es doch wunderbarerweise gelang, kurz vor der Exekution zu entfliehen, den Händen des enttäuschten Henkers nur den Kopf des armen Wachoffiziers René des Nobles zum Abschlagen zurücklassend. – Es kam Herr Poncet de Rivière, einst Hauptmann des Königs, dann Amtmann jener Stadt Usson, der dem Großkämmerer zur Flucht verhalf und sich beizeiten in Sicherheit brachte und von dem Ludwig wußte, daß er in der burgundischen Armee diente und gegen ihn hetzte. – Es kam Pierre d'Urfé, des Königs alter Feind, der intrigante und gefährliche Berater des frondierenden Bruders Karl von Frankreich. – Es kam der Großbastard Antoine von Burgund, Marschall des herzoglichen Heeres, dem Ludwig die Stadt Epinal zugesprochen und dann wieder abgenommen hatte, als sie für den nützlicheren Herzog von Lothringen ein gutes Geschenk schien. – Es kamen noch einige Dynasten des feindlichen Hauses Savoyen, etliche burgundische und deutsche Herren, die der König aus irgendwelchen Gründen gequält, verfolgt und gekränkt hatte. – Es waren Rächer und Hasser wie in der Folter des Alptraums. Es war wie der Aufmarsch des bösen Gewissens.

Die Granden verneigten sich ernst und schweigsam vor dem König, der mit unbeweglichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen einem jeden in die Augen sah, und formierten sich dann hinter ihm, während Ludwigs kleine Eskorte den Herzog begrüßte und sich ihm anschloß. Karl Burgund hatte ein wenig gelächelt, als sich Saint-Pol vor ihm verbeugte, und leise und scharf gesagt:

»Sieh da, Herr Bruder!«

Sonst war auch er stumm, von den Herren der Suite nur noch Bourbon dankend, die anderen, auch den Kardinal, kaum beachtend, einen Blick nur für den letzten, für Oliver.

Der Zug setzte sich in Bewegung und ritt langsam, zu beiden Seiten die eiserne Mauer regungsloser Gardisten, der Stadt zu.

 

Weil die wenigen bewohnbaren Räume des Péronner Schlosses dem Herzog als Wohnung dienten, war dem König das prunkvolle Haus des Generaleinnehmers als Herberge zugewiesen worden. Doch als Oliver in Erfahrung brachte, daß auch die Herren des peinlichen Ehrengeleits im gleichen oder in benachbarten Gebäuden mit ihren Reisigen einquartiert waren, schickte Ludwig, ohne sich auszukleiden und ohne etwas zu genießen, immer noch in der wortkargen und mit sich selbst beschäftigten Haltung des Einzuges, seinen Kämmerer zum Herzog mit der Bitte, ihn im Schloß wohnen zu lassen, und sei es auch in nicht ansprechenden Räumen.

Zu Olivers Verwunderung kam Herr de Crèvecœur, an den er sich wandte, mit dem Bescheid zurück, daß der Herzog ihn persönlich zu sprechen wünsche. Er fand den Herrn Burgund im Erker eines kahlen Saales, schreibend an einem mächtigen Tisch.

»Hat Seine Majestät Angst?« fragte der Herzog unvermittelt und hob flüchtig lächelnd den Kopf.

»Ich wüßte nicht, Hoheit«, sagte Oliver nachdrücklich, »was mein hoher Herr unter Ihrem Schutz zu befürchten hat. Er wünscht mit Ihnen zusammen zu wohnen, um dadurch die Geschäfte zu fördern und freundschaftliche Gedanken auszutauschen. Die Majestät weiß aus Erfahrung, daß nichts schlimmere Irrtümer und Mißverständnisse anrichtet als die räumliche Distanz. Sie zu überwinden ist das Motiv ihres Kommens.«

»Sie sind noch nicht sehr lange im Dienst des Königs?« fragte Burgund plötzlich nach einer kleinen Pause. Oliver sah ihn an und zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er aggressiv:

»Lange genug, Hoheit, um zu wissen, warum die Wahl der Ehrenkavaliere nicht ganz glücklich ist ...«

»Herr Kämmerer«, unterbrach Burgund stirnrunzelnd, »ich traf die Wahl und ich finde sie gut! Und es ist nicht meine Schuld, daß der König diese Herren zu fürchten hat. – Vielleicht hat der König noch mehr zu fürchten!«

»Hoheit«, sagte Oliver langsam und sah ihn mit vollem Blick an, »vielleicht weiß es der König, vielleicht wußte er es, als er hierherkam, und vielleicht will er Ihnen mit seiner Anwesenheit beweisen, daß er nichts zu fürchten hat. – Die Majestät bittet um Quartier im Schloß, damit die Nähe jener Herren und ihre unfreundlichen Gedanken nicht neue Spannung in die Atmosphäre bringen oder sie gar vergiften. – Fürchtete er sie, so müßte er auch Ihre Nachbarschaft scheuen, Hoheit, der Sie die problematische Wahl trafen.«

Der Herzog hatte mit größter Aufmerksamkeit zugehört; jetzt gab er dem Kanzler Crèvecœur, der still neben seinem Stuhl stand und während Olivers Worten bedeutsam die Brauen gehoben hatte, den Auftrag, unverzüglich im westlichen Schloßflügel – so gut es eben ginge – einige Räume für den König und sein Gefolge einzurichten. Oliver, der seinen Auftrag ausgeführt zu haben meinte, bat um Urlaub.

»Noch ein Wort, Herr Kämmerer«, sagte Burgund, während der Kanzler den Saal verließ. Oliver wartete gespannt; er dankte dem Zufall, der ihm diese unvermutete Vorarbeit für die Rettung des Königs ermöglichte; er wußte gut, in welche Kerbe er hieb. – Der Herzog lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Ein Wort noch«, wiederholte er; »teilt der Kardinal Balue, dessen Mitdelegierter Sie doch waren, Ihre Ansicht über das mutmaßliche Wissen des Königs?« –

Sieh das Stierchen! dachte Oliver, innerlich erheitert: wie schlau es ist!

»Um Vergebung, Hoheit«, entgegnete er, gleichsam in die Enge getrieben und die Schultern hebend, »ich darf Ihnen diese Frage nicht beantworten. Ich darf nur sagen, daß mein hoher Herr kaum Grund hat, der Eminenz weniger zu vertrauen als mir.«

Er zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort, klug die Register der Stimme wechselnd:

»Und ich habe die Pflicht zu sagen, Monseigneur, daß Sie guttun, nicht mit Angst- oder Schuldgefühlen der Majestät zu rechnen, also auch nicht mit szenischen Wirkungen von der Art der Ehreneskorte oder gar mit gewaltsameren Maßregeln, die nur einen Erfolg hätten, wenn sie moralisch berechtigt wären oder wenn sie einen Ahnungslosen träfen. Rechnen Sie nur mit dem guten Willen meines Herrn, der hier ist, um die Konfliktstoffe aus der Welt zu schaffen und einen wahren Frieden zu gewinnen. – Und verzeihen Sie meine ehrliche Sprache, Hoheit.«

Burgund verschränkte die Arme und blähte die Nasenflügel. Seine Finger klopften ungeduldig oder unzufrieden die Stahlmaschen des Ärmels.

»Aber dürfen Sie mir die Frage beantworten, Herr Kämmerer«, sprach er scharf, »ob Ihre Warnung eben innerhalb Ihres offiziellen Auftrages an mich gesagt ist?«

»Gewiß«, erwiderte Oliver und verneigte sich, als der Herzog wie verabschiedend sich erhob. Wie er rückwärts zur Tür schritt, immer im nachdenklich prüfenden Blick des Herrn, sagte jener hastig: »Man berichtete mir, Sieur Le Mauvais, daß Sie unsere Sprache beherrschen.«

»Ja, Hoheit, ich spreche sie, und ich kenne Flandern«, meinte Oliver lächelnd auf flämisch, mit deutlichem französischem Akzent.

»Sie kennen auch Lüttich?« fragte der Herzog unvermittelt und laut.

»Gewiß kenne ich auch Lüttich«, antwortete der Necker höflich, auch ein wenig spöttisch, »obgleich es schon etliche Jahre her sind, daß ich dort war. – Und wenn Eure Hoheit meinen, daß ich einer der angeblichen Provokateure des Königs in Flandern bin, wenn Sie wahrhaftig noch immer den unseligen Verdacht haben, gnädiger Herr, und glauben, der König revolutioniere Ihre Städte, so werden wir Ihnen zu unserer Freude sehr bald den Beweis des Gegenteils geben können.«

»Um so besser«, sagte der Herzog kurz und drehte sich um.

 

Des Königs Stimmung hob sich durch den Bescheid, den Oliver zurückbrachte und den er in eine freundlichere Form kleidete, als sie der Wahrheit entsprach. Der Meister fühlte, daß Ludwigs Depression und seine Natur, die nur im Augenblick des unfreiwillig verschobenen oder verschleierten Zieles und auch des plötzlich bedrohten Körpers ihre ungewöhnliche Sicherheit verlor, jetzt noch keine Tatsachen vertrügen. Er wußte aber auch, daß allein die Umrisse der Gefahr genügten, um den König wie von ungefähr zur gemäßen Abwehr zu veranlassen. Und er sah schon das Unheimliche in Ludwigs Augen, wenn sie Balue und den Konnetabel belauerten. So beschränkte er sich darauf, ihm zu sagen: das Notwendigste sei zur Stunde, das Bewußtsein der geistigen und ständischen Überlegenheit zum sichtlichsten Ausdruck zu bringen.

Die Übersiedlung ins Schloß erfolgte am gleichen Tag. Während noch die Handwerker in den ausersehenen Räumen des westlichen Flügels – nahe dem Schloßturm – arbeiteten, in aller Eile die nässenden Wände mit Teppichen verkleideten, fehlende Fensterscheiben ersetzten und Möbel herbeischleppten, erschien schon der König mit seinem Gefolge und bestimmte persönlich die Einteilung der Zimmer. Er wählte für sich und Oliver das letzte Gemach, dem die übrigen vorgelagert waren und das – wie er sich überzeugte – keinen zweiten Zugang besaß. Und er legte zwischen die Wohnräume des Kardinals und des Konnetabels das gemeinsame Zimmer für Jean de Beaune und Herrn Tristan.

Der Necker hatte wohl bemerkt, daß Balue schon seit dem Abmarsch aus St-Quentin und mit augenscheinlicher Nervosität seit seiner Rückkehr vom Herzog mit ihm unbeobachtet zu sprechen wünschte; aber er hatte sich nicht bemüht, dem Kardinal eine Gelegenheit zu verschaffen, es sogar vermieden und sich ständig in der Nähe des Königs aufgehalten, damit sich die offensichtliche Unbehaglichkeit des Prälaten steigere; er hatte sein schüchternes Angebot, mit ihm zusammen beim Herzog wegen des Quartiers zu intervenieren, überhört und es geflissentlich eingerichtet, daß es jenem nicht möglich wurde, ihm gegen seinen Willen zu folgen. – Jetzt aber, als der König, mit seinem Schwager Bourbon im Gespräch, eine sich zum inneren Hof öffnende Galerie betrat, zog ihn Balue in das Zimmer zurück.

»Zum Teufel, Meister!« flüsterte er erregt, »was geht in ihm vor?« – Und er wies zur Galerie hin. – »Ahnt er etwas? Weiß er etwas?«

Oliver hob langsam die Schultern und antwortete nicht.

»Warum reden Sie jetzt nicht?« zischte der Kardinal in kaum unterdrückter Wut; »warum erreichten Sie nicht, daß der Konnetabel aus dem Spiel blieb? Warum nahmen Sie mich zum Herzog nicht mit? Warum lassen Sie sich nicht sprechen? – Es ist, um irre an Ihnen zu werden!«

»Holla, Eminenz«, sagte Oliver kalt, »ich bin wohl um den König, neben ihm und hinter ihm, aber ich stecke nicht in ihm drin. Ich weiß also nicht, was er sich bei alledem dachte, warum er Saint-Pol mitschleifte, warum er nur mich zum Herzog schickte und mich sonst scheinbar nicht gerne aus den Augen läßt. – Aber ich weiß, Monsignore, daß Sie an sich selber irre werden müßten, wenn Sie durch die ungeheuerliche Dummheit jener Eskorte weniger überrascht und bedenklich gestimmt wurden als ich – und auch als der König.«

»Ich ahnte davon nichts!« versicherte Balue.

»Nun, Eminenz«, spottete der Necker, »die Konspiration scheint magisch mit gegenseitigen Überraschungen das Fugenwerk der planmäßigen Zusammenarbeit zu durchlöchern. Der Herzog zeigt unvermittelt ein lebendiges Sündenregister, Sie werden unvermutete Revolution zaubern: weiß Gott, was ungeahnt der König als dritter und vielleicht bester Nekromant heraufzubeschwören fähig ist. – Und im Ernst, Eminenz, Sie selber sehen ja, daß es in ihm arbeitet; Sie sehen wohl auch, daß seine Blicke für Sie nicht übermäßig freundlich sind. – Seien Sie vorsichtig, Monsignore, vermeiden Sie Sondergespräche mit den burgundischen Herren, selbst mit Saint-Pol, selbst mit mir; seien Sie vorsichtig!«

Balue wurde ein wenig blässer. Ludwigs und Bourbons Schritte und Stimmen näherten sich wieder.

»Hat der Herzog von mir gesprochen?« flüsterte noch hastig der Kardinal. Oliver schüttelte verneinend den Kopf und trat in die Galerie zurück. Balue eilte auf Fußspitzen in sein Zimmer. –

»Sprachst du mit jemandem?« fragte der König mißtrauisch und sah sich um. »Mit der Eminenz«, antwortete der Necker und streifte Herrn Bourbon mit dem Blick.

»Herr Bruder«, meinte Ludwig freundlich, »es ist wohl schon an der Zeit, sich zum Bankett umzukleiden.«

Der Herzog verbeugte sich und ging. Der König lehnte sich an die steinerne Brüstung der Galerie und betrachtete den Festungsturm, der sich massig und finster in den nebelgrauen Abend verlor.

»Was wollte er?« fragte er kurz.

»Er wollte Ihre Gedanken wissen, Sire«, sagte Oliver und lächelte.

Der König drehte sich zu ihm um. »Was ich über ihn denke?«

»Über ihn und unsere Lage.«

»Brachte er sich selber in diese Verbindung?«

»Ja«, antwortete Oliver mit Betonung. Der König sah finster auf die roten Ziegel des Bodens.

»Und was sagtest du ihm?« fragte er nach einer Weile.

»Daß ich die Gedanken des Herrschers nicht gut kennen kann.«

Ludwig sah ihn an. »Und kennst du sie nicht, Oliver?«

Der Necker schwieg und senkte den Blick. Ludwig trat an ihn heran; er fragte leise:

»Zeugt sein Ansinnen deinem Gefühl nach von einem ruhigen Gewissen?«

»Nein, Sire.«

»Hast du so schlimme Gedanken wider ihn, wie ich sie habe, Freund?«

Oliver hob den Kopf und prüfte des Königs Augen: sie schienen schon von dem Willen zu zeugen, den Kampf aufzunehmen. Der Necker wagte den Schritt.

»Ich habe wohl noch schlimmere Gedanken«, sagte er ernst; und rasch fügte er hinzu: »seit heute; denn gestern waren es nur die vagen Stimmungen und Ahnungen, wie sie nicht weniger Jean de Beaune und Herr Tristan empfanden. – Aber wir sind vielleicht doch ungerecht«, besänftigte er, als er Ludwigs Gesicht sich verändern sah. »Lassen Sie mich behutsam forschen, Sire, lassen Sie mich arbeiten, achten Sie auf Balues und Saint-Pols Haltung und lassen Sie sich anmerken, daß Sie auf sie achten; und vor allem: zeigen Sie Burgund eine Sicherheit und spielen Sie ihm eine Allwissenheit vor, daß er im voraus die Lust an jedem finsteren Plan verliere. Und seien Sie unbesorgt, Sire, wir tappen nicht lange im dunkeln«; er senkte die Stimme und wies mit der Hand auf den vom Herzog bewohnten Flügel des Schlosses – »ich habe dort ein Paar scharfe Ohren, die für uns hören.«

Der König lächelte, schon wieder die Freude am politischen Spiel im listig verkniffenen Gesicht, schon wieder sein Ziel vor Augen. Oliver war mit ihm zufrieden. Er folgte ihm in das Gemach und half ihm beim Umkleiden. Er freute sich über die ungewöhnliche Sorgfalt, mit der Ludwig die Kleider wählte: ein dunkles, zobelverbrämtes Samtwams und darüber einen kurzen, faltigen, weitärmeligen Mantel aus gleichem Stoff und Pelz; eine golddurchwirkte, zobelbesetzte Kappe und einen edelsteinschweren Gürtel von unermeßlichem Wert. –

Als der burgundische Großkämmerer ihn in feierlicher Form abholte und in den mächtigen Bankettsaal führte, als Toison d'Ors, des herzoglichen Herolds und Zeremonienmeisters tönende Stimme in den Raum gerufen hatte: Der König! und die prunkvolle Versammlung schon stumm wurde und sich erhob, trug Ludwig den unschönen Kopf mit so viel Würde und mit so viel gemessener Anmut den schmächtigen Körper und das königliche Sein wie einen Krönungsmantel mit so beherrschter Bewegung, daß in Oliver hinter ihm ein seltsamer Stolz aufblühte, zugleich beglückend und betäubend wie narkotischer Duft, und daß dann Karl Burgund – schön und selbstsicher wie ein Griechengott in höfischem Samt und Hermelin – sich doch in Ehrfurcht tief verneigte.

Die Sessel des Königs und des Herzogs standen unter Baldachinen – der des Burgunders unter einem etwas niedrigeren –, die auf rotbrokatenem Grund die drei gekrönten Lilien des Valois und den Brabanter Löwen in erhabener Goldstickerei zeigten.

Neben Ludwig saßen Philipp von Savoyen, der Kanzler Crèvecœur, der Großbastard und die anderen Herren des Ehrengeleits in der Reihenfolge ihres Ranges; neben dem Herzog der Kardinal, Bourbon, der Konnetabel, Jean de Beaune, Herr Tristan und Würdenträger des burgundischen Hofes. Die brutale Regie Burgunds hatte es nicht verabsäumt, als des Generalprofosen Gegenüber den Herrn du Lau zu bestimmen, den er gefoltert hatte. L'Hermite grüßte ihn mit seinem feinen Lächeln.

Oliver stand hinter dem König und bediente ihn, von jeder Speise kostend; für den Herzog sorgte auf gleiche Weise ein burgundischer Truchseß; das Amt des Mundschenken verwaltete für beide Fürsten jener Melchior van Busleyden, der, offensichtlich in hohen Gnaden auch bei Karl Burgund, vier Tage vorher den Kanzler ins Quartier Balues begleitet und von Oliver mancherlei Merkwürdiges gehört hatte. Jetzt standen sie stumm nebeneinander und schienen sich nicht zu kennen.

Über dem Saal, dessen morsche Decke und Mauer eilige Hände mit Seidenstoffen bekleidet hatten, lagerten die herbeigerufenen Geister der bösen Absicht wie gehässige Phantome. Die höfische Geste war eine so dünne Draperie über dem Vernichtungswillen wie die Wandbehänge. Aus dem gedrückten und mürrischen Geflüster der Tafelrunde erhob sich hin und wieder nur die unbefangene Klarheit der königlichen Stimme. Dann stand Herr Burgund zum Trinkspruch auf. Er war ein schlechter Redner, auch ohne der Seele schlimmen Inhalt, der den Ehrlichen belastete und seine Sprache noch rissiger machte; er stieß rauhe knappe Sätze hervor, als präsentiere er den einleitenden Willkommensgruß auf der Schwertspitze. Dann wurde seine Stimme vor Erregung heiser und das Gefüge der Worte vom Vulkan der Brust mächtiger und geschlossener herausgeschleudert.

»Auch wir wollen Frieden, Sire. Frieden ist für uns nicht trennbar von Gerechtigkeit und Ehrlichkeit und Achtung vor beschlossenen Dingen. Wir wollen das Gegenteil von Vieldeutigkeit, Sire, von Praktiken, gelten sie auch in unserer Zeit als der Staatsweisheit Inbegriff. – Wir wollen noch mehr, Sire: wir wollen einen rückwirkenden Frieden, der so viel Übel der Vergangenheit gutmacht, wie nötig sind, damit die Zukunft ehrlich und gerecht werde. Wir scheuen uns nicht, Zeugen von Unrecht erscheinen und sprechen zu lassen, geschützt von unserer Macht. Wir werden wagen, das schuldige Gewissen aus seinen Hüllen zu ziehen und nackt zu zeigen, kraft unserer Gewalt. Wir, verantwortlich für unseres Reiches Wohlfahrt, werden wagen, den uns von Gott gegebenen Vorteil bis zu unserem Ziel auszunutzen und das Gebot der Gastfreundschaft und des schuldigen Respekts durch die dominierende Liebe für unsere Völker zu ersetzen, sollte uns ein hartnäckig gegensätzlicher Wille nicht zu unserem Ziel in Güte kommen lassen. – Wir wollen viel, Sire; wir wollen den Sinn des ehrlichen und gerechten Friedens selber auslegen und seinen Inhalt eindeutig nach unserem Ermessen festsetzen, weil wir Kraft und Recht dazu besitzen ...«

Der Herzog brach plötzlich ab, als hätte er zuviel gesprochen, und trank dem König mit einer seltsam unbeholfenen Bewegung zu, mit brennendem Gesicht, wie wenn er sich schämte, jetzt wieder Formeln des Gastgebers zu sprechen. Im Saal herrschte tödliche Stille. Ludwig hob mechanisch mit einem vereisten Lächeln den Pokal, trank einen Schluck, setzte ihn vom Mund ab und sah über ihn hinweg den Kardinal mit einem furchtbaren Blick an.

»Wir wollen den Spiritus rector nicht vergessen«, sagte er, schon mit sicherer, freundlicher Stimme; »auf Ihr Wohl, Eminenz!«

Balue dankte, das breite Gesicht erschreckend weiß zwischen dem Rot der Kappe und der Soutane. Die unbeherrschten Worte des Herzogs hatten ihn weniger entsetzt als Ludwigs unerschüttert gesprochener Hohn. Es wäre ihm schließlich gleichgültig gewesen, wenn der jähzornige Burgunder die Maske um ein paar Stunden früher abwarf, als nützlich schien. Was hätten ihm zwei Tage ohnmächtiger Wut getan, wenn der König seinem Schicksal nicht mehr entgehen konnte? – Aber in ihm arbeiteten Olivers Worte und Warnungen vom späten Nachmittag. – Was weiß Valois und was plant er? Und wie kann er diesen Gleichmut aufbringen, wüßte er nichts und plante er nichts? – Wenn es ihm gelingt, die Gründe zu erkennen und die Zusammenhänge, den Schlag abzuwehren oder aufzufangen und frei abziehen zu können! – Balue schauderte vor dieser Vorstellung und dem Schicksal, das sie ihm schlecht verbarg. Er sah zu Oliver hin, zugleich mißtrauisch und hilfesuchend, und senkte den Blick schon wieder, verwirrt und verängstigt durch das Gesicht, das ihn schon lange zu betrachten schien: der Teufel war der einzige im Saal, der lächelte. –

Jetzt sprach der König, klar, ruhig, sonor, mit lässig vorgestreckten Armen sitzend und zumeist vor sich hin blickend. Er dankte mit vollendeter Höflichkeit für den Empfang und des Herzogs freundliche Worte. Er schien die Bewegung des Erstaunens nicht zu bemerken, das bei diesen Worten die Köpfe der Zuhörer hob. Er formte nicht den glatten Fluß seiner Rede zu irgendeiner greifbaren Ironie, geschweige denn zu Tadel oder Verteidigung oder Angriff: er hatte die unfaßbare Kühnheit, auf eine Ansprache zu antworten, die gar nicht gehalten wurde, und die schicksalsschweren Drohungen des Herzogs mit keinem Schwanken der Stimme als gehört und begriffen zu quittieren oder auch nur als vernehmbar zu behandeln. Burgund biß sich auf die Lippen, die Granden erstarrten auf ihren Plätzen: Ludwig Valois wagte vor ihren Augen und Ohren, die Rede des Herzogs, den ausgesprochenen, erlebten und gehörten Inhalt von zehn lastenden Minuten, in das Gegenteil zu verzaubern. Ludwig Valois beantwortete als huldreicher Souverän einen devoten Gruß seines Vasallen; er sprach von seiner Genugtuung über die gute Arbeit seines Ministers, der die gewiß segensreiche Zusammenkunft herbeigeführt habe: es sei gut, wenn sich der König der freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen mit seinen Fürsten erinnern darf; ein gemeinsamer Tag sei dem Wohl der Nationen dienlicher als ein mit hin und her gehenden Noten vergeudetes Jahr, und die persönliche Gewogenheit besser als das beste Heer. – Ludwig gestikulierte verbindlich und sah den Herzog an.

»Wenn wir morgen früh unsere Aussprache beginnen, Herr Vetter, so werden Sie schon morgen abend auf eine gute Strecke Weges zurückblicken können, die wir zum gemeinsamen Ziel hin gleichen Schrittes gewandert sind. Sie werden dann auch manche Irrtümer einsehen und manches Vorurteil, das durch Ihre schöne Jugend und ritterliche Art genugsam verständlich und verzeihlich sei, abgetan haben. Ihr König hat freudig vieles vergessen, was Sie, Herr Vetter, nicht langsamer und unfreudiger vergessen sollten; denn Ihr König möchte sogar seine Souveränität vergessen, um Ihr Kamerad zum Ziel des guten Friedens zu sein. – Ich trinke auf gute Kameradschaft unserer human verbundenen Geister, Monseigneur!«

Er hob mit klugem Lächeln den Pokal. Der Herzog saß mit zornbebendem Gesicht und geballten Fäusten und rührte sich nicht. Und wieder schien sich der König das Tatsächliche gemächlich abzuändern: er trank heiteren Gesichtes einem zutunlichen Gastgeber zu und stellte das Gefäß, dankbar und zufrieden nickend, auf die Platte.

Dann lehnte er sich zurück und überschaute gelassen die stumme Versammlung, die ihn entsetzt, erstaunt oder verständnislos ansah oder auch unwillkürlich den Kopf duckte, je nach der Anteilnahme des einzelnen, nach seinen Erinnerungen, Empfindungen und Wünschen. Der Nachbar Savoyen gehörte zu den ratlosen Gesichtern, der Herr du Lau zu den geduckten, der Konnetabel zu den wenigen beherrschten, Balue zu den wenigen verzerrten. Zwei Köpfe aber durchbrachen den dumpfen Kreis mit ihrer Freude: die rote Fleischmasse Jean de Beaunes, dessen Augen lachten und dessen Backen in heimlichem Jubel bebten, und das schmale, greisenblasse Oval Tristans, der befriedigt lächelnd die spöttischen Augen zusammenkniff. Und ein dritter Kopf tauchte rechts vom König auf, seine Schulter fast streifend, und drängte sich in seinen Blick: Ludwig sah das Profil Olivers, der ihm auf einer goldenen Platte das Bruststück eines gebratenen Schwanes vorlegte, und er sah unter den gesenkten Lidern und am unmerklich zuckenden Mundwinkel des Meisters so viel Lob, Bewunderung und Ergebenheit, daß er leise lachte. Wahrhaftig, der König lachte jetzt lauter, und Jean de Beaune fiel dröhnend ein, seine innere Heiterkeit nicht mehr bezwingend.

»Wie lustig ihr seid, meine Herren von Burgund!« rief der König, »und wie froh und gesprächig euch die Anwesenheit von des frohen und gesprächigen Frankreichs Beherrscher macht!«

Die Köpfe starrten gepeinigt vor sich hin auf den festlichen Tisch. Ludwig ließ nicht nach.

»Und euch nicht weniger, ihr Herren aus dem mir teuren Haus Savoyen! Ich danke euch! Ich vergesse dergleichen nicht! – Und daß ihr mich liebt, meine französischen Untertanen, sei nicht mehr als erwähnt.«

Er wandte sich an seinen ehemaligen Großkämmerer, und seine Worte kamen aus einem Mund, der die Lust an der Grausamkeit verriet:

»Mich dünkt, Seigneur du Lau, es ist schon etliche Zeit her, daß Sie Ihren König so gnädig sahen. – Wie lange ist es her, Gevatter Profos?«

Herr Tristan lächelte, dachte mit Muße nach, sich das Kinn streichelnd, und antwortete dann freundlich mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme:

»Fast auf den Tag zwei Jahre, Sire, daß ich mich mit dem Herrn in des Königs Namen zum letztenmal unterhielt und ihn von dem Interesse Eurer Majestät zu überzeugen die amtliche Ehre hatte.«

Und der Profos nickte dem Hofmann mit dem gleichen höflichen Gesicht zu, mit dem er vor zwei Jahren das einleitende Verhör mit der Territion beendigte und seinen Leuten befahl, die spitzen Eisen zu erhitzen, die dann dem Gefangenen unter die Daumennägel gestoßen wurden. Du Lau preßte in der fürchterlichen Erinnerung die Lippen zusammen und unterdrückte ein Stöhnen der Wut.

»Zwei Jahre schon!« schien der König zu staunen; nachdenklich wandte er sich an seinen Nachbarn: »Das kann manchmal eine recht kurze und manchmal eine sehr lange Zeit sein, nicht wahr, mein Herr Bruder von Savoyen?«

Philipps Gesicht flammte rot auf.

»So lange Zeit, Sire«, entgegnete er mit geradem Blick, »daß man den Respekt vor dem menschlichen Leben verliert.«

Der Konnetabel, ihm gegenüber, sagte plötzlich:

»Oder so kurze Zeit, Herr Philipp; das möchte sich seltsamerweise gleichbleiben, um zu Ihrer Erkenntnis zu kommen.«

Ludwig sah von einem zum anderen und meinte gleichmütig:

»Vor dem eigenen oder dem fremden Leben: das ist die Frage.«

»Vor dem eigenen«, sagte Saint-Pol.

»Vor dem fremden«, sagte Savoyen.

»Vor dem eigenen und dem fremden, vor jedem Leben!« rief der Herzog mit Schärfe.

»Das ist die Antwort des Kriegers«, sprach Ludwig wie versonnen; »und was ist die Gesinnung des Gottesmannes?«

Er sah den Kardinal durchdringend an. Balue zwang sich zu einem Lächeln.

»Verlöre ich die Ehrfurcht vor dem Leben, das Gott geschaffen hat«, sagte er leise, »dann wäre ich nicht mehr ein Mann Gottes.«

»Das ist unbestreitbar«, spottete der König, voll seiner bösen Lust, die Menschen zu quälen; »aber Sie sind doch auch zu einem guten Teil Mann des Staates; kommen Sie da in keinen Gewissenskonflikt?«

Balue schüttelte bedrängt den Kopf und erwiderte zögernd:

»Ich bitte Sie, Sire, bei mir fehlen ja die Voraussetzungen zu dieser ganzen Frage! Ich kann mich nicht über die negative Wirkung irgendeiner Zeitspanne beklagen.«

»Wahrhaftig nicht«, lachte Ludwig häßlich, »bisher wenigstens scheinen Sie mir den Pessimismus der drei Herren erfahrungsmäßig nicht teilen zu brauchen. Aber ich wollte nur wissen, wie Sie, der Prälat und der Politiker, als denkender Mensch solcher Mentalität gegenüberstehen. Die geistliche Antwort gaben Sie bereits; ich bitte Sie jetzt um Ihre weltliche Meinung, wenn ich mich so ausdrücken darf.«

Balue hob etwas die Schultern und hatte wieder schlaue Augen, als er antwortete:

»Lassen Sie mich auch jetzt noch aus der unendlichen Quelle der Theologie schöpfen, Majestät. Ich antworte mit dem heiligen Augustin, der in den Bekenntnissen schrieb: ›Die Zeiten sind nicht leer und rollen ohne Wirkung nicht durch unser Leben; seltsame Dinge schaffen sie in der Seele.‹ Und ich antworte mit Paulus, der an die Korinther schrieb: ›Denn welcher Mensch weiß, was drinnen im Menschen ist, als nur des Menschen Geist, der selber drinnen ist.‹ Und die Vulgata sagt zu alledem: Omnis homo mendax; das gelte nicht im Sinne der Moral, sondern der menschlichen Unzulänglichkeit. – Ich meine also, Sire, daß ich eine psychische Wirkung der Zeit auf die Herren von Burgund, Savoyen und Saint-Pol, auf die Menschen überhaupt gern glaube, ohne eine Erklärung oder gar ein Urteil dafür zu wissen und ohne mich mit dem einen oder anderen identifizieren zu können. Ich will jeden seelischen Effekt glauben, aber ich, der Mensch, kann nicht wissen, was drinnen im Menschen ist.« – Er stockte einen Augenblick und sprach dann nachdrücklicher noch: »Der unzulängliche Mensch kann also das Drinnen im anderen Menschen auch niemals berechnen oder vorausahnen, Sire.« –

Der König schien sich mit seiner Antwort nicht beeilen zu wollen und stützte nachdenklich das Kinn auf die Hand. – Balue hatte sich unter einem weltanschaulichen und psychologischen Deckmantel unleugbar geschickt verteidigt. Auch Oliver bewunderte die kluge Methode des Prälaten, der in einem frühen und kühnen Augenblick bereits die drohende Beschuldigung parierte und merkwürdigerweise in seiner Unehrlichkeit die gleiche irdische Ursache anrief, die tragisch und ehrlich eben, noch zwischen dem König und Oliver und in beiden gewirkt hatte: das Nichtwissen voneinander. Auch der Kardinal variierte das Thema vom menschlichen Irren; aber er tat es in bewußt apologetischer Absicht und für zwei Fälle: für den berechneten Fall der Katastrophe (dann blieb es innerhalb des Planes und mündete zwanglos in die Lütticher Überraschung) und für den unberechenbaren Fall, daß Ludwig davonkäme (dann stand er, Balue, wohl als erfolgloser Politiker, aber immer noch nicht als Verräter vor dem Zürnenden). Und für die dritte Möglichkeit, mit der diese dämonische Stunde ihn und die anderen Verschworenen bedrohte – daß der König mehr wisse, daß er alles wisse und alles überwinden werde, erbarmungslos und lüstern nach Grausamkeit, wie seine Reden eben –, war es kein schlechtes Mittel, ihm die heimlichen Gedanken zu entlocken und Klarheit zu gewinnen. – Oliver wartete gespannt auf das Wort des Königs; er fürchtete, es möchte den Kardinal merken lassen, daß sein Verdacht noch unbewiesen und die gezeigte Haltung nur eine dreiste Spekulation sei. Jetzt beugte er sich mit raschem Entschluß vor, den König flüchtig am Arm streifend, nahm eine Platte vom Tisch und flüsterte im Zurückweichen, am linken Ohr des Herrschers vorbei: »Der Pharisäer ...«

Und er nahm einen silbernen Korb mit Backwerk und flüsterte, wieder sich rechts an ihm vorbeineigend: »Mendax ...«

Ludwig lächelte jetzt ein wenig, als brächte ihn das Ergebnis seines Nachdenkens zu seiner absonderlichen Art der Unterhaltung zurück, die ihn aus unsichtlichen Gründen erheiterte und die anderen ironisierte. Er sagte mit einer leise vibrierenden Stimme, die die kränkende Absicht fast zu deutlich zeigte:

»Trefflich formuliert, Eminenz. Sie sind im Kreise unfraglich der beste Dialektiker. Das hängt nicht zuletzt wohl mit Ihrer theologischen Schulung zusammen. – Sehr gut! Sehr gut! – Wenn mir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt: wie sollten Sie, Eminenz, wissen können, wie hätten Sie es ahnen können, daß der Besitzer des Hauses, vor dem es geschieht, den Zufall in mörderischer Absicht vergewaltigt und den Stein zu eben diesem Zweck gelockert und angestoßen hat. Das ist nur ein kleines Beispiel für die menschliche Ahnungslosigkeit – verstehen Sie mich, Monsignore? –, für Ihre Unschuld, gingen Sie neben mir. Und führten Sie mich auch unter dieses Haus, und möchten Sie auch den Besitzer und seine Feindschaft gegen mich kennen; wie sollten Sie, Eminenz, in ihn hineinsehen und seinen schwarzen Plan erkennen können? – Hat nicht meine simple Metapher, ohne Bibel und Kirchenväter zu zitieren, Ihre Formel recht veranschaulicht?«

Balue nickte unsicher sein Ja.

»Gut«, meinte der König eifrig; »und nun wird es Sie und die anderen Herren vielleicht interessieren, wie ich zu dem Problem stehe.« – Er hob die Stimme und sah von einem zum andern. – »Ich, Seigneurs, bekenne mich zur Philosophie des Mißtrauens. Lassen Sie mich bei meinem Vergleich bleiben. Ich würde nicht nur von Anfang an den Besitzer des Hauses jeder Tat für fähig halten, sondern auch immer mit der Möglichkeit rechnen, daß mein Begleiter – in der Voraussetzung, er kenne jenen – in die böse Absicht eingeweiht ist. Ich würde also entweder immer auf der anderen Seite gehen oder mich mit bestimmtem Plan und möglichster Sicherung in die Gefahrzone begeben, derart etwa, daß der Stein fehlgeht oder den Begleiter trifft, je nach der Gewißheit, die ich mir über seine Mitschuld verschafft habe. Ich meine damit nur dies, Eminenz: vielleicht kann ich das Drinnen im Menschen so wenig sehen, wie Sie es sehen, vielleicht etwas mehr; auf jeden Fall rechne ich als politischer Mensch mit dem Bösen im Menschen. Und da ich nur ein Leben zu verlieren habe, Seigneurs, und da ich die Wichtigkeit meines Lebens sehr hoch einzuschätzen pflege, pflichte ich nicht dem heroischen Konnetabel und dem Feldherrn Burgund bei, sondern meinem viellieben Schwager von Savoyen und sage wohl damit nichts Neues. Ich respektiere das fremde Leben nicht, Seigneurs, und weiß doch diese Gesinnung von einer zeitlichen Einwirkung ganz unbeeinflußt. – Ich respektiere nur mein eigenes Leben, Herr Vetter von Burgund, und möchte es nicht in einer Weise aufs Spiel setzen wie Sie!«

Der letzte Satz war mit schneidender Schärfe gesprochen und hallte gefährlich durch den hohen Raum. Das Gesicht Balues zuckte, als hätten es Schläge getroffen. Der Herzog senkte den Kopf, unfähig, Ludwigs Blick zu ertragen. Wieder erstarrte der Saal in Entsetzen und Ratlosigkeit.

Und der König ließ nicht nach. Er riß die angeketteten Seelen hin und her, er folterte sie mit seiner Rätselhaftigkeit, mit seinem Lachen und bösen Scherzen, mit ihrem eigenen Schicksal der Vergangenheit, der Gegenwart und einer Zukunft, die er launisch und lässig gewiß zu überschauen und zu formen schien. Plötzlich wieder verjagte er mit einer magischen Bewegung die Gespenster der Furcht und des schlechten Gewissens, schien keine anderen Worte gehört und gesprochen zu haben als höfische Rede und Gegenrede, Sprache der festlichen Gelegenheit und des feierlichen Ortes, Sätze ergebener Vasallen und königlicher Huld. Er erreichte schließlich eine harmlose und gemessene Lustigkeit und eine solche Verwirrung der Gemüter, daß der Herzog, ihm respektvoll zutrinkend, sich ernstlich fragte, ob nicht in der Tat eine friedsame Lösung der politischen Probleme der zweifelhaften Gewalt vorzuziehen sei, und daß die Granden am Munde des heiteren Herrschers mit bewundernder und selbstvergessener Aufmerksamkeit hingen. Balue – allein verschlossen und von Ludwigs Zauber nicht geschlagen – berührte in unbestimmter Bedrängnis das goldene Kreuz auf seiner Brust: ihm war, als regierte der Necker, wie ein böser Geist hinter dem König, mephistophelisch über die schwanken Hirne.

Doch als der König gegen Mitternacht vom Bankett auf sein Zimmer zurückgekehrt war, warf er die Maske ab. Mit zerfallenem und gramvollem Gesicht hockte er in einem Lehnstuhl und starrte auf die verglimmende Glut im Kamin. Sein Kopf war dumpf und schwer; nach der maßlosen geistigen Anstrengung dieses Abends trat lähmende Entspannung ein und ließ nur ein Gefühl der Schwäche zurück, der Wertlosigkeit, eine empfindsame Belastung der Nerven durch die dicken Mauern ringsum. Müde stand er jetzt auf, trat ans Fenster, öffnete es und suchte in der Nacht nach den Umrissen des Turmes.

»Dort starb schon einmal ein König von Frankreich«, sagte er leise zu Oliver und dachte an den dritten Karolinger, Karl, der von einem pikardischen Baron im Péronner Turm gefangengehalten und zu Tode gequält worden war.

Der Meister hatte die Reaktion erwartet und blieb still um ihn beschäftigt, gewärtig des Augenblicks, wo der Geist des Herrschers wieder die Ereignisse aufgriff und mit ihnen zu arbeiten begann. Ludwig ließ sich schweigend von ihm entkleiden.

Es klopfte an die Tür. Der König fuhr heftig erschrocken in die Höhe und sah sich wild im Zimmer um, als suche er ein Versteck oder eine heimliche Pforte zur Flucht. Oliver wartete einen Augenblick regungslos, mit finsterem Gesicht.

»Wer ist da?« fragte er schließlich.

»Darf ich es wagen«, sprach Balues dringliche Stimme, »Eure Majestät noch zu dieser Stunde um Gehör zu bitten?«

Ludwig sah den Meister an, der mit den Achseln zuckte.

»Hat es nicht bis morgen Zeit, Balue!« rief der König unwirsch.

»Dann würde ich mir nicht erlauben, Sire, Ihre Nachtruhe zu stören«, flüsterte der Kardinal und hustete erregt.

Ludwig legte sich in die Kissen zurück und zog die Decke hoch, als wollte er sich verkriechen. Oliver beugte sich über ihn.

»Sprechen Sie ihn, Herr«, sprach er leise. »Die Eminenz scheint mit Ihrem Damokles-Ziegelstein über dem Haupt nicht schlafen zu können. Mich dünkt, ihm ist im Augenblick nicht pharisäisch zumut. Die gefolterte Seele ist der Wahrheit zwangvoll zugeneigt, wie der Körper auf der Marterbank. Sie werden vielleicht allerlei erfahren, wenn Sie bei der Methode von heute abend verharren.«

Der König nickte. Oliver schritt zur Tür und öffnete. Balue, noch völlig angekleidet, im Blick seine alte Energie, trat ein und ging ohne Zögern nahe an das Lager heran. Ludwig veränderte mit großer innerer Anstrengung sein Gesicht, wohl wissend, daß der scharf beobachtende Prälat seine Depression nicht erkennen und nutzen dürfe. Sein Kopf lag jetzt mit kaltem ruhigem Ausdruck auf dem Leinen, ohne sich dem Ankömmling zuzudrehen. Nur die Augen blickten ihn aus halbgeschlossenen Lidern seitlich an. Oliver stand am Fußende des Bettes.

»Sire«, begann Balue sofort, »heute abend hat mir zweierlei Sorge gemacht: die Haltung des Herzogs und Eurer Majestät Art, ihr und auch mir zu begegnen, gleichsam, als ob zwischen mir und der offensichtlichen Drohung des Herrn Burgund eine Verbindung bestünde. Sie behandelten mich, Majestät, als gehörte ich zur Gegenpartei.«

Ludwig schwieg und rührte sich nicht. Der Kardinal wartete einige Sekunden und sagte dann lauter:

»Sire, Sie behandelten mich wie einen Verräter!«

Der König hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Balue sah ratlos den Necker an, der ernst und abgekehrt gegen den Alkoven lehnte. Der Kardinal wandte sich an ihn, auf ihn zugehend und seinen Arm berührend.

»Meister Oliver«, sagte er unruhig, »sprechen Sie: hat Sie, der Sie zusammen mit mir die Zusammenkunft vorbereiteten, die aggressive Gesinnung des Herzogs nicht ebenfalls erstaunt und entsetzt?«

»Nein!« antwortete der Necker schroff.

Balue fuhr zurück; doch er faßte sich und fragte kühn:

»Und warum nicht, Necker?«

Oliver sah ihn an; und er sah auch, daß der König die Augen geöffnet hatte und die Szene verfolgte. Balue wich dem Blick aus, den Mund ein wenig offen.

»Was geht hier vor?« stammelte er dann gepreßt.

Er drehte sich wieder dem König zu und bemerkte seine wache Aufmerksamkeit.

»Sire!« rief er verzweifelt, »wessen klagen Sie mich an?«

»Einen Angeklagten zitiere ich vor Gericht«, sagte der König leise und gleichmütig. »Ich habe Sie nicht vor mich berufen, Eminenz. Sie kamen freiwillig. Was Dringliches haben Sie mir zu sagen?«

Der Kardinal antwortete rasch und sich zur Ruhe zwingend.

»Der Konnetabel hat Gelegenheit gehabt, mit dem Herrn von Savoyen ein paar heimliche Worte zu sprechen. Danach ist es offenbar, daß die Drohung des Herzogs heute nicht ein Ausbruch seines Temperamentes, sondern gleichsam programmatisch ist und die Absicht, die durch die Auswahl der Ehrenkavaliere sich schon beim Empfang zeigte, konsequent weiterführt.«

»Und Sie wußten es nicht?« fragte Ludwig.

»Wahrhaftig nicht!« rief Balue überlaut und warf einen Blick auf den Meister.

Der König wandte ihm den Kopf zu und wiederholte:

»Und Sie wußten es nicht, Eminenz?«

»Wahrhaftig nicht!«

»Gut«, sagte Ludwig und lächelte ein wenig; »lassen wir das; denn niemand ist gehalten, sich selber zu beschuldigen. – Und vielleicht wußte ich es. Ist das alles, was Sie mir mitzuteilen haben?«

»Ich habe das Vertrauen Eurer Majestät verloren«, sagte Balue leise und abgewandt; »aber ich werde bis zu meiner letzten Stunde Ihnen in Treue dienen, Sire.«

»Bis zu Ihrer letzten Stunde«, wiederholte Ludwig grausam; »das sei ein Wort! – Doch zuvor rechtfertigen Sie wenigstens Ihren späten Besuch, Balue.«

»Ich wage trotz allem, Sie noch zu beraten, Sire«, sagte der Kardinal würdig. »Es schien mir wichtig, daß Sie noch vor dem kommenden Morgen über die Gesinnung des Herzogs Gewißheit hätten, damit Sie den rechten Ton für die Verhandlungen wählen können. Ich rate, jedes Wort, das Burgund reizen könnte, zu vermeiden und jede Forderung zu bejahen, auch solche, die Sie nicht erfüllen werden. Und dann rate ich, den Großmeister zu informieren, Truppen in Eilmärschen an die pikardische Grenze zu führen.«

Oliver hob verblüfft den Kopf; die Strategie dieses Menschen war wahrlich bewundernswert; die Stirn zu haben, gegen den eigenen abrollenden Plan scheinbar wirksame und doch tatsächlich nutzlose Maßregeln vorzuschlagen, setzte eine Verschlagenheit voraus, die vor keiner Komplizierung der Lage zurückschreckte. Der Necker erkannte wohl die doppelte Absicht, die Balue mit seinen Ratschlägen verfolgte: ein neuer Versuch, das Vertrauen zurückzugewinnen oder hinter das Wissen und die Pläne des Königs zu kommen. Und würde der Fürst jetzt auch nur die leiseste Beeinflussung zeigen, dann – fürchtete Oliver – möchte der Priester weitergehen, den Vorhang am falschen Ende höher noch heben und den König bis zum Geständnis seiner Ungewißheit und Unsicherheit bringen. Und das Spiel war verloren. – Oliver war schon bereit, trotz der Gefahr für sich selbst den Kardinal schrittweise zur Wahrheit zu drängen und ihm durch das Zwangsmittel seiner eigenen eingeweihten Person die Beichte der konspirativen Tat zu entwinden; doch Ludwigs abweisendes Gesicht erlaubte ihm zu schweigen.

»Wie ich den Herzog zu behandeln habe, weiß ich, Monsignore«, sagte der König unfreundlich, »und ich wußte es zum mindesten schon heute abend. Aber Sie müßten wissen, daß kein französischer Kurier unkontrolliert die Stadt verlassen oder die burgundische Vorpostenkette würde passieren können – es sei denn, Balue, Sie wollten nur erfahren, ob ich einen Befehl an Dammartin, mir mit Truppen zu folgen, vielleicht schon vor meiner Ankunft gegeben habe.«

Über Olivers Gesicht glitt ein Lächeln. Balue richtete sich auf.

»Noch einmal, Sire, halten Sie mich für einen Verräter?«

Der König überhörte die Frage; er strich sich mit müder Bewegung über die Stirn.

»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte er.

»Nein, Sire«, sagte Balue mit hartem Gesicht und verbeugte sich. Ludwig sah flüchtig auf.

»Haben Sie mir nichts mehr zu sagen, Eminenz?«

»Nein, Sire.«

Der König drehte den Kopf auf die andere Seite.

»Oliver«, sagte er matt, »du bist Zeuge dieses Gesprächs. Merke dir das Nein Seiner Eminenz.«

»Sire, was bedeutet das!« begehrte Balue auf. Ludwig winkte gelangweilt mit der Hand.

»Gehen Sie, Balue. Ich hätte auch verlangen können, daß Sie Ihr Nein bei dem Kruzifix auf Ihrer Brust beschwören. Aber bereiten Sie sich darauf vor, daß Sie es noch einmal werden tun müssen. – Jetzt will ich schlafen.«

»Sire«, flehte der Kardinal mit bebenden Lippen, »halten Sie mich für einen Verräter?«

Der König schien nichts mehr zu hören. Oliver, mit undurchdringlichem Gesicht, führte den Prälaten hinaus.

Als er die Tür hinter ihm geschlossen hatte, richtete sich Ludwig lebhaft auf.

»Oliver«, rief er erregt, »glaubst du, daß er mich verraten hat?«

Der Necker ging hin und her, als überlegte er das Für und Wider. Dann blieb er vor dem Bett stehen, preßte die Fäuste gegen die Schläfen und sagte fest:

»Ich glaube es.«

Die Verhandlungen begannen in den Vormittagsstunden des Montags. Der König, wieder in vortrefflicher geistiger Verfassung, gewann schon zu Beginn durch seinen unbeirrten Gleichmut und durch die gemäße Methode einer zugleich wohlwollenden, sachlichen und doch gegen mögliche Überraschungen und Quertreibereien durch Willen und Wissen geschützten Zielhaftigkeit seine beherrschende Stellung vom Vorabend. Die Absicht des Gegenspielers, geradewegs so viel Unbedenklichkeit und Zwang bis zur Erpressung sehen zu lassen, daß der Valois sofort in die Defensive gedrängt sei und bald das politische Rechnen in der Angst um die eigene Person aufgebe, war von Anfang an gescheitert. Ludwig ergriff selbstsicher und scheinbar unbekümmert die Führung der Geschäfte und zeigte mit solcher Natürlichkeit, ohne Betonung und Gestikulation, seinen königlichen Stand, daß es dem Gegner schwerfallen mußte, die Verletzung der Majestät zu wagen und den Gang der Verhandlungen gewaltsam zu gestalten. Wie Ludwig auch jetzt mit keinem Wort auf die Drohungen des Empfanges zu sprechen kam, so schien der Herzog doch darum nicht willens, sie zu wiederholen. Er wollte wohl abwarten und den Verschwörungsmechanismus, dessen exakte Arbeit noch nicht feststand, erst spielen lassen, nachdem der König seine Trümpfe gezeigt hatte. Er war durch die halben Andeutungen Olivers und des Auftreten des Königs so unsicher geworden wie die andern Konspiratoren. Aber gewichtiger war noch, daß sich sein altes Mißtrauen gegen den Kardinal und sein Mißfallen an der Anwesenheit des Konnetabels verstärkt hatte. Das absonderliche Verhalten Ludwigs und Balues während des Banketts war von ihm sehr wohl bemerkt und die mitschwingenden Untertöne ihres Dialogs gehört worden. Doch eingedenk der Bemerkungen Olivers hielt er das Hin und Her der beiden für eine gutgespielte Szene, fast schon für den Beweis ihrer Zusammenarbeit, Verwirrung zu erzielen und aus alledem auf eine noch nicht erkannte Art ihren Nutzen zu ziehen und ein planmäßiges Ziel zu erreichen – fast schon für die Bestätigung seines alten Verdachtes, daß Balue ihm gegenüber der Provokateur des Königs geblieben sei und daß seine Mitarbeit an der Bildung der neuen Liga und an dieser Zusammenkunft nichts weniger bedeute als einen neuen Triumph der Valois-Politik. Aus dem gleichen Grunde mißtraute er dem Grafen Saint-Pol, dem er das offizielle Abschwenken ins französische Lager und die Annahme des Konnetabelamtes niemals vergeben hatte, dessen bedingte Zustimmung zur neuen Fronde er immer schon für eine opportune Rederei des Kardinals hielt (weil er weder den tatsächlichen Zusammenhang der beiden kannte noch einen persönlichen Wiederannäherungsversuch des Grafen hatte verzeichnen können) und dessen Anwesenheit in Péronne er als eine Ironisierung durch den König gekränkt empfand – um so mehr, als ihm die in ihrer Phrasenhaftigkeit sehr durchsichtige Begründung des Neckers von Herrn van Busleyden mitgeteilt worden war.

Des Königs Vorschlag, mit der bretonischen Frage zu beginnen, und sein unverkennbarer Eifer, den Wert dieses Bundesgenossen zu korrumpieren, kam der Einstellung des Herzogs von ungefähr entgegen. Ludwig befolgte hierbei den Rat Olivers, auf keinen Fall das Problem der flandrischen Städte und Lüttichs zu berühren oder sich auf den Beweis seiner unentwegten Neutralität und Loyalität einzulassen, ehe der Vertrauensmann aus Lüttich zurückgekehrt sei. Er ging geschickt vor, schien nicht einmal ein anderes Thema von gleicher Wichtigkeit zu kennen und erreichte auf diese Weise, daß die übrigen Streitfragen an diesem Tage nicht einmal erwähnt wurden. Dann setzte er des langen und breiten die Motive des bretonischen Feldzuges auseinander und formte in seiner suggestiven Art eine Charakteristik des Bretonenherzogs, als spräche er nicht zu einem Alliierten seines Gegners, sondern zu einem Genossen seiner Gesinnung. Der Herzog wiederum hütete sich vor jedem Wort der Zustimmung oder der Ungläubigkeit. Da er seine guten Gründe hatte, anzunehmen, daß jener seltsame Sieur Le Mauvais alles andere als ein schwatzhafter Tölpel sei – um vieles wahrscheinlicher das feinste Werkzeug des Königs –, mißtraute er auch seiner ihm gemeldeten Behauptung von dem Sonderfrieden mit dem Bretonen, den Ludwig in seiner Tasche trüge. Und da der König wie ein geschickter Schriftsteller die Spannung steigerte, ohne sich mit der Lösung des Knotens zu beeilen, vermutete Burgund, daß die Bemerkung des Kämmerers in planmäßiger Weise den Wortmanövern seines Herrn vorausgeschickt sei und gleich wenig einer Tatsache entspreche.

Im Laufe des Nachmittags griff der Herzog unvermutet an; er kenne wohl Gerüchte – sie tauchten vor wenigen Tagen auf –, die von dem Abschluß eines Sonderfriedens zwischen Frankreich und der Bretagne erzählten, aber er dürfe sie jetzt ruhig in das Reich der Fabel verweisen, da die Majestät gewiß nicht verabsäumt hätte, ein solches Faktum in den Anfang der Diskussion zu stellen. Einen Augenblick war der König verwirrt; er fühlte sich um die letzte Wirkung gebracht, die wohlberechnet die vorbereitenden Hypothesen mit der Sensation der Tatsache zum Überraschungssieg verholfen hätte. Doch er faßte sich schnell.

»Es ist meine Art, Herr Vetter, in der freundschaftlichen Unterhaltung die Fakten an den Schluß zu stellen, um besser und ohne ihre Zwanghaftigkeit überzeugen zu können. Ich wollte Sie von der Minderwertigkeit Ihres Bundesgenossen überzeugen, nicht von der Niederlage meines Feindes. Ich gebe zu, daß das Gerücht wahr ist; aber es bewiese nur die Niederlage. Es sagt also nicht einmal die volle Wahrheit.«

Jetzt verbarg der Herzog nicht mehr seine Unruhe. Ludwig zog gelassen zwei Pergamente hervor.

»Hier ist der Friedenspakt, Herr Vetter, der nach meiner Rückkehr ratifiziert werden soll. – Hier aber ist der Beweis der Minderwertigkeit: ein Schreiben des Herzogs, in welchem er dem Bündnis mit Burgund feierlich entsagt.«

Burgund wurde rot vor Zorn, als er die Schriftstücke durchflog; aber er sprach kein Wort. Daß ein scheinbar politisches Manöver Tatsache war und in der Realität noch bedeutsamer und umfangreicher als in der nicht geglaubten Nachricht, erschütterte ihn mehr noch als das wichtige Ereignis selber. Daß Valois mit der Wahrheit operierte und ihm in diesem ohnedies verworrenen Augenblick selbst den Griff des Mißtrauens entwand, verstörte den Herzog bis zur geistigen Dumpfheit. Was sollte er glauben und was sollte er nicht glauben? Was mußte er tun und was mußte er unterlassen, um nicht in die Grube zu fallen, die er jenem gegraben hatte? Und wie durfte er jetzt noch annehmen, daß des Königs unbegreiflich sichere Haltung ohne Sinn und ohne Fundament sei? – Wahrhaftig, es blieben ihm nur zwei Antworten: der Versuch brutaler Gewalt oder Demütigung. – Er sprach nichts, um sich nicht zu verraten. Er wagte noch keine Antwort, weil sein Hirn kochte. Er unterdrückte den Ausbruch der Wut, als er den triumphierenden Geist in Ludwigs Augen leuchten sah. Er brachte schließlich, stotternd wie ein geprügelter Schuljunge, irgendeinen Vorwand hervor, irgendwelche dringlichen Geschäfte, um diesen Tag der Verhandlung beschließen zu können.

 

Oliver erwartete mit einer Unruhe, die von Stunde zu Stunde wuchs, das Eintreffen des Fraters Fradin. Er wußte nach seiner eigenen Berechnung und aus der zunehmenden Nervosität Balues und des Konnetabels, daß das schicksalsschwere Echo von Lüttich in der allernächsten Zeit heranrollen müsse. Sich als erster der Nachricht bedienen zu können war die notwendige Bedingung, um den König zu retten und den dunklen Wall der Geheimnisse einzureißen, ohne selber verschüttet zu werden. Die tausend Gefahren, die die Mission des Mönches bedrohen mochten, die tausend Zufälle, die den Widerhall der Ereignisse schneller sein ließen als Menschenbeine, welche dem Schicksal um wenige Stunden voranstürmten, quälten das Hirn des Neckers mit schreckhaften Bildern. – Ohne die Unterstützung angeblicher Augenzeugen, mußte der kühne Schritt, den er plante und klug vorbereitet hatte, vergeblich werden; und schon am Dienstag konnte der Sturmwind von Lüttich hereinbrechen und jeden Widerstand zerschlagen. Das Verhängnis schob sich unbarmherzig und unaufhaltsam heran wie ein Eisberg, die Fahrrinne war nicht mehr lange offen. Und während der König durch den günstigen Verlauf des Tages eine echte Zuversichtlichkeit gewann, sank dem Necker der Mut. –

Doch gegen sieben Uhr abends trat Daniel Bart, der während des ganzen Tages die Ankömmlinge auf der Straße von Cambrai vor seinen Augen passieren ließ, an ihn heran und flüsterte ihm ein paar Worte zu. Olivers Gesicht war einen Augenblick wie von Sonne übergossen. Er schlüpfte in einen langen fehbesetzten Mantel, wie ihn die florentinischen Doktoren trugen, und eilte in die Johanneskirche. In einer Nische, nahe dem Hauptaltar, kniete der Bruder Fradin. Der Meister ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder, so nahe, daß sich ihre Schultern fast berührten.

»Ist auf Heuriblocq Verlaß?« fragte er flüsternd.

Der Mönch nickte; Herr Pieter sei im Gasthof und werde sich nicht rühren, da ihm die Erscheinung des Daniel Bart sichtliches Unbehagen bereite und da er andererseits viel Vertrauen zu ihm, Fradin, gewonnen habe. Denn Lüttich sei voller Erregung und Gerüchte gewesen, der Bischof und der Statthalter hätten versucht, nach Tongern zu gelangen; ob es ihnen gelungen sei, wisse er nicht; dem verängstigten Einnehmer dagegen sei die Nachricht, daß er auf der Proskriptionsliste stünde, innerhalb der bedrohlichen Atmosphäre so glaubhaft erschienen, daß er fast dankbar die rettende Hand des Mönches ergriffen habe und ihm ohne Zögern in der Kutte eines Franziskaners gefolgt sei.

Und Fradin richtete sich ein wenig auf, vornehmlich murmelnd:

»Libenter gloriabor infirmitatibus meis ...«

Oliver nickte zufrieden. Die zwei schienen noch eine Weile still zu beten. Jetzt flüsterte der Necker:

»Daniel wird dir morgen vormittag sagen, wann du zum Kanzler gehen sollst, wann Pieter, und was ihr zu berichten habt.«

Der Mönch nickte und betete weiter.

»Ich weiß, dankbar zu sein, Bruder Toon«, sagte der Necker jetzt leise, mit unvermuteter Herzlichkeit, »so wie du es weißt. Das nächste Franziskaner-Priorat gehört dir.«

Fradin bekreuzigte sich:

»In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«

Beide sagten Amen. Oliver erhob sich und ging raschen Schrittes, die Entscheidungen der nächsten Stunden bedenkend und den schnellen Schlag des Herzens fühlend, ins Schloß zurück.

Der König diktierte einem Sekretär in gutem Italienisch an den Mailänder Herzog den Brief, dessen Inhalt er vor einer Stunde mit Oliver besprochen hatte. Da der Necker durch Balue wußte, daß der Inhalt der französischen Kuriertasche den burgundischen Kanzler als Zensor hatte, redigierte er die spärlichen Botschaften des Königs bewußt für die Augen der Kontrolle. So konnte Crèvecœur in diesem Schreiben an den Duca Sforza lesen, daß Mailand jede Feindseligkeit gegen Savoyen unterlassen möge, weil der König bei Karl Burgund in Freundschaft weile und mit ihm zusammen ehrlich am Frieden arbeite. Die Chiffern aber, die, unauffällig zwischen die Zeilen verstreut, die Gegenorder gaben und zu entscheidenden Operationen aufforderten, konnte der Kanzler schwerlich entdecken, geschweige denn entziffern. –

Ludwig nickte dem eintretenden Necker freundlich zu, in guter Stimmung wie stets, wenn seine Praktiken arbeiten konnten; doch sofort sah er, ernst werdend, im Gesicht Olivers die Anspannung, die eine entscheidende Kunde aussprechen muß. Er unterbrach das Diktat.

»Auf nachher, Meister Albertus, laß uns jetzt allein.«

Der Sekretär verließ das Zimmer. Der König fragte unruhig:

»Was hast du, Oliver? Was ist geschehen?«

Der Necker trat dicht an ihn heran, mit sonderbar flackerndem Blick.

»Sire«, sagte er leise, »Sie müssen jetzt stark sein. Sie müssen Ihren Verdacht als Tatsache nehmen!«

Ludwig fiel mit blassen Lippen in den Sessel zurück; seine Hände zitterten.

»Sie müssen stark bleiben, Sire!« wiederholte Oliver dringlich. »Nur Ihre Haltung kann Sie retten!« – Er bückte sich an sein Ohr. – »Mein Bote ist zurück. Lüttich steht zur Stunde in Aufruhr. Der von Wildt hat zu früh losgeschlagen ...«

Er stockte. Der König hämmerte wie in einem Krampf der Wut mit den Fäusten rechts und links auf das Schnitzwerk des Armstuhls. Dann beruhigte er sich und grübelte, die Augen klein und matt im geschwollenen Gesicht.

»Das ist höllischer Zufall!« stieß er endlich hervor, »aber noch kein Beweis für Verrat!«

Oliver sah ihn an und sprach leise und klar:

»Der von Wildt hat zu früh losgeschlagen – auf Befehl des Konnetabels.«

Ludwig packte die Knäufe der Seitenlehnen und hob sich aus dem Sessel, langsam, geduckt, als trüge sein Nacken ungeheure Last, mit berstendem Gesicht, aus dem dicke Stirnadern zu springen drohten, die Augen, in die Luft starrend, von einem solchen Haß aufgerissen und gefärbt, daß Oliver erschauernd zurückwich. Er ging mit schwerem Schritt an ihm vorbei, mit hängenden Armen und gewölbtem Rücken – rund um das Zimmer herum, den Blick wie ein Irrer die Wände entlang schleifend. Jetzt blieb er vor dem Necker stehen und verklammerte sich an seiner Schulter, als fürchte er, die Beine möchten ihn nicht mehr tragen.

»Ja ...«, keuchte er, »ja ... Ich begreife, begreife ... Ich sehe keine Rettung, Freund ...«

»Sire«, sagte Oliver mit warmer Betonung, »der Herzog weiß es noch nicht!«

Der König richtete sich heftig auf, ohne ihn loszulassen; seine Augen hingen zweifelnd und fragend am Munde des anderen.

»Balue?«

»Die Eminenz«, sagte Oliver und lächelte ein wenig, »scheint damit gerechnet zu haben, daß die Nachricht von der Lütticher Revolte morgen oder übermorgen in Péronne eintreffen wird. Und er hat sich nicht verrechnet; denn heute schon wissen es nur wir beide, selbst er nicht, selbst der Konnetabel nicht.«

Ludwig ließ ihn los; sein Gesicht wurde ruhig und bald auch durch neue Energie gespannt.

»Jetzt begreife ich alles«, sagte er mit gerunzelter Stirn, »jetzt weiß ich auch, welchen einzigen Weg zur Rettung mein Oliver vorbereitet hat: wir müssen unseren zeitlichen Vorsprung in irgendeiner Weise ausnutzen.«

»Ja, Sire«, sagte der Necker lebhaft, »wir müssen es sein, die dem Herzog das Ereignis berichten; und wir müssen es noch heute abend tun; und es wird gut sein, wenn ich die Aufgabe übernehme. Morgen früh wird mein Bote, ein mir ergebener flandrischer Mönch, der zu Crèvecœur Beziehungen hat, scheinbar unabhängig von uns dem Kanzler die Nachricht bestätigen, und um die Mittagszeit soll sein Begleiter, ein höherer burgundischer Beamter von Lüttich, ein gebürtiger Genter, auf den ich aus gewissen Gründen Einfluß habe, dem Herzog die Katastrophe wiederum von sich aus und wieder in einer für uns günstigen Auslegung bezeugen. Dann können wir das Eintreffen der direkten Nachricht von der Rebellion mit etwas mehr Ruhe erwarten. Dann ist wenigstens die Sprengwirkung des herzoglichen Jähzorns abgeschwächt und Ihre wissende und überlegene Haltung ihm gegenüber nicht erschüttert.«

Ludwig betrachtete ihn.

»Oliver«, murmelte er bewegt, »mein Oliver ...«

Der Necker spürte eine tiefe Scheu vor einem Wort des Dankes. Die letzte Zeit hatte seine Seele zu stark geschüttelt und gezerrt, als daß die heimlichsten Empfindungen ruhig und gehorsam auf ihrem Grunde bleiben konnten wie früher. Er fühlte, die Scham konnte ihn verwirren und die Dankbarkeit den König wieder weich machen. Es galt, jedes Gefühl, das den nüchternen Willen störte und das kalte Blut erhitzte, abzustoßen. Mit hastigen Worten überrannte er den Einwurf des Königs:

»Das also ist das Notwendigste, Sire: Sie müssen bleiben, wie Sie waren. Sie dürfen nicht die kleinste Schwäche zeigen, nicht die mindeste Verzagtheit, nicht den mindesten Zweifel an sich selber. Sie müssen im Gegenteil Ihre suggestive Fähigkeit und die Klinge Ihrer Dialektik bis aufs äußerste anwenden, bis zur Brutalität. – Der Herzog sieht scharf, Saint-Pol sieht schärfer, Balue sieht am schärfsten, Sire!«

Ludwig ging finster auf und ab. »Wenn ich aus diesem Loch herauskomme, wird Tristan zu tun haben«, murmelte er.

»Das sind im Augenblick sekundäre Erwägungen, gnädiger Herr«, sprach Oliver unbarmherzig. »Sie müssen auch bedenken, daß die Eminenz und der Konnetabel, an deren Bestrafung Sie doch wohl denken, sich ungefähr das gleiche sagen werden. Wenn Sie sie also je in Ihre Hand bekommen wollen, dürfen Sie von Ihren Rachegedanken wenig verlauten lassen. Machen Sie sie durch tausend Ungewißheiten und Unbegreiflichkeiten mürbe, aber sprechen Sie nie eine klare Drohung aus. Wir werden Sie vielleicht gegen den Herzog ausspielen müssen. Ich hoffe, sehr bald auch die letzten Zusammenhänge der Konspiration klar zu sehen. Mich dünkt, wir entdecken noch allerlei Staunenswertes und für die künftige Politik Maßgebliches.«

»Für die künftige Politik«, wiederholte der König schmerzlich lächelnd, »weiß ich denn, ob ich noch ihr Träger sein werde?«

Der Necker zwang ihn sofort in den Augenblick zurück.

»Über welche Summe verfügt Herr de Beaune?« fragte er scheinbar unvermittelt. »Es kann sein, daß ich auch mit Geld zu arbeiten habe.«

»Der Geldkarren enthält annähernd zwanzigtausend Silbertaler«, antwortete der König schon wieder sachlichen Tones. »Fünfzehntausend darfst du für deine guten Zwecke verbrauchen. Spare nicht, Oliver; und wenn es notwendig würde, verbrauche alles.«

Sie besprachen dann noch die Maßnahmen für die nächsten Stunden, die Haltung der Suite gegenüber und Olivers Mission zum Herzog. Der Necker war bemüht, den König durch eine Planmäßigkeit, die die kleinsten Umstände berücksichtigte und zur Beobachtung jeder Minute und jeder Geste führte, gegen die Anfälle der Mutlosigkeit zu panzern. Er erkannte bald an der immer präziseren, immer zielbewußteren Mitarbeit Ludwigs, daß ein Einbruch der Schwäche kaum mehr zu befürchten war. Und unmerklich dann hielt er seine antreibende Willenskraft zurück und überließ dem König die gedankliche Führung.

 

Es traf sich gut, daß Oliver im Vorzimmer des Herzogs außer einigen Kämmerern auch Herrn van Busleyden fand. Der Offizier hob überrascht den Kopf, als er den Vertrauten des Königs zu solcher ungewöhnlichen Stunde – es mochte gegen zehn Uhr sein – eintreten sah. Der Meister ging sofort auf ihn zu und zog ihn in eine Ecke.

»Chevalier«, flüsterte er, »mein hoher Herr schickt mich in der dringlichsten Angelegenheit, die weder Verzögerung noch Zeremoniell verträgt, zum Monseigneur von Burgund. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Audienz erwirkten.«

Busleyden zögerte; der Herzog sei in wenig günstiger Stimmung und habe sich seit geraumer Zeit mit Crèvecœur eingeschlossen, mit der ausdrücklichen Weisung, ihn nicht zu stören. Oliver sagte mit feinem Lächeln:

»Gestehen Sie, Messire, sind Sie nicht ein wenig in meiner Schuld? Hatte ich Sie neulich schlecht informiert? Sollte der Herzog einen Edelmann zum festlichen Mundschenk machen, der eine schlechte diplomatische Arbeit abgeliefert hat? – Ich möchte es kaum glauben.«

»Gewiß habe ich Ihnen zu danken«, sagte Busleyden geschmeichelt, – »aber es sollte mich wundern, wenn eine Nachricht des Königs, die sich doch wohl nur auf die Verhandlungen beziehen kann, nicht bis morgen früh Zeit hätte. Ich sage Ihnen sehr freundschaftlich: Sie könnten ungelegen kommen und wenig Erfolg haben, Herr Kämmerer.«

Oliver wurde ungeduldig.

»Wenn Sie wüßten, Chevalier, um was es sich handelt«, sagte er etwas gereizt, »dann würden Sie über sich selbst staunen, daß Sie den Ablauf eines historischen Schicksals auch nur um eine Minute aufhalten. – Denken Sie bitte noch einmal an unser Gespräch, und denken Sie an seinen Schluß, den Sie dem Herzog pflichtmäßig so wenig vorenthalten haben werden wie meine übrigen Mitteilungen. Melden Sie ihm also, daß meine dringende Botschaft sich auf Lüttich bezieht. Mich dünkt, Sie nützen damit Ihrer Karriere gleicherweise oder noch mehr.« –

Der Offizier trat erschrocken zurück, die Ironie der letzten Worte überhörend. Die anderen Höflinge wurden jetzt aufmerksam und zeigten viele Neugier auf den Gesichtern. Doch Busleyden ging stumm und eilig an ihnen vorbei und verschwand in dem angrenzenden Raum. Es verstrich einige Zeit. Oliver war es zufrieden, daß der Adjutant mehr zu sagen schien als die bloße Anmeldung, und bemühte sich, den beobachtenden Augen ringsum in Haltung und Bewegung eine schlecht beherrschte Aufregung zu zeigen. Dann kehrte Busleyden zurück, mit nervösem Gesicht, und führte ihn wortlos zum Herzog.

Das Gemach, das sie betraten, war klein und notdürftig erhellt und wies – wie die anderen bewohnten Räume des Schlosses – die peinliche Nachbarschaft des eilig aufgerichteten Prunkes und grämlichen Verfalls auf. Burgund ging hastig die kleine Strecke zwischen Tür und Fenster auf und ab, mit seinem mächtigen Körper die Enge gleichsam bedrohend. Er schien den Eintritt der beiden Männer nicht zu beachten. Neben dem Fenster stand regungslos und mit verschränkten Armen der Kanzler, das Gesicht beschattet. Oliver verbeugte sich tief und blieb stumm an der Tür stehen. Er bemerkte nicht ohne Genugtuung, daß Busleyden das Zimmer nicht wieder verließ, sondern sich an die andere Seite der Tür stellte.

Der Herzog brach plötzlich los, ohne sein wildes Hin und Her aufzugeben oder jemanden anzusehen, heftig einsetzend mit seiner scharfen Stimme, die wie geborsten klang, zuweilen die Fäuste schüttelnd:

»Wenn Herr Valois mich für einen Tölpel hält, so ist es sein gutes Recht – wie es das meine ist, ihn für einen Fuchs zu halten. Aber der Fuchs sitzt in der Falle und der Tölpel nicht: das ist ein Unterschied, dünkt mich. Und das sollte bedacht werden, bevor man aus einem Tag zuviel Vorteil herauslisten will. Sich selber praktiziert man auch nicht mit abendlichen Insinuationen aus dem Fangeisen!«

Er blieb plötzlich vor Oliver stehen.

»Sagen Sie Seiner Majestät: ist er in Wahrheit über die Vorgänge in Lüttich besser unterrichtet als ich und will er es mir eingestehen, dann gibt er damit etwas zu, was ich schon lange vermute und gerne mit Sicherheit wüßte. Sagen Sie ihm, daß ich in solchem Fall kaum eine Schlauheit entdecken könnte und daß er sich die Abendbotschaft an mich noch einmal überlegen möge.«

»Mit Verlaub, Hoheit«, entgegnete Oliver und hob die Stimme, »ich will gerne die Verantwortung übernehmen, mich meines Auftrags doch in diesem Augenblick zu entledigen. Ich darf Sie erinnern, daß ich Ihnen gestern auf einen ähnlichen Verdacht zu antworten die Ehre hatte. Ich sagte Ihnen, daß wir bald den Beweis des Gegenteils führen können. Das heißt also, daß schon daran gearbeitet wurde und daß der König bereits mit der Absicht, sich auf unwiderlegliche Art zu rechtfertigen, Ihre Gastfreundschaft in Anspruch genommen hat.«

Er unterbrach sich und wandte sich an den Adjutanten.

»Ich darf Herrn van Busleyden bitten, mir zu bezeugen, daß ich ihm schon als Delegierter des Königs über alle Beweggründe zu dieser Zusammenkunft und auch über die Lütticher Sorge meines hohen Herrn wahrhaftige und ehrliche Auskunft gegeben habe.«

»Das weiß ich, das weiß ich!« rief Burgund ungeduldig.

»Gut, Hoheit«, fuhr der Necker um so gleichmütiger fort, als er den Fürsten unruhig sah; »gut, Hoheit, und Sie wissen auch, daß die beiden ersten Tage der Zusammenkunft die Wahrheit und Ehrlichkeit meiner Mitteilungen in allen zum Beweis gelangten Punkten bestätigten. Sie sahen wohl auch an der Haltung der Majestät, daß ein gutes Gewissen und ein gutes Wissen auch absonderlichen und verfänglichen Auffassungen von Gastfreundschaft begegnen kann ...«

»Zum Teufel, Herr!« rief Burgund, mit dem Fuß aufstampfend, »wer gibt Ihnen das Recht zu solcher Kritik?«

»Sie selber, Monseigneur«, antwortete Oliver kalt, »durch Ihre Kritik an dem König, in dessen Namen ich hier spreche.«

Der Herzog hörte aus der festen Sprache des Dieners immer wieder des Herrn rätselhafte Sicherheit heraus, die ihn verwirrte. Er nahm mit brüsker Wendung seinen Gang durch das Zimmer wieder auf.

»Kommen Sie zum Schluß!« befahl er kurz. Der Meister berichtete sachlichen Tones:

»Der König hatte, wie ich bereits dem Herrn van Busleyden mitteilte, den Konnetabel beauftragt, von Luxemburg aus die Bewegungen im Lütticher Hinterland zu beobachten. Er kam mit dem vorläufigen Resultat hierher, daß der deutsche Söldnerführer Johann von Wildt mit einer sehr starken Truppe in den Ardennen stände und möglicherweise mit den Lüttichern in Verbindung oder sogar im Bunde sei. Mein hoher Herr hätte Sie morgen, ohne noch die Gewißheit dieses Zusammenhanges zu haben, auf seine Eventualität aufmerksam gemacht. Vor einer Stunde aber traf vom Hauptquartier des Konnetabels die Nachricht ein, daß der Wildtsche Heerhaufen in Richtung auf Lüttich abmarschiert und daß in den Ortschaften der Maasniederung, welche er durchzog, die mit seiner Unterstützung gegen Burgund unternommene Revolte der Stadt bereits bekannt sei. Mein hoher Herr hält es für seine Pflicht, Sie unverzüglich von diesem Ereignis in Kenntnis zu setzen und Ihnen schnelle Gegenmaßregeln zu empfehlen. Nach menschlichem Ermessen kann schon der morgige Tag die schlimme Bestätigung bringen. Mein hoher Herr aber gibt einen dreifachen Beweis seiner Loyalität: durch diese Meldung, durch seine Anwesenheit in solchem Augenblick und schließlich durch die deutschen Landsknechte selber, die man in den Reihen der Lütticher finden wird.«

Burgund war schon nach den ersten Sätzen Olivers stehengeblieben und hatte dem Sprechenden mit wachsender Erregung zugehört. Jetzt senkte er die Stirn wie ein Stier, der zustoßen will; seine Backenknochen kanteten sich, Crèvecœur ging hastig auf ihn zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.

»Busleyden«, befahl der Herzog heiser, »der Marschall und die Feldhauptleute haben in einer Stunde hier zu sein.«

Der Adjutant ging. Der Herzog starrte wieder auf den Boden und hob plötzlich den vollen Blick zu Oliver auf. Sein Gesicht zuckte im Kampf gegensätzlicher Gedanken. Er suchte nach einer Antwort, die zugleich klug und ehrlich war. Der Kanzler, wohlvertraut mit der gehemmten und schon wieder wild ausbrechenden Natur seines Fürsten und eine neue Unklugheit befürchtend, bewußt auch der gefährlichen Eloquenz dieses Widerparts, fühlte die Notwendigkeit, einzugreifen.

»Herr Kämmerer«, sagte er höflich, »versichern Sie die Majestät unseres schuldigen Dankes.«

»Ja«, stieß Burgund rauh hervor. Oliver verbeugte sich und ging. –

Der König hatte, um vor der Rückkehr des Meisters und seinem entscheidenden Bericht nicht mit Balue und Saint-Pol zusammen sein und sprechen zu müssen, Unpäßlichkeit vorgeschützt und sein Zimmer nicht verlassen. Damit den beiden die nahe bevorstehende Enthüllung der Lage nicht durch das Gehen und Kommen des einen Oliver motivierbar sei, hatte Ludwig geschickt und in unregelmäßigen Abständen auch Bourbon, Jean de Beaune und den Generalprofos mit irgendwelchen Aufträgen gehen und kommen lassen, ohne doch dem Kardinal und dem Konnetabel auch nur für wenige Minuten Gelegenheit zu geben, miteinander unter vier Augen zu sprechen. Stets war der peinlich lächelnde Herr Tristan oder der auffallend wortkarge Schatzmeister in der Nähe; und als die Herren sich auf ihre Zimmer zurückzogen, komplimentierte der Profos den Grafen Saint-Pol so geschickt vor sich her, seinem vom Schlafraum des Kardinals durch das gemeinsame Zimmer der beiden Räte getrennten Gemach zu, daß gerade noch ein Gutenacht über den Kopf des Höflichen hinweg möglich war.

Der zurückkehrende Oliver mußte zunächst das Zimmer des Kardinals passieren. Balue sprang ihn an wie ein Raubtier.

»Hüten Sie Ihren Kopf, Necker, Sie haben sich augenscheinlich zu spät wider uns entschieden!«

Oliver sah ihn lächelnd an.

»Gewiß hüte ich meinen Kopf, wie Sie den Ihren, Eminenz.«

Balue hielt ihn am Arm fest.

»Um aller Heiligen willen, Meister, was geschieht hier? Was weiß der König?«

Der Necker zuckte mit den Achseln. Er meinte vorsichtig:

»Wüßte ich es, Monsignore, dann wüßten Sie es auch. Mich dünkt nur, wir sind in die eigene Falle gegangen. Jetzt muß jeder sehen, wie er herauskommt. Es dürfte nicht leicht sein.«

Er befreite sich mit einem Ruck der Schultern und hatte schon die Tür zum Nebenzimmer erreicht. Jean de Beaune, der auf seinem Bett saß, nickte ihm mürrisch zu.

»Ich habe solche Sehnsucht nach der Touraine«, sagte er mit einer Grimasse, »daß ich selbst Ihre Eifersucht herausfordern möchte, Meister.«

Olivers Gesicht verfinsterte sich. Tristan lachte:

»Rühren Sie jetzt nicht die menschlichen Schwächen unseres Teufels auf, Jean, wir sind im Augenblick wahrhaftig auf die ungestörte Ausübung seines infernalischen Berufs angewiesen. – Nichts für ungut, Meister, wenn Sie uns aus dieser Vorhölle herausbringen, verschreibe ich Ihnen gerne meine an und für sich schon etwas lädierte Seele.«

Oliver ging weiter, als hätte er nichts gehört. Im dritten Zimmer stand der Konnetabel am Fenster und trommelte gegen die Scheiben. Er drehte sich nach dem Eintretenden um und wandte schnell wieder den Kopf ab, angewidert den Rücken krümmend.

Oliver ging weiter, einen spöttischen Blick auf ihn werfend. Das vierte Zimmer war leer. Der Necker fand Bourbon beim König; er wußte, daß der Herzog inzwischen eingeweiht worden war.

Ludwig hob erwartungsvoll den Kopf; er schien ruhig und seiner Sache gewiß; die klaren Augen zeugten von der zielbewußten Arbeit der Gedanken. Oliver lächelte ihm zu:

»Monseigneur von Burgund versichert die Majestät seines schuldigen Dankes und wird jetzt in einem Kriegsrat toben.«

»Gut, mein Freund«, sprach Ludwig, »und Sie, Herr Bruder, werden jetzt die Güte haben, Oliver in den Augen gewisser Herren zu entlasten und noch einmal geschäftig fortzugehen, sich irgendwo eine Viertelstunde aufzuhalten, mit besorgter Miene wiederzukommen und dann Balue, Saint-Pol und meine beiden Gevattern vor ihren König zu bitten.«

Bourbon verließ das Gemach. Ludwig lehnte den Kopf zurück und schloß einen Augenblick die Augen.

»Der Dank ist dem Herzog nicht leichtgefallen?« fragte er leise.

»Er fiel ihm so schwer«, entgegnete Oliver ernst, »daß ihn Crèvecœur für ihn aussprach und er ihn nur bejahte. Aber ihn hemmte nicht so sehr Ungläubigkeit wie Unsicherheit. Jetzt müssen wir abwarten, was der morgige Tag bringt.«

Sie schwiegen beide. Vom Schloßhof herauf drang der Lärm von Schritten, Worten und Waffen. Oliver sah die Brauen des Königs in Unruhe zucken. Er begann viel und laut zu reden, um die beängstigenden Laute der Feindseligkeit zu übertönen. Er drängte den König hastig von jedem Gedanken ab, der zur Schwäche oder zur Furcht führen konnte, und spannte seine Energie wieder durch Berichte über die Verschwörung, durch Andeutungen über die Zusammenhänge, die unmerklich immer umrissener und klarer wurden, gleich, als ob Beobachtungen, Bestechungen und geschickte Helfer ihn mit jeder Stunde zur besseren Erkenntnis der Lage führten. Er beschränkte sich wohlweislich nur auf die Erklärung der Rollen Balues und Saint-Pols bei dem dunklen Spiel und brauchte dann schon dem König, der über die bevorstehende Konfrontation nachsann, nichts mehr über die kluge Behandlung der beiden zu sagen noch etwas der verabredeten Methode hinzuzufügen oder zu nehmen.

Bourbon kehrte zurück, blieb kurze Zeit im Zimmer und berief dann im Namen seines königlichen Schwagers die vier Herren. Ludwig saß mit steifem Rücken und unbeweglichem Gesicht auf dem hochlehnigen Stuhl wie ein Richter und verstärkte bewußt diese Wirkung durch den harten und durchdringenden Blick, mit dem er den Konnetabel empfing und der beim Eintritt des Kardinals grausam wie der eines Henkers war. Saint-Pol stand blaß und ruhig, das kantige Kinn etwas vorgeschoben, die Beine ein wenig gespreizt. Jean de Beaune und der Profos, der eine in Erwartung blutrot, der andere kalten Blutes beruflich interessiert, blieben im Hintergrund. Balue, sehr bleich zwar, aber in Haltung und Bewegung voller Würde, hielt den Blick des Königs mit staunenswerter Energie aus. Oliver stand hinter Ludwigs Sessel im Schatten der Fensterwand.

»Seigneurs«, sprach der König mit kaum lauter, fast gleichgültiger Stimme, »ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Lüttich rebelliert.«

Man hörte ein Stöhnen Balues. –

»Der von Wildt«, fuhr Ludwig in gleichem Ton fort, »hat zu früh losgeschlagen: ob aus freiem Ermessen, auf bestimmten Befehl oder nur auf gut Glück, will ich jetzt nicht entscheiden.«

Er sah den Konnetabel an. – Saint-Pol senkte die Stirn, auf der Schweißtropfen glänzten. Der König sprach weiter, gleichmütig, nüchtern fast:

»Ein provokatorischer Akt Burgunds – kaum denkbar an und für sich, möglich nur in seiner Gleichzeitigkeit mit meiner Anwesenheit in Péronne – ist ausgeschlossen; denn der Herzog, dem ich als ersten die mir zugekommene Nachricht habe mitteilen lassen, ist so überrascht wie ich und wie Sie, Seigneurs, es ebenfalls zu sein scheinen.«

Er betrachtete mit kaum merklichem und doch unsagbar bösem Lächeln Saint-Pol und Balue, schaute von einem zum anderen.

Der Kardinal hatte die Hände über der Brust gefaltet und die Finger ineinander gekrampft, um ihr Zittern nicht sehen zu lassen.

»Sire«, sagte er und hustete, »Sire ...«

»Seigneurs«, begann Ludwig wieder, ohne ihn zu beachten, »der Zwischenfall scheint geeignet, die Verhandlungen zu paralysieren und die persönliche Sicherheit des Souveräns zu gefährden. Es wäre furchtbar, wenn ein bewußter Wille mit diesem Mittel zu meiner Vernichtung gearbeitet haben sollte; furchtbar für den Urheber; denn der Plan wäre mißlungen; soweit ein Mensch dem Schicksal gegenüber Waffen haben kann, besitze ich sie. Ich bitte Sie, Seigneurs, in den nächsten Tagen mutig zu sein und zuversichtlich und sich Ihres Eides zu erinnern, der Sie an mich bindet. Glauben Sie mir, ich werde noch Gelegenheit und Macht genug haben, mich an Ihre Treue zu erinnern. – Sie sehen auch, Seigneurs, daß ich die Frage der persönlichen Verantwortung irgendeines von Ihnen für die Entwicklung der Lage nicht berühre, eine Frage, die vielleicht nicht bedeutungslos ist. – Ich verbiete Ihnen, von diesem Augenblick an ohne meine Erlaubnis den uns zugewiesenen Flügel des Schlosses zu verlassen, eine selbständige Unterhandlung oder ein Gespräch mit der Gegenpartei zu führen oder Nachrichten mündlicher oder schriftlicher Art weiterzugeben. Ich verbiete es Ihnen nicht aus Mißtrauen, sondern um die klare Führung der Geschäfte zu behalten. – Sie können jetzt gehen, Seigneurs, gute Nacht.«

»Sire«, versuchte Balue wieder, »ein Wort ...«

»Sire«, sagte auch der Konnetabel, »mit Verlaub ...«

Der König stand auf und wiederholte mit etwas lauterer Stimme:

»Seigneurs, gute Nacht!«

Der Necker öffnete die Tür.

Das erwartete Schicksal stürmte in den Dienstag. In der Frühe hatte sich Fra Fradin seines Auftrags bei Crèvecœur entledigt.

Doch bevor Heuriblocq, den Daniel Bart nicht mehr aus den Augen ließ und den er sowohl einen schweren Beutel mit tausend Talern als auch einen kurzen, breiten und handlichen Dolch sehen ließ, zur festgesetzten Stunde sich in das Schloß begeben konnte, brach die Nachricht ein wie eine sich überstürzende Welle. Flüchtlinge kamen aus Lüttich und meldeten einen furchtbaren Aufstand und die Flucht des Bischofs, des Statthalters und ihres Hofes nach Tongern. Flüchtlinge kamen aus Tongern und meldeten die Überrumpelung ihrer Stadt durch die Lütticher, die Ermordung des Bischofs und des burgundischen Statthalters, die Niedermetzelung ihres Gefolges. Andere wieder wußten nichts von solchen Greueln und sprachen nur von einer Gefangennahme des Prälaten. Einige wollten französische Provokateure unter den Meuterern erkannt haben. Der burgundische Steuereinnehmer Pieter Heuriblocq wiederum, der sich als erster höherer Beamter aus dem Rebellionsgebiet im Schloß einfand und dessen Aussage deshalb viele Beachtung fand, versicherte, deutsche Landsknechte in den Reihen der Insurgenten gesehen zu haben. Er wurde auf sein Anerbieten als Überbringer dringender Order nach Brüssel geschickt. – Neue Flüchtlinge, neue Gerüchte trafen ein.

Wie immer das Echo einer Katastrophe verworren, voller Widerspruch und maßlos in seiner entsetzten Überstürzung ist, so hallte auch Péronne von ungeheuerlichen Gerüchten wider.

Der Herzog gab am Nachmittag den bedrohlichen Befehl, die Tore der Stadt und des Schlosses zu sperren. Seine Haltung war undurchdringlich und diese Maßregel unheilverkündend. Seit der Meldung des Neckers vom Vorabend hatte jeder Verkehr mit dem König und seinen Leuten aufgehört.

Eine starke Wache trennte den westlichen Schloßflügel von der Außenwelt. Der Valois und die Männer seiner Umgebung schienen Gefangene. Ludwig verlangte den Herzog zu sprechen.

Der Offizier, der das Detachement befehligte, kam mit der Nachricht zurück, daß Monsigneur über die Maßen beschäftigt sei und zur gegebenen Zeit selber den König aufsuchen werde.

Oliver war voller Sorge. Die Art Burgunds erschreckte ihn. Seine Befürchtung, der Herzog möchte den gut konstruierten und schwer widerlegbaren Beweis von der Unschuld des Königs nicht anerkennen oder mit Gegenargumenten bekämpfen, sondern brutal mit seinen kräftigeren Muskeln beiseite schieben, schien sich auf schlimme Weise zu bestätigen. Gegen solche unversehens übergeworfene Fessel des Körpers und des Geistes wußte er noch keinen befreienden Griff.

Die dumpf abrollenden Stunden schienen die Luft in den grauen Räumen zu verdicken und das Atmen zu erschweren. Der König war wie in einer Starre. Er saß ohne Wort und ohne Bewegung in seinem Sessel, die Hände rechts und links auf den Armlehnen, den Kopf angelehnt, das Kinn etwas erhoben. So schien er auf etwas zu warten oder nachzudenken. Keiner der Herren wagte sich aus seinem Zimmer, keiner wagte zu sprechen. Balue und Saint-Pol – jeder in seinem Gemach unruhig sich bewegend oder auch durch Stunden festgebannt auf einer Stelle dachten nach, die anderen warteten. Oliver beobachtete den König.

Es kam die Nacht. Aufwärter mit Speisen passierten die Postenkette und richteten stumm die abendliche Tafel. Als sie nach etlicher Zeit wiederkehrten, fanden sie den Eßraum leer, die Stühle nicht verschoben, die Speisen nicht angerührt.

Es wurde eine seltsame Nacht. In den Räumen herrschte Schweigen und Finsternis. Nur im Gemach des Königs brannte Licht und war Geflüster. Oliver entwickelte die Konspiration in ihrem ganzen Ausmaß, aufgefordert durch eine plötzlich wache Frage des Fürsten, die in ihrer durchdringenden und umfassenden Klugheit die starke Gedankenarbeit der letzten Stunden verriet. Der Necker, der dann geschickt Ludwigs Aufmerksamkeit auf das eigentliche Fundament der Verschwörung: auf die neue Fürstenliga lenkte, nannte als Quelle seines Wissens die Mitteilungen des ihm ergebenen Agenten Crèvecœurs, den er schon in Paris sich verpflichtet habe. Da die Reorganisation der alten Fronde dem König nicht unbekannt war und von ihm selber schon in den mutmaßlichen Zusammenhang mit Péronne gebracht wurde, schien er weder überrascht noch mißtrauisch. Die Namen, die Oliver dann nannte, waren auch für ihn die bekannten, entscheidenden und zu bekämpfenden.

Die beiden hockten zusammen wie Richter einer absonderlichen Feme. Schicksale von Menschen wurden entschieden, große Ideen für die Gestaltung des Reiches in Pläne gegossen. Die Stille draußen wurde von Zeit zu Zeit durch ablösende Mannschaften, Kommandos und Klirren von Waffen unterbrochen. Der eingesperrte Valois formte die Politik Frankreichs. Dann wieder schwieg er, mit anderen Gedanken beschäftigt.

»Herr Karl von Frankreich ... Nemours ... Saint-Pol ... Balue«, murmelte er.

Das waren Todesurteile, wußte der Necker. Er dachte an die Nacht in Orleans, als er den Kardinal mit dieser Aufzählung erschütterte. Er dachte auch daran, daß Balue den Namen Oliver vermißte und genannt wissen wollte. In leisem Schauder betrachtete er das steingraue und unerbittliche Gesicht des Königs, der ihn plötzlich ansah. Oliver fühlte, wie seine Lippen sich entfärbten.

»Was hast du, Oliver?« fragte Ludwig.

Der Necker zwang sich zu einem Lächeln. Sein Hirn jagte nach einer guten Antwort – und es fand die beste, die Überlegungen dieses langen schweren Tages zusammenraffend.

»Ich glaube, Sire, ich habe den rettenden Gedanken – für die Gegenwart!«

Ludwig betrachtete ihn gespannt.

»Wahrhaftig, Sire!« rief Oliver, »das kann die Rettung sein. – Schlagen Sie dem Herzog vor, er solle gemeinsam mit Ihnen gegen Lüttich ziehen!«

Der König sprang erregt auf, mit glänzenden Augen, und ging überlegend auf und ab.

»Wahrhaftig, mein Oliver, das kann die Rettung sein«, wiederholte er sinnend.

 

Der Morgen war nicht mehr fern, als die beiden sich zur Ruhe legten. Zu früher Stunde schon erhoben sie sich wieder. Der König schien frisch und ausgeruht; das nächtliche Gespräch hatte ihn gestärkt wie ein guter Schlaf. Er füllte den Vormittag mit fiktiven Beratungen, zu denen er seinen Schwager, Tristan und Beaune, auch Balue und Saint-Pol hinzuzog. Da der Nachmittag verging, ohne daß der Herzog oder eine Nachricht von ihm kam, und da Ludwig befürchten mußte, Burgund möchte Péronne verlassen und wortlos seinen Gast in Gefangenschaft behalten, versuchte Oliver noch vor Anbruch der Dunkelheit, durch die Postenkette zu kommen. Vor der Treppe, die in den Schloßhof führte, kreuzten zwei weißblonde, riesenhafte Gardisten stumm die Partisanen.

Oliver blieb stehen; auf jedem Treppenabsatz sah er Doppelposten.

»Im Namen des Königs!« befahl Oliver auf flämisch, mit scharfer Stimme, »ruft den wachhabenden Offizier!«

Die Soldaten gaben die Order weiter. Nach einigen Minuten sprang ein junger Adeliger die Treppe herauf. Oliver rief ihm entgegen:

»Im Namen des Königs befehle ich Ihnen, mich mit einer Botschaft Seiner Majestät zum Herzog zu führen oder Herrn van Busleyden zu mir zu schicken, dem ich sie in Ihrer Gegenwart anvertrauen will.«

Der verblüffte Offizier bat ihn zu warten. Er kehrte nach zehn Minuten mit Busleyden zurück, dessen Gesicht von Nachtwachen zeugte.

»Chevalier«, sagte der Necker mit lauter Stimme, unbekümmert um die Bewaffneten, die das Treppenhaus füllten, »der König will nicht sehen und nicht erwähnen, was zu sehen und zu erwähnen ungeheuerlich ist. Er läßt seinem Vetter und Lehensmann Karl von Burgund sagen, daß er bereit war und bereit ist, den Oberbefehl über die Strafexpedition gegen Lüttich zu übernehmen!«

Dem van Busleyden flatterten die Augenlider. Der Necker beugte sich an sein Ohr:

»Wenn nicht schon die drei Beweise das Gewissen jedes Ehrenmannes hier belasten, dann muß dieser vierte Beweis eine Schamröte entfachen, daß diese Mauern ihr Grau verlieren möchten! Sie und Crèvecœur müssen dafür sorgen, daß die Schande den Herzog nicht auch außerhalb von Péronne und für das ganze Leben begleitet. Die Majestät verzeiht und schweigt.«

Busleyden senkte den Kopf.

»Der Herzog quälte sich genug«, flüsterte er. »Jetzt bringe ich ihn her.«

Er ging in Hast fort. Der Necker eilte zum König und meldete ihm den Erfolg. Ludwig lächelte und reckte die Arme.

»Wenn er kommt«, sprach er mit verschlagenem Ausdruck, »ist Europa heute abend um einen sonderbaren Frieden reicher und um eine jämmerliche Liga ärmer. Wenn er kommt, wird morgen in den Kirchen von Péronne und in drei Tagen in den Kathedralen von Paris das absonderlichste Tedeum gesungen, das je den Herrn lobte.« –

Oliver kehrte auf seinen Posten an der Treppe zurück, mit verschlossenem Gesicht die Zimmer der Herren, die ihm gespannt oder gequält nachsahen, wieder durchquerend. Er wartete fast eine halbe Stunde, in scheinbarem Gleichmut gegen eine ungefüge Säule gelehnt. Dann tönte vom Hof her ungewöhnliche Bewegung. Die Soldaten auf den Podesten der Treppe erstarrten zu eisernen Figuren. Der Herzog, in Panzerhemd und Beinschienen, den schönen Kopf entblößt, klirrte die Treppe herauf. Oliver verbeugte sich und sah dann dem Fürsten ins übernächtige, von innerlichen Kämpfen und den Schlägen der drängenden Stunden gezeichnete Gesicht.

»Der Allerchristlichste König erwartet Sie mit vieler Freude, Monseigneur«, sprach Oliver förmlich; »er hat sein schönes Ziel durch die Fügung des Schicksals schneller und ausschließlicher erreicht, als er dachte; denn schon morgen werden in Frankreich und Burgund die Glocken läuten können.«

Der Herzog betrachtete den Sprecher mit maßlos erstaunten Augen und wurde plötzlich rot.

»Hoffen wir es«, sagte er, sich kurz abwendend; doch er fügte dann leiser hinzu:

»Sie sind gefährlicher als das ganze Heer des Valois, Sieur Le Mauvais. Ich hätte Ihnen den Kopf abschlagen oder Sie zu meinem Minister machen sollen.«

»Mein Kopf gehört nicht mir«, sagte der Necker und lächelte ironisch; »deshalb darf ich sagen, es wäre schade um ihn gewesen oder schädlich für Sie, Hoheit, wenn er einem burgundischen Minister gehörte.«

Der Herzog ging weiter, als hätte er die Antwort nicht gehört. Oliver folgte ihm in einem Abstand von wenigen Schritten. Die Herren der Suite waren inzwischen von Ludwig benachrichtigt worden, daß er Burgund erwarte. Die Türen ihrer Zimmer standen offen. Der Kardinal saß auf einem Stuhl und schien in sein Brevier vertieft. Er stand nicht auf, als Herr Karl durch sein Zimmer schritt, sondern neigte nur grüßend das Haupt, mit schnellem Blick das harte Profil des kaum Dankenden und Olivers bewegungslose Miene prüfend. – Tristan und Jean de Beaune warteten rechts und links von ihrer Tür, in höfischer Verbeugung.

Saint-Pol stand breitbeinig vor dem Fenster, die Arme verschränkt, mit seinem offenen Blick den Herzog von der einen Tür zur anderen begleitend, ohne Gruß.

Burgund kniff die Lippen zusammen. – Herr Bourbon geleitete ihn zeremoniell bis ins Zimmer des Königs und zog sich dann zurück. Oliver folgte ihm und schloß hinter sich die Tür.

Ludwig empfing den Herzog freundlich lächelnd, lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt, reichte ihm die Hand und bot ihm ein Taburett neben sich an. Burgund, der nicht wußte, ob der König die dämonische und abgründige Formalität seines Kämmerers fortsetzen wollte, wartete mit finsterem Gesicht, daß der andere das Gespräch beginne. Ludwig ließ sich Zeit, bis er an den nervösen Händen des Herzogs seine Unsicherheit erkannte.

»Wir wollen mit offenen Karten spielen, Herr Vetter«, sagte er dann veränderten Tones; »das wird nur für Sie von Vorteil sein, da ich Ihre Karten kenne.«

Der Herzog schwieg. Ludwig, der höher saß, beugte sich über die Seitenlehne zu ihm hin.

»Als ich hierherkam, Burgund, kannte ich bereits das gutgesponnene Gewebe, in dem ich hängenbleiben sollte. Ich könnte Ihnen jede Masche nachzeichnen und sogar Verästelungen, die selbst Sie nicht ahnen oder erst jetzt. Ich wollte im entscheidenden Augenblick das Netz nicht nur von mir, sondern auch von Ihnen streifen; denn man hatte auch Sie schon verstrickt. Die Entscheidung kam schneller und bestürzender, als ich es glaubte; doch sie hilft Ihnen und mir. Ich kam zu Ihnen, um Ihnen zu versprechen, Ihr Freund zu sein. Durch Lüttich kann ich beweisen, daß ich es bin. Sie dürfen auch über meine dreihundert schottischen Leibgardisten und über die fünftausend Reiter verfügen, die der Großmeister inzwischen nach St-Quentin geführt haben wird.«

»Wir brechen morgen auf«, sagte der Herzog schlicht. Ludwig legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Sie haben sich überwunden, mein Freund. Ich will Ihnen danken, ohne an das Vergangene zu denken. Ich will Ihnen freiwillig zubilligen, was Sie wohl zwangsweise zu erhalten hofften. Die Bretagne interessiert Sie nicht mehr; doch Ihre anderen Freunde seien bedacht, ohne daß sie neuerlich zu frondieren brauchten: Herr Karl von Frankreich, mein liebwerter Bruder, bekomme die Champagne und Brie; außerdem würde ich für den Fall, daß Sie es im Ernst wünschten, mein Einverständnis zu seiner Heirat mit Ihrer jungen Tochter Maria geben, eine Zusage, die ich bisher, ich gestehe es, aus gleichsam pädagogischen Gründen dem noch nicht Reifen und mir doch viel Verdruß Bereitenden immer verweigerte.«

»Ich selber bin in dieser Frage durchaus noch nicht entschlossen«, sagte der Herzog verlegen; »aber ich danke Ihnen für Ihr Wort.«

»Nemours bekomme einige Landschaften«, fuhr der König verbindlich fort; »Ihnen selber beschwöre ich den Frieden auf der Grundlage des letzten Pariser Paktes. Sind Sie zufrieden?«

»Ich bin zufrieden«, sagte Burgund langsam und leise.

»Meinem Schwager Savoyen biete ich Versöhnung und Freundschaft an; ich habe bereits meinen Mailänder Alliierten gebeten, die Feindseligkeiten gegen ihn einzustellen. – Herrn du Lau rehabilitiere ich durch eine Statthalterschaft im Süden. – Verlangen Sie sonst noch bestimmte Entschädigungen für die Herren des Ehrengeleites?«

»Nein.«

»Und dies noch«, flüsterte Ludwig, »man hat ein doppeltes Spiel mit uns getrieben. Ich weiß es, und Sie ahnen es: wer. Mit Balue rechne ich selber ab. Sie werden verhüten, daß er sich an Ihre Rockschöße klammert?«

»Ja«, sagte Burgund.

»Der Konnetabel ist für die Lütticher Katastrophe zum mindesten bedingt verantwortlich. Er hätte die Vereinigung des Wildt mit der Stadt verhindern müssen. Soll ich ihn Ihnen überlassen, Vetter?«

»Nein«, antwortete der Herzog nach kurzem Nachdenken.

Ludwig beugte sich an sein Ohr:

»Wollen Sie seinen Kopf?«

»Nein.«

Der König kniff häßlich die dicken Lippen ab.

»So will ich ihn – zu gelegener Stunde.« –

Gegen acht Uhr wurde der Frieden in Gegenwart des burgundischen Hofes und des königlichen Gefolges auf des heiligen Karolus Magnus Kreuz, das der Valois mit sich führte, feierlich beschworen. Die Glocken läuteten.

 

In dieser Nacht, der letzten in Péronne, als der König und Oliver schon ruhten und ein friedsames Dunkel den Raum füllte – freiere Luft auch, wie wenn die Mauern dünner geworden wären – hörte der Necker in der Entrücktheit des nahenden Schlafes eine Stimme:

»Ich habe die Anne nicht berührt, mein Oliver.«

Der starke Schlag des Herzens stieß den Necker in die Höhe. Er lauschte, aus offenem Munde keuchend. Nach einer Weile sprach der König das gleiche:

»Ich habe die Anne nicht berührt, mein Oliver.«

Der Necker keuchte immer lauter, als behielte die Brust nicht mehr das Geheimnis. Er kniete im Bett auf und stöhnte:

»Herr, verzeihen Sie mir! Herr, ich habe Sie ...«

»Ich verzeihe dir, mein Oliver, weil ich ahne und geahnt habe, was zu verzeihen ist. Ich verzeihe dir den bösen Gedanken um der großen, guten Tat willen, die du getan hast, dich selbst besiegend und mich liebend. – Aber, Bruder, das Schlechte in mir verzeiht mir nicht meine gute Tat, um deines bösen Gedankens willen.«

Er schwieg. Der Necker glitt vom Lager und tastete sich zu ihm hin. Er küßte seine Hände.

Der König sprach leise:

»Wir kennen uns jetzt zutiefst, mein Bruder.« –

In der Abtei St-Denis bei Paris, wohin der heilige Dionys seinen abgeschlagenen Kopf getragen hatte und wo er sein Grab wünschte, wurde auf Befehl des Königs, der mit dem Herzog von Burgund gegen Lüttich zog, drei Tage später das Hochamt zur Feier des Friedens abgehalten und das Tedeum gesungen. Alle Glocken der Stadt, alle Glocken des Landes läuteten.

 


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