Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Die Necker

Die Necker stammten aus dem Dorfe Thielt westlich von Gent, das zum Hoheitsgebiet der Stadt gehörte. Sie waren Bauern oder sie waren Bader, Quacksalber, Schwarzkünstler, Spione und Erzgauner. Durch die Generationen hielten sich das rote Haar, das knochige Gesicht und die tiefliegenden Augen der Männer und das glatte, seltsam weiße und oft schöne Gesicht der rothaarigen Frauen. Die Männer pflegten spät zu heiraten und sehr junge Mädchen, vornehmlich Walloninnen, zu nehmen, über deren Treue sie mit sonderbarem Eifer wachten. Die Frauen verloren sich zumeist in die Städte Flanderns und Nordfrankreichs und lebten als öffentliche Dirnen oder als Konkubinen großer Herren, ohne die Brüder, die sich nicht um sie zu kümmern schienen, viel an die Verwandtschaft oder auch nur an ihre Existenz zu erinnern. Seltsamerweise aber blieben die Brüder oft die Erben ihrer zuweilen nicht unbeträchtlichen Vermögen. So bewahrte sich in der Familie ein etwas anrüchiger Wohlstand, der indes nicht ohne eine gewisse Würde gezeigt und so klug verwandt wurde, daß er von den Mitbürgern wenig angefochten blieb. Seltsam war auch, daß das Zweideutige und Zweifelhafte, welches den Neckern anhaftete, niemals zu einer Ächtung, nicht einmal zu einer Mißachtung geführt hatte. Die kluge Familienpolitik, die den ältesten Sohn stets zum Erben des Bauernhofes und zum Träger der gleichsam bürgerlichen Respektierlichkeit und Lebenshaltung, die anderen Söhne für die ambulanten Berufe und zur Ausnützung der dämonischen Intelligenz bestimmte, erhielt ihnen die Gunst der Gemeinde, auch wenn einer der Magier hin und wieder an einem außergentischen Galgen endete. Und die merkwürdige Familiendisziplin hatte es erreicht, daß niemals ein Thielter Necker von der heimatlichen Obrigkeit einer unehrenhaften Handlung überführt wurde. Die klare geistige Überlegenheit auch der seßhaften Necker über ihre Dorfgenossen wurde nicht nur anerkannt, sondern sogar durch die Übertragung kommunaler Ämter sanktioniert, die schließlich zu einer Art erblichen Würde des Erstgeborenen wurden. Die absonderliche Abgespaltenheit des Ältesten von den Schicksalen der abenteuernden Brüder und Schwestern – eine zuweilen nur scheinbare Abkehr, die nur unterirdische Verbindungen zu unterhalten klug genug war – bewirkte, daß seine öffentliche Haltung nicht von den Unfällen der geschwisterlichen Abwege beeinflußt werden konnte. So wurde Olivers Großvater Gillis Necker im gleichen Jahre Bürgermeister, als ein junger Bruder wegen politischen Giftmordes in Orleans gerichtet wurde; und so blieb Olivers Vater Bürgermeister von Thielt und Genter Stadtschöffe, obgleich die römische Inquisition seinen Bruder Karel wegen schwarzer Magie verbrannte.

Oliver war des Claes Necker zweiter Sohn und das jüngste seiner vier Kinder. Er kam zur Welt, als der Vater sechzig und die schöne, schwermütige Mutter fünfunddreißig Jahre alt war. Seine Geburt nahm ihr das Leben, an dem ihr nicht viel gelegen war; der Fingernagel der ungeschickten Hebamme hatte sie verletzt und das Blut vergiftet; sie starb im Wochenbett, mit aufgetriebenem Leib, der so hart war wie Holz. Sie klagte während der Krankheit nicht viel, so wenig wie ihr Mann nach ihrem Tod. Sie hatte in ihrem Leben selten geklagt und selten nein gesagt, sie schien immer nur müde und traurig und fand keine andere Antwort auf die Härte des Claes und auf die Sklavenschaft ihres Lebens. Sie war ein stilles Bauernmädchen aus der Grafschaft Artois gewesen, zu schön, um nicht aufzufallen, und zu arm, um sich den Mann wählen zu können. Durch irgendeinen Zufall war es Claes Necker gewesen, an den sie verkauft wurde. Sie litt seine Begierde und seine Schläge, gebar seine Kinder, sorgte für das Haus, erschrak insgeheim vor dem wilden, fremden Sinn der Wesen, die ihr Leib getragen hatte, wurde einsamer noch, schüchterner, leidvoller, wich gerne dem betagten Mann aus und versagte ihm doch nichts, wußte bald nicht mehr, ob sie jung war oder so alt wie jener, der ihren Körper mit einem merkwürdigen, drängenden Haß verwüstete –, und starb gerne, ohne Widerstand, wie eine Greisin.

Claes heiratete bald darauf ein schwergliedriges, breithüftiges Genter Bürgermädchen von zwanzig Jahren, Eliza de Clercq, die als Frau unvermutet ihre Schläfrigkeit verlor, sich mit Energie gegen die Fronde der beiden Töchter und des Gesindes behauptete, selbst dem Manne zu widersprechen wagte und genug körperliche Kraft besaß, um der Wut des Alternden begegnen zu können. Nur sein Sohn Henryk, zwanzig Jahre wie sie, half ihr in täppischer Verliebtheit.

Oliver war ein verschlossenes Kind mit mißtrauischem Blick, ohne jede Dankbarkeit und ohne ein Bedürfnis nach Liebe. Die Stiefmutter betreute es, ihrem starken Pflichtgefühl gehorchend. Sie liebte es nicht und fühlte oft eine Abneigung, die ihr grundlos und ungerecht schien und die sie ein wenig gewaltsam und laut durch Zärtlichkeiten gutzumachen suchte. Dann lag der Knabe wie ein Stück Holz in ihren Armen, mit zurückgelehntem Kopf und angewidertem Gesicht. Als er fünf Jahre alt war, kratzte und biß er sie in solchen Augenblicken; ihre Schläge ertrug er ohne einen Laut. Er weinte niemals; er spielte niemals mit Kindern; er strich lautlos im Haus umher, zerbrach Fenster und Gefäße, schnitt Getreidesäcke auf, tat Ruß und Maden ins Mehl, verübte mit stillem Eifer Unheil aller Art, wurde selten ertappt und ließ ohne eine Bewegung des Gesichts Menschen und Tiere an seiner Statt die Strafe leiden. Seine Lust aber war, die Menschen zu erschrecken. Er hockte in Nischen, Schränken, finsteren Gängen und sprang die Vorübergehenden an; er verwuchs mit der Dämmerung, mit jedem nächtlichen Schauder, mit verkrüppelten Bäumen und dem Schatten der Geißblattlauben und schnellte gegen die Aufschreienden. Er war immer dort, wo man ihn nicht vermutete, er war unter Betten und im Kornfeld, er ängstigte Schlafende und störte Liebende, er schreckte mit dem Schrei der Nachtvögel und dem Todesschrei von Menschen; er pendelte wie ein Gehängter oder hantierte wie ein Einbrecher vor den Kammern der Mägde. Der Anblick seines grimassierenden Gesichts – alt, fahl, hager und rothaarig tückisch wurde allein schon zur Ursache des Erschreckens oder des Widerwillens. Das Gesinde nannte ihn den Teufel.

Claes, der Vater, beachtete ihn wenig; aber er hörte auch nicht auf die Klagen über ihn und schlug ihn niemals. Manchmal, wenn er nicht beobachtet werden konnte – aus dem Dunkel einer Scheune heraus oder wenige Sekunden hinter einer Stubentür –, betrachtete er den Knaben mit absonderlichem Wohlwollen. Oliver schien die verborgene Neigung des Alten zu fühlen; er war in seiner Gegenwart oder in seiner Nähe bis zu einem gewissen Grad freundlich und von einer stillen Einfalt, deren Unechtheit ein Kopfschütteln der Stiefmutter und ein Lächeln des Vaters hervorrief.

Doch als Oliver etwa zwölf Jahre zählte, begab sich dies.

Weil er der gleichaltrigen Tochter einer Dienstmagd Gewalt anzutun versucht hatte, bearbeitete die Stiefmutter seinen entblößten Rücken mit der Klopfpeitsche. Der Knabe verbiß sich in seinen linken Arm, mit dem er das Gesicht schützte, und gab keinen Laut von sich. In diesem Augenblick betrat Claes die Kammer, entriß wortlos der Frau die Peitsche und schlug sie ihr so heftig über den Kopf, daß sie ohne Besinnung zu Boden fiel. Oliver wandte sich um und sah den Vater stumm an. Claes hielt den Blick eine kleine Zeit aus, ein wenig die Brauen hebend, dann biß er sich auf die Lippen, wandte sich kurz um, warf die Peitsche in eine Ecke und schlug die Tür hinter sich zu. Oliver hockte sich neben die Liegende, betrachtete die schmale Blutrinne, die langsam ihren Scheitel entlanglief, das Blut, das aus der Nase und den Ohren kam. Er beugte sachte den Kopf und küßte das Blut fort, das über ihre Stirn zu fließen begann. Er richtete sich hastig auf, mit unsäglich verwirrtem Gesicht, lief zum Wasserkrug, näßte ein Tuch, legte es der Frau auf das Gesicht und eilte aus dem Zimmer. Man sah ihn den ganzen Tag nicht. Nur Henryk, der Bruder, wollte wissen, er triebe sich auf den Bleichen der Leineweber umher, als der Vater in den Nachmittagsstunden nach ihm fragte; und Henryk sah ihm nicht ins Gesicht dabei; Claes fragte nicht mehr. Am Abend erschien Oliver mit grauem Gesicht, verstört, gehetzt und schmutzig am gemeinsamen Tisch, der die Eltern, die Geschwister und das Gesinde vereinigte. Er setzte sich ohne Gruß an seinen Platz. Claes aß schweigsam und hastig, Eliza neben ihm, noch ein wenig bleich und mit dunklen Rändern unter den Augen, sah den Knaben aufmerksam an, ohne ein Wort des Tadels. Nach dem Essen stand der Vater auf und ging fort, wie es seine Gewohnheit war. Auch Henryk ging, allein und abgekehrt wie immer, mit einem scheuen Blick über die Schulter zum Tisch hin; die zwei Schwestern, die Knechte und Mägde folgten schwatzend und lachend und verloren sich in die laue Nacht. Die Frau und Oliver waren allein. Sie blieben am Tisch sitzen, weit voneinander, zwischen sich die leeren Stühle und sahen sich an. Jetzt senkte sie unter seinem brennenden Blick den Kopf und wurde rot. Er schob die Arme auf den Tisch und ballte die Fäuste.

»Oliver«, fragte sie dann leise, »hattest du mir das Tuch aufgelegt?«

Er sagte durch die Zähne nein. Nach einer Weile stand er auf und schritt zur Tür.

»Komm!« sagte er. Sie zögerte.

»Komm!« sagte er drängend, mit fiebrigem Blick, »es verlohnt sich.«

Er lachte kurz auf und trat in den Hof hinaus. In seinen Worten und in diesem Lachen war ein aufreizendes Wissen um etwas, das häßlich war und sie doch neugierig und gehorsam machte. Sie ging ihm nach und holte ihn am Tor ein. Sie schritten schweigsam über den mondbeleuchteten Feldweg ins Gehölz. Jetzt blieb Oliver stehen und flüsterte ihr zu, die klappernden Holzschuhe auszuziehen. Barfuß schlichen sie sich an die Holzhackerhütte heran, aus der Licht schimmerte. Die Frau sah Claes bei der nackten Grietje Hauwel liegen, der fünfzehnjährigen Magd aus Oudenaarde. Eliza machte eine Bewegung, als wollte sie in die Hütte stürzen oder schreien; doch Oliver, der hinter ihr stand, schlang die Arme um sie, preßte die rechte Hand auf ihren Mund und die linke auf ihre Brust und das Gesicht gegen ihren Rücken und flüsterte in der äußersten Erregung:

»Henryk!«

Die Frau duldete wie betäubt die Umarmung einen Augenblick. Dann stieß sie den Knaben heftig zurück und eilte fort. Der Zufall wollte es, daß sie auf dem einsamen Feldweg den Henryk traf – oder er hatte hinter dem Heuschober auf sie gelauert. Seine starken Arme hoben sie auf; sie schrie nicht, sie wehrte sich auch nicht. Er trug sie keuchend ins Feld, sinnlose Worte hervorstoßend, und legte sie sanft auf die Erde. –

Oliver stand im Torbogen, starr wie ein Pfahl, hell im Mondlicht, den Eingang einengend, und wartete. Zuerst kam Eliza; sie lief, als wäre sie verfolgt, prallte vor dem Knaben zurück, mit kurzem Atem, die Augen groß auf ihn gerichtet, das aufgelöste Haar in wirrer Eile zum Knoten steckend. Oliver sprach nichts und bewegte nicht das Gesicht. Seine Augen schienen in dem weißen Licht so tief in den Höhlen, daß es der Frau war, als durchbohrte die Nacht seinen Kopf an diesen beiden Stellen und als blickte sie durch ihn hindurch in unendliche Schatten. Sie stöhnte auf und fragte mit ganz veränderter, ganz fremder Stimme: »Bist du blind, Oliver?«

Der Knabe antwortete nicht; aber es schien ihr, als grinste er. Sie bedeckte die Augen mit der Hand, preßte sich an die Torwand, um ihn nicht zu streifen, und ging mit kleinen demütigen Schritten vorbei. Er drehte sich nach ihr nicht um. –

Dann kam Henryk, mit hängenden Händen und gewölbtem Rücken. Er hob am Tor den Kopf und erschrak nicht sonderlich.

»Ach, Oliver!« sprach er traurig.

Doch als er den Knaben ansah, wurde er unruhig. Er stotterte verwirrt:

»Ich habe ... sie ... nicht gefunden ... gefunden. – Oliver, bitte ...«

Er bückte sich, kam mit den Augen ganz nahe an des Knaben Augen – und plötzlich schlug er ihm ins Gesicht. Oliver taumelte gegen den Torpfosten, Henryk schritt in den Hof. Der Knabe, ohne einen Laut des Schmerzes oder der Wut, schüttelte sich und stellte sich an seinen Platz zurück.

Er wartete zwanzig Minuten; die Stille der Nacht brauste ihm in den Ohren. Hin und wieder bellten Hunde; vom Dorf her johlten Betrunkene. Oliver biß die Zähne zusammen, weil er mit einemmal das Bedürfnis zu weinen fühlte. Doch er weinte nicht. – Und Grietje kam, mit einem kleinen Lied auf den Lippen. Jetzt schrie sie auf: Jesus-Maria! Dann ging sie vorbei und sagte leise und eindringlich:

»Teufel!« –

Und Claes kam, ein wenig nach vorne geneigt, mit seinen langen Schritten. Er blieb erstaunt stehen.

»Was tust du hier, Oliver?«

Der Knabe sah ihn lange an und sprach dann langsam, fast ohne Betonung:

»Die Peitsche ist noch blutig, und die Grietje ist schon drin.«

Claes schaute über ihn hinweg, den Mund ein wenig offen, und lehnte sich an die Mauer, als wäre er plötzlich sehr müde. Er sagte nach einer langen Pause und ohne Sinn: Ja, hob den Knaben auf, küßte ihn auf die Stirn, schloß das Tor und trug ihn ins Haus.

 

Von nun an herrschte Oliver über die bösen Gewissen wie ein Tyrann. Er sprach nie eine Drohung aus oder eine Erpressung, aber er bedrückte und quälte die Menschen durch seinen Blick, durch seinen Ernst, durch sein Lachen durch seine Gegenwart, die von ihren Zusammenhängen wußte. Er näherte sich der Stiefmutter nie mehr; und sie hatte von jenem Tag an wortlos und wie von ungefähr auf Gewalt und Rechte der Erzieherin verzichtet und ihn wie einen Erwachsenen behandelt. Henryk versuchte es immer wieder, durch Freundlichkeiten aller Art den Schlag ins Gesicht gutzumachen; Oliver ließ sich nicht bestechen und nicht rühren. Er blieb kühl, abweisend und undurchdringlich, auch gegen den Vater, der sich ihm in dieser Zeit aus einer bestimmten innerlichen Erschütterung heraus nähern wollte. Oliver ließ sich seine heimliche Macht nicht mehr entwinden. Er wußte, daß die wilden Körper Elizas und Henryks sich immer wieder fanden und daß Claes seiner Greisenlust zu jungen Mädchen immer mehr verfiel. Und die drei Menschen wußten, daß der Knabe jede ihrer schlimmen Stunden kannte, daß es ihm und seinem stillen Lächeln zuweilen gefiel, Gelegenheiten zu verschaffen und Widerstände fortzuräumen, und daß er sie dann noch mehr mit seinem Dasein folterte.

Es kam die Nacht, in der Henryk es nicht mehr ertrug. Er füllte einen ziemlich großen Sack mit sehr feinem Sand, in den Glassplitter verrieben waren, und trug ihn, auf nackten Sohlen schleichend, in Olivers Kammer. Aber der Knabe schlief nicht. Er fragte durch das Dunkel, wer da sei. Der Bruder rührte sich nicht. Doch jetzt sagte Oliver, als sähe er durch die Nacht: »Ach, Henryk.«

Dem Mann trat kalter Schweiß auf die Stirn. Er wartete eine Minute oder drei Minuten. Als Oliver ruhig blieb, sprang er, den Sack schwingend, in die Richtung auf das Bett und leerte ihn aus.

»Ach, Henryk«, sagte in seinem Rücken Oliver, der sich zur Kammertür geschlichen hatte, »weißt du auch, daß ich deiner Mutter Sohn bin?« –

Und er schlug die Tür zu und verriegelte sie von außen. Und er sprach durch das Holz:

»Das ist Sand, der mir die Lungen zerreiben sollte, Bruder Henryk; ich habe davon schon gehört. So brachte einer in Brügge viele Leute um. – Aber, Henryk, warum willst du mich umbringen?«

Der Bruder rührte sich nicht; doch er biß sich die Haut von den Knöcheln. Nach einer Weile hörte er wieder die sanfte, hohe Stimme Olivers.

»Sieh, Henryk, ich habe nichts von dir und Eliza dem Vater gesagt; aber morgen werde ich es ihm sagen, morgen oder übermorgen – lieber morgen früh, solltest du mich morgen abend wieder umzubringen versuchen. – Jetzt gute Nacht.«

Er ging fort und schlief auf dem Heuboden. Am anderen Morgen entriegelte er leise die Tür seiner Kammer und fand den Bruder auf seinem Bett in tiefem Schlaf. Er weckte ihn. Henryk fuhr auf mit verstörtem Gesicht. Oliver fragte ihn mit seinem bösen Lächeln:

»Du hast nur den Sand und nicht dich selber aus dem Fenster geworfen, Henryk?«

Der Mann umklammerte seine Hände. Er flehte:

»Sage nichts ...«

Oliver schnitt eine Grimasse. Henryk hob die Fäuste doch er lief schon aus der Kammer. Bis zum Mittag hielt er sich noch bei der Arbeit, den Vater und den wie absichtlos um ihn herumstreichenden Oliver beobachtend, zerfressen von seiner Angst. Nach dem Essen aber und im Laufe des Nachmittages, als die genaue Kontrolle der beiden immer schwieriger wurde, machte ihn die Ungewißheit mürbe. Er befahl dem Großknecht, der Mehl nach Gent zu bringen hatte, aus irgendeinem Grunde zu bleiben und fuhr selber in die Stadt. Er kam nicht zurück, sondern ging von Gent nach Brügge. Ein Thielter brachte in seinem Auftrag das Fuhrwerk heim und meldete, Henryk sei in Geschäften nach Lüttich gereist. Da den Neckern solche plötzliche Abschwenkungen eigentümlich waren, verwunderte man sich über die Nachricht nicht sonderlich. Nur Oliver lachte auf seine abseitige Art; Eliza sah dieses Lachen; aber sie gehörte zu den Menschen, die wenig fragen und vieles mit sich selber abmachen. Selbst Oliver wußte nicht, ob sie sich nach Henryk sehnte oder auch nur an ihn dachte. Er wurde freundlicher zu ihr.

Sechs Wochen später tauchte Henryk wieder in Gent auf, erfuhr unschwer, daß zu Hause nichts Bedeutsames vorgefallen sei, und erschien am gleichen Tag in Thielt, wahrhaftig mit Geld, einigen Ballen feinen Tüchern und nicht unbedeutenden Aufträgen auf heimische Erzeugnisse. Der Empfang war kühl, weil bei den Neckern Sentiments nicht geschätzt wurden. Claes nickte mit dem Kopf, Eliza lächelte ein wenig und sagte: »Guten Abend, Henryk.« Oliver übersah die Hand, die der Bruder ihm reichte. –

 

Und doch war er um diese Zeit gut zu einem Menschen, ohne eine Absicht und ohne verdeckte Gedanken gut: zu Louize, der schöneren und gefährlicheren der Schwestern. Die für eine Necker-Tochter seltsame Lebensentwicklung der Älteren, bis fünfundzwanzig Jahre im Haus zu bleiben und dann zu heiraten, wiederholte sich bei Louize nicht. Als sie achtzehn Jahre alt geworden war, änderte sie mit einemmal ihr kaum bemerktes und nicht eben lautes Mädchenleben. Ihr erwachter Körper verwirrte für eine kurze Zeit nur sie selber; dann aber lernte sie, ihn zu gebrauchen, mit ihm die Männer zu reizen und daran Freude zu haben. In diesem Augenblick fand sie an Oliver, dem sie bisher auswich wie die anderen, ohne doch ihre tiefe Abneigung zu teilen, mit aller Selbstverständlichkeit einen Bundesgenossen, Helfer, Boten, Zuträger und Beschützer. Es war zwischen den beiden nicht notwendig gewesen, sich einander zu entdecken, mitteilsam zu werden, Vertrauen zu erbitten und Verschwiegenheit zuzusichern: als sie eines Abends aus der Scheune schlüpfte, stand er vor ihr und riet ihr freundlich, jetzt noch nicht das Haus zu betreten, da Eliza noch auf sei, sondern Jehan, den Großknecht, zuerst gehen zu lassen und selber in der Scheune zu warten, bis er, Oliver, mit einem Stein gegen das Tor klopfe – das war alles. Von dieser Stunde an waren sie verbunden, minierten gemeinsam das Gehöft und dann das Dorf und ließen die Männer springen. Sie fingen sie vom halbwüchsigen Burschen bis zum abwegigen Familienvater, neckten sie, betrogen sie, hetzten sie aufeinander und lachten, wenn sie sich prügelten und die Weiber heulten. Die Klagenden, die sich zu Claes wagten, wurden verlacht oder hinausgewiesen; denn der Vater wußte, daß Oliver in einer Ecke oder vor der Tür hockte. Einmal wollte Eliza das Mädchen zur Rede stellen; aber Louize war nicht allein, Oliver hinter ihr sah die Frau an – und Eliza schwieg. Vielleicht verwunderte sich Louize über seine Macht, vielleicht auch hielt sie solche Wirkung für angemessen seinem Wesen: sie fragte ihn nicht. Dann wurden ihr die Grenzen für ihre wilden Spiele zu eng: sie fuhr mit Oliver zum großen Samstagsmarkt nach Brügge. Oliver kam allein zurück. Claes fragte ihn nach Louize.

»Es geht ihr gut«, sagte Oliver und hob den Kopf.

»Kommt sie zurück?« fragte leise Eliza.

»Nein.«

Man sprach nicht mehr von ihr.

 

Das Schicksal, das Oliver bisher im Kreise um sich sah, von ihm in seltsamer Art und Frühe angerührt, aber ihn nicht anrührend, ergriff seine Hand, als er fünfzehn Jahre alt war. In Thielt herrschte Erregung. Des Bäckers Dascher achtjährige Tochter Roosje war vom Beerensammeln nicht mehr heimgekehrt und blieb verschwunden, allen Nachforschungen zum Trotz. Um die gleiche Zeit wurde Oliver krank, das erstemal in seinem Leben. Er erbrach sich eine ganze Nacht lang, ohne daß man die Ursache hätte mutmaßen können; denn keiner im Haus außer ihm fühlte bei gleicher Nahrung irgendwelche Beschwerden; er weinte auch viel, und das vor allem war befremdlich; denn man hatte ihn noch niemals weinen sehen; er sprach kein Wort und ließ nur Eliza zu sich; er lag zwei Tage. Als ihn Eliza am Abend des zweiten Tages verlassen wollte, hielt er sie zurück und sprach mit ruhiger Stimme:

»Ich verzeihe dir, Mutter, verzeihe mir auch.«

Die Frau betrachtete ihn beunruhigt; doch er antwortete auf keine ihrer Fragen und schien müde zu sein. Sie küßte ihn leicht auf die Stirn und ging.

In der gleichen Nacht stand Oliver auf, zog sich an und schnürte seine Sachen zu einem Bündel. Dann ging er barfuß, eine kleine Laterne in der Hand, zur Kammer Claesens, der seit vielen Jahren allein zu schlafen pflegte. Die Tür war verschlossen. Oliver klopfte. Der Vater antwortete sofort, mit wacher, etwas heiserer Stimme:

»Wer ist da?«

»Oliver.«

»Was willst du, Oliver?«

»Öffne, Vater.«

»Warum soll ich öffnen, Oliver?«

»Warum willst du nicht öffnen, Vater?«

Claes schwieg eine Weile und atmete schwer. Dann sprach er:

»Ich will dich nicht sehen, Oliver.«

»Warum willst du mich nicht sehen, Vater, wenn du mich doch hören mußt?«

Oliver hörte ein kurzes wildes Schluchzen; er sagte nach einer Weile, leiser:

»Ist es für dich leichter, Vater, wenn du mich nicht siehst?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete Claes dumpf, als läge eine Hand auf seinem Mund; »aber ich will dich nicht sehen, Oliver.«

Der Sohn preßte seine Stirn gegen das rauhe Holz der Tür und stöhnte:

»Ich muß jetzt fort von hier, Vater.«

»Warum, Oliver?«

»Ich weiß, wo Roosje liegt und wie sie aussieht, Vater.«

Die Stille, die jetzt folgte, war so schwer, daß Oliver seine Schläfe gegen das Holz pochen hörte. Dann flüsterte Claes – und das geflüsterte Wort schlug durch die Tür wie ein lautes Wort –:

»Du mußt jetzt fortgehen, Oliver.«

Und Oliver fragte leise zurück:

»Ist das alles, Vater?«

»Nimm Geld aus der Truhe, Oliver.«

»Ist das alles, Vater?«

»Ich habe dich geliebt und ich liebe dich noch heute, Oliver, mein Sohn.«

Oliver fiel auf die Knie und krallte die Nägel ins Holz.

»Vater! Vater! Und wirst du mich noch morgen lieben?«

Claesens Stimme wurde freier, als wiche von ihm die Angst:

»Tote lieben nicht mehr, Oliver.« –

Der Knabe rüttelte an der Klinke und wimmerte gequält:

»Ich will dich noch einmal sehen, Vater; ich will dir noch etwas sagen, Vater, etwas, das ich weiß und das du nicht weißt ...«

Claes unterbrach ihn klar und ruhig:

»Du sollst mich nicht mehr sehen und du sollst mir nichts mehr sagen, Oliver, und du sollst die Menschen verachten, wie ich sie verachte, und du sollst dich drum nicht groß lieben; denn du bist kein Teufel, sondern ein armer Mensch – wie ich mich nicht liebe, weil ich ein armer Mensch bin. Und du darfst ihnen weh tun, wenn du dadurch auch dir weh tust, Oliver. – Und du wirst erfahren, daß der Schmerz ganz nahe bei der Freude ist, oder du hast es schon erfahren, Oliver. Jetzt geh.« –

Als Oliver schon zwischen Thielt und Gent war und als der Morgen kam, hörte das Haus den Schrei Elizas, die den Erhängten gefunden hatte.

 

Oliver beeilte sich, Gent zu verlassen, ehe das Thielter Ereignis in der Stadt bekannt wurde. Er fand bereits um die Mittagszeit einen Lütticher Waffenhändler, der mit seinen Karren nach Brügge unterwegs war und gegen Entgelt den Knaben mitzunehmen sich bereit erklärte.

In Brügge brauchte er nach Louize nicht lange zu fragen. Der Wirt, in dessen Gasthaus er ein Jahr zuvor mit ihr abgestiegen war und wo er sie als Besitz eines feisten alten und sichtlich begüterten Florwebers zurückgelassen hatte, betrachtete den hageren Jungen belustigt und äußerte spöttische Zweifel an seinem Vermögen, das in doppeltem Sinn benötigt sei, wolle er in allem Ernst die Dame angehen – er lachte gemein –; denn sie sei zugleich die feurigste und die teuerste Kurtisane der Stadt. Oliver lachte mit und ließ sich, ohne viel zu antworten und ohne sich als ihren Bruder in die Erinnerung des Mannes zu rufen, die Straße nennen.

Louize bewohnte ein schönes Haus in der Nähe des Jakobstores. Da sie es nur mit großen Herren hielt, ließen die Behörden sie in Ruhe, zumal sie den Beginenhäusern, den Kirchen und Armenanstalten oft Geschenke machte – gewiß mehr aus Klugheit als aus barmherzigem Sinn. Der Florweber war entlassen worden, als er nach dem Geschenk des Hauses sparsam und auch lästig zu werden begann und als ihre Schönheit genug gesehen worden war, um unter den reichen Kaufleuten der florentinischen Kolonie und unter den pompösen Söhnen der Brügger Patrizierfamilien wählen zu können. La Rossa, wie sie genannt wurde und bald auch sich nannte, lebte seither auf eine zugleich begehrte und lüsterne, ergebene und dominierende Art und war mit sich zufrieden.

Oliver hatte einige Schwierigkeiten, um an dem riesenhaften vrijeschen Türhüter vorbeizukommen, der hartnäckig und mit mißtrauischem Blick erklärte, daß die Dame jetzt nicht empfange. Da der Knabe es im Interesse seiner künftigen Verwendung für geraten hielt, sich nicht als Bruder zu entdecken, gab er sich für einen Scholaren aus, den die Rossa als Sekretär in Dienst zu stellen beabsichtige.

Sein schwarzer Anzug mochte der Schülerkleidung ähnlich sehen oder seine Art der Wahrheit: der Portier ließ ihn ins Haus.

Louize nahm ihn freudig auf. Er blieb bei ihr und diente ihr wie in Thielt; doch sie verschwiegen ihre Verwandtschaft. Mit großer Sicherheit übernahm er nach wenigen Wochen, die Situation übersehend, die Regie ihres Berufes. Er begriff rasch die außerordentliche Macht ihres Körpers und steckte ihre Ziele höher. Er sah, daß während der Messe in Sankt Salvator ein hoher Prälat sie nicht aus den Augen ließ. Sie wurde seine Mätresse und war klug genug, Olivers Rat zu folgen und um des mächtigen und wohlwollenden Kirchenherrn willen ihren Gebrauch an Männern einzuschränken. Der Prälat fand auch an dem zutunlichen, zu allem brauchbaren, diskreten und intelligenten Knaben Gefallen und hatte eine Zeitlang Lust, ihn für den geistlichen Beruf zu gewinnen. Oliver sagte nicht nein, lernte bei den barmherzigen Brüdern des Johannesspitals Lesen, Schreiben und ein wenig Latein, verschob geschickt und immer wieder die Termine, die der Protektor für den Beginn seines Noviziats anordnete, sah bald auch mit seinen scharfen Augen, daß Louizens Gegenwart das Gesicht des Alternden nicht mehr so schön belebte wie früher und hielt einen Wechsel des Gönners und des Ortes für geraten. So konnte ein päpstlicher Legat, ein junger, schöner Mensch aus altem Geschlecht, der mit dem Prälaten bei Louize bankettiert und seine Blicke schlecht im Zaum gehalten hatte, am nächsten Tag den merkwürdigen Sekretär der Rossa in seinem Quartier sehen und bedachte Vorschläge hören: die Dame sei bereit, ihm zu folgen, wenn er selber in aufrichtiger Art sich mit dem Prälaten auseinandersetze und den Ankauf des Hauses durch ihn erreiche, wenn er ihren Sekretär, den Türhüter und die zwei Kammerfrauen mitzunehmen bereit sei, wenn er sich verpflichte, sie erst acht Tage nach ihrer Ankunft in Rom um ihre Gunst zu bitten, und wenn er innerhalb dieser Zeit den nötigen Aufwand für ihre Person sicherstellen könne. Der Legat, dem die vor Blässe leuchtende Haut und der schmale, harte Mund und die zuweilen bernsteinfarbenen, länglich geschnittenen Augen der Rossa keine Ruhe ließen, sagte ja und fand bei dem gütig und klug lächelnden Prälaten einen viel geringeren Widerstand, als er zu überwinden entschlossen war. Die Reise ging über Frankreich und Anjou nach Nizza und von dort auf einer päpstlichen Galeere nach Rom.

Dort erlebte die fremdartige Schönheit des Mädchens die großen Triumphe. Der Legat konnte die Fiamminga – so hieß sie bei den römischen Lebeleuten – nicht lange gegen den Ansturm der Bewunderung und der Begehr halten; er trat sie dem allmächtigen Kardinal Borgia gegen eine reiche Abtei ab, zumal er ehrgeizig war und sich selber unter dem Kardinalshut wußte, wenn der andere die erstrebte Tiara gewann. Oliver blieb die wichtigste Person ihres kleinen Hofstaates und zu ihrem Ja die unvermeidliche Instanz, die selbst der Kardinal anerkannte. Doch da Oliver den guten Grundsatz seiner Politik beibehielt, ehrlich und eindeutig zu dem zu stehen, dessen Freundschaft am wertvollsten war – da er also dafür sorgte, daß den anderen Bewerbern wohl die Geschenke abgenommen, sie selber aber vor der Schlafzimmertür verabschiedet wurden, hielt ihn der Kardinal für seinen Verbündeten. Er beschäftigte sich mit ihm, zuerst nur, um ihm zu gefallen, und durch ihn der Rossa. Dann aber bemerkte er das Außergewöhnliche an dem jungen Menschen: einen Willen dunklen Zielen zu, eine unheimliche und unchristliche Energie, die ihm aus den Augen glühte und seinen Blick schwer erträglich machte – und doch war es nicht der böse Blick des Jettatore, den man mit Hörneramuletten, gegabelten Korallenzweigen oder wenigstens doch mit der geheiligten Geste der ausgestreckten zwei Finger auffangen und paralysieren muß: nein, diese Augen waren nicht vorspringend und sehr nahe beieinander, sondern tiefliegend, langwimperig wie die einer Frau und von einem unbestimmbaren, unergründlichen Dunkel, lockend und gefährlich wie die unbewegliche Fläche der albanischen Seen. Der Kardinal bemerkte seine kluge, stille und gleichsam verantwortungsbewußte Haltung, ein erstaunliches Gedächtnis, das kaum vier Monate brauchte, um die Sprache zu beherrschen, eine intrigante Begabung, welche – in den Sekunden eines Gespräches die Menschen durchschauend – sofort mit ihren Schwächen oder Wünschen sich bewaffnete und doch nicht losschlug, sondern sie verwirrend sanft und unmerklich in die Niederlage hineindrängte. Borgia begriff die Verwendbarkeit eines solchen Menschen, den er nicht mehr für einen Knaben hielt (denn Oliver sagte niemals sein Alter); er lenkte mit wenigen Worten seine Gewissenlosigkeit einem neuen und anziehenden Bereich zu: der unterirdischen Politik. Oliver arbeitete für ihn wie ein Geheimsekretär und versorgte ihn, den Führer der spanischen Partei, mit Informationen über die Bewegung der gegnerischen Gruppen: der antiklerikalen römischen Aristokratie und der mit dem toleranten Papst durch wissenschaftliche Interessen verbundenen und scharf gegen eine Borgia-Kandidatur arbeitenden Humanisten. Oliver wurde es nicht allzu schwer, die scheinbare Neutralität des kleinen Palazzo nahe dem Forum Trajanum, den Louize bewohnte, zu seinen politischen Zwecken auszunutzen und prominente Nobili und Gelehrte mit der Lockspeise der Fiamminga in die notwendige Vertrauensseligkeit zu locken. Doch als er auf Geheiß des Kardinals den angesammelten Brennstoff anzündete, kam er selber zu Schaden. Ein Literat, der zu den fanatischen Apologeten der republikanischen, antipapistischen Tendenzen Lorenzo Vallas und anderer Humanistenführer gehörte, wurde von Oliver und den übrigen Provokateuren des Kardinals bis zur Verschwörung gegen das Leben des Papstes gebracht. Borgia wollte am Vorabend des Attentats die Konspiration aufdecken und dadurch die Mittel in die Hand bekommen, die ganze Partei zu vernichten. Doch der Literat wurde vorzeitig schwach, stellte sich der päpstlichen Behörde, gestand den Plan und nannte seine Helfer. Borgia, der Mühe hatte, sich selber zu entlasten, ließ seine Leute unbedenklich im Stich; aber die päpstlichen Sbirren, die in das Haus der Rossa drangen, um ihren Sekretär festzunehmen und ihn neben die anderen an ein Türmchen der Engelsburg zu hängen, fanden ihn nicht. Oliver war nach Bracciano geflohen, dessen Herr gerne Männer aufnahm, die der Papst verfolgte. Dort kopierte er des Poggio lateinische Übersetzung der Cyropädie Xenophons, rasierte den Duca und versprach ihm die Fiamminga.

Doch Oliver sah die Schwester nicht wieder. Als die Pest mörderisch in das Gewimmel des Heiligen Jahres schlug, wagte er sich in das entsetzte, von Papst, Kurie und Magistrat verlassene Rom. Er fand auch den Kardinalspalast und das Haus der Rossa leer. Einige sagten, die Kurtisane sei gestorben; andere wußten, sie sei noch vor dem Ausbruch der Epidemie mit einem Höfling König Alfonsos nach Neapel geflohen, andere wiederum wollten sie im Gefolge des in südlicher Richtung der Pest enteilenden Borgia gesehen haben. Oliver war traurig; er nahm ein kleines Bild mit sich, das ein Schüler des älteren Pollajuolo von Louize gemalt hatte, und begab sich zusammen mit einem Kopisten des Georgios Trapezuntios nach Florenz.

Dort arbeitete er zunächst wieder als Schreiber und Barbier, kam dann durch ein öffentliches Mädchen, das ihn protegierte, auf den Gedanken, Schminken und Schönheitswässer herzustellen, und gelangte in kurzer Zeit zu einem gewissen Wohlstand. Aber da seine Mixturen zu viel Quecksilber enthielten, richteten sie gesundheitlichen Schaden an, und Oliver entging mit knapper Not dem Bargello.

Es folgten fünf Jahre des Wanderns unter hundert verschiedenen Masken und Namen, als Schreiber, Scholar, Barbier, Wunderdoktor, Schwarzkünstler, als Spion, Zuhälter, Falschspieler, durch viele Tiefen des Lebens und die Brandungen hastigen Schicksals, doch nur gestreift von den Ereignissen, niemals mitgenommen, niemals mehr von sich zurücklassend als ein Kleid, einen Namen, selten ein Stückchen Haut, von den Menschen doch mehr geliebt als gehaßt und selber nicht liebend und nicht hassend, nicht einmal geldgierig in der Ausnützung seiner Überlegenheit und immer deutlicher seine Sehnsucht nach dem Norden fühlend. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, als er wieder in Gent auftauchte.

Am Tage nach seiner Ankunft schon drängte es ihn nach Thielt. Er kam zur Mittagszeit an; er sah ohne Bewegung die backsteinerne Dorfkirche, die bekannten Häuser und Wege, das väterliche Gehöft. – Was will ich hier? fragte er sich erstaunt über sein Gefühl der Erwartung, das ihn nicht verließ.

Eliza war eine schwere Matrone geworden, im Haar graue Strähnen. Sie wandte sich nach der Tür um und sagte mit ihrer dunklen, ein wenig kehligen Stimme:

»Ach, Oliver!«

Sie stand freundlich auf und ging ihm entgegen. Auch Henryk, dessen Kopf kahl zu werden begann, begrüßte ihn, wies dann unvermittelt und mit fast verlegener Bewegung auf eine hübsche junge Frau, die neben ihm saß, und sagte:

»Das ist Lysbeth, die Tochter Meister Willem Ryms. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet.«

Doch Oliver hatte nur flüchtiges Wort und Auge für die drei. Am Tisch, neben Lysbeth, saß ein Mädchen von zehn oder zwölf Jahren, welches ihm zugelacht hatte, kaum daß er die Stube betrat. Es geschah selten, daß die Menschen ihm zulachten; und es geschah ihm noch nie, daß ein lächelnder Mensch Helle um sich verbreitete und daß er diese Helle in den Augen und in der Brust spürte. - Er lachte zurück (und Oliver lachte nicht oft ein gutes Lachen); eine reine und unbekannte Freude streifte ihn wie ein Rauschen, wahrhaftig, wie ein Rausch, ein gleichsam trunkener Gedanke kreuzte dazwischen: ich habe ja diese Freude erwartet! Er löste den beglückten Blick von den grauen Augen und den schönen Zähnen des Mädchens, sah die anderen an, wie triumphierend – und sieh: es lachten auch die drei, und die Stube war nicht mehr dunkel. Eliza sagte:

»Ich freue mich, daß es dir gut geht, Oliver.«

Und Lysbeth sprach:

»Das ist Anne, meine kleine Schwester.«

Oliver sah sie wieder an.

»Ich bleibe jetzt in Gent«, sagte er und lächelte noch immer.

 

Oliver trat in die Zunft der Barbiere ein. Er hatte es nicht schwer, sich durchzusetzen, weil er ein Necker und ein weitgereister Mann war und weil er als Altgeselle bei Willem Rym arbeitete, dem Zunftmeister und verehrten Führer der gentischen Unabhängigkeitsbewegung. Oliver wurde bald Meister und reorganisierte zusammen mit Willem Rym die nach dem unglücklichen Krieg mit Burgund und dem Verlust der alten Stadtprivilegien sehr geschwächte Oppositionspartei. So liebte ihn der alte Meister, der in ihm nur den Patrioten und geschickten Zunftgenossen sah, wie einen Sohn, und so heiratete er Anne, als sie fünfzehn Jahre alt geworden war. Rym starb kurze Zeit darauf, Oliver war der selbstverständliche Erbe seiner beruflichen und politischen Stellung. Jetzt erst, unabhängig und im Besitz der geliebten Frau, gestattete er sich selber zu sein, wie er in Wahrheit war. Allmählich und unangreifbar terrorisierte er die proburgundische Partei, nicht aus Patriotismus, sondern aus Freude am einmal begonnenen politischen Spiel, auch aus Freude an seiner geistigen Kraft und in kluger Berechnung von des französischen Gegenspielers Überlegenheit. Er arbeitete mit den dunklen Mitteln seines Genies und seiner Erfahrung. Er dezimierte die gegnerischen Führer, ohne sich bloßzustellen, und nahm ihnen durch das leicht fanatisierte Volk den Anhang weg. Er war ein gefälliger und zu allen freundlicher Mann, scheinbar ohne großen persönlichen Ehrgeiz, nicht auf magistratische Würden bedacht, nicht zu oft und nicht zu selten in der Öffentlichkeit. Aber er hielt schon Zügel, die man nicht sah, fest in der Hand, lenkte die Menge in seine Richtung; und die Menge merkte den Steuermann nicht, auch nicht den heimlichen Fänger der Seelen; doch sie begriff den Abstand zwischen sich und ihm, das Besondere an ihm, das Isolierte und Erhobene auch: sie sah ihn gerne und lief ihm gerne nach. Aber sie mochte nicht zu nahe kommen. – Er wurde der Agent Frankreichs, nicht aus einem persönlichen Interesse am Verrat, sondern gleichsam aus der Lust des Strategen an der Ausnützung parallellaufender Bewegungen und Kräfte. Er blieb Genter Patriot in den Augen des Volkes. Und der Mund des Volkes nannte den Meister, wie das Thielter Gesinde den Knaben genannt hatte: den Teufel Oliver. Doch er selber fühlte den Unterschied: es war nicht der Fluch erschreckter Knechte, sondern die Huldigung der Genter, die den Teufel im Leibe hatten und ihn liebten.


 << zurück weiter >>