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Sechstes Kapitel.
Die Überwindung

Der Kardinal arbeitete in Paris kaltblütig und planmäßig seinem Ziel zu. Obgleich er durch den Gewinn Olivers des Erfolges sicher war, operierte er in seiner bedachtsamen Klugheit immer nur mit zwingenden Tatsachen, die doch selbst dem scharfäugigen König verbergen konnten, daß er ihr Motor war. Er meldete nach Amboise von bedenklichen Truppenkonzentrationen an der pikardischen Grenze, beunruhigte Ludwig, dessen Heer im Westen beschäftigt war, durch den Hinweis auf die Gefahr eines burgundischen Rückenangriffs, durch die Mitteilung von des Herzogs Anwesenheit im Sommegebiet und übermittelte schließlich dem König ein ultimatives Schreiben des Burgunders, in welchem er eine Fortsetzung des Feldzuges gegen seinen bretonischen Alliierten mit dem Angriff auf die Pikardie zu beantworten drohte.

Oliver hatte sich sofort nach seinem Eintreffen in Paris von Balue – unter guten Vorwänden – eine Empfehlung an den Franziskanerprior geben lassen und ohne Schwierigkeiten die Aufhebung der Klausur über den Bruder Fradin erreicht. Er benutzte den dankbaren Mann, um die Machenschaften des Kardinals und auch die fast sorglose, fast verdächtige Aufgeschlossenheit, die er ihm seit der Nacht zu Orleans bewies, zu kontrollieren. So erfuhr er, daß Balue ihm gegenüber und auch in seinen Meldungen an den König ehrlich war; er bestätigte in einem geheimen Bericht nach Amboise die bedrohliche Situation an der Somme, ohne doch die Frage der persönlichen Begegnung zu berühren. Er erfuhr aber auch durch Fradin, daß das Mißtrauen der burgundischen Regierung, zumal des Herzogs, gegen Balue nicht geschwunden sei, daß man hinter seinem Eifer die lenkende Hand des Valois vermute und daß man eine Selbststellung des Königs gerecht bezweifle. Und schließlich versicherte ihm der Mönch, daß der Kardinal die Revolutionierung Lüttichs durch den König nicht in die burgundische Rechnung gestellt habe; die herzoglichen Beamten in der Stadt hätten der Regierung wohl von neuen Umtrieben gemeldet, hinter denen wahrscheinlich französische Agenten ständen: aber gewiß sei, daß weder der Herzog noch seine Räte von der akuten Rebellionsgefahr und der Aufgabe des deutschen Söldnerführers als Beauftragten des Königs eine Vorstellung hätten.

Diesen Schachzug des Kardinals konnte sich Oliver um so weniger erklären, als Balue das Lütticher Problem auch ihm gegenüber zu übersehen schien. An dem Tag, an welchem Jean de Beaune dem Prälaten die Order des Königs überbrachte, unverzüglich dem Herzog seinen freundschaftlichen Besuch anzusagen und sich zu diesem Zweck ins burgundische Hauptquartier zu begeben, fragte der Necker den Kardinal ins triumphierende Gesicht:

»Denken Sie an Lüttich, Eminenz?«

Balue schien keinen Augenblick betroffen.

»Gewiß denke ich an Lüttich, lieber Meister«, entgegnete er mit listigen Augen, »glauben Sie, ich übersehe den wichtigsten Faktor?«

»Den wichtigsten Faktor?« staunte Oliver. »Sie haben weder mit mir darüber gesprochen noch – soviel ich weiß – mit Herrn de Crèvecœur der Stadt wegen korrespondiert.«

Der Kardinal lächelte.

»Mit Crèvecœur gewiß nicht, Meister Necker – und mit Ihnen darüber zu sprechen, ließ ich mir Zeit, bis Sie die notwendigen Fragen stellen. Da ich Ihre Intelligenz kenne, erwarte ich sie schon geraume Zeit. Würden Sie nicht fragen, so hätte ich ruhig schweigen können, ohne Ihnen gegenüber unlauter zu handeln.«

»Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung«, sagte Oliver achselzuckend, »aber ich begreife Ihre Worte durchaus nicht. – Es besteht doch die Gefahr, daß bei einem unfreiwillig verlängerten Aufenthalt des Königs im burgundischen Hauptquartier die bereits glimmende Lütticher Lunte die Explosion herbeiführt, während Ludwig noch Häftling ist.«

Balue rieb sich gutgelaunt die Hände.

»Es besteht nicht nur die Gefahr, mein Freund«, erwiderte er mit einem Grinsen, »sondern es ist gewiß; und Lüttich wird nicht erst explodieren, wenn der König bereits etliche Zeit festgehalten ist, sondern am dritten oder vierten Tag seines Besuches, sofern man sich auf den Konnetabel, der von seinem Luxemburg aus die Regie führt, verlassen kann.«

Oliver sprang entsetzt auf.

»Das bedeutet für den König Tod oder lebenslängliche Gefangenschaft!« rief er.

»Warum erregen Sie sich?« fragte Balue gleichmütig. »Der Herzog wird nicht wagen, seinen Lehnsherrn zu töten. – Und wie es auch sei, begreifen Sie doch, Meister: das bedeutet für uns beide in den Augen der Welt, selbst in den Augen des Königs gleichsam das Alibi. Durch die nicht voraussehbare Lütticher Rebellion, durch solche höhere Gewalt also sind wir für das Schicksal des Königs nicht mehr verantwortlich; denn man wird ihn bis zum Eintreffen der Hiobspost doch wohl nicht viel anders wie einen Gast behandeln und würde ohne sie nur in aller Höflichkeit seine kleinen Erpressungen machen können. – Und da ich durch gute Organisation jedenfalls als erster die schlimme Zeitung erfahren werde, kann ich davon so geschickten Gebrauch machen, daß mir auch die burgundischen Herren meine persönliche Unschuld lassen werden.« – Er kniff die Augen zusammen. – »Man weiß ja in Europa, daß der König von Frankreich seine dunkelsten Wege gerne allein geht. – Jetzt begreifen Sie alles, Meister.«

Oliver antwortete nicht gleich und ging nachdenklich hin und her. Er staunte über das Genie dieses purpurtragenden Judas; er staunte aber auch über sich selbst, daß sein Wille niemals sich jenem zugesellte, so weit er doch schon mit ihm gegangen war. – Ist die Entscheidung noch immer nicht gefallen? fragte er sich; weiß ich immer noch nicht, wen ich verurteilt habe? Bin ich wahrhaftig vom Valois besessen? Soll ich seine Tat vergessen? Soll ich klägliche Entschuldigungen suchen oder Zweifel konstruieren? – Er biß sich auf die Lippen; er wußte, wenn er jetzt umkehrte, war er an den stärkeren Dämon verloren. – Und doch ...

Sein Hirn arbeitete gegen seinen Willen mit der Enthüllung des Kardinals wie mit dem erlauschten Geheimnis eines Feindes; es tastete den scheinbar vollkommenen und gegen jeden Hieb des Zufalls gepanzerten Plan nach Einbruchstellen, nach Lücken, nach Sprengpunkten ab; es umschlich ihn und besann die Griffe, um ihn gegen Balue umzustülpen, um mit ihm wie mit einem Hebel den Urheber zu Fall bringen zu können. – – Warum nur? Warum nur? Was sollte die zwölfte Stunde noch in ihrem Schlag aufgehalten werden? Warum denn wollte er dem König nicht vorher, nicht jetzt noch gestehen, welche Zeit es sei?

Oliver beantwortete sich die Fragen nicht, er zwang sich auch nicht eine Entscheidung auf, weil der hellsichtige Instinkt schon das Sinnvolle in seiner eigenen innerlichen Unklarheit einsah. Und er sagte dem Kardinal nicht das Naheliegende und sich auf die Zunge Drängende: daß der Plan für ihn, den Necker, schwerlich ein Unschuldsbeweis sein würde, weil er selber den König auf die Lütticher Gefahr aufmerksam gemacht habe und weil er sogar den Auftrag habe, sich persönlich um die Sicherung der Lage in der Stadt zu bekümmern; daß er also eine klare Verantwortung trage und schon – da er die Wahrheit verschweigen oder verfälschen müsse, um den König in die Löwenhöhle zu locken – mit der einbrechenden Katastrophe von Ludwig als Hochverräter entlarvt sei. – Er antwortete nur:

»Ja, Eminenz, jetzt begreife ich alles.« –

Er verließ das Haus des Kardinals, das im Areal des Notre-Dame-Klosters lag. Sein Quartier war in des Königs Hotel des Tournelles, nahe der Bastille Saint-Antoine; denn Ludwig zog das kleine Schloß dem Palais Royal, das zudem dem Parlament als Sitz diente, für seine meist nur kurzen Residenzen in Paris vor und bestimmte es auch zur Unterkunft für die Mitglieder seines Hofes.

Oliver wußte, daß Herr de Beaune auf ihn wartete und für ihn Nachrichten vom König, vielleicht auch von Anne hatte. Er eilte über den Pont-aux-Oiseaux, auf dem die Vogelhändler ihre lärmende, zwitschernde, flatternde Ware anpriesen; er wandte sich nach rechts in die Richtung auf den Temple und bedachte, der Menschen und des Straßenlärms nicht achtend, daß die wenigen Grüße, die bisher die Neckerin ihm durch den Kurier gesandt hatte, von einem merkwürdig gleichgebliebenen, sicheren und nicht befleckten Gemüt zu zeugen schienen. Kam nicht von hier aus die Ungewißheit über ihn? – Er schritt unwillkürlich schneller aus, als könnte die nächste Stunde ihm Klarheit bringen. –

Jean de Beaune war schon zur Rückreise gerüstet. Ein wenig beengt und kurzatmig durch das Panzerhemd, das er unter dem Wams trug, berichtete er, daß der König in den nächsten Tagen Amboise verlasse, um in Compiègne auf Balues Rückkehr zu warten. – Sein dickes Gesicht faltete sich zur gutmütigen Grimasse: der König sei bester Laune und zuversichtlicher Stimmung, und er – Jean de Beaune – könne gewiß seine gute Laune verstehen, viel weniger aber – er verzog das Gesicht, als tränke er sauren Wein – die Freude an dieser höchst problematischen Expedition, die ihm persönlich durchaus nicht gefalle; und der König schicke seinem Ersten Kämmerer dieses Handschreiben.

»Die Majestät ist in bester Laune«, murmelte Oliver und entsiegelte das Billett. Es waren wenige Zeilen: die Unterredung mit Burgund sei durch die letzte Entwicklung der Dinge von größter Wichtigkeit und nicht mehr aufschiebbar, da er sich zu allem anderen auch vergewissert habe, daß dem Herrn Franz von der Bretagne nur die Aussicht auf die burgundische Hilfe den Rücken steife und daß er in dem Augenblick klein beigebe, in dem er von der Zusammenkunft hören werde. Er hoffe sogar, schon mit dem Sonderfrieden in der Tasche seinen Besuch machen zu können. Und das bedeute die Absprengung des Bretonen von Burgund. Eine Reise Olivers nach Lüttich lohne nicht mehr, aus Mangel an Zeit und gewiß auch an Dringlichkeit. Er habe sich mit Balue ins herzogliche Hauptquartier zu begeben und Augen und Ohren offenzuhalten. – Der letzte Satz aber war sehr seltsam und unvermittelt den nüchternen Anweisungen hinzugefügt: »Mein Freund, der Mensch ist wahrhaftig viel seltener durch Plan, Willen oder Veranlagung böse oder gut als durch den Stoß der hastigen Sekunde; so wollen wir uns niemals unbedachtsam verurteilen noch gar meinen, einander zutiefst zu kennen.«

Oliver schloß in einem Wirbel zwiespältiger Empfindungen die Augen. Wie sollte er diesen Satz auffassen? Und wie durfte er – meinte er Grund zur Freude zu haben – es zulassen, daß der König in sein Verderben renne. – Absonderlich auch, daß Ludwig selber den einzigen Schein zerriß, der eine Schuld des Neckers würde verraten können: Lüttich. Gewiß lohnte nicht mehr die Reise: nicht nur aus Zeitmangel, sondern wegen der Unmöglichkeit, die Lawine aufzuhalten; aber jetzt, durch dieses ausdrückliche Verbot, war er, Oliver, entlastet. – Was gefiel es dem Schicksal, das ungeheure Spiel so leicht zu machen? – Der Necker schüttelte den Kopf.

»Meister«, sagte Beaune mit seinem fetten Lachen, »Sie machen ein Gesicht, als ob die Majestät Ihnen ein Rätsel aufgegeben habe. – Ich gestehe Ihnen, auch mir ist seine Reiselust rätselhaft.«

»Vielleicht gibt er uns gerne Rätsel auf«, lächelte Oliver; »doch was macht meine Frau Anne, Seigneur?«

Der Hofmann hob diskret die Brauen.

»Ich sah sie nicht oft«, sagte er geschmeidig; »doch mir scheint, es geht ihr so gut, wie es der Königin von Frankreich nicht oft gegangen ist.«

Oliver fühlte das Blut in den Kopf dringen, und er wandte sich ab, um dem anderen seine Erregung nicht zu verraten.

»Wollen auch Sie mir Rätsel aufgeben, Seigneur?« fragte er mit gezwungener Heiterkeit.

Jean de Beaune sah ihn verwundert an.

»Ich spreche in Rätseln, lieber Meister? – Nun, dieses Rätsels Lösung kann ich Ihnen sagen, wenn Sie sie in Wahrheit noch nicht wissen.«

»Gewiß weiß ich sie!« schrie Oliver mit verzerrtem Gesicht – und lachte plump.

»Nun also«, staunte Beaune. »Und ich selber brachte sie am Tag Ihrer Abreise in das bewußte Kabinett im Turm, und sie sah wahrlich schön aus und duftete nach Eau des Anges und war guter Dinge, wie es sich geziemt. – Und der König ist seither in bester Laune. – – Was lachen Sie denn so, Necker?«

Oliver lachte in kurzen heiseren Tönen, sich in den Hüften biegend, und wühlte in seinem Haar mit beiden Händen.

»Der König ist in bester Laune!«

Plötzlich wurde er still, und sein Gesicht erstarrte unter der Kälte, die Herz und Hirn gepackt hatte.

»Seigneur«, sagte er ernst und höflich, »grüßen Sie die Königin Anne und vermelden Sie der Majestät meine Ergebenheit und meine Überzeugung, daß wir auf gutem Wege gehen.«

 

Das herzogliche Hauptquartier war in Péronne. Der Kardinal und Oliver, dessen Beglaubigungsschreiben auf den Namen Le Mauvais lautete und der sich die Haare mittels eines Destillates aus Alkannawurzeln dunkel gefärbt hatte, um sich vor gentischen Augen zu schützen, trafen in St-Quentin den Konnetabel Saint-Pol, einen vierzigjährigen Mann von herkulischem Körper und edlem Gesicht. Der Graf hatte von dem neuen Favoriten des Königs bereits allerlei gehört, behandelte ihn mit unverhohlenem Mißtrauen und voll tiefer Abneigung. Er änderte seine Haltung auch nicht, als Balue ihm zu verstehen gab, daß in dem Kämmerer ein sehr wertvoller Verbündeter gewonnen sei, und wollte sich nicht dazu verstehen, in Olivers Gegenwart über den Stand der Dinge zu berichten. – So werde wohl der König nicht nach Péronne kommen, sagte der Necker kurz. Der Kardinal beschwor den Konnetabel, nicht um einer Laune willen das ganze Unternehmen zu gefährden. – Es sei keine Laune, entgegnete Saint-Pol grob; er habe nichts gegen die ehrsame Zunft der Barbiere, aber sie mögen beim Bartscheren bleiben. Oliver sah ihn an.

»Ich bin gern bereit, Sie zu rasieren, Herr Graf«, sagte er spöttisch.

»Mir scheint«, sprach der Konnetabel und drehte ihm den Rücken, »Sie sind noch eher bereit, mir die Kehle abzuschneiden.« – Er wandte sich an Balue: »Was lassen Sie die kleinen Spieler ans große Spiel, Eminenz?«

»Beim Blute Christi!« polterte Balue, »dieser kleine Spieler hatte schon unsere Trümpfe in der Tasche, ehe ich ihn kannte! Seien Sie vernünftig, Graf, und freuen Sie sich des guten Schicksals, das ihn auf unsere Seite brachte. Der Kämmerer hat nicht weniger Grund, den König zu hassen, als Sie und ich.«

Oliver lachte häßlich.

»Oh, Monsignore!« rief er, »lassen Sie die Gründe! Denn sonst wäre der Bartscher dem Konnetabel und dem Kardinal gar in der Moral überlegen.«

Saint-Pol fuhr auf: was er damit sagen wolle. Oliver erwiderte mit geradem Blick:

»Daß Sie nicht die Motive des kleinen Spielers verachten sollen, Herr Graf. Daß das Rasiermesser eine ehrliche und das Konnetabelschwert eine unehrliche Waffe sein kann, je nach den Gründen, um derentwillen man sich ihrer bedient.«

Saint-Pol sah ihn verwundert an; dann machte er eine kurze erledigende Bewegung mit der Hand und berichtete unvermittelt über die Lage in Lüttich. Der von Wildt stände mit seinen Leuten abmarschbereit in den Ardennen und warte auf seine, des Konnetabels, Order. In dem Augenblick, in dem er in das Bistum einrücke, würden die Lütticher, die in enger Verbindung mit ihm ständen, sich erheben, den Bischof, den herzoglichen Statthalter und einige mißliebige Prälaten und Beamte gefangensetzen, die burgundische Garnison verjagen und dann zusammen mit den Landsknechten gegen die Brabanter Grenze vorrücken.

»Wieviel Tage rechnen Sie von der Ausgabe Ihres Befehls bis zum Widerhall der Ereignisse in Péronne, Herr Graf?« fragte Oliver.

»Etwa sechs Tage.«

»So müssen Sie also schon die Order erlassen, bevor der König in Péronne eintrifft?«

»Jedenfalls«, antwortete Saint-Pol etwas zögernd und sah den Kardinal an. Balue beruhigte lächelnd:

»Der Kämmerer ist durchaus informiert, Saint-Pol, und hat bei der wichtigen Aufgabe, die ihm zufällt, zu fragen ein Recht. – Sie können den Befehl geben, meine ich, wenn der König von Compiègne aufbricht. Sie müssen ja auch damit rechnen, daß er Sie in letzter Stunde noch in die Suite kommandiert.«

»Ich hoffe es nicht«, erwiderte der Konnetabel, »es wäre weder für unsere Sache gut, die uneingeschränkte Beobachtung der Geschehnisse und Ihre verlässige Benachrichtigung verlangt, noch möchte im Augenblick meine Gegenwart dem Herzog sonderlich behagen. Ich würde die Lage komplizieren, da Burgund mich aus der Freundschaft entlassen hat, seitdem ich dem Valois diene. Mir wäre es lieber, ich bliebe der Begegnung fern.«

»Ich werde sehen, was sich tun läßt«, murmelte Oliver; »zudem könnte man ja ein künstliches Echo erzeugen, wenn das natürliche auf sich warten lassen sollte.«

Der Konnetabel betrachtete ihn aufmerksam.

»Wahrhaftig«, sagte er, »Sie scheinen mir kein ungeübter Spieler. Sie verzeihen meine ersten Zweifel, Herr.«

»Gewiß, Seigneur«, sagte Oliver mit unbestimmtem Lächeln, »zu frühe Zweifel sind besser als zu späte.« –

Wieder arbeitete sein Hirn mit ganz bewußter Parteilichkeit. Schon während des Gesprächs hatte er mit heimlichem Schauder hinter seinen eigenen Fragen den nicht erschütterten Willen zur Gegenarbeit entdeckt. Jetzt, als er den Mechanismus der Balueschen Verschwörung unverhüllt sah, wollte auch der beleidigte, auch der rächende Mensch in ihm erkennen, daß er die persönliche Kränkung nicht mit einer Strafe von solcher politischen Wirkung zu vergelten das Recht habe. Er zwang sich zu einem Kompromiß, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß er von Ludwig besessen sei, bezwungen und fast eingesogen von seiner Dämonie. Er müsse, formulierte er, das Leben des Königs schützen, indem er die Lütticher Sprengwirkung abschwäche; er wolle sich nur einen Entlastungszeugen für Ludwig beschaffen, sonst nichts, sonst gewiß nichts. Die Dinge mögen dann ihren Lauf nehmen. –

Er begab sich in die Stadt, gefolgt von Daniel Bart, und suchte in einer bestimmten Herberge den Bruder Fradin auf, der auf sein Geheiß unauffällig der Legation gefolgt war. Er trug ihm auf, sich noch am gleichen Tag auf den Weg nach Lüttich zu machen, dort den Herrn Pieter Heuriblocq, Steuereinnehmer des Herzogs, aufzusuchen und ihm zu sagen: ein alter Genter Gevatter, dem er viel zu verdanken habe, bedeute ihm aus guter Kenntnis der Dinge, daß die Lütticher in wenigen Tagen den Bischof, den Statthalter und höhere Beamte, darunter auch ihn, gefangensetzen werden; er solle nicht versuchen, die Bedrohten in Sicherheit zu bringen; denn die Rebellen würden zum mindesten den Bischof und den Statthalter kaum aus der Stadt lassen und um so früher losschlagen. Er solle sich des Mönches Führung anvertrauen, der, ein Agent Burgunds, ihn unversehrt aus der Gefahrzone bringen werde. Der alte Gevatter verlange nur einen Dank: der burgundischen Regierung zu versichern, daß hinter der neuen Bewegung nicht der französische König, sondern deutsche Triebkräfte ständen. Die Ereignisse würden ihm recht geben. Wenn er aber anders aussage, hole ihn der Teufel, den er kenne.

»Du bringst ihn dann nach Péronne«, schloß Oliver; »aber du führst ihn nicht eher zu Crèvecœur, bis ich es dich wissen lasse. Du sorgst auch dafür, daß er mich nicht zu Gesicht bekommt noch über meine Stellung und Tätigkeit sich Auskunft verschafft.«

»Aber wenn ich den Mann nicht finde oder aus irgendeinem Grund nicht beeinflussen kann?« fragte der Frater.

»Dann kommst du allein nach Péronne.« –

Die Legation verließ die Stadt, folgte dem Lauf der Somme und passierte zwischen den Ortschaften Eclusier-Vaux und Cappy die burgundischen Vorposten. In Péronne wurde sie mit gemessener Höflichkeit empfangen; der Kardinal meldete in feierlicher Audienz dem Herzog den Besuch des Königs an, der als Vetter und Freund mit Herrn Burgund die schwebenden Streitfragen besprechen und zu einem dauerhaften Frieden kommen wolle. Das schöne Gesicht des Herzogs blieb unbeweglich und undurchdringlich wie eine Maske. Der alte Kanzler Crèvecœur antwortete für ihn kalte, zeremoniöse Sätze des Dankes, Versicherungen ehrenvollen Empfanges und gebührender Gastfreundschaft. Der Herzog stand auf; das faltige Wams aus schwarzem Samt, das den schlanken Hals frei ließ und dessen Puffärmel die Schultern ungeheuerlich breit machten, umklammerte eng die schmalen Hüften und blähte dann wieder die Schöße wie einen kurzen Reifrock über den Athletenschenkeln; er trug keinen anderen Schmuck als die schwergliedrige Kette des Goldenen Vlieses. Die jähzornigen Nasenflügel bebten ein wenig, als er mit häßlich scharfer Stimme fragte:

»Verlangt der Allerchristlichste König von uns keinen Freibrief für die Sicherheit seines Kommens und Gehens?«

Der Kardinal machte eine würdige Geste der Abwehr.

»Mein hoher Herr legt Wert darauf, sich der Obhut und Gastfreundschaft Eurer Hoheit ohne Garantien anzuvertrauen, und wird auch ohne seine Garde erscheinen.«

Was ist dieser Priester für ein genialer Schuft, und was sind diese Menschen für bewunderungswerte Heuchler! dachte Oliver und betrachtete den feierlichen Ernst der Gesichter. Herr Burgund hob verabschiedend die Hand.

Als die Nacht gekommen war, fand sich der Graf de Crèvecœur, nur von seinem Adjutanten Melchior van Busleyden begleitet, im Quartier der Legation ein. Der Kardinal, der den burgundischen Kanzler erwartete, hatte es – zumal nach der Erfahrung mit Saint-Pol – für taktisch falsch gehalten, ihm den Kämmerer als Eingeweihten vorzustellen; es sei besser, die offizielle Haltung wenigstens durch einen Delegierten zu bewahren, um nicht unnötige Zweifel an dem Ernst der Aktion oder an der Zuverlässigkeit der Balueschen Methode hervorzurufen; er werde also mit dem Kanzler unter vier Augen sprechen, überdies nur kurz: einige Worte über des Königs Programm und über die Art, sich gegen seine gefährliche Dialektik zu behaupten. – Oliver war es zufrieden; denn er wußte, daß die Dinge schon ein wenig außerhalb der Berechnung Balues lagen und daß der Kardinal im heimlichen Gespräch Entscheidungen unvermuteter Art nicht mehr veranlassen konnte. – Ich gönne ihm die Freude, sich über seine Honorierung auszulassen, dachte er, ich werde vielleicht meine Zeit nützen können.

So saß er mit Crèvecœurs Begleiter, an dessen Aussprache er den Nordbrabanter erkannte, in einem Nebenzimmer und merkte bald, daß jener allerlei aus ihm heraushorchen wollte. Er gab seinen Antworten eine gewisse biedere und geschwätzige Ehrlichkeit; er sprach von dem Vertrauen, das der Kardinal bei seinem Herrn genoß, von Ludwigs lauterer Absicht, zwischen den beiden Staaten die Atmosphäre des Mißtrauens und der Feindseligkeit zu beseitigen und zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.

»Operiert das französische Heer noch in der Bretagne?« fragte der andere dazwischen.

»Gewiß«, beeilte sich Oliver zu antworten, »und mein königlicher Herr wird Ihnen wohl die Unzuverlässigkeit dieses Bundesgenossen beweisen können.«

»Darf ich fragen: inwiefern?«

»Ich glaube«, sagte Oliver mit dem Lächeln eines Tölpels, »durch den Sonderfrieden, den er vielleicht schon in der Tasche trägt.«

»Soso«, sagte Busleyden leichthin. »Und wird Graf Dammartin den König begleiten?«

»Der Großmeister kommandiert das Heer und wird nicht abkömmlich sein.«

»Gewiß, gewiß, das ist zu verstehen. Und der Konnetabel wird sicherlich auch nicht im Gefolge des Königs sein können?«

»Graf Saint-Pol wird kommen«, sagte Oliver mit Entschiedenheit, »schon um ihm, dem einstigen Feldhauptmann Burgunds, Gelegenheit zu geben, seine Lauterkeit nach beiden Seiten hin zu beweisen, als Konnetabel des Königs und früherer Waffenbruder des Herzogs; er soll gleichsam das verbindende Symbol zwischen den beiden darstellen.«

Der Brabanter betrachtete ihn aufmerksam, die Brauen in leisem Spott gehoben.

»Sie sind trefflich informiert, Herr Kämmerer, und dabei von einer idealen Art, die wir bisher bei der näheren Umgebung des Königs nicht vermuten konnten. Aber warum kam dann der Konnetabel, der doch in der Nähe ist, nicht schon mit dem Kardinal und mit Ihnen?«

Der Necker wiegte bedächtig den Kopf.

»Sehen Sie, Chevalier«, sprach er bedeutsam, »ich könnte Ihnen dieses oder jenes zur Antwort geben: daß er keine Order hatte oder keine Zeit oder keine Lust. Aber ich will Ihnen die Wahrheit sagen, einzig und allein aus dem Grunde, weil ich mit dieser Wahrheit – weil ich immer mit der Wahrheit meinem königlichen Herrn am besten diene und weil ich ihm dienen will met raedt en daet, met doodt en bloodt ...«

»Sie sind Flame!« rief der andere überrascht. Oliver lächelte.

»Wir wollen sagen: ich spreche flämisch, und ich kenne Flandern. – Aber lassen Sie mich fortfahren: der Konnetabel beobachtet auf des Königs Geheiß die Entwicklung der Lage in Lüttich ...«

»Lüttich ...«, wiederholte der Offizier leise, mit verhaltener Erregung.

»Ja«, flüsterte Oliver, »ich gestehe Ihnen, Seigneur, Lüttich ist des Königs größte Sorge; denn es ist die Quelle des herzoglichen Mißtrauens. Wir wissen wie Sie, daß der Vulkan wieder arbeitet. Mein königlicher Herr wird Ihnen durch seine Anwesenheit zu solcher Zeit und durch die Untersuchungen des Konnetabels beweisen, daß er der Bewegung fernsteht, daß er sie verurteilt. Er wird den Verdacht, daß er in des Herzogs Städten Aufruhr stifte, für alle Zeiten zerstreuen! – Glauben Sie denn, er begäbe sich in die Gewalt Burgunds, wenn er zur gleichen Zeit eine neue Rebellion in Lüttich inszeniert? Er kommt, weil er unschuldig ist und seine Unschuld beweisen will. – Ich weiß es gut; denn ich bearbeite bei ihm die flandrischen Angelegenheiten. Ich ...«

Die Türen öffneten sich. Der Kanzler und Balue kamen mit freundlichen Gesichtern und höflichen Worten.

 

Die zurückeilende Gesandtschaft traf in St-Quentin Kuriere des Königs, die meldeten, daß der ungeduldige Monarch Compiègne verlassen habe und bereits in Noyon auf sie warte. Es war der sechste Oktober. Balue ließ den Konnetabel wissen, daß Ludwig aller Voraussicht nach Péronne in drei Tagen betreten werde; die Marschorder an Herrn von Wildt sei also sofort zu geben. Oliver fühlte eine tiefe, wühlende Erregung, je näher sie der kleinen Stadt nahe der pikardischen Grenze kamen. Er scheute den Anblick des Königs und ersehnte ihn zu gleicher Zeit. Die Gegensätze in ihm selber, die er kaum begriff und die das kaum begreifliche Hin und Her seiner intriganten Arbeit und Gegenarbeit verursacht hatten, bangten vor der Entscheidung nach der einen oder anderen Seite; aber er war es auch müde, sein Gewissen abzuhorchen, wie schwer es belastet sei. Es verlangte ihn nach Klarheit, nach genauer Abrechnung – Maß für Maß und Schuld für Schuld. Er hoffte insgeheim, Annes Liebhaber zu finden, den Menschen mit dem wachen Gewissen, das jenes merkwürdige Postskriptum geformt zu haben schien. Er hoffte es, um sich mit einem Hieb von ihm abtrennen zu können, um die wirre Neigung abzustreifen, frei und kalt zu werden und seinen Weg zu gehen.

Aber er fand nur den politischen Menschen, den großen Spieler und Berechner. Er hörte kein Wort von Anne, kein Wort über die gemeinsamen Spannungen ihrer Gefühle. Er sah nicht einmal Ludwigs Augen in ihrer durchdringenden und eindrängenden Gewalt auf sich gerichtet. – Er suchte in fast rücksichtsloser, fast gehässiger Weise selber die Gefahr.

»Ist es im Sinne Eurer Majestät«, fragte er in einem der seltenen Augenblicke, in dem er mit dem König allein war, »daß die Eminenz auf einen Freibrief des Herzogs verzichtet hat?«

»Ja, gewiß«, antwortete Ludwig, flüchtig aufsehend, »das war eine geschickte Geste.« –

Oliver schwieg bedrückt. Er suchte nach Gründen für die Entfremdung zwischen seinem und des Königs Geist – er erschrak, weil es ihm war, als ob nur der andere ihm unverständlich oder sogar unheimlich schien, während er von Ludwig vielleicht leichter durchschaut werden konnte als je. Er fühlte auch, daß des Königs Abwehr gegen die frühere Vertrautheit nicht unbewußt im Eifer des großen politischen Geschäftes geschah, sondern mit einer Absicht, die entweder durch ein bestimmtes Erlebnis während seiner Abwesenheit oder durch die Vorahnung seines Verrates entstanden war. –

Sie kamen am Abend des achten Oktober nach St-Quentin. Oliver hatte während der ganzen Reise vergeblich versucht, den König allein zu sprechen, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Konnetabel nach Péronne mitzunehmen; doch der Kardinal und der Herzog von Bourbon, des Königs Schwager, der als einziger Dynast dem ziemlich kärglichen Gefolge Glanz zu verleihen hatte, wichen nicht von Ludwigs Seite. Herr Tristan, der neben Oliver ritt und ihn beobachtet hatte, sagte mit seinem abgründigen Spott:

»Sie sind doch eine eifersüchtige Natur, Meister, wie mir scheint. Gönnen Sie doch den beiden die Majestät als Mitte. Die Liebe des Herrn bleibt ja für Sie reserviert, für Sie und für Ihre ...«

»Bei Ihren Galgen, Herr Tristan!« unterbrach Oliver scharf; »hängen Sie Ihre Späße an ihnen auf: sie sind schlecht. – Und hängen Sie von mir aus diese beiden Schwätzer dazu, die mich wahrhaftig daran hindern, des Königs Unvorsichtigkeiten einigermaßen zu korrigieren.«

»Hoho! Sieur Le Mauvais«, lachte der Profos, »große Herren köpft man. Das sollten Sie wissen. Und Geschwätzigkeiten sind zuweilen zwar zureichende Gründe, aber Korrekturen an Königen manchmal auch. Lassen Sie die Majestät nur unvorsichtig sein, wenn es ihr beliebt.«

»Den Schaden haben wir doch zu tragen«, fügte neben ihm Jean de Beaune mürrisch hinzu, »und ich verstehe Ihre schlechte Laune, Meister Oliver; denn auch mir gefällt dieser Ausflug wenig, wie Sie wissen.«

Der Necker schwieg. – Vor dem Tor der Stadt wurde der König von dem Konnetabel und dem Magistrat empfangen. Ludwig, der Zeremonien nicht liebte, ließ nur einen kurzen Aufenthalt zu und winkte den Grafen Saint-Pol an seine Seite. Oliver verstand es, sich nahe genug zu halten, um dem Gespräch der beiden einigermaßen folgen zu können. Der König sagte, daß er am nächsten Tag in Péronne eintreffen wolle.

»Eure Majestät befehlen wohl nicht, daß ich bei meiner augenblicklichen Stellung zum Herzog mich der Suite anschließe?« fragte der Konnetabel.

Oliver spornte sein Pferd und zügelte es sogleich, so daß es in die Höhe stieg. Der König und die Herren neben ihm wandten sich um. Der Meister drängte sich wie zufällig zwischen Ludwig und Saint-Pol.

»Verzeihen Sie die Störung, Sire«, sagte er und sah den König an; dann nahm er sein Pferd zurück. Ludwig lächelte flüchtig. Der Kardinal sagte ein wenig hastig:

»Nach den Eindrücken, die ich in Péronne empfing, Sire, halte ich es für besser, wenn der Herr Konnetabel der Begegnung fern bleibt. Der Meister Oliver dürfte mich darin unterstützen.«

Wieder wandte sich der König um, wieder sah er den gleichen Blick des Neckers, der devot flüsterte:

»Ich kann Seiner Eminenz durchaus nicht widersprechen.«

Wieder lächelte der König; dann sagte er nach kurzem Überlegen:

»Ich werde darüber nachdenken, Saint-Pol, und Ihnen morgen früh Bescheid geben.«

Der Konnetabel sprach mit einem Anflug von Unwillen:

»Mit Verlaub, Sire, alle Gründe sprechen gegen meine Teilnahme an der Zusammenkunft und keiner dafür. So wäre ich Ihnen für eine raschere Entscheidung wohl dankbar, zumal ich die Absicht hatte, schon zur Nacht um Urlaub zu bitten und in meinen Standort zurückzukehren.«

Ludwig hob etwas die Stimme:

»Sie werden sich bis morgen früh gedulden müssen, Herr Konnetabel.« –

Die Fackelträger an der Spitze des Zuges erreichten jetzt das Stadthaus, das Quartier des Königs, und beleuchteten das Portal und ein Stück seiner wuchtigen gotischen Fassade. Die Kavalkade machte halt; der König sprang rasch und ohne Olivers Hilfe abzuwarten vom Pferd. Er verabschiedete mit einigen Worten die Herren des städtischen Ehrengeleits und im inneren Hof auch Bourbon, Saint-Pol und Balue, seine Müdigkeit betonend, und folgte mit Oliver, dem Profosen und Jean de Beaune dem führenden Stadtkämmerer in die für ihn bestimmten Prunkräume. Er ließ für sich und die drei Vertrauten einen kalten Imbiß bringen, willens, sich bald zur Ruhe zu begeben, und eine bestimmte Gereiztheit nicht mehr verbergend.

Auch die anderen zeigten ernste Mienen: L'Hermite aus seiner Art Takt und aus seiner feinen Witterung für kriminelle Überraschungen, Beaune aus schlechter Laune, der Necker aus plötzlicher Angst vor seinem eigenen Werk, vor sich selber. Wahrhaftig, er fürchtete in jäher Hilflosigkeit, nein, in einer jäh wieder auflodernden Liebe zum König, zu jeder Falte seines häßlichen Gesichts, zu jedem Gedanken hinter seiner arbeitenden Stirn, in dem vollständigen und ausschließlichen Gefühl der eigenen Zugehörigkeit zu diesem seltsamen Kreis, Menschteilen des dämonischen und majestätischen Willens – er fürchtete die Lawine, die er ins Rollen gebracht hatte; und er fürchtete sich selbst, weil er wußte, daß seine harte Lebensenergie sich nicht würde mit jenen verschütten lassen. – So sage es jetzt! bedrängte er sich; sprich jetzt! Es ist noch Zeit, die letzte Zeit! Demütige dich; denn du hast dich schon demütigen wollen, als du dir erlaubtest, für den König so etwas wie mildernde Umstände zu schaffen; erkenne, daß du von diesem Stärkeren nicht loskommst! Und wenn er deine Seele hat: warum soll er nicht dann auch die Anne haben? Sprich! Sprich! Sprich! – – Doch die Lippen preßten sich zusammen, daß sie weiß wurden. – –

Und er sah des Königs schweren Blick auf sich gerichtet, den aufreißenden, den allwissenden Blick ...

»Du bist schweigsam geworden, Oliver«, sagte Ludwig langsam; dann betrachtete er die beiden anderen; »zum Teufel, ihr auch, Compères! Was bedrückt euch?«

»Péronne«, sagte Jean de Beaune, als antwortete er für alle.

»Bei der heiligen Jungfrau!« lachte der König, »du läutest den Namen wie ein Totenglöckchen!«

»Sire!« schrie Oliver auf, mit wirren Augen ihn anstarrend; doch er sprach nicht mehr. Ludwig hob, ernst geworden, die Brauen. Herr Tristan flüsterte:

»Ratet der Teufel, den Teufel nicht an die Wand zu malen?«

Der König fragte laut und streng:

»Was ratet Le Mauvais? Denn er hat einen Rat für mich; er oder sein Pferd.«

Oliver faßte sich.

»Der Konnetabel muß in Ihrem Gefolge bleiben, Sire«, sagte er entschlossen.

»Das hat mir bereits dein Pferd verraten«, meinte Ludwig mit leisem Spott; »aber jetzt sage mir die Gründe.«

»Es gibt zwei Gründe«, erwiderte Oliver; »der erste ist, daß man ihn sehr wohl in Péronne erwartet, gleichsam als Gradmesser für Eurer Majestät guten Willen oder gar als Friedensemblem – der Kardinal irrt sich also; aber das ist der schwächere Grund.« – Er unterbrach sich einen Augenblick. – »Der zweite und wichtigere ist, daß der Konnetabel sich offensichtlich dagegen sträubt.«

Der König sah ihn verwundert und mißtrauisch an.

»Oliver«, sagte er schließlich, »da ist ein Widerspruch: wenn du weißt, daß Burgund ihn erwartet und sogar gerne sieht – und selbst, wenn Saint-Pol es nicht weiß –, dürfte sein Sträuben nicht der stärkere Grund sein.«

»Mit Verlaub, Sire«, wandte Tristan höflich ein, »warum nicht? Denn der Konnetabel sträubt sich gewiß nicht gegen das Friedensemblem, sondern gegen ein gegensätzliches Sinnbild, das er vielleicht in den Bereich seiner Überlegung gezogen hat. – Ich meine, er weiß von sich ohne allzuviel Einbildung, daß er in besagter Antithese eine prächtige Geisel abgeben könnte.«

»Hoho, Gevatter Profos!« rief Ludwig unwillig, »gelüstet es auch dich, mir etwas vorzuunken? – Und was sagst du zu deinem Fürsprech, Oliver?«

»Herr Tristan ist ein sehr kluger Mann«, entgegnete der Meister ernst. »Und es scheint mir gut, daß er auch den Mut hat, Eurer Majestät erstaunliche Zuversichtlichkeit auf den bei politischen Spekulationen immer möglichen Rückschlag aufmerksam zu machen.« – Er dämpfte die Stimme und sprach die Worte fast unbeholfen, fast mit Überwindung: »Saint-Pol weiß vielleicht noch mehr, noch konkretere Gründe für seine Scheu – man muß es immerhin vermuten, man muß damit rechnen ...«

»Und Balue?« unterbrach der König sehr erregt und sah ihn wieder scharf an; »irrt er sich auch noch in anderem?«

Olivers Stimme flatterte ein wenig.

»Der Kardinal ist nur ein Mensch und befangen zudem in einer bestimmten Vorstellung.«

»Und du, Oliver? – Klangen nicht deine Nachrichten anders?«

Es herrschte Stille durch ein paar Sekunden. Dann antwortete der Necker sehr leise:

»Vergeben Sie mir, Sire; – aber klangen nicht auch manche Ihrer Worte an mich anders? – Wir alle sind doch wohl Menschen, die irren können.« –

Ludwig sank ein wenig in sich zusammen und blickte ins Leere; dann glitt ein schönes reines Lächeln über seine Lippen.

»Gewiß, mein Freund«, sprach er gütig, »so wollen wir uns niemals unbedachtsam verurteilen noch gar meinen, uns zutiefst zu kennen. – Das ist eine Wiederholung, Oliver, nicht wahr? Und sie soll nicht anders klingen; denn ich für meine Person bin mir bisher keines Irrtums bewußt.«

Er wandte dem Meister wieder das Gesicht zu.

»Oliver, auch nicht vieler Schuld – sie ist manchmal dem Irrtum benachbart. – Mehr habe ich nicht zu sagen, mein Freund. Aber du hast noch etwas zu sagen.«

Der Necker hatte in heftiger Bewegung die Finger ineinander verkrampft. Er kämpfte einen schweren Kampf.

Plötzlich sagte er laut und hastig:

»Gehen Sie morgen noch nicht nach Péronne, Sire! Warten Sie noch eine Woche! Warten Sie noch fünf Tage!«

Der König hob erstaunt den Kopf.

»Warum, Oliver, was sollte es für einen Sinn haben?«

Auch Herr Tristan und Jean de Beaune zeigten gespannte Gesichter.

»Nicht wahr, Necker«, rief der Schatzmeister, »auch Sie ahnen nichts Gutes!«

»Ich traue den Lüttichern nicht«, sagte Oliver erregt; »ich habe auf eigene Faust einen Agenten hingeschickt, Sire. – Warten Sie, bis er zurück ist!«

 

Der König schüttelte den Kopf.

»Das ist unmöglich, Oliver. Der König von Frankreich bleibt nicht wegen einer Schimäre drei Meilen vor dem Ziel stecken. Ich darf mich am allerwenigsten vor Burgund lächerlich machen. Ich darf ihm am allerwenigsten auf so tölpische Art meine verwundbare Ferse hinstrecken. Ich will ihn nicht mißtrauisch machen und mir alles verderben. – Und vor allem: ich muß mit ihm gesprochen haben, ehe es dem Herrn von der Bretagne gelingt, mit ihm wieder in Verbindung zu kommen.«

Er erhob sich.

»Nein, Oliver, wenn ich mich auch über deine Besorgtheit freuen kann – und über eure, gute Gevattern – und wenn ich dich und euch, Tristan und Jean, gerne und schon jetzt von jeder Verantwortung für das Kommende freispreche: die Begegnung ist zu wichtig und zu dringend, als daß ich sie auch nur um eine Stunde hinauszögerte. – Komm, Oliver.«

»Und wenn man Sie in eine Falle lockt, Sire?« fragte Jean de Beaune grob.

Der König war schon in der Tür und drehte sich um. Er sprach hochmütig:

»Dann bedauere ich die Fallensteller und auch Herrn Tristan um seine viele Arbeit. – Jetzt komm, Oliver. – Wie blaß du bist!«

Der Necker zwang sich zu einem Lächeln und folgte ihm in den Schlafraum. Er half ihm beim Auskleiden mit der fahrigen Hantierung des Menschen, der nicht bei der Sache ist.

»Wie blaß du bist!« sagte Ludwig wieder. »Hat es dich gekränkt, daß ich einen Augenblick annahm, du schwiegest oder sprächest je nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein meiner Schuld dir gegenüber?«

»Warum soll es mich kränken?« murmelte Oliver und sah auf den Boden, »und warum nahmen Sie es nur einen Augenblick an, Sire?«

»Oliver!« rief der König erschrocken. »Was willst du damit sagen?«

Der Necker hob den Blick auf.

»Daß wir doch wohl Menschen sind und wie Menschen leiden«, flüsterte er, »und daß ich doch zweifeln muß, ob der König das kleine Menschenleid nicht übersieht und die kleine Schuld mitrechnet.«

Ludwig betrachtete ihn lange und sein Auge wurde hart.

»Wenn du zu zweifeln wagst, Freund, zweifelst du mit Recht«, sagte er kalt. – »Und reut dich jetzt deine Sorge um meine schuldige Person?«

Oliver umklammerte seine Hand und beugte sich über sie.

»Nein, Sire; denn ich muß Sie lieben!« sprach er verhalten; und, sich aufrichtend, flehte er: »Warten Sie noch eine Woche, ich ahne Unheil!«

»Nein«, sagte der König mit Bestimmtheit; »du weißt, daß es nicht möglich ist. – Aber um dich zu beruhigen und um einer unerwünschten Lütticher Aktualität vorzubeugen, soll morgen der Konnetabel, der seine Unlust überwinden und mit uns nach Péronne kommen wird, dem Herrn von Wildt sagen lassen, sich bis zu meiner Rückkehr nach Frankreich ruhig zu verhalten und auch der Stadt die notwendige Zurückhaltung aufzuerlegen. – Hast du jetzt noch Einwände, Oliver?«

Der Necker sagte zögernd nein. – Er streckte sich dann auf sein Lager aus und hörte bald des Königs hastiges und unregelmäßiges Schnarchen. Er besann Ludwigs abgeblendete und abgedichtete, fast blinde und taube Zuversichtlichkeit und seinen tiefen Glauben an ihn, der nicht einmal durch Selbstverdächtigungen erschüttert zu werden schien. Die nächtliche Stille machte seine Gedanken klar und unruhig. Er prüfte sich, warum er eben noch nein gesagt hatte und doch gerade willens war, zu bekennen und die Konspiration aufzudecken. – War es noch immer das Bedürfnis nach Rache? – Er schloß die Augen, als hörte er die Antwort besser so. – Nein, es war etwas sehr anderes! – Sein Herz klopfte. – Es war die Angst, den König zu verlieren. Wahrhaftig, das war es! Ein Geständnis würde den Glauben an ihn vernichten; nicht nur den Glauben, auch den Sinn seines Lebens, vielleicht auch sein Leben; denn Ludwig würde ihn entfernen oder nach seiner Art beseitigen lassen. – Und für eine unpersönliche, gleichsam amtliche Aufdeckung des Komplotts war es zu spät: der König würde beweislose Behauptungen nicht beachten, und er, Oliver, hatte gegen Balues ingeniöse Arbeit keinen anderen Beweis als sich. – Es blieb nur übrig, den Monarchen in die Löwenhöhle gehen zu lassen und ihn dann wieder herauszuhauen. – Oliver lächelte, als er bedachte, wie weit sein vom König besessener Geist diesem Ziel schon zugearbeitet hatte. Er war besiegt, fühlte er, aufgesogen, fast schon ohne Selbst – und doch: er wußte sich wieder kalten Blutes und zielsicher auf seinem Wege wie nur je. – Ihn retten! Ihm neue starke Liebe abzwingen! Ihm unentbehrlich sein mit seinem neuen Wissen um die Untergründe der Ereignisse! Seine Hand sein, sein Hirn sein, sein Gewissen sein! – Wahrhaftig, lachte er lautlos, wenn mich der König hat, dann kann ich wohl auf mich verzichten! – Er hob den Kopf; er hörte Ludwig nicht mehr atmen; er fühlte, daß jener die Augen offen hatte, daß er sprechen würde.

»Oliver«, sagte der König leise, »ich will es dir nicht vergessen, daß du mich trotz allem liebst.«

Der Necker lachte lautlos; aber er tat, als schliefe er.


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