Theodor Mügge
Der Vogt von Sylt
Theodor Mügge

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Zweites Kapitel

Am nächsten Morgen schaukelte dicht unter der Klippe eine zierliche Schlupp, die sich möglichst nahe ans Land gelegt hatte. Zwei rasche junge Seeleute waren geschäftig, das große Gaffelsegel zu kürzen, die Klüver aufzurollen und das Tauwerk in Ordnung zu bringen. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, die schnell ihren Flug gen Südost fortsetzten, bald brach Sonnenschein zwischen ihren Spalten hervor, bald wieder verschwand er unter den dunklen Massen.

Die Flut drang mit Macht durch den schmalen Meeresarm, der die Insel von der Düne trennt und wälzte mächtige Wogen herein, die donnernd ihren Schwall an das Felsenufer schickten und am Pfahlwerk aufstäubten. – Eine Menge müßiger Fischer und Lotsen standen dort in der gewöhnlichen Trägheit beisammen, die dem Seevolk eigentümlich ist, so lange es zum Handanlegen weder Gelegenheit noch Gewinn sieht. – Alte und junge Leute aus kurzen Pfeifen rauchend, die Reste eines Dinges auf den Köpfen, das eingedrückt, verbogen, ohne Krempen und zerrissen, von ihnen Hut genannt wurde, in ungeheueren Wasserstiefeln und grauen weiten Zwillichhosen, plauderten gemeinsam, indem sie die Arbeiten auf der Schlupp und den Himmel betrachteten.

Dann und wann kam mehr Leben in diese Gesellen, wenn unter dem dumpfen Rollen der Brandung eine der höchsten Wogen weit über die Pfählung flog und die neugierigsten mit einem Sprühregen schwerer Tropfen zurückscheuchte. Ein allgemeines Gelächter begleitete ihre Flucht, die so eilig war, als sei die Durchnässung ihnen so unangenehm, wie den ehrsamen Spießbürgern des Binnenlandes.

Endlich kam ein Mann, dem das Haar zu grauen begann und dessen Gesicht Redlichkeit und Verstand ausdrückte. Er richtete seine klugen Augen auf die Schlupp und sagte dann mit einer gewissen warnenden Betonung: »Will denn Jens Lornsen wirklich diesen Morgen fort?«

»Ja, Andersen Simens, er will fort, du siehst es.« erwiderte ein alter Mann.

Der andere schüttelte den Kopf. »Habt ihr nichts dazu gesagt?« fragte er weiter.

»Wir haben mit ihm gesprochen,« war die Antwort, »aber er meint, die Schlupp hält es aus.«

In diesem Augenblick kam Lornsen mit dem Staatsrat und seiner Tochter die Treppe herunter, die von der Höhe des Felsens an den unteren Strand, den einzigen Landungsplatz, führt, und näherte sich nach wenigen Minuten der Stelle. – Zwei Männer trugen das Gepäck der Reisenden, die munter und guter Dinge waren. Das Fräulein lachte über ihres Vaters Stoßseufzer wegen der zahllosen spitzen Steine und des fauligen Geruchs, den die Haufen Seetang verbreiten, welche die Wellen ausgeworfen hatten, ohne daß einer der vielen müßigen Schelme, die hier umherlungerten, wie er sagte, es der Mühe wert hielt, etwas zur Verbesserung des Weges zu thun. Jens trug den Mantel der Dame samt ihrer Kappe von schwarzem Wachstaffet über dem Arm und stimmte in ihre Fröhlichkeit ein, während seine Augen Segel und Tauwerk der Schlupp musterten und nichts seiner Aufmerksamkeit zu entgehen schien.

»Bringt die Jolle heran,« rief er den beiden Männern zu, die, als sie ihn erblickten und seinen Befehl hörten, sogleich in das kleine Boot sprangen. Plötzlich aber fühlte er sich am Arm ergriffen und sah, daß es Andersen Simens war.

»Guten Morgen und Lebewohl zu gleicher Zeit, mein wackerer Freund,« sprach er, »Ich war gewiß, dich hier zu finden.«

Er redete in friesischer Sprache, die keine Unterschiede der dritten Person kennt. »Jens Uve,« erwiderte der Freund, seine Hand fest haltend, »du sollst uns heut nicht verlassen. Siehst du dort unten die schwarzen Hände des Himmels und vor dir die weißen Köpfe in der See?«

»Ich sehe alles,« rief Jens unbesorgt lachend; »ich sehe was vorgeht über mir und neben mir, weiß auch, was ich unter mir habe.«

»Ein wackeres Schiffchen, dicht und drall, Hanf und Leinen in bester Ordnung, Ballast unten und jeder Kloben fest. Aber Menschenkräften und Menschenwerk ist ein Ziel gesetzt, darüber hinaus kommen beide nicht; auch dem besten kann es zu viel werden.«

»Höre, Andersen,« fiel der junge Mann lebhaft ein, »du weißt gewiß, daß ich nicht die geringste Lust habe, mich von Haien auffressen zu lassen, aber ebensowenig habe ich Lust, deine Klagetöne anzuhören, als läge im Hause eine Leiche und die Klageweiber säßen auf der Schwelle. So gut es auch gemeint ist, ich sage dir, ich will heut abend in Sylt an meines Vaters Herd sitzen und das erste Glas auf dein Wohl leeren.«

»Wärst du ein anderer, der du bist,« sprach Andersen, ohne sich irre machen zu lassen und auf den lustigen Ton einzugehen, »wärst du ein tollköpfiger Junge, der heraus will, um den hungrigen Wolf kennen zu lernen, der ihm die weißen Zähne zeigt, so würde ich sagen: ›Fahre hin und sieh zu, daß er dich nicht beißt.‹ Aber deines Vaters Sohn hat mehr zu verlieren als sein armseliges Leben. Auf dir ruhen die Blicke deines Volkes, die Hoffnungen deiner Freunde. Du Hast viel zu verantworten, Jens Uve, wenn du nicht, wie ein Mann, klug überlegst, ehe du handelst.«

»Nun, bei allen Geistern und Hexen, die jemals über Wiesen und Deiche um Mitternacht tanzten,« rief Jens lachend, »was soll ein kluger Mann nicht alles thun. – Sieh den alten Herrn dort, Andersen, er hat mir gestern gesagt, was klug sei, aber daß ich hier bleiben soll, davon sagte er nichts, und er ist ein Staatsmann, ein Baron und ein Däne, drei Dinge, die sich zu den weisesten in der ganzen Welt zählen. Seinetwegen und wohl mehr noch des schönen Mädchens wegen, die so viel Mut wie der beste Mann hat, will ich's wagen und wenn der Wind aus meiner Mutter Schürze bliese.«

Währenddessen war die Jolle ans Land gerudert und hatte das Gepäck der beiden Reisenden aufgenommen. Der Baron bezahlte die Träger und hatte ihnen sicher reichlich gegeben, denn sie machten frohe Gesichter.

»So sind wir denn zu Ihren Diensten,« rief er dem jungen Manne zu, »und haben, Gott sei Dank! hier nichts weiter zu schaffen.«

»Wenn du es nicht um deiner selbst wegen thust,« sagte Andersen mit lauter Stimme und in deutscher Sprache, »so thue es dieser beiden Leute wegen.«

»Was ist es denn?« fragte der alte Herr, »Meinen Sie, daß wir nicht hinüber können?«

»Hinüber!« versetzte Andersen, mit einem schwermütigen Ausdruck in seinem milden Gesicht; »o ja, es ist möglich – hinüber kommen wir alle, früher oder später.«

»Glauben Sie, daß wirkliche Gefahr dabei ist?« fragte der Baron, die Gesichter der Umstehenden betrachtend.

»Das ist kein Wetter, um hinauszugehen,« fuhr der alte Seemann fort, »wenn es die Nacht über heftig geweht hat und der Wind nach Norden umsetzen will.«

»Wenn die Schlupp nicht sicher ist,« sagte der Baron, »oder vielleicht – verzeihen Sie, Herr Lornsen – auf der Insel sich ein Mann findet, der uns besser nach Husum zu führen vermag, so will ich gern Vorschläge hören.«

»Das nicht,« erwiderte Andersen, »Die Schlupp ist so sicher, wie sie sein kann, und wenn es einen Mann giebt, dem ich mein Leben anvertrauen möchte, so ist es Jens Lornsen. Aber alles hat seine Zeit und sein Ende.«

Der Baron war bedenklich geworden. Er sah die Fischer an, die mit ihren mageren Körpern und harten Gesichtern einen Halbkreis um ihn bildeten, dann den hastigen Zug der Wolken, das Boot und das dumpfe Stöhnen der Brandung, die es hoch aufhob und wieder nieder warf; endlich Jens, der mit untergeschlagenen Armen ruhig vor sich hin auf die Schlupp blickte und seine Tochter, welche Muscheln aufhob und die langen Fäden des Seetangs untersuchte.

»Was sagen Sie, Herr Lornsen?« rief er endlich.

»Ich sage, daß dieser wackere Mann, mein Freund Andersen, nicht so ganz unrecht hat, wenn er uns schwere Fahrt prophezeit. Die See geht hoch und kann leicht noch höher gehen. Wie die Sache aber jetzt steht, scheint mir eigentliche Gefahr nicht vorhanden. Wollen Sie besser Wetter abwarten, so ist wohl möglich, daß es schon morgen kommt, möglich aber auch, daß es lange anhält und ärger wird.«

»Das heißt also, Sie werden jedenfalls den Versuch wagen?«

»Ich denke, daß ich es wagen kann,« erwiderte Lornsen mit ruhiger Sicherheit.

»Entscheide du, Lina,« rief der alte Herr seiner Tochter zu.

Die Dame warf die Muschel fort, welche sie betrachtete und sagte lächelnd: »Da unser Kapitän guten Mutes ist, warum sollten wir ihn verlieren? Keinem besseren Mann kann man sich anvertrauen, sagte der wackere Herr dort. – Ich bin gewiß, daß eine wirkliche Gefahr uns nicht droht, denn wenn sie drohte, würden wir alle hier bleiben. Ein wahrhaft mutiger Mann wagt nichts, was er nicht zu bestehen glaubt.«

Lornsen ließ die Arme sinken. Die kalte Ruhe seines Gesichts belebte sich in einem Ausdruck der Freude. – Ohne ein Wort zu sagen, trug er sie über die nassen Steine in das Boot, einen Augenblick später saß auch der alte Herr darin. Dann drückte er dem Freunde die Hand, der noch immer ermahnende Worte sprach und nun stieß er rasch von dem Steine ab und die Jolle flog über die Brandungswellen.

»Reef doppelt und beschlag deinen Stag!« schrie ihm der Seemann nach. Jens nickte. In derselben Minute war er am Bord der Schlupp und half seinen Gästen die kleine Treppe hinauf.

»Hier erst,« sprach er, »danke ich Ihnen nochmals für Ihr Vertrauen. Was dies kleine Schiff an Bequemlichkeiten bieten kann, ist zu Ihrem Befehl. Es ist wenig genug, aber ich hoffe noch immer, daß unsere Reise kurz sein wird.«

Mit diesen Worten führte er sie in die Kajüte hinab, die geräumiger war, als man vermuten durfte. – Zwei Betten waren zu beiden Seiten in die Schiffswände eingelassen und vor jedem lief ein breites Polster hin. Ein Tischchen stand an der Hinterwand, neben ihm zwei große Lehnsessel; darüber hing ein Spiegel in Goldrahmen. Ein bunter Teppich bedeckte den Boden. Das Holzwerk war mit blankem braunen Öllack gestrichen, ein kleiner Eisenofen mit glänzendem Messinggitter hatte seinen Platz zwischen den Betten, die Wandschränke über diesen enthielten Porzellan, Glas und allerlei Vorräte. Ein Schiffsbarometer, ein Sextant und einige andere Instrumente lagen in der Nähe der Thür, der ganze Raum war in der That behaglich, friesisch sauber und von oben durch ein breites vergittertes Glasfenster beleuchtet, zugleich auch so hoch, daß selbst die mächtige Gestalt Jens Lornsens eben nur die Decke erreichte.

»Ei!« rief der alte Herr sich umschauend, »das sieht besser aus, als ich dachte. Hier läßt sich ein kleiner Sturm schon überdauern. Das ist ein so schmuckes Seeboot, wie ich selbst keines am Sunde gesehen habe.«

»Das beste daran ist,« erwiderte Lornsen, »daß es fest und tüchtig ist, und dem Steuer gehorcht, wie es soll. In solcher seelenlosen Maschine wohnt dennoch ein Geist, Herr Staatsrat,« fuhr er lächelnd fort, indem er aus einem der blanken Wandschränke eine Flasche und drei Gläser nahm. »Ein Schiff ist wie ein Volk, eine träge Masse, so lange es auf windstillem Wasser liegt. Es ist ein Stück Holz, an welchem jeder nach Belieben umherarbeiten mag, und sicher sein kann, daß es zu allen Schlägen und Stößen schweigt, oder höchstens mit einem dumpfen Seufzer antwortet. Wenn es aber hinaus soll in Woge und Sturm, da zeigt sich seine Kraft und sein inneres Leben. Ist es verrottet und zerfetzt, sind Masten und Taue mürbe, seine Planken verfault und sein Segelwerk vernachlässigt, dann wehe den schlechten Schiffern. Das Schiff wird sich nicht regieren lassen, es wird dem Steuer nicht gehorchen und das Ende wird ein Schiffbruch sein.«

»Bei dem das Schiff aber eben auch in Stücke zerbricht,« sagte der Baron, mit dem Kopfe nickend.

»Es kann wohl so sein,« sprach Jens ernsthaft, »aber um so mehr wehe über die, welche es dahin kommen lassen und dem Schiffe, dem sie Leben und Wohlfahrt danken, sein Recht verweigern und ihm Verderben bereiten.«

»Und was kredenzen Sie uns hier?« fragte der Baron lächelnd, als Jens ihm und dem Fräulein volle Gläser reichte. – »Sollen wir auf das Wohl der Volks- oder der Schiffsrechte trinken?«

»Ich heiße Sie an Bord willkommen,« erwiderte der junge Mann. »Möge unsere Reise so glücklich sein, wie Schleswigs alte Rechte wohlbegründet sind, und mögen beide alle Hindernisse siegreich überwinden.«

Der alte Herr stieß freundlich sich verbeugend an; die junge Dame aber hielt seinen Arm fest und sagte lebhaft: »Auf das gute alte Recht laß uns trinken mit Herrn Lornsen. Möge unsere Reise so glücklich sein, wie Schleswig glücklich war, als es Südjütland hieß und an der Eider der deutsche Grenzstein stand.«

»Sie sehen wohl, Herr Lornsen,« rief der alte Herr, »daß wir am besten thun, um allen Widerspruch zu beseitigen, einfach auf eine glückliche Reise zu trinken und auf das Wohl unseres jungen Kapitäns, der so vortrefflichen alten Madeira an Bord hat.«

Jens ließ es schweigend geschehen, und als der Höflichkeit genug gethan war, band er seinen Hut fest, knöpfte seine Jacke zu und stieg aufs Verdeck hinauf, wo der Anker soeben gehoben war und über ihn hinweg die Schlupp an der Düne hinrauschte.

Vom Lande riefen die Fischer ein lustiges Hurra, der Baron aber schüttelte unten verdrießlich den Kopf und sagte ärgerlich, in einen der Sessel sinkend: »Der Mensch ist ein schlimmerer Phantast als ich glaubte! ich wollte, wir hätten uns nicht mit ihm eingelassen,«

»Wir konnten keinen besseren Mann kennen lernen,« erwiderte die Tochter, »Er ist überlegt, verständig, auch finde ich ihn sehr höflich und aufrichtig.«

»Verdammt aufrichtig!« murmelte der alte Herr. »Aber warum trankst du seinen albernen Trinkspruch nicht? Es ist ja einerlei, wie ein Ding lautet.«

»Nein,« fiel sie ein. »Nicht einen Augenblick soll er glauben, daß wir seinen Behauptungen beistimmen oder uns fügen. Er muß wissen, daß wir Dänen sind, und er wird es sich merken für künftige Fälle,« fügte sie lächelnd hinzu.

»Hoho!« rief der Baron, indem er eilig die Flasche und sein Glas auf dem Tisch festhielt, denn plötzlich legte die Schlupp sich tief auf die Seite. – Die beiden anderen Gläser stürzten um, die Scherben klirrten am Boden. – »Das ist ein böser Anfang, vielleicht eine Warnung.«

»Die von Bedeutung sein kann,« sagte sie spottend, »und doch sehr natürlich ist.«

In diesem Augenblick wurde die Thür der Kajüte von außen geschlossen, und einem heftigen Schlagen und Klatschen der Segel folgte ein zweiter Stoß, der das kleine Fahrzeug noch tiefer hinabdrückte.

»Was giebt es denn?« rief der Baron, »Warum sperrt man uns ein und was soll ich mit Flasche und Glas anfangen?« Jens steckte den Kopf zur Thür herein. Mit einem Blick sah er, was geschehen war, und indem er rasch die Scherben aufhob und beseitigte, nahm er Flasche und Glas und setzte sie in die festen Ringe, wo sie nicht fallen konnten. – »Sie werden am besten thun,« sagte er dann, »wenn Sie sich legen. Wir sind sogleich an der Dünenspitze und haben dann das Wetter zu bestehen.«

»Am liebsten wäre es mir, auf das Deck zu steigen,« sagte der alte Herr.

»Das ist kein Aufenthalt für Sie,« erwiderte der junge Mann höflich, aber entschieden. »Die Schlupp hat keinen hohen Bord, ihre Gaffel geht tief nach unten, überdies aber wird bald ein Regen von Spritzwasser und Wellenschaum darüber hinfliegen.«

»Das sind üble Aussichten,« rief der Baron, »aber hören Sie, Herr Lornsen, könnten wir nicht dennoch –«

»Sie können nichts,« fiel Lornsen ein, »als sich einige Stunden lang ruhig und still verhalten, und wenn es Ihnen möglich ist, schlafen, bis wir die Dünen von St. Peter hinter uns haben.«

Ein rauher Schrei auf dem Deck bewirkte, daß Lornsen rasch aus der Kajüte sprang. – »Wie der Wind heult,« rief der alte Herr, »das ist eine liebliche Schlafmusik. Was machst du denn, Lina? – Es kommt mir vor, als hatten wir besser gethan, auf dem verwünschten Felsen zu bleiben.«

Die junge Dame hatte Lornsens Rat befolgt und eines der Betten zum Lager benutzt. Sie lud ihren Vater ein, ihrem Beispiele zu folgen, aber der Baron zögerte. – »Es wird hoffentlich so arg nicht werden,« sagte er. »Die Stühle sind festgebunden, der Tisch ist angeschraubt, und wenn ich hier sitzen bleibe, kann ich zuweilen aufstehen, und Hilfe leisten, wo es nötig ist.«

Aber in der nächsten Minute schon ward er inne, daß Aufstehen und Hilfe leisten ganz außer seiner Macht war. – Eine ungeheuere Gewalt hob plötzlich die kleine Schlupp im Fluge auf und schien sie in die Wolken führen zu wollen, dann aber stürzte sie pfeilschnell wieder hinunter und fiel in einen unermeßlichen Abgrund. – Der alte Herr rutschte von dem Stuhl auf den Teppich nieder und hielt sich mit beiden Händen an der Armlehne fest. Er hatte sich ziemlich wehe gethan und stieß einen Seufzer aus, indem er sich aufzuheben versuchte; ehe er jedoch damit fertig war, flog die Schlupp von neuem empor. Ein fürchterlicher Schlag schmetterte an ihre Planken; eine Welle fiel dumpf und schwer darüber hin. Das Schiff bäumte und schüttelte sich, seine Nähte ächzten und knarrten, und mit dem losgerissenen Stuhl rollte der Baron wie ein Ball über den Boden fort.

»Kommt mir zu Hilfe!« schrie er kläglich, als er sich hin und her geworfen fühlte, ohne sich selbst helfen zu können. »Ich werde krank, ich kann nicht in die Höhe.« – Das Fräulein reichte ihm die Hand aus dem Bett und unterstützte ihn. Mit größter Mühe und in stetem Fallen ergriff er endlich den Rand des Sofas und nach einigen vergeblichen Anstrengungen gelang es ihm, sein Lager zu erreichen.

»Es ist eine Narrheit gewesen, in solchem Wetter zu fahren,« rief er ärgerlich und erschöpft, »und es wird immer toller und fürchterlicher. – Ich sehe nichts mehr, ich weiß nichts mehr. Gott steh uns bei! – Herr Lornsen, Jens Lornsen! Kehren Sie um, zurück nach Helgoland. Der verwünschte Wagehals ist imstande, uns ersaufen zu lassen, aus bloßer Eitelkeit, weil er nicht umkehren will. Er thut es aus Rache und Hohn. Er haßt uns, weil wir seine verrückte Gesinnung nicht haben, weil wir Dänen sind. – Himmlischer Vater! sei uns gnädig. – Es läuft Wasser herein von oben, wir gehen unter, in unseren Sünden kommen wir um. – Jens Lornsen! Es ist ein Tier. Alle diese Friesen und Schleswiger sind zähe, eigensinnig, deutsche Tiere, die nicht sehen und nicht hören, keine Vernunft annehmen, und alles ertrotzen wollen mit ihren rohen Fäusten. Er sieht und hört nicht. – Sie lachen oben, die verdammten Burschen. Ist es möglich, sie lachen, sie verspotten uns! – Ich will hinauf, Lina, ich kann den Kopf nicht aufheben, welch fürchterlicher Zustand! – Nur dies eine Mal erbarme dich, Herr, ich will nie wieder so dumm sein und zu Wasser gehen. Entsetzlich! entsetzlich!«

Hier wurde der alte Mann von einem heftigen Anfall der Seekrankheit unterbrochen, und in der nächstfolgenden Zeit war es ihm unmöglich, den Mund anders zu öffnen als zu schweren Seufzern und Stöhnen. Lina hatte ihm keine Antwort gegeben, sie glaubte am besten zu thun, ein tiefes Schweigen zu befolgen. Nach einiger Zeit wurde oben über die Fensterwölbung ein Teertuch geworfen. Lina fand dies sehr erklärlich und vernünftig. Denn durch die Fugen der Scheiben drang das Wasser ein und durch den Druck der Sturzwellen konnte leicht eine Beschädigung entstehen. – Nun aber herrschte völlige Dunkelheit in dem kleinen Raume, und ließ der Phantasie des jungen Mädchens freies Spiel. Sie lag mit wachen Sinnen und hörte auf jeden Ton, der durch das Brausen des Wetters herunterscholl. – Die wilden und unregelmäßigen Bewegungen des Schiffes ließen auf zunehmende Schwere des Wetters schließen. Fürchterliche Stöße schüttelten die Schlupp immer schneller und gewaltsamer, das Pfeifen und Heulen des Windes schien zu wachsen, das Krachen und Knarren der Planken und des Holzwerkes immer wehklagender zu werden. Zuweilen war es ihr, als läge ein Sterbender an ihrer Seite, dann wieder klang es wie Hohnlachen und grauenvolles Ächzen, aber mitten durch diese Töne und Stimmen, die so unheilvoll bange, ewig lange Stunden füllten, hörte sie oben die tiefen markigen Kommandoworte Jens Lornsens, welche eine wunderbare Beruhigung auf sie übten.

Sie konnte lächeln, wenn die Schlupp unter den Schlägen, die sie jeden Augenblick erhielt, zitterte und still zu stehen schien; sie streckte die Arme aus, wenn sie aufwärts gerissen wurde und mit donnerähnlichem Krachen dann in den Wogenschwall niederschoß. – Wieder und immer wieder hörte sie seine ruhige, gebietende Stimme und mit fest geschlossenen Augen konnte sie ihn sehen, wie er am Steuer stand, als sei er aus Erz geformt, wie sein männlich-stolzes Gesicht hinaus sah in die Wasserwüste, wie der kochende Gischt von seinem Haar niedertropfte, und wie er dazu lachte und sein unerschrockener Blick den Himmel durchforschte. Es kam ihr vor, als sähe er zuweilen niederwärts zu ihr hin und nickte ihr tröstend zu,

Plötzlich aber fuhr sie auf und stützte sich auf den Arm, – Jens Lornsens Stimme war heftig geworden, seine Befehle folgten schnell und wurden mit großer Gewalt gegeben; der Ruf seiner Matrosen antwortete in fast ängstlich klingender Weise.

Sie hörten die Segel schlagen, das Schiff schien weniger zu schwanken. Plötzlich aber folgte ein Pfeifen und Brausen in der Luft, der krachende Fall eines schweren Körpers schmetterte über ihrem Kopf auf dem Deck, das zusammenzubrechen schien, und diesem Falle folgte ein wildes Geschrei, das Unglück und Verderben ankündigte.

Mit einem raschen Sprunge war das junge Mädchen mitten im Raume, und ohne sich zu bedenken, eilte sie auf die Thür los, erreichte diese glücklich und drückte mit aller Kraft das Schloß auf.

Ein Strom kalter und feuchter Luft brach mit dem düsteren Lichte des Tages herein. Sie stieg einige Stufen der Treppe hinauf und warf ihre Blicke nicht ohne Schrecken auf Himmel, Schiff und Meer, auf den Kampf der Elemente, die auf diesem unermeßlichen Tummelplatz sich mit wütendem Gebrüll anfielen.

Aller Sonnenschein war ausgelöscht, der letzte blaue Streif verschwunden. Ungeheuere Wolken, schwarz und zackig übereinander geworfen, lagen in einer langen Linie gewitterhaft ausgestreckt über dem nordwestlichen Horizont. Ein fahles Licht drang darunter hervor, zitterte über die düsteren Massen, die losgerissen von der schwarzen Wand in rasender Eile vorüberflogen und verlor sich in die Schleier von Dunst und Nebel, welche bis aufs Meer sich herabsenkten. – Ein stoßweises heulendes Wehen des Sturmes trieb die Wellen zu schaumbedeckten Bergen auf und ließ den erstarrten Blick durch ebenso tiefe, schreckliche Thäler irren, die mit einer gärenden, gelbgrünen Masse gefüllt waren. – Nichts war zu sehen als diese flutenden, schäumenden Köpfe, deren weiße Kämme sich grimmig sträubten, die kämpfend sich aufbäumten und verschlangen, um sich wieder zu gebären und mit doppelter Wut und Gewalt über alles hinzustürzen, was sie erreichen konnten.

Im nächsten Augenblick aber richtete das junge Mädchen ihr erschrockenes Gesicht auf das Deck des Schiffes, wo sie sogleich erkannte, was die Ursache des Geschreies und der Verwirrung gewesen sei. – Der Topp der Schlupp war von einem Windstoße gebrochen, die große Spiere war hinunter aufs Deck geschleudert und hatte den Schlag verursacht, den sie gehört hatte. – Lornsen mit einem der Matrosen war in voller Arbeit aufzuräumen und eben beschäftigt, das große Segel noch mehr zu kürzen. – Der zweite Mann stand am Steuer. Die fragenden Worte, welche Lina an ihn richtete, verhallten in dem Brausen des Windes, in dem Pfeifen und Wimmern des Takelwerks. Der Mann warf einen ernsten durchdringenden Blick auf sie und sah dann wieder hinaus auf den Wellentanz und auf seine Arbeit am Steuer, das unter seinen nervigen Händen ruckte. – Unter seiner Kappe von ölgetränktem Segeltuch flatterten die nassen, langen blondroten Haare. Schaum und Wasser trieften von seiner Teerjacke, dann und wann wischte er mit der harten, braunen Hand die salzige Flut aus Augen und Bart und rollte mit unerschütterlichem Gleichmut den Kautabak aus einer Backe in die andere.

Die Schlupp war in Wolken von Wasserstaub gehüllt. So oft sie niederrauschte in die Tiefe, flogen von ihren Bugen unzählige Tropfen auf, aber mehr wie einmal waren es ganze Wasserströme, die über das Deck hinstürzten und wieder abflossen. – Der Mantel von dichtem Kamelott und der Helgoländer Hut von Wachstaffet bewahrten das junge Mädchen ebensowohl ziemlich gut vor der Nässe wie ihre geschützte Stellung dicht hinter dem Kajütenhause auf der Treppe. Als ihr Auge sich an den schwarzen Himmel, an das Heulen des Sturmes und an den schrecklichen Blick auf die Herde der schäumenden Ungeheuer gewöhnt hatte, kehrte ein Lächeln in ihr Gesicht zurück. – Die unerschrockenen Männer, welche das Schiff leiteten, fürchteten nichts; der Schaden konnte kein bedeutender sein, in wenigen Minuten war er ganz beseitigt und vor ihren Augen kniete Lornsen dort, so ruhig arbeitend und so heiter um sich schauend, als sei er gänzlich unbesorgt.

Plötzlich aber stieß sie einen gellenden Schrei der Angst aus. Die Schlupp fiel von der Höhe einer Woge in ein unermeßliches Thal, und vor ihr bäumte sich ein Wasserberg auf, der die Spitze des abgebrochenen Mastes weit überragte. Sie konnte nichts sehen als die gelbe, mit Schaumstreifen durchfurchte Wand des rollenden entsetzlichen Gebirges, über ihr war nur ein Stück Wolke sichtbar, die der Deckel eines Sarges zu sein schien, unter ihr die ausgehöhlte Tiefe, welche bis auf den Grund des Meeres zu reichen schien. Rundumher stiegen steile bewegliche Massen empor, die wie geschmolzenes kochendes Metall sich ausdehnten und hoch oben Reihen glänzender Zähne wetzten. Der Sturm, der über ihren Kamm fegte, hob diesen ab und schleuderte ihn weit voraus; mit rasender Gewalt trieb er den ungeheueren Wasserberg der Schlupp entgegen, und diese lag ihm preisgegeben, vom Winde verlassen, in der Tiefe des Thales und schien, wie das gebundene Opfer an der Schlachtbank, den Todesstoß zu erwarten.

Instinktmäßig klammerte Lina sich an dem Eisengitter fest, das zum Hinaufsteigen an der Treppe diente. Ihr flehendes Auge traf den Mann am Steuer, der mit äußerster Gewalt das Rad hielt und in dessen Zügen sich ein wildes Entsetzen malte. Wie trunken oder ergriffen von einem lähmenden Zauber, taumelte die Schlupp hinunter und schlingerte mit ihrem Bug zur Seite. In wirrer Angst wandte das junge Mädchen den Blick nach dem Deck zurück. Noch immer lag Jens dort und knüpfte mit der eiligsten Hast die Reefbänder zusammen. Bestürzung und Besorgnis schienen ihn zu erfüllen, aber über ihm rollte die ungeheuere Woge, um ihn lag eine Nacht des Schreckens und er schien es nicht zu bemerken.

In diesem Augenblick stieß das junge Mädchen den Schrei der Verzweiflung aus, der schnell erstickte. Sie wollte ihm zuwinken; sie streckte den Arm nach ihm aus und deutete auf das Gespenst des Todes, das tausend Arme nach ihm ausstreckte, aber ihre Lippen schlossen sich. Sie sah nichts mehr als eine undurchdringliche Masse, die schwarz wie die Nacht sich über dem Schiff aufbäumte. Sie fühlte den Druck der Luft schneidend scharf ihr Gesicht wie mit Nadelstichen durchbohren. Die Bänder ihres Hutes rissen, er wurde in die Höhe gewirbelt, ihr Haar flatterte wild ihm nach; dann folgte ein Schlag, der donnernd und knirschend die Seite der Schlupp traf. Der Boden zitterte und wankte unter ihren Füßen, eine dichte Wassermasse stürzte über sie hin und begrub sie. Es war, als würde sie aufgehoben und getragen, als würde sie fortgerissen in unermeßliche Fernen. Ihre Finger öffneten sich, sie wollte um sich fassen, sich halten und verlor das Bewußtsein.


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