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Bringen Sie die Lampe!

Mehrere Tage schon hat kein Wind die Bäume bewegt, die Landschaft macht mir den Eindruck einer Nachtwandlerin – ganz die gleiche Stille, das Geheimnisvolle, die ehrfürchtige Scheu. Das dichte Laub der Esche rührt sich nicht; selbst an den obersten Zweigen verharren die fingerförmigen Blätter in ihrer Ruhe. Der Hagedorn, der aus einer zerfallenen Mauer herauswächst, färbt sich braun und gelb, mit den Stockrosen ist's vorbei, die Astern kommen. Gestern abend ging das Blaßrosa des Himmels in ein feierliches Blau über, wie es um Mitternacht zu sehn ist. Er war nur spärlich gestirnt: der blendende Jupiter stand im Zenit; der rote Mars hing unter dem dekorativ wirkenden Vollmond über dem Horizont ... Die letzten Septembertage! Und jeden Tag stirbt das Licht einige Minuten früher. Um halb sechs spürt man einen Schauer um die Beine; es muß ein Frosthauch in der Luft liegen. Darum hängen die Blätter auch so kläglich herab. Es liegt bestimmt ein Frosthauch in der Luft, so daß man sich versucht fühlt, das Feuer anzuzünden. Es ist schwer zu sagen, ob man friert oder ob man sich nach der Gesellschaft des Kamins sehnt. Der Tee ist vorüber, die Dämmerung bricht herein, der Schurke Kleinmut lauert in den Ecken. Bei Tagesschluß, wenn man sein Werk hinter sich hat, stehn lähmende Gedanken auf im Studierzimmer und im Atelier. Da ist der Architekt – er zeichnet eben die sechsunddreißigste Säule (es sind im ganzen dreiundvierzig); mitten in der Arbeit hat ihn die Dämmerung überrascht, es ist ihm weh ums Herz, als er sich von seinem Pult erhebt. Einerlei, ob seine Begabung groß oder klein ist – er kommt nicht um die Frage herum, wem es etwas verschlägt, wenn er die letzten sieben Säulen unvollendet läßt. Da ist der Novellist. Zwei, drei oder vier weitere Geschichten sind nötig, einen Band von vorgeschriebener Seitenzahl zu füllen. Die Dämmerung hat ihn in der Arbeit unterbrochen, und als er vom Schreibtisch aufsteht, fragt er sich, wem es etwas verschlägt, ob er die letzten Erzählungen schreibt oder nicht. Schreibt er sie, so werden seine Ideen einen flüchtigen Lenz grünen, eines kurzen Sommers genießen; wenn sein Garten im Herbst welkt, werden seine Seiten schon fast vergessen sein; sie werden dem Winter eher zum Opfer fallen als sein Garten – vielleicht. Die Blüten, die er für unsterblich hielt, find sterblicher als die Rose. ›Warum‹, denkt er, soll sich die Welt für meine Erzählungen mehr erwärmen als für die tausend und eins Erzählungen, die in diesem Jahr veröffentlicht werden? Auch mein Buch gehört zu der Anzahl Banalitäten, aus denen der Überdruß erwächst, den wir Leben nennen.‹ Seine Gedanken flattern über die Vergangenheit hin, und sein eignes Leben dünkt ihn kaum wesenhafter als die Tagesarbeit vor der Staffelei, wenn er Maler, am Sekretär, wenn er Schriftsteller ist. Er kommt sich vor wie ein Pferd, das beständig um einen Brunnen herumgeht; doch das Pferd pumpt Wasser – Wasser ist eine Notwendigkeit, während die Kunst, selbst wenn sein Schaffen den Namen Kunst verdient, seines Wissens für keinen Menschen eine Notwendigkeit ist. Wer er auch sein mag, es mangelt nicht an Beweisen, daß die Welt ganz gut ohne seine Tätigkeit auskommt. Aber wenn er davon auch durchdrungen ist – und in der Stimmung, die ich jetzt beschreibe, scheint es ihm Gewißheit –: er muß weiter arbeiten. Zur Arbeit ist der Mensch geboren, heißt es im Alten Testament; er muß seine Furche bis ans Ende des Ackers ziehn, sonst würde er sich, hinlegen und vor lauter Langeweile sterben oder wahnsinnig werden. Er fragt sich, warum er ein Verfertiger von Götzenbildern wurde – ›ein Verfertiger von Götzenbildern, ein Verfertiger von Götzenbildern‹, ruft er, ›der für seine Waren keinen Abnehmer finden kann! Lieber Matrose auf dem Weltmeer oder Soldat auf dem Schlachtfeld!‹

Seine Gedanken reißen ab, er beginnt von einem Leben der Tätigkeit zu träumen. Es wäre köstlich, denkt er, auf einem Schiff nach Südamerika zu fahren, wo es so gut wie unbekannte Wälder und Gebirgsketten gibt. Er hat von den wilden Hirten der Pampas gelesen, die so mit ihrem Pferde verwachsen sind, daß sie keine Weile zu Fuß gehn können, ohne sich auszuruhn; wenn er am Herbstabend vor dem Kamin sitzt, kann er sie durch das hohe Gras der Pampas im Galopp reiten und drei, durch Lederschnüre verbundene Bälle schleudern sehn. Die Waffe heißt Bolus. Wenn sie durch die Luft saust, umschlingt sie die Beine der Guanakos und bringt sie zu Fall. Aber fände er auch, falls er nach Amerika ginge, seine Befriedigung im Jägerleben? Vermag der Künstler seine Träume beiseitezuschieben und sich mit dem Leben des Jägers zu begnügen? Seine Träume würden ihm folgen: wenn er abends am Lagerfeuer säße, würde er darüber nachsinnen, wie er die Schatten malen oder von dem rohen Leben derer erzählen solle, die um ihn herumsitzen und Charqui essen. Nein, ihm bleibt nichts andres übrig, als seine Ackerfurche weiter Zu ziehn; er muß Geschichten schreiben, bis sein Hirn dahinschwindet oder der Tod dazwischenkommt.

Jetzt klingen Kirchenglocken durch die stille Luft, wundervoll friedliche Töne, wie sie seit ewig langer Zeit schon hallen; er hört ihnen gerne zu und denkt dabei an Choräle und die schlichten Predigten des guten Geistlichen. Soll er aufstehn und hingehn? Vielleicht würde der Gottesdienst seine Verzagtheit lindern; aber er hat nicht so viel Mut im Herzen. Er kann nichts weiter tun, als ein Streichhölzchen anstecken; das Feuer flammt auf. Es ist ein Herbstnachmittag, an dem grade so viel Frost in der Luft liegt, daß einem das Feuer willkommen ist. Und während er sich in seinen Sessel schmiegt, beschwichtigt die Wärme den Geist und das Fleisch, und im Halbschlummer des Fleisches erwacht der Geist. Wie – fällt ihm die Geschichte jetzt ein? Ja; sie formt sich, unabhängig von seinem Willen, und er spricht: Möge sie Gestalt annehmen!‹

Und der Schauplatz, der vor seinem geistigen Auge emporsteigt, ist ein Tanzsaal. Er sieht die Damen alle in einer Reihe, zarte Nacken und Arme junger Mädchen, und junge Herren in schwarz, die sich an den Türen drängen. Etliche Paare bewegen sich nach dem Rhythmus eines schmachtenden Walzers, einer französischen Imitation von Strauß, eines Walzers, der jetzt nicht mehr gespielt wird, den vielleicht alle vergessen haben mit Ausnahme von ihm – eines Walzers, den er vor zwanzig langen Jahren gehört hat. Der Walzer hat seitdem unbeachtet in seinem Kopf gelegen, aber jetzt hört er ihn wieder ganz; noch nie war er imstande, sich auf diese Coda zu besinnen, und nun bringt sie den Duft von Veilchen mit – das Parfüm einer kleinen blonden Frau, die sich in Träumen ergeht, während sie mit dem jungen Mann tanzt, der ebenso blond wie sie. Nehmt an, sie hat mehr ihn engagiert als er sie, nehmt an, sie trug ein Crêpe de chine-Kleid, vielleicht irgendwo weiß verziert, und eine weiße Schleife um den Hals. Nehmt an, sie war eine Witwe, deren Mann ein halbes Jahr nach ihrer Vermählung starb – vor sechs Monaten. Nehmt an, sie kam aus einem fernen Weltteil, aus Amerika – Baltimore tut es ebensogut wie jede andre Stadt, vielleicht noch besser, denn der Träumer am Kamin hat nicht die geringste Ahnung, ob Baltimore inmitten einer Ebene liegt oder von Bergen eingeschlossen ist, ob seine Häuser aus Marmor, Ziegeln oder Stein sind. Nehmt an, sie stammte aus Baltimore, aus einer Straße mit einem reizvollen Namen – Cathedral Street–, es muß eine Cathedral Street in Baltimore geben. Der Klang der Kirchenglocken hat gewiß den Träumer angeregt, Cathedral Street zu wählen, sie dort wohnen zu lassen ... Der Ball müßte privat stattfinden, ein kleiner Ball, den sie besuchen dürfte, wiewohl ihr Mann erst ein halbes Jahr tot war. Als Amerikanerin würde sie den schleifenden Boston-step tanzen, und die beiden würden zusammen durch die verschiedenen Gruppen gleiten, bald vor-, bald rückwärts, hier den Tänzern ausweichend, dort wieder zum Vorschein kommend hinter einer Gruppe von Franzosen und Französinnen, die hin und her hopsen, auf dem Boden herumtrampeln, wobei die Herren die Damen halten, als ob es Gitarren wären. Eine amerikanische Witwe legt beim Tanz ihrem Partner die Hand auf die Schulter, schmiegt sich in ihn hinein, findet bei ihm zwischen Arm und Hüfte ein Ruheplätzchen und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Sie folgt jedem seiner Schritte; wenn er plötzlich nach links schwenkt, gibt es nie eine Stockung, einen Stoß, sie bewegen sich stets nach dem gleichen Rhythmus. Wie wonnig sind diese Augenblicke des rhythmischen Gleichmaßes und des Sexualreizes, wie stark, wenn das Weib ein kleines, schwarz gerändertes Taschentuch nimmt und es ihrem Tänzer in die Manschette schiebt mit leise flüsternden Worten, aus denen hervorgeht, daß er es behalten soll! Jedem, dem das widerfährt, wird das Leben ein Lied. Ein kleiner Vorfall dieser Art erhebt ihn aus dem öden Einerlei des körperlichen Daseins. Der Grund für die namenlose Seligkeit liegt wohl darin, daß man wieder sozusagen im Takt marschiert; man hat sich in die große Prozession eingeordnet und hilft werktätig mit im großen Betrieb.

Es läßt sich nicht bestreiten: in solchen Augenblicken des Sexualreizes kommt einem der Rhythmus mehr zum Bewußtsein als zu jeder andern Zeit, und schließlich bedeutet Rhythmus doch Freude. Rhythmus schafft Musik, Poesie, Bilder. Wonach wir alle hinterher sind, ist: Rhythmus, und des jungen Mannes Leben insgesamt geht auf dem Heimweg nach einer Melodie, nach derselben Melodie, wie die Sterne ihm zu Häupten gehn. Alles vereinigt sich zum Wettgesang. Und er singt, als er an der Pförtnerloge vorbeikommt und bedauert das arme schlafende Ehepaar – was wissen sie von Liebe? – armselige Geschöpfe, die nicht imstande sind, die Freude des Rhythmus zu fühlen. Beseligt steigt er die Treppe hinauf, der Rhythmus hat es ihm angetan, Worte folgen Gedanken, Reime folgen Worten, und er setzt sich an seinen Schreibtisch, nimmt einen Bogen Papier hervor und schreibt. Ein Lied regt sich in ihm, ein duftiges Lied von blondem Haar und Wohlgerüchen – das Taschentuch inspiriert ihn. Das Rondell muß ihm vollendet gelingen; ein Rondell oder etwas Ähnliches, das er ihr morgen vorlesen wird, denn sie hat sich mit ihm verabredet.

Wo? Kein besseres Stelldichein für Liebende als der Garten der Kirche de la Trinité. Er verbringt die Nacht in mattem Schlaf; aber das mehrmalige Erwachen ist köstlich, denn bei jedem Erwachen nimmt er einen schwachen Veilchenduft wahr. Er träumt von blondem Haar, träumt davon, wie sorgfältig er sich frühmorgens ankleiden will. Wird er in den gelben oder den grauen Beinkleidern ihr besser gefallen? Soll er eine violette oder eine graue Krawatte umbinden? Diese Fragen sind von Wichtigkeit; gibt es wichtigere für einen jungen Wann von fünfundzwanzig Fahren, der im Garten der Kirche de la Trinité ein himmlisches Meißner Figürchen mit blondem Haar und Vergißmeinnichtaugen trifft? Er weiß, sie wird kommen, nur hofft er, daß sie ihn nicht allzulange warten läßt. Um zehn Uhr ist er bestimmt an Ort und Stelle, geht auf und ab und betrachtet die Kindermädchen und die in den Schatten gefahrenen Wagen mit den Kleinen. Bei andrer Gelegenheit hätte er wohl für die Kindermädchen Augen gehabt, aber heut ist das hübscheste häßlich; sie sind bloß das tägliche Brot des Daseins. Heut steht ihm ein größerer Leckerbissen in Aussicht. Das hofft er wenigstens, und die zwanzig Jahre, die verflossen sind, haben nicht vermocht, den Augenblick auszulöschen, als er sie zu ihrem Stelldichein über den Kiesweg kommen sah, eine zierliche Blondine in schwarzem Kleid. Der Träumer sieht sie und ihren Freund zusammen aus dem Garten gehn. Er folgt ihnen die Straße hinunter, hört sie plaudern und miteinander verhandeln, wohin sie zum Frühstück gehn sollen. Sie in ein Pariser Restaurant zu führen, wäre ein zu alltägliches Vergnügen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, mit ihr aufs Land zu fahren. Beide wollen auf dem warmen Gras sitzen und möglicherweise Küsse tauschen. Aller Herzen sehnen sich nach dem Lande, wenn sie verliebt sind; und sie möchte von ihm im Schatten der Bäume hören, daß er sie liebt. Sie ist Chloe und er – wer immer Chloes Geliebter war. Wohin gehn sie? Nach Bougival? Mancherlei ließe sich zu seinen Gunsten anführen, aber er ist schon dort gewesen. Auch in Meudon. Er möchte mit ihr irgendwohin fahren, wo er noch nicht war und vielleicht nie wieder hinkommen wird. Vincennes? Der Name ist allerliebst, er lockt ihn. Und sie fahren hin und kommen gegen elf Uhr an, ein bißchen zeitig fürs Frühstück.

Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, weiße Wolken breiten sich aus, wie fröhliche Wimpel kommen sie ihm vor. Er freut sich des Sonnenscheins – alles ist verheißungsvoll, von guter Vorbedeutung, die Wolken sind die Liebesfähnchen des Himmels. Wie die Gedanken in seinem Kopfe plappern, wie sich die Bilder darin drängen – vielleicht auch bei ihr! Überdies hat er ein Gedicht an sie in der Tasche. Er muß es ihr vorlesen, und damit sie es besser hören kann, setzen sie sich aufs Gras. Vor zwanzig Jahren wuchs gegenüber den Villen das Gras noch wild, standen einige Bäume und Büsche, hier und dort eine Bank für Liebespärchen, für alle möglichen Menschen; aber Liebespärchen meinen, diese Welt sei nur für sie da. Nur die Liebe kommt ernstlich in Betracht, und alle Musik und Poesie, alle Bilder und Skulpturen haben einzig den Zweck, die Liebe anzufachen, die Liebe zu verherrlichen, die Liebe als die einzige ernsthafte Beschäftigung erscheinen zu lassen. Vincennes mit seinen Bäumen und weißen Wolken, die am blauen Himmel emporsteigen, galt an diesem Tage den Liebenden als eine sehr angemessene Fassung für ihre Zärtlichkeiten. Die süße kleine Frau – der Träumer kann sie auf dem warmen Gras sehn – sitzt, so gut es geht, hinter einigen Sträuchern versteckt; das schwarze Kreppkleid verbirgt ihre Füße oder tut doch so. Weiße Strümpfe waren damals die Mode. Sie hat weiße Strümpfe an; wie hübsch und reizend sie sich in den kleinen schwarzen Schuhen ausnehmen! Die jüngere Generation kennt nur schwarze Strümpfe; der Reiz der weißen ist nur dem reiferen Alter bekannt.

Doch der junge Mann muß ihr sein Gedicht vorlesen. Sie soll es zu hören bekommen, denn es gefällt ihm, und er ist überzeugt, es wird ihm ihre Gunst erringen helfen. Und als sie ihn fragt, ob er im Schlaf an sie gedacht, kann er die Antwort geben, daß ihr nach Veilchen duftendes Taschentuch ihn mehrmals geweckt habe, daß das Aufwachen köstlich gewesen. Um wieviel Uhr er denn zu Bett gegangen sei? Sehr spät; er sei aufgeblieben und habe ein Gedicht an sie gemacht, das von der Schönheit ihres blonden Haares Kunde gebe.

»Lady, strähle dein Haar,
das so lang und sonnig klar.
Keine süßre Blume sprießt
im Mai, als dein loses Haar,
wenn es meine Füße umfließt.
Lady, strähle dein Haar,
das so lang und sonnig klar.

Die Locken, gold wie die Sonne,
auf Bildern der Madonne
erglänzten nie halb so schlicht
wie dein verzaubert Haar,
an Schatten reich und an Licht.
Lady, strähle dein Haar,
das so lang und sonnig klar.

Lady, strähle dein Haar,
das so lang und sonnig klar;
ein Netz von Golde spann'
aus deinem Zauberhaar,
bis alles in deinem Bann.
Lady, strähle dein Haar,
das so lang und sonnig klar.«

»Zeigen Sie einmal Ihr Gedicht her ... Es ist ganz reizend. Aber was meinen Sie mit ›verzaubertem Haar‹? Wollen Sie damit sagen, daß mein Haar Sie bezaubert hat? ›Ein Netz von Golde spann‹ ... ›Strähle‹ – soll das heißen: aufkämmen?«

»Dame, tressez vos cheveux blonds
Qui sont si lourds et si longs –

wie gut das im Französischen klingt!«

»Ich verstehe kein Französisch, aber Ihr Gedicht gefällt mir trotzdem. Wissen Sie, daß es mir sogar sehr gut gefällt?«

Es ist leicht, unter solchen Umständen verständnisvolles Lob für seine Verse einzuheimsen. Die beste Ode des Horaz würde einem jungen Weib nicht so viel sein wie die mäßige Reimerei des jungen Mannes, den sie liebt. Ein Glück, daß es so ist. Das ist des Träumers Lebensauffassung, wenn er versonnen im Schatten sitzt, dann und wann vom Kaminfeuer beleuchtet. Er denkt noch an das warme Gras und die kahlen Büsche. An diesem Frühlingstag war das Laub in Vincennes kaum dicht genug für verliebte Leute. Er sucht sich zu entsinnen, ob er ihren weißen Knöchel, während sie das Gedicht las, mit der Hand umspannte. Wenn er sich recht erinnert, geschah es, und sie verbot es ihm und tat ein bißchen beleidigt, indem sie ganz wie ein zimperliches junges Ding erklärte, derlei müsse er unterlassen, sie wäre nicht mit ihm ausgegangen, wenn sie geahnt hätte, daß er sich solche Freiheiten herausnähme. Aber sie ist ihm nicht ernstlich böse. Wie könnte sie auch? Hat er nicht von ihrem verzauberten Haar gesprochen? Und was kümmert es sie, daß der Ausdruck einem andern Dichter entlehnt ist? Ihr kommt es darauf an, daß er ihr Haar für zauberhaft hält, und ihre Hände greifen danach. Der junge Wann fleht sie an, es aufzulösen, es über die Schultern fallen zu lassen. Er muß den Lohn für sein Gedicht erhalten, und als einzigen Lohn will er den Anblick ihres herabwallenden Haares nehmen.

»Aber ich kann doch nicht hier auf der Wiese mein Haar aufmachen. Gibt es denn kein andres Zahlungsmittel?« Und sie neigt sich ein wenig nach vorn, während ihre Augen fest auf ihn gerichtet sind. Der Träumer kann ihre Augen sehn – helle, junge Augen –, doch er vermag sich nicht mehr zu erinnern, ob ihre Lippen voll oder schmal waren. Ach, er denkt aber an ihre Küsse! An einem solchen Tag küßt ein junger Mann seine Begleiterin, und man darf es füglich bezweifeln, ob die junge Dame je wieder mit ihm ausginge, wenn er sich dessen unter den beschriebenen Umständen enthielte. Allein das Liebespärchen muß vorsichtig sein in Vincennes. Die Dame mit dem zauberhaften Haar hat eben einen ältern Herrn erspäht, der in geringer Entfernung von ihnen mit seinen beiden Söhnen auf einer Bank sitzt.

»Bitte, seien Sie still. Er hat uns gesehn – auf mein Wort!«

»Und wenn schon! Er wird an seine eigne Jugend denken, ehe seine Kinder zur Welt kamen. Außerdem macht er einen freundlichen Eindruck.«

Später wenden sich die Liebenden mit einer Frage an ihn, denn selbst Verliebten fließt die Zeit dahin, und sie beide verspüren Lust zu frühstücken. Der freundliche Herr zeigt ihnen den Weg zum Restaurant. Er besteht sogar darauf, sie eine Strecke zu begleiten, und sie erfahren von ihm, daß das Restaurant eben erst eröffnet worden sei zur Saison; diese habe noch nicht recht angefangen, aber sie würden gewiß etwas zu essen bekommen können, einen Eierkuchen und ein Kotelett.

Ein Romanschriftsteller von Beruf würde sich jetzt dies Restaurant ausmalen; seine Gedanken würden sich schon an ein cabinet particulier klammern, und seine Phantasie würde, falls er Naturalist wäre, mit Behagen die Tatsache vermerken, daß der Spiegel mit Namen von Liebespärchen vollgekritzelt war, und er würde die häßlichsten Namen aussuchen. Doch wenn du, lieber Leser, auf ein cabinet particulier in dieser Geschichte rechnest und auf eine Liebesszene, die sich darin abspielt, so blättere sofort um – du wirst sonst bitter enttäuscht sein. Diese Geschichte enthält nichts, was dich moralisch entrüsten – soll ich sagen: deine prüde Empfindlichkeit verletzen könnte? Als der Dichter mit rotbraunem Haar und die ährenfarbige Amerikanerin in Vincennes frühstückten, wählten sie einen Tisch am Fenster in dem langen, mit Tischen vollgepfropften Hauptsaal und wurden von einem Heer von Kellnern bedient, die vom Faulenzen müde waren.

Damals gab es bestimmt einen See in Vincennes, mit einer Insel darauf und hoch gewachsenen jungen Bäumen, durch die die Morgensonne schien. Die Liebenden weideten sich an dem Anblick, an den hübschen Spiegelungen und den Schwänen, die sich an der Insel tummelten. Der Romanschriftsteller vom Fach ruft: ›Aber wenn sich keine Liebesszene im Restaurant abspielt, wie soll dann die Geschichte enden?‹ Warum müssen Geschichten enden? Und wäre ein sinnliches dénouement ein besserer Schluß als – sagen wir: ein Regenschauer, der die Liebenden überrascht, als sie das Restaurant verlassen? Ein solcher Zufall wäre doch möglich gewesen: nichts ist Ende April oder Anfang Mai wahrscheinlicher als ein Schauer, und ich kann mir vorstellen, wie das Pärchen von Vincennes zu einem Concierge ins Gartenhäuschen am Tor einer Villa stürzt.

»Nur ein paar Minuten«, sagen sie. »Der Regen wird gleich aufhören.«

Aber sie sind noch nicht lange dort, da kommt ein Dienstmädchen mit drei Schirmen; einer ist für Marie, einen gibt sie mir, einen behält es für sich.

»Wer ist denn das? Sie haben mir doch gesagt, Sie kennen in Vincennes keinen Menschen.«

»Tu ich auch nicht.«

»Aber Sie müssen doch die Leute kennen, die hier wohnen. Das Dienstmädchen behauptet, Monsieur (damit meint es seinen Herrn) kenne Monsieur (damit sind Sie gemeint).«

»Ich schwöre Ihnen, ich kenne hier niemand. Aber gehn wir ruhig hin, es wird ein Hauptspaß werden.«

»Was wollen wir denn zur Erklärung sagen? Wollen wir uns für Vetter und Cousine ausgeben?«

»Daran glaubt kein Mensch mehr. Wollen wir uns für Mann und Frau ausgeben?«

Der Träumer sieht zwei Gestalten; das Gedächtnis reflektiert sie wie ein Konvexspiegel, verkleinert sie zu einem Zehntel ihrer Originalgröße, aber er sieht sie trotzdem deutlich und folgt ihnen durch den Regen, die Stufen zur Villa hinan. Der junge Mann beteuert in einem fort, daß er noch nie in Vincennes gewesen, daß er niemand am Ort kenne, und das Abenteuer hat sie beide etwas erregt. Wer mag nur der Besitzer des Hauses sein? Ein Mann mit Durchschnittsgeschmack, will es scheinen; während sie auf den Wirt warten, prüfen sie den türkischen Teppich, die reich gepolsterten Kanapees und Sessel.

Eine famose Situation, aus der ein Romanschriftsteller von Beruf spaßige Verwicklungen herausholen könnte. Er würde auf den ersten Blick sehn, daß le bon bourgeois et sa dame und die Kinder Englisch treiben, und das wäre für die ganze Familie eine Gelegenheit, ihre Sprachkenntnisse zu üben. Der Romanschriftsteller von Beruf würde auf den ersten Blick sehn, daß die Familie das junge Paar ins Herz schließt, und es müßte in seiner Geschichte weiter in Strömen gießen, so daß ihnen die Rückkehr nach Paris abgeschnitten wäre. Warum sollen sie nicht zum Abendessen bleiben? Nach Tisch würde der Romanschriftsteller von Beruf eine Anzahl Nachbarn einführen und sie tanzen und musizieren lassen. Was leichter, als glauben zu machen, daß la bourgeoise an diesem Tag ihren Jour hat! Das junge Paar würde in einer entfernten Ecke sitzen und alles vergessen bis auf sein eignes holdes Selbst. Le bourgeois et sa dame würden sie mit freundlichem Interesse beobachten und es für eine Höflichkeitspflicht halten, ihnen zu verschweigen, daß nach zwölf keine Züge mehr gehn; und wenn sich die Liebenden endlich zum Aufbruch entschlössen, würden ihnen le bourgeois et la bourgeoise mitteilen, ihr Zimmer sei fix und fertig, es gäbe keine Möglichkeit mehr, diese Nacht nach Paris zurückzufahren. Eine famose Situation, die sich vorteilhaft auf die Bühne bringen ließe – auf die französische Bühne. Ein famoses, wiewohl peinliches Dilemma, in dem sich eine junge Dame da befindet, zumal wenn sie leidenschaftlich in den jungen Mann verschossen ist. Der Romanschriftsteller von Beruf würde sagen: ›Bitter bereute die junge Witwe das Opfer, das sie der Moral gebracht hatte, als sie dem jungen Wann gestattete, sie für seine Frau auszugeben,‹ Dann würde er dem Leser versichern, die hübsche Amerikanerin habe sich ganz so benommen, wie es einer Dame unter den gegebenen Verhältnissen zieme. Doch da ich kein Romanschriftsteller von Beruf bin, will ich nicht darzustellen versuchen, wie eine Dame in solcher Lage handeln soll, und es wäre abgeschmackt, wollte ich die Vermutung erwecken, als wäre die Dame leidenschaftlich verliebt gewesen.

Die von meiner Einbildungskraft geschaffene Situation ist sinnreich erdacht; leider hat sie sich nicht zugetragen. Die Natur spinnt ihre Romane anders. Gewiß kehrten die Liebenden aus Vincennes, lediglich von ihren Erlebnissen etwas erregt, zurück. Der Leser möchte wissen, ob eine weitere Verabredung getroffen wurde. War dies der Fall, so muß es für den nächsten oder übernächsten Tag gewesen sein; haben wir uns nicht damit vertraut gemacht, daß die junge Witwe bereits ihr Retourbillett gelöst hatte? Sagte sie nicht, sie kehre Ende der Woche nach Amerika zurück? Er hatte gesagt: ›In ein paar Tagen wird uns der Atlantische Ozean trennen‹, und diese Tatsache hatte sie beide sehr traurig gestimmt, denn der Atlantische Ozean ist ein Ungeheuer und läßt nicht mit sich spaßen, besonders in Liebesangelegenheiten. Es wäre vernünftiger gewesen, der Dichter hätte die Einladung des Bourgeois zum Abendessen angenommen. Freunde hätten, wie erwähnt, sich vielleicht eingefunden, es wäre ein Tanz improvisiert worden oder es hätte wieder zu regnen angefangen. Irgend etwas wäre bestimmt geschehn, so daß sie den Zug versäumt hätten, und dann wäre die Aufforderung an sie ergangen, über Nacht zu bleiben. Die Witwe sprach nicht Französisch, aber der junge Mann; er würde sich mit dem bourgeois et sa dame vollkommen verständigt haben, und die liebe kleine Witwe hätte unter Umständen nichts von dem Verhängnis – glückliches Verhängnis! – erfahren, bis der Zeitpunkt für das Paar heranrückte, sich auf sein Zimmer zu begeben. Aber er, der Esel, hat die Gelegenheit, die ihm der Regen bot, verpaßt, und dieser Ausflug aufs Land hatte weiter keine Folge, als daß sie versprach, nächstes Jahr wiederzukommen und den Boston-step mit ihm zu tanzen; in der Zwischenzeit müsse er ihr Strumpfband am Arm tragen. Ging die Anregung dazu von ihm oder von ihr aus? Erhielt er das Strumpfband, als sie von Vincennes im Wagen heimfuhren oder als sie sich das nächste Mal in Paris trafen? Eine Antwort auf diese Fragen brächte die Geschichte nicht weiter; genüge es festzustellen, daß sie sagte, das Gummiband werde ein Jahr halten; wenn sie es dann an seinem Arm finde, so wisse sie, daß er ihr treu geblieben. Er habe ferner noch das kleine Taschentuch, das sie ihm gegeben; er müsse es in einer Schublade aufbewahren, dann würde vielleicht noch eine Spur des Parfüms nach dem langen Trennungsjahr vorhanden sein. Gewiß beanspruchte sie auch, daß er ihr einen Abschiedsbrief auf das Schiff schickte, mit dem sie die Heimreise antrat. Statt dessen machte er, der leichtsinnige Bursche, Verse, und das Ende dieses ganzen Liebeshandels, der so schön begonnen, wäre ein ärgerlicher Brief von ihr, der ihm für immer Lebewohl sagte: er sei ihrer nicht würdig, weil er den Brief zu spät zur Post gegeben.

All dies hat sich vor zwanzig Jahren zugetragen. Vielleicht deckt der Nasen schon ihre reizende kleine Person, wird auch mich binnen kurzem decken. Nichts währt ewig; das Leben ist nur ein Wechsel. Was wir Tod nennen, ist bloß Wechsel. Tod und Leben greifen beständig ineinander über, sind unentwirrbar verhaspelt, nichts hat etwas zu bedeuten, alles ist ein Strom des Wechsels, in dem die Dinge dahingleiten. Manchmal sind die Ereignisse freudiger, manchmal unerquicklicher Natur, und weder in den freudigen noch in den unerquicklichen vermögen wir irgendeinen Zweck zu entdecken. Zwanzig lange Jahre sind es her, Hoffnung Hab ich nicht, kein Fünkchen.

 

Meine Stimmung neigt sich ihrem Ende zu, es ist mir weh ums Herz – ich springe auf, blicke mich um und rufe: »Wie dunkel es im Zimmer ist! Warum ist noch kein Licht angesteckt? Bringen Sie die Lampe!«


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