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La Butte

Wenn ich morgen zum Frühstück fahre, wird sich das Panorama von Paris meinen Blicken enthüllen, Prospekt nach Prospekt: grüne Rasenflächen, weiße Gebäude, Villen im Schmucke der Blumen; heute fahr ich durch die glühweiße Hitze der Rue Blanche zum Frühstück. Der Rücken des Kutschers wird immer krummer vor Müdigkeit, und er wäre längst, vom Schlaf übermannt, zusammengesunken, wenn die großen Pflastersteine das Gefährt nicht von einer Seite auf die andre schuckelten. Noch müssen wir die Rue Lepic hinanklimmen; das arme, einer Ohnmacht nahe, kleine Tier wird nie imstande sein, mich bis zur Butte zu ziehn. Ich lasse deshalb meinen Wagen halten, teils aus Mitleid, teils weil ich die Rue Lepic studieren möchte, so typisch ist sie für die besseren unteren Volksschichten. In der Rue Blanche findet man portes-cochères, aber in der Rue Lepic sind die Haustüren eng, teilweise vergittert, und münden auf einen schmalen Gang, an dessen Ende, zwischen Wand und Treppe eingezwängt, kleine Zimmer liegen, in denen die Portierfrauen – ewig en camisole – beim Gemüseputzen und bei Näharbeiten sitzen. Die an die ausgebleichten gelben Wände zurückgeklappten Holzblenden lassen einen Streifen des weißen Bettvorhangs sehn und eine schwerfällige Frau von mittlerem Alter en camisole; sie geht hin und her zwischen dem Kochherd, darauf, in einem Blecheimer eingeweicht, ein Kaninchen liegt, und den Männern, die bei ihrem Handwerk im Fenster sitzen. Der Ledergeruch folgt mir mehrere Schritte. Ein paar Häuser weiter fitzt ein Mädchen und garniert einen Hut, daneben die Mutter. Das Mädchen blickt auf, blaß und erschöpft von der Hitze. An der nächsten Straßenecke wohnt der marchand de vins, gegenüber der schmutzige kleine charbonnier, und um ein Loch, das er seine boutique nennt, steht eine Gruppe Weiber in verschossenen Peignoirs und plumpen gestickten Pantoffeln. Sie tragen Körbe am Arm. Überall Spuren eines kärglichen, bescheidenen Lebens, aber nirgends der blöde arme Schlucker, der bei uns in London auf den Straßen so häufig ist – der Barfüßige, das scheue, ängstliche Geschöpf, der Mann, der an einer Rinde nagt und sich das schwarze, zerlumpte Hemd über die schwindsüchtige Brust zieht.

Der Asphalt ist kochend heiß, die Steine strahlen unerträgliche Wärme aus, meine Füße schmerzen und brennen. Am obern Ende der Straße komme ich in eine noch ärmere Gegend, eine noch steilere Straße, die jedoch so eng ist, daß sich die Häuserschatten schon über das Pflaster zu breiten begonnen haben. An ihrem Ende ist eine Treppe, darüber ein kleiner Grashügel, darüber eine Windmühle, die ihre schwarzen, regungslosen Flügel in die Luft streckt. Sie ist jetzt nämlich ein stummes Prunkstück, ein Reklameschild für das Tanzlokal Moulin de la Galette.

Die Straße wird auf der Höhe immer weißer, und an der Butte ist sie ganz leer, nur die weißen Strahlen der Mittagssonne füllen sie aus. Von dem blassen Himmel heben sich scharf ab eine verfallene Fassade und geborstene Säulen, die inmitten verwüsteter, von hohen, bröckligen, weißen Mauern umschlossener Gärten stehn. Ich blicke durch einen verfallenen Torbogen und sehe einen Springbrunnen plätschern, aber nirgends Bewohner, die zu diesen Häusern gehören – nur einen Arbeiter, eine Grisette, ein Kind, das in all dem Schutt weint. Die Butte Montmartre ist reich an Anregungen. Hier müssen früher vornehme Leute gewohnt haben. War diese Stätte wirtlich einmal unbebautes Land? Heut ist dort ein romantischer Müßiggang und Schlendrian zu Hause.

Links führt ein eisernes Tor mit verrosteten Angeln auf eine weite Terrasse, an deren Ende eine Häuserreihe steht. In einem dieser Häuser wohnt mein Freund. Ich ziehe die Klingel, und ich denke dabei, die Freude, ihn wiederzusehn, lohne die Mühe des Aufstiegs, und meine Gedanken lassen die lange Zeit, die ich Paul kenne, vorübergleiten. Wir haben uns von jeher gekannt, seit wir zu schreiben begannen. Paul ist leider nicht zu Hause. Das Mädchen kommt mit einem Kind auf dem Arm – schon wieder ein Kind! – an die Tür und teilt mir mit, Monsieur und Madame seien den ganzen Tag aus. Es ist also nichts mit Frühstücken, Rauchen und Literatursimpeln; mir steht nur der lange Rückweg bevor – Droschken sind hier oben nicht zu haben –, ein langer Rückweg durch die bratende Sonne. Und es ist auch kein Trost, mir sagen zu lassen, ich hätte vorher schreiben und ihnen mein Kommen anzeigen sollen.

Aber ich muß mich erst ausruhn und um Erlaubnis bitten, mich hinzusetzen ... Ah, da kommt das Mädchen und bringt Rotwein und Mineralwasser; sie meint, ich solle mich lieber ins Arbeitszimmer als in die vordere Stube setzen, da sei es angenehmer. Und sie hat recht, denn im Vorderzimmer dringen die weißen Sonnenstrahlen durch den Spalt der Jalousien und liegen wie Säbelklingen auf dem Boden. Das Arbeitszimmer ist kühl, der Wein erfrischend. Das Haus ist, scheint's, an den schroffen Bergabhang gebaut. Fünfzig Fuß – nein, mehr: hundert Fuß unter mir liegen Gärten, Gärten, die irgendwie in die Berghöhlung gesprengt und mit Bäumen bepflanzt sind – mit hohen Bäumen, denn es sind Schaukeln daran angebracht, sonst könnte ich nicht erkennen, daß sie hoch sind, Hier vom Fenster aus machen sie den Eindruck von Sträuchern, und hinter den Häusern, die um diese Gärten liegen, breitet sich Paris über die Ebene aus, ein Meer von Ziegeln und Steinen, ganz in weiß getaucht, wenn die Sonne einen Bahnhof oder einen breiten Boulevard bescheint: eine verschwommene rötliche Masse, wie eine riesige Ziegelei. Und fern im Hintergrund eine Hügelkette, und über der Ebene ein matter Himmel, blaß wie Zigarettenasche.

Ich kann diese Stadt nicht ohne tiefe Bewegung betrachten; mein ganzes Leben hängt daran. In meiner Jugend bin ich hierher gekommen, habe mich Paris ergeben, ohne je meine Unternehmungen weiter als bis Bas-Meudon, Ville d'Avray und Fontainebleau auszudehnen. Paris hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Wieviel meiner geistigen Ausbildung verdanke ich Paris? Und indem ich so ein idealeres Vaterland gewonnen habe als das, welches mir die Geburt in arroganter Weise vorgeschrieben, da ich es mir mit Vorbedacht gewählt, hab ich meine Lebensspanne verdoppelt. Existiere ich nicht in zwei Ländern? Hab ich mich nicht mit zwei Garnituren Gedanken und Empfindungen versehn? Ach, die köstliche Wonne, un pays ami zu besitzen –ein Land, in das man gehn kann, wenn man das stumpfe Einerlei des Lebens so satt hat, daß man wahnsinnig werden könnte, wo man mit Gewißheit alle Gefühle des häuslichen Herdes findet und obendrein unberechenbare Launen. Die Freude an einer Literatur, die einem gehört, ohne einem ganz zu eigen zu sein, die einer wundervollen Mätresse gleicht, an der man sich für alle Trivialitäten des Lebens entschädigt! Der Vergleich läßt nichts zu wünschen übrig; denn obschon ich diese Franzosen besser kenne als irgendwen auf der Welt, müssen sie stets mein Vergnügen im Leben bleiben, aber nicht meine Arbeit. Merkwürdig, daß dem so ist, denn wahrhaftig, ich kenne sie merkwürdig gut. Ich kann sie ihr Leben von Stunde zu Stunde ausfüllen sehn; weiß, was sie im gegebenen Falle sagen würden.

Da ist zum Beispiel Paul. Ich verstehe nichts so vollkommen wie seine Denkart. Ich kenne ihre gewöhnliche Farbe, jeden einzelnen Ton, und doch kann ich Paul nicht zum Helden eines Romans machen, der auf dem Montmartre spielt, so gut ich diesen auch kenne. Ich weiß, wann Paul sich ankleidet, wie lang er dazu braucht, was er anzieht. Ich weiß, was er zum Frühstück ißt und durch welche Straßen er geht – ihre Länge, ihre Farbe, ihr Geruch sind mir bekannt. Ich weiß genau, wie ihm das Leben aufgegangen ist, wie es auf ihn gewirkt hat. Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich ihm in London vorgestellt wurde. Paul in London! Er wollte dort mit einer petite fermiére zusammenkommen, in die er sich vernarrt hatte, als er in der Normandie war, um einen Roman zu vollenden. Paul ist fonciérement bon; er hat sie geheiratet, und hier wohnen sie jetzt. Sie haben ein Speisezimmer mit einem schönen eichenen Büfett und sechs dazu passenden Stühlen. Links liegt das Schlafzimmer, darin steht die Wiege für ihr Kind, die ihnen le grand, le cher et illustre maître zum Geschenk gemacht hat. Paul und Madame Paul stehn um zwölf Uhr auf, dann vertrödeln sie beim Frühstück Zeit; Freunde sprechen vor, und man vertrödelt bei den petits verres Zeit. Gegen vier Uhr fängt Paul an, seinen Artikel zu schreiben, den er bis zum Diner fertig oder fast fertig bekommt. Sie vertrödeln beim Diner Zeit, bis Paul seinen Artikel in die Redaktion bringen muß. Er vertrödelt in der Druckerei oder im Café Zeit, bis die Fahnen gesetzt sind, und wenn er sie korrigiert hat, vertrödelt er in den vielen Cafés des Faubourg Montmartre Zeit, raucht ungezählte Zigarren und tritt seinen Heimweg nach der Butte erst zwischen drei und vier Uhr morgens an. Paul ist dick und von gleichmäßigem Temperament. Er schwört den lieben langen Tag auf den Naturalismus, besonders nach dem Frühstück bei den petits verres. Er hat keinem Menschen je ein unfreundliches Wort gesagt, gewiß nie einen unfreundlichen Gedanken gehabt. Er hat sich früher viel mit Grisetten abgegeben, aber seit er verheiratet ist, hat er für nichts andres mehr Sinn als für seine Frau. Il écrit des choses raides, aber keine Frau hat je einen besseren Mann gehabt. So, jetzt kennt man ihn ebensogut wie ich.

Da stehn seine Bücher; eins heißt: Lucie Pellegrins Ende – die Erzählung, die ich grade fertig geschrieben habe. Ich muß wohl erklären, was mich dazu bewog, denselben Stoff wie Paul zu behandeln, den seines allerbesten Romans. Eines Tags erzählte ich ihm von Marie Pellegrin, und er war erstaunt zu hören, daß sie Marie und nicht Lucie heiße. Er hat sie nie gesehn, war nie bei Alphonsine gewesen, hatte die Geschichte vielmehr wiedergegeben, wie er sie von den Weibern aufgeschnappt hatte, die sich um Mitternacht im Rat Mort eine soupe a I'oignon leisten. Und er bedauerte, mich nicht gekannt zu haben, als er seinen Roman schrieb, denn ich hätte ihm ihre Geschichte mit echterem Anteil als die Weiber im Rat Mort erzählen und ihm viele hübsche Einzelzüge liefern können, die sie nicht bemerkt oder vergessen hatten. Das wäre mir ein leichtes gewesen, denn Marie Pellegrin ist in meinem Gedächtnis eingebettet wie eine Miniatur in ihrem Futteral. Ich brauche nur auf die Feder zu drücken, und ich sehe ihr schön geformtes Köpfchen, das blasse, olivenfarbene Gesicht, die dunkeln Augen und das schwarzblaue Haar. Marie Pellegrin ist wirklich mit meinem Leben verwachsen – warum soll ich also Bedenken tragen, ihr Geschick zu erzählen? Bloß deshalb, weil mein Freund es dem Hörensagen nach aufgezeichnet hatte? Ich hingegen kannte sie; ich habe sie auf dem Sterbebett gesehn. Bin ich daher nicht naturgemäß ihr Biograph, und wird man meine Ansprüche auf ihre Geschichte nicht allgemein gelten lassen und mich von dem Vorwurf des Plagiats freisprechen?

Ich sehe ferner die Rougon-Macquart-Reihe, jeder Band ein Geschenk des Dichters, Goncourt, Huysmans, Duranty, Céard, Maupassant, Hennique u. a., kurz, die Werke der Schriftsteller, mit denen ich groß geworden bin, die mir das erste literarische Lätzchen umgebunden haben. Doch da stehn Les Moralités Légendaires von Jules Laforgue und Les Illuminations von Rimbaud. Paul hat diese Bücher nicht gelesen; sie wurden ihm vermutlich zur Besprechung geschickt und sämtlich unaufgeschnitten seiner Bibliothek einverleibt; ihre Verfasser haben keinen Umgang mit ihm.

Das bringt mich auf den Gedanken, daß man eigentlich nur von seiner Generation etwas weiß. Allerdings, ich kenne die Symbolisten etwas besser als Paul. Ich bin der jüngste Naturalist, der älteste Symbolist. Die Naturalisten ahmten die Kunst der Malerei nach, die Symbolisten die Musik; und seit den Symbolisten hat es keine künstlerische Offenbarung mehr gegeben – das Spiel ist aus. Wenn Huysmans, Paul und ich tot sind, wird es ebenso unmöglich sein, einen naturalistischen Roman zu schreiben wie das Megatherium ins Leben zurückzurufen. Wo steckt Hennique? Wenn Monet tot ist, wird es ebenso unmöglich sein, ein impressionistisches Bild zu malen wie den Ichthyosaurus ins Leben zurückzurufen. Alle fünfundzwanzig Jahre stirbt ein Ideenmikrokosmos aus, und den nächsten, der zum Vorschein kommt, werd' ich nicht begreifen, so wenig wie Corot Monet begriff ...

Hat die Jugend gestern abend an die Tür der Opéra Comique geklopft? Wenn die Musik die Jugend war, dann tut es mir leid um sie. Zum zweiten Male war ich hingegangen, um mir diese Musik anzuhören, doch nach dem dritten Alt verließ ich das Haus in heller Wut. Ein Freund, der mich begleitet hatte, ging gleichfalls, aber aus einem andern Grund: ihm taten die Ohren weh, mir der Verstand. Warum, fragte ich ihn, hat die Flöte die chromatische Tonleiter zu spielen, wenn der Jüngling sagt: »II faut que cela soit un grand navire«? Und warum sind alle Celli in Bewegung, wenn die Jungfrau zur Antwort gibt: »Cela ou bien tout autre chose«? Ich litt darunter, daß Orchester und Sänger sich hatten scheiden lassen, um sich zum Schluß – vielleicht – wieder zu vereinigen. Die Sänger sprachen zur Musik, ihre Stimmen schwebten auf und ab, monoton wie Sandwellen, die sich meilenweit hinziehn, und ich hatte mich in der Sandwüste verirrt. Im ›Lohengrin‹ gibt es einen Akkord, auf dem Elsas Stimme ausruhn kann; ein andres Motiv soll auf einen gewissen Vorgang der Handlung hinweisen: wenn Ortrud das Geheimnis am Portal des Münsters hinausschreit, und zwar in der einfachsten Form des Motivs, so mag man diese Technik als roh verwerfen, aber das roheste Melodram ist mir lieber als dies widerliche Hinundherpendeln zwischen grau und violett. Während ich über die Musik der jüngeren Generation nachsinne und an die peinliche Verwirrung zurückdenke, die sie mir bereitet hat, höre ich von der andern Seite der Häuserreihe die Melodie herüberschallen:

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›Da hör ich die Wahrheit‹, dachte ich, ›aus dem Mund eines herumziehenden Straßensängers, der wahrscheinlich kein trou hat, wo er sein Haupt niederlegen kann. Et moi aussi, je reste dans mon trou, et mon trou est assez beau pour que j'y reste, car mon trou est – Richard Wagner. Mein trou ist der Ring, der sakrosankte Ring.‹ Wieder verfalle ich in Nachdenken. Liszt, Wagner und Strauß wollten Musik schreiben, das war ihre ausgesprochene Absicht. Mag Wotan noch so lange mit Mutter Erde Zwiesprache halten: der Augenblick kommt, da die Geigen anheben zu singen. Ah, wie der Lenz im Orchester erwacht, wie die Liebenden in den Tann fliehn! ...

Mittlerweile hat der Straßensänger sein wehleidiges Lied weiter gesungen. Ich denke nicht mehr an Paul, denke an nichts mehr als die Philosophie des Spielmanns von der Butte und wiederhole, während ich mir den Weg durch die Zickzack-Straßen bergab suche, in einem fort:

Noten


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