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Im Luxembourg-Garten

Es gab eine Zeit, da war mein Traum nicht die Literatur, sondern die Malerei. Und ich weiß noch ganz gut, wie ein Amerikaner eine kleine Kopie von Ingres' ›Perseus und Andromeda‹ bei mir bestellte, wie ich auf einem hohen Schemel im Luxembourg saß und mich abmühte, den entsetzensvollen Ausdruck des zurückgeworfenen Kopfes, der weit ausgebreiteten, an den Fels geketteten Arme und die Schönheit des bis dicht ans Meer vorgestreckten Fußes herauszubekommen. Seit meinen Kopistentagen ist das Bild in den Besitz des Louvre übergegangen. Was aus meiner Kopie geworden ist, ob ich sie je fertiggemacht und den mir dafür versprochenen Betrag empfangen habe – daran liegt sehr wenig. Die Erinnerungen an eine Kunst, die man freiwillig aufgegeben, gehören nicht zu den angenehmen. Vielleicht ist das arme Ding jetzt in einem der Weststaaten, wo die Leute so wenig Verständnis haben, daß sie darin eine Skizze zum Originalgemälde sehn. Ich hoffe bloß, es ist verweht und hat den Schutt und Staub dieser Welt vermehrt ... Doch warum denk' ich überhaupt daran? Nur weil eine interessantere Erinnerung damit verknüpft ist.

Nachdem ich einen ganzen Morgen daran gearbeitet hatte, verließ ich das Museum mit einem Gefühl halber Befriedigung über meine Zeichnung, aber voll Angst vor dem geflügelten Ungetüm, das meiner am Nachmittag harrte. In jenen Tagen war ich arm, für das Quartier latin allerdings reich. Ich verkehrte in einer Gesellschaft von Kunstschülern, mit denen ich zum Frühstück in einem sonderbaren kleinen Café zusammentraf; das Essen kostete uns etwas mehr als einen Franc. Auf dem Rückweg vom Café – es war kurz nach zwölf, denn ich hatte besonders zeitig an diesem Morgen gefrühstückt – packte mich plötzlich die Faulheit. Es war mir nicht möglich, wieder an die Arbeit zu gehn. Ich hatte das Gefühl, ich müßte den Vögeln und dem Sonnenschein zusehn (sie schienen sich so gut zu verstehn), und ich warf mich auf eine Bank und dachte darüber nach, ob man etwas Gescheiteres auf der Welt tun könne, als sich rauchend in eine Lindenallee setzen, um über Parts und sich selbst nachzusinnen.

Jeder oder doch fast jeder, mit Ausnahme der oberen Klassen vielleicht, deren Vorstellungen von Paris sich auf die Hauptverkehrsstraßen beschränken – die Rue de Rivoli, die Rue de la Paix –, kennt den Luxembourg-Garten. Und wie ich so dem Spiele des April zusah und dem Plätschern des Wassers lauschte, das am Ende der Allee aus einer von einem großen steinernen Neptun umschlossenen Schale niedertroff, da umspannten meine Gedanken nicht nur den Garten, sondern das ganze Paris, soweit ich es kannte, die Altstadt, die weit hinter dem Hòtel de Ville und dem Boulevard St. Antoine liegt. Ich dachte an einen selten besuchten Palast, der jetzt ein Museum ist, an die schöne Symmetrie seines von Jean Goujon mit Basreliefs geschmückten Hofes. Vor acht Tagen war ich mit Mildred dort gewesen; aber da sie, wie ich merkte, nie von Madame de Sévigné gehört hatte und es ihr einerlei war, ob sie in dem oder jenem Palast gewohnt, sprach ich von der Place des Vosges und schlug ihr vor, vielleicht dorthin zu gehn, denn ich hoffte, sie werde sich dafür interessieren, weil hier ehedem der alte französische Adel gehaust hatte. Beim Sprechen tauchten vor meinem geistigen Auge die Farben der Place des Vosges auf: die Backsteinbauten mit ihren hübschen gelben und braunen Tönen, die schmiedeeisernen Gitter, die Dächer mit ihrer hohen Steigung, die schlanken Schornsteine. Während ich neben ihr hinschritt, suchte ich mich zu entsinnen, ob dort auch Säulengänge vorhanden. Sonderbar, wie leicht man vergißt; aber auch wie leicht man sich erinnert! Die Place des Vosges hat mir immer mehr gegolten als eine Schaustellung der schönsten Zivilbaukunst in Frankreich. Der Sinn eines Volkes formt sich wie ein Felsen: durch den Prozeß einer langsamen Ansammlung, und es braucht Jahrhunderte, bis ein so charakteristischer Vorstellungskomplex wie die Place des Vosges zustande kommt. Man kann sie nicht betrachten – ich wenigstens kann es nicht –, ohne der großen Zeiten der Monarchie zu gedenken und der pittoresken Namen, die aus Balzacs Romanen und der französischen Geschichte bekannt sind. In seiner Etude de Catherine de Médicis spricht Balzac von einer Madame de Sauve – gewiß, sie hat auf der Place des Vosges gewohnt. Monsieur de Montresser hat hier wohl eine erste Etage innegehabt. Le Comte Vouverand de la Loyere, La Marquise d'Osmond, Le Comte de Coëtlogon, La Marquise de Villefranche, Le Duc de Cadore und viele andre Namen fallen mir ein, doch ich will diese Erzählung nicht damit belasten. Das richtigste wäre wohl, zu ermitteln, wer auf der Place des Vosges gewohnt hat; aber ich fürchte, die Nachforschungen würden sich in die Länge ziehn und am Ende die aufgewandte Mühe nicht wert sein. Denn wenn auch nicht ein Träger der von mir erwähnten Namen auf der Place des Vosges gewohnt hat, so steht doch fest, daß andre mit ebenso erlauchten Namen hier zu Hause waren.

Der Platz sieht heut ebenso wie im siebzehnten Jahrhundert aus, nur haben sich da kleine Handelsleute der Gegend angesiedelt. Die letzte Größe, die hier gelebt hat, war Victor Hugo; man hat sein Haus in ein Museum verwandelt, in dem die interessantesten Reliquien des großen Dichters aufbewahrt werden. Ich schüttete Mildred mein Herz aus, und meine Begeisterung fachte in ihr genügendes Interesse an, mit mir dorthin zu gehn; denn ich konnte an jenem Tag auf Begleitung nicht verzichten, wenn sie auch weit davon entfernt war, die ideale Begleiterin auf einem so sentimentalen Spaziergang zu sein. Nachher besuchten wir gemeinschaftlich Notre-Dame, die Kais und die alten Straßen, aber Mildred gebrach es wohl an historischem Sinn. Als wir nämlich im Glänze der untergehenden Sonne, wenn die mit Denkmälern geschmückte Seine am schönsten ist, nach Hause gingen, tat sie den Ausspruch, Paris sei gar nicht so übel für eine alte Stadt. Die Erinnerung an diese recht plumpe Bemerkung trieb mir ein Lächeln auf die Lippen, als ich die dunkelgrüne Allee hinabsah, durch die die Aprilsonne schimmerte.

Doch meine Gedanken weilten nicht lange bei ihr; sie wurden abgelenkt durch die Schönheit einer architektonischen Linie, die sich kühn vom blassen Frühlingshimmel abhob. Er war zart wie ein verblichener Seidenstoff des achtzehnten Jahrhunderts; nur das Blau war ein junges Blau, wie das einer eben aufgeblühten Blume. Und ich glaubte in den dahinziehenden Wolken die Umrisse mächtiger Gruppen und einzelner Figuren zu entdecken und verglich diese Luftskulpturen mit der Skulptur der Dächer. In jedem Winkel des Palastes stehn Statuen, in jeder Ecke des Gartens findet man Gruppen oder einzelne Figuren. Das alte Rom hatte sechzigtausend Statuen – allemal auf drei- oder vierunddreißig Einwohner eine Statue. In Paris ist das Verhältnis der Statuen zur Bevölkerung nicht so groß; immerhin, es gibt deren in Hülle und Fülle. Keine Stadt hat seit den Tagen der Antike so viele besessen, und deshalb gemahnt mich Paris stets an die große Zeit Griechenlands und Roms, als diese Welt die einzige Welt war.

Hat man sich am Sonnenlicht müde gesehn, so gibt es keine größere Freude, als sich in die Betrachtung der herrlichen Balustraden zu versenken, der vornehmen Treppenstufen, der langen Reihen beschnittener Linden, der ebenmäßigen Steinbecken, deren jedes auf eine besondre Art ausgehauen ist. ›Wie formschön diese Gärten sind‹, sagte ich mir und träumte von felsigen Hügeln, wo am Eingang kühler Grotten ein Neptun liegt mit einer Vase in den Armen, aus der das Wasser fließt. Gestern abend noch, ging ich in diesen Gärten mit einem Bildhauer spazieren; wir standen sinnend vor dem Brunnen Carpeaux', bewunderten Fremiets Pferde und schritten dann zu Watteaus Statue, die man passenderweise in einer Vertiefung aufgestellt hat zwischen Rasenbeeten, wie er sie mit Vorliebe gemalt.

In diesem Augenblick wurde ich in meinen schwärmerischen Betrachtungen gestört.

»Ich dachte, Sie vor der Staffelei im Museum zu finden. Aber nein, hier sitzt er in der schönen Allee und faulenzt. Am Abend werden Sie uns dann vorreden, Sie hätten den ganzen Tag gearbeitet.«

»Wollen Sie mit mir spazieren gehn?« fragte ich. Vielleicht, dachte ich, interessieren sie die Gärten; wenn nicht, müssen sie doch die Menschen, denen wir begegnen, angenehm beschäftigen.

Es war grade die rechte Zeit, dem Mann zuzusehn, der jeden Morgen die Spatzen füttern kam. Er hatte sie gelehrt, ihm Brotkrumen von den Lippen holen, und ich dachte mir, Mildred sähe gern den spaßhaften Vögelchen zu, wie sie ihm um die Füße hüpften; sie waren so possierlich, so ganz von sich erfüllt und schienen völlig Bescheid zu wissen. Wenn wir Glück hatten, trafen wir vielleicht auch Robin Hood; denn in jenen Tagen pflegte im Luxembourg-Garten ein Mann herumzuwandern, der das Kostüm des Geächteten trug und mit Bogen und Köcher bewaffnet war. Die seltsamen Menschen, denen man im Luxembourg-Garten begegnet, bilden einen Teil seines Netzes. Habe ich doch sogar einmal einen Mann in voller Rüstung gesehn, nicht in Plattenrüstung, sondern in einem schönen Kettenpanzer aus dem dreizehnten Jahrhundert! Er saß auf einer Bank und verzehrte sein Frühstück, sein Helm neben ihm – offenbar ein Modell, das aus einem der Ateliers zur Mittagstunde gekommen war, oder auch ein exalté oder ein fumiste; aber dann ein ganz harmloser, gewiß keiner aus dem Quartier latin, denn selbst der jüngste von uns wußte, daß mehr als eine Rüstung dazu nötig sei, die Stammgäste des Gartens zu verblüffen. Als wir einige Stufen hinabschritten, begegneten wir einem alten Mann und seiner Frau, einem bejahrten Ehepaar, den Siebzigern nahe, das Fußball spielte, und es war rührend, die Sprünge dieser ehrwürdigen Leute in der wohligen Aprilsonne mitanzusehn. Ich machte Mildred darauf aufmerksam und erzählte ihr ferner, in einem andern Teil des Gartens fänden sich drei alte Damen ein, die Tänze vorführten. Aber da ich merkte, daß Mildred sich nicht dafür interessierte, nahm ich die erste Gelegenheit wahr, von etwas anderm anzufangen. Sie zeigte mehr Teilnahme für das Leben im Quartier, für das Tanzlokal Bullier, für meine Grisetten- und Studentengeschichten; und es fiel mir auf, daß sie jeden vorübergehenden Studenten musterte, seine schlanke Figur, die sich in dem langen, eng anschließenden Gehrock markierte, sein unter dem Schlapphut über die Schultern fließendes Haar, genau so wie sie vor acht Tagen jeden Herrn an Bord des Schiffes betrachtet hatte, als wir von Folkestone nach Boulogne fuhren. Wir hatten uns auf dem Schiff getroffen; ich bemerkte sie, sobald ich an Bord kam. Ihre ruhige, feine Kleidung war unverkennbar französisch, hatte aber nichts gemein mit den überladenen französischen Kleidern, die Engländerinnen so oft kaufen und so schlecht tragen. Das Korsett, das sie anhatte, mußte eins von den kleinen Bandstreifenmiedern mit ganz wenig Fischbeinstäbchen sein, und als sie auf dem Verdeck promenierte, zog sie beständig ihren Ledergürtel noch fester an und rückte ihn zurecht, wobei sie erst über die eine und dann über die andre Schulter blickte. Sie erinnerte mich an ein Vögelchen, so flink war sie in ihren Bewegungen und so wachsam. Man durfte sie ansehnlich nennen, wenn auch nicht grade hübsch; ihre Lippen waren dünn, der Mund zu fest geschlossen, die Unterlippe fast ganz verschwindend, die Augen gingen an den Enden sehr in die Höhe, die Brauen waren schwarz und berührten sich beinahe.

Als ich sie das nächste Mal sah, saß sie bei Tische neben mir – wir waren zufällig in demselben Hotel abgestiegen, einem kleinen Hotel in der Rue du Bac. Ihre Mutter war bei ihr, eine ältliche, gelassene englische Dame, mit der die Tochter in sehr zärtlicher Weise sprach: ›Ja, liebste Mama‹; ›nein, liebste Mama‹. In ihrer Stimme war etwas Lustiges, obwohl sie nie zu lachen oder zu scherzen schien; aber ihr Gesicht hatte einen traurigen Ausdruck, und sie seufzte in einem fort. Nach aufgehobener Tafel ging ihre Mutter ans Klavier und spielte mit scharfer Betonung und sehr geräuschvoll den Cake Walk.

»Wir haben in Nizza Cake Walk getanzt. Liebe Mama, kannst du noch den famosen Two-step spielen?«

Ihre Mutter nickte lächelnd und fing dann eine Sonate von Beethoven an; aber sie hatte kaum wenige Takte gespielt, als die Tochter sie unterbrach:

»Hör' auf zu spielen, Mama! Komm, unterhalte dich mit uns!«

Ich fragte sie, ob sie Beethoven nicht möge; sie zuckte die Achseln; ein reizbarer Ausdruck prägte sich in ihrem Gesicht aus. Entweder wollte sie jetzt nicht von Beethoven sprechen, oder sie vermochte sich keine Ansicht über ihn zu bilden. Nach dem Interesse zu urteilen, das sie für den Cake Walk gezeigt hatte, sagte ich:

»Der Cake Walk ist lustiger – nicht wahr?«

Die bissige Bemerkung schien an ihr abzuprallen; sie saß da und starrte mich mit unstetem Blick an, so daß es mir unmöglich war zu sagen, ob ich ihn als Gleichgültigkeit oder Dummheit auslegen sollte,

»Mildred ist eine gute Beethoven-Spielerin. Meine Tochter liebt Musik. Sie spielt Violine besser als irgend jemand, den Sie in Ihrem ganzen Leben gehört haben.«

»Na, da muß sie wirklich sehr gut spielen, ich habe Sarasate gehört und –«

»Wenn Mildred nur üben wollte!« Und sie drängte ihre Tochter, mir etwas vorzuspielen.

»Ich habe meine Schlüssel nicht da, sie sind oben. Nein, Mama ... laß mich doch, ich hab andre Sachen im Kopf.«

Ihre Mutter ging wieder ans Klavier und spielte die Sonate weiter. Mildred sah mich an, zuckte die Achseln und wandte sich dann den illustrierten Zeitschriften zu, die sie für stumpfsinnig erklärte. Wir fingen darauf eine Unterhaltung über Reisen im Ausland an, in deren Verlauf ich erfuhr, daß Mutter und Tochter nur einen geringen Teil des Jahres in England verlebten. Der Kontinent sei ihr viel lieber, sagte Mildred; englische Kleider seien abscheulich; über englische Bilder wisse sie nichts, aber sie habe den Verdacht, daß sie nicht viel wert seien – warum wäre ich sonst nach Frankreich gegangen, um zu malen? Sie gab indes zu, einige nette Engländer zu kennen, aber die Yankees – ah, die Yankees! Da sei einer in Biarritz gewesen. Ob ich Biarritz kenne? Nein, auch Italien nicht. Die Italiener seien nette Menschen. Da habe sie einen in Cannes getroffen ...

»Sie müssen nicht denken, ich hätte kein Interesse für Bilder, denn wirklich – ich habe welches. Aber ich muß immer Ihren Ring ansehn. Er gleicht meinem so. Den da hat mir ein Ire gegeben, und er sagte dabei, der Fluch Moreen Dhus träfe mich, wenn ich ihn verschenkte.«

»Wer ist denn Moreen Dhu? Ganz unbekannte Größe!«

»Fragen Sie mich nicht. Ich bin durchaus ungebildet. Die Menschen kriegen mich schon satt, wenn sie mich zwei Tage hintereinander sehn.«

»Das wird wohl kaum stimmen. Sonst würden Sie's nicht sagen.«

»Warum nicht? Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, das zu sagen, wenn's nicht wahr wäre.«

Am folgenden Abend bei Tisch bemerkte ich, daß sie sorgsamer als gewöhnlich gekleidet war. Sie hatte eine cremefarbene Toilette an, dazu einen kirschroten Gürtel und eine kirschrote Schleife an einer Seite des Halses. Sie sprach auch weniger, schien befangen. Und nach Tisch machte sie einen ängstlichen Eindruck. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie ihre Mama fortwünschte und eine Ausrede suchte, sie zu Bett zu bekommen.

»Liebe Mama, willst du uns nicht die Appassionata vorspielen?«

»Aber Milly, du weißt doch ganz gut, daß ich sie nicht kann.«

Trotzdem ließ Mama sich überreden, nicht nur die Appassionata zum besten zu geben, sondern ihr ganzes Repertoire. Sie durfte nicht vom Klavier aufstehn und hatte grade was von Sydney Smith begonnen, als die Tür aufging und ein Männerkopf für eine Sekunde sichtbar wurde. Da mir Mildreds lebhaftes Interesse für die Männer bekannt war, fragte ich:

»Haben Sie den Herrn gesehn? Ein hübscher, frischer junger Mann!«

Sie legte den Finger an die Lippen und schrieb auf ein Stück Papier: ›Kein Wort davon! Er ist mein Bräutigam. Mutter weiß nicht, daß er da ist. Sie verweigert ihre Einwilligung, weil er keinen Pfennig hat.‹

»Danke schön, Mama, danke. Du hast die Sonate prachtvoll gespielt.«

»Willst du nicht was spielen, Liebchen?«

»Nein, Mama, ich bin zu müde. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns.«

Und die beiden wünschten mir gute Nacht. Ich blieb allein im Gesellschaftszimmer zurück und wollte einen Brief zu Ende schreiben. Doch eh ich noch zur Unterschrift gelangt war, kam Mildred sehr aufgeregt, ja ein wenig bestürzt herein.

»Ist's nicht schrecklich?« sagte sie. »Ich war mit meinem Bräutigam im Speisesaal – der Kellner hat uns erwischt, als wir uns küßten. Ich beschwor ihn, Mama nichts zu verraten. Er sagte: ›Foi de gentilhomme‹. Hoffentlich hält er reinen Mund.«

»Warum wollen Sie Ihren Bräutigam nicht hier hereinkommen lassen? Ich gehe gleich zu Bett.«

»Nein, ich möchte Sie nicht um alles hinaustreiben. Ich seh ihn ja nachher in meinem Schlafzimmer. Da sind wir sichrer. Wenn man ein reines Gewissen hat, ist's ganz einerlei, was die Leute sagen.«

Ein paar Tage später, als ich eben meinen Farbenkasten umhängen wollte, hörte ich, wie jemand auf dem Gang vor meinem Zimmer stehnblieb. Sie streckte den Kopf durch die offne Tür und sagte:

»Sie waren neulich abends riesig anständig, als Donald hereinsah. Ich weiß, Sie werden's für dreist halten – ich bin nun mal das unverschämteste Geschöpf auf der Welt –, aber haben Sie was dagegen, wenn ich meiner Mama sage, ich ginge mit Ihnen in den Louvre, Bilder betrachten? Sie verraten mich nicht – was?«

»Ich petze nie.«

»Mein lieber Schatz muß heimfahren. Er ist ohne Urlaub aus dem Geschäft geblieben. Vielleicht fliegt er deswegen. Aber er bleibt noch eine Nacht. Können Sie jetzt mitkommen? Mama ist im Salon. Sagen Sie ihr eben ein Wort, dann wollen wir zusammen ausgehn. Donald wartet an der Ecke.«

Am andern Morgen, als ich beim Rasieren war, klopfte jemand an meine Tür,

»Entrez!«

»Oh – Verzeihung! Ich wollte Sie nicht verfehlen. Ich warte im Salon auf Sie,«

Als ich hinunterkam, zeigte sie mir einen Trauring. Sie hatte Donald geheiratet oder gab es wenigstens vor.

»Er war gestern nacht bei mir im Zimmer. Ach, bin ich müde! Weiß der Himmel, wir hatten eine tolle Nacht, und jetzt will Mama mit mir Einkäufe machen. Können Sie nicht bleiben und mit mir plaudern? Nachher machen wir uns dann aus dem Staub und gehn irgendwohin ... Oder malen Sie heute?«

»Das grade nicht. Ich wollte in ein Museum – ein weiter Weg von hier. Ich habe nie das Haus der Madame de Sévigné gesehn.«

»Wer ist das?«

»Die Frau, die die berühmten Briefe geschrieben hat.«

»Ich fürchte, ich langweile Sie nur. Aber Bücher kann ich nicht mitsprechen.«

»Kommen Sie lieber! Sie können doch nicht den ganzen Morgen allein hier im Hotel bleiben.«

Aus irgendeinem Grunde, den ich vergessen habe, konnte sie nicht mit Donald ausgehn. Vermutlich bestimmte mich mein Wissenstrieb, der sich auf alles Menschliche erstreckt, ihrem Wunsche, mich zu begleiten, nachzugeben, obgleich ich, wie ich ihr sagte, Madame de Sévignés Haus besuchen wollte. Bei dieser Gelegenheit sahen wir uns auch, wie ich schon erzählt habe, Victor Hugos Haus auf der Place des Vosges an, und als wir abends an den Kais entlang heimgingen, machte sie die komische Bemerkung, Paris sei für eine alte Stadt ›gar nicht so übel‹. Wer den Ausspruch gehört hat, mußte sich für die Sprecherin interessieren; wenigstens war das bei mir der Fall. Als wir vor der Tür unsers Hotels anlangten, kam mir zum Bewußtsein, daß ich den ganzen Tag mit ihr über Dinge gesprochen, die ihr nichts bedeuten konnten. Madame de Sévigné und Jean Goujon, Alt-Paris und was damit zusammenhängt, hätten sich ein andermal studieren lassen; aber eine Gelegenheit, Mildred zu studieren, bot sich vielleicht nie wieder.

An diesem Abend war ich eingeladen. Am nächsten Tag sah ich sie nicht. Am Tag darauf, als ich im Luxembourg-Garten saß und der wohligen Aprilsonne und den Vögeln in der Allee, die mich von der Arbeit weggelockt hatten (ich habe das schon erzählt), voll Bewunderung zusah, kam mir Mildred plötzlich in den Sinn, eine Ahnung, ich würde sie nie wiedersehn. Eben hatte ich den Wunsch gehabt, mit ihr im Garten spazierenzugehn, als ich ihre Stimme hörte. Solche Zufälligkeiten sind häufig, und doch befremden sie uns stets, wir halten sie beinahe für ein Werk der Vorsehung. Ich eilte Mildred entgegen und fragte sie, ob sie mit mir im Garten promenieren wolle. Gar bald schlugen wir die Richtung nach dem Museum ein; um sich bei mir in Gunst zu setzen, hatte Mildred den Besuch der Sammlungen angeregt. Abschlagen wollt' ich ihr es nicht, obschon ich die Besorgnis hegte, etliche Bilder und Statuen würden mich von dem Plan, den ich jetzt verfolgte, ablenken; er bestand darin, herauszubekommen, ob Donald ihr erster Liebhaber gewesen und ob die kleine süße Mama irgend etwas wittere.

»Also Ihre Frau Mutter weiß nichts davon, daß Sie verheiratet sind?«

»Nichts. Wenn doch Donald nur nach Hause fahren möchte! Aber er will noch eine Nacht bleiben. Ich glaube, ich hab es Ihnen schon erzählt. Die liebe süße Mama hat keine blasse Ahnung. Donald hat das Zimmer neben meinem. Als das Mädchen heute morgen das warme Wasser brachte, lag er noch in meinem Bett und schlief. Aber sie verrät nichts.«

Auf dem Weg zum Museum bekam ich einen flüchtigen Einblick in Donalds Vergangenheit: ich erfuhr beiläufig, daß sein Vater ein reicher Mann war; aber der Junge galt seit seinem sechzehnten Jahr für einen Taugenichts. Schon als junger Bursch war er zur See gegangen und dritter Maat auf einem Kauffahrteischiff geworden; in einem amerikanischen Hotel war er Stiefelputzer gewesen, und unmittelbar vor seiner Ankunft in Paris hatte er mit einem betrunkenen Heizer einen Boxkampf ausgetragen, der ihm als Siegespreis fünf Pfund einbrachte.

Sie fragte mich, welches die besten Bilder seien, aber sie vermochte nicht bei der Sache zu bleiben, und ihre Versuche, sich die Namen der Maler einzuprägen, hatten etwas Rührendes.

»Ingres – sagten Sie? Ich muß mir das merken. Puvis de Chavannes? Komischer Name! Aber sein Bild gefällt mir. Dem Mann da hat er Donalds Schultern gegeben«, meinte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm. Vor dem Bild eines nackten Jünglings, der inmitten einiger grauen Felsen saß, von grauen Bäumen und einem grauen Himmel umgeben, hielt sie mich zurück. Der Jüngling auf dem Bild hatte dunkle Locken, und Mildred sagte, sie würde zu gern neben ihm sitzen und ihm mit der Hand durchs Haar fahren. »Er hat Muskeln wie Donald. Starke Männer sind mein Schwarm. Ich hasse die Kleinen. Donalds Brust ist mit Haaren besät, und seine Beine und Arme sind über und über rauh. Himmlisch! Gestern nacht standen wir nebeneinander vor dem Spiegel – splitternackt ... Warum ich Ihnen das sage? Ich habe mich nie getraut, mit einem Mann davon zu reden, aber Sie sind eine mitfühlende Brust. Und ich hab eine Ahnung, Sie haben auch was erlebt. Sonst könnten Sie nicht so viel Mitgefühl haben.«

Von Liebe und Liebenden sprachen wir im Weitergehn. Unsre Unterhaltung setzte gelegentlich aus; denn so interessant mir auch Mildred war – und mein Interesse ging sehr tief –: manchmal lenkte der Anblick eines Bildes meine Aufmerksamkeit ab. Im Skulpturensaal wollte es mir scheinen, als habe Mildred für Plastik mehr übrig als für Malerei. Sie blieb nämlich plötzlich vor Rodins ›L' âge d'airain‹ stehn, und ich legte mir im stillen die Frage vor, ob sie wirklich für die künstlerische Schönheit der Bildhauerarbeit empfänglich sei oder ob ihr Interesse ganz und gar dem Modell gelte, das Rodin benutzt hatte. Die Plastik ist eine primitivere Kunst als die Malerei; die Plastik und die Musik sind die beiden primitiven Künste, die dem Werturteil der Menge zugänglich sind. So wenigstens suchte ich Mildreds Verhältnis zu Rodin zu erklären; und gleichzeitig stieg der Gedanke in mir auf, jemand, der dem Sexuellen so geneigt sei, könne der Kunst nicht anteillos gegenüberstehn.

Denn mag das Sexuelle auch der Kunst voraufgegangen sein: die Kunst trat in der Geschichte der Menschheit sehr früh in den Dienst des Sexuellen und hat ihr seitdem stets wirksame Hilfe geleistet. Selbst in der modernen Zeit, trotz der Erfindung des Telephons und des Automobils, sind wir, wenn sich Liebesbeziehungen anspinnen, auf die Kunst angewiesen. Heutzutage fängt ein Verhältnis damit an, daß Mann und Frau einander Bücher schicken. Eh es Bücher gab, diente die Musik den Zwecken des Liebenden. Denn als der Mann nicht mehr durch Raub die Weiber an sich brachte, ging er zum Ufer des Flusses, schnitt ein Ried, machte daraus eine Flöte und spielte sie zur Lust seiner Liebsten, Erst nachdem er sie durch seine Musik gewonnen hatte, zeigte er für die Melodie um ihrer selbst willen Interesse.

Derlei ergötzliche Gedanken zogen mir in der Galerie durch den Kopf - wie wär es auch anders möglich gewesen, da ich ja mit Mildred dort war? – ›und ich erörterte die Frage, wie wenig wahrscheinlich es sei, daß ein Wesen von Mildreds hoher Spannkraft vor dem Traum des Künstlers von einem schlanken Jüngling empfindungslos sein konnte – noch dazu bei einem solchen Jüngling, der sich wie eine Lilie in der Wonne des Erblühens neigte.

»Das einzige, was ich an ihm auszusetzen habe, ist, daß der Abstand vom Knie zum Fuß nicht lang genug ist. Der Oberschenkel dagegen scheint zu lang. Es gefällt mir besser, wenn die Strecke vom Knie zum Fuß länger ist als die vom Knie zur Hüfte. Hab ich da was Dummes gesagt?«

»Ganz und gar nicht. Ich glaube, Sie haben recht. Ihre Proportionen sind auch mehr nach meinem Geschmack. Eine kurze tibia ist unschön.«

»Sicher, in Italien gibt es solche Jünglinge. (Ein schwärmerischer Blick leuchtete aus ihren Augen.) Ich weiß nicht – Hab ich Ihnen schon erzählt, daß wir nächste Woche nach Italien gehn?«

»Ja, ich weiß.«

Ihre Gedanken bewegten sich sprungweise, in rechten Winkeln. Sie stand mit dem Rücken nach der Statue zu und erzählte mir, wie sie Donalds Bekanntschaft gemacht habe. Sie und ihre Mutter lebten damals in einer Pension, die auf demselben Platz lag, wo Donalds Vater wohnte; und sie pflegten auf dem Platz spazierenzugehn, und als sie eines Tages nach Hause lief, um sich vor einem Regenschauer in Sicherheit zu bringen, hatte er ihr seinen Schirm angeboten. Das war im Juli. Ein paar Tage darauf ging sie für vier Wochen nach Tenby. In Tenby war sie mit Toby Wells intim bekannt geworden; es war ihm gelungen, eine Zeitlang Donald in ihrer Gunst zu verdrängen. Sie hatte Toby schon in Nizza kennengelernt, aber in Nizza hatte sie Dutzende von allerliebsten Männern und dachte nicht im Traum an Toby; doch in Tenby kam er wie ein Sendbote des Himmels.

»Tobys Mama war auch da. Wir ließen gewöhnlich die beiden Mütter ausfahren und hatten dann den Speisesaal den ganzen Nachmittag für uns.«

»Aber Sie haben Donald doch viel lieber als Toby?«

»Selbstverständlich. Er ist jetzt hier, um sich mit mir trauen zu lassen. Gehn Sie mir mit Toby – die ganze Geschichte hab ich längst vergessen. Sehn Sie, ich lernte Donald kennen, als ich nach London zurückkehrte.«

Und ich lauschte mit größter Spannung ihrem Bericht, wie sie und Donald in verschiedenen Stadtteilen Zimmer mieteten, damit man ihre Spur nicht verfolgen könne.

»Donald mußte sich die Beine ablaufen, um eine passende Stube zu bekommen. Ich riet ihm immer, wenn möglich eine zu nehmen über einem Putzmacherladen. Zweimal wöchentlich kamen wir zusammen. Nach ein bis zwei Monaten waren alle Absteigequartiere der Gegend erledigt, denn wir gingen nie zweimal in dieselbe Bude. Den ganzen Tag waren wir zusammen. Um zwölf ging ich zu ihm und blieb bis fünf, und am Nachmittag tranken wir unsern Tee miteinander. Einmal hatten wir ganz vergessen, daß das Teebrett noch auf dem Boden stand; es war schon dunkel im Zimmer, ich sprang aus dem Bett, mit dem Fuß mitten in die Marmelade hinein ... Aber sehn Sie sich doch nur den Rücken von dem Weib an! Wo ihr Kopf steckt! Warum Rodin wohl ein Weib in dieser Lage dargestellt hat?«

Sie blickte mich an, und ein forschender, neugieriger Zug trat auf ihrem Gesicht hervor. In einem Anfall von Schüchternheit beeilte ich mich, ihr zu versichern, die Statue heiße ›La Danaïde‹.

»Rodin bringt oft eine banale Sinnlichkeit in die Kunst. Manchmal kann man ein Werk von ihm gradezu l'article de Paris nennen. Bisweilen verdirbt er es sich durch eine Sentimentalität, deren bekanntester Vertreter Gounod ist – ein schrecklicher Kerl, der eine Art Badewasser-Melodie jedem Weib, das ihm unter die Finger kam, über den Rücken goß – ob Margarete oder Magdalena, war ihm ganz gleich.«

»Haben Sie je ein Bild gesehn, das ›Vertige‹ heißt? Ein Weib, an ein Sofa gelehnt, und ein Mann hinter dem Sofa, der sich vorbeugt und sie küßt? Donald sagt, ich mache immer die Augen zu, wenn er mich küßt – ganz ebenso.«

»Ich merke, die Erinnerungen an gestern nacht stecken noch in Ihnen. Offenbar ist das heute nicht der rechte Tag zum Besuch einer Bildergalerie. Kommen Sie – wir wollen uns setzen und von weniger ernsten Dingen plaudern. Von Verhältnissen. Sie finden doch nichts dabei, mit mir davon zu sprechen? Mir können Sie traun, das wissen Sie ja. Also wieviel Liebhaber haben Sie vor Donald gehabt?«

»O je, Dutzende. Ich weiß nicht mehr. Darum, sollt ich meinen, denkt ein Mann nicht schlechter von uns, und ich bin immer ganz ehrlich. Donald hab ich gestanden, ich hätte zwei gehabt ... aber ich bin natürlich ein Racker gewesen. Mit sechzehn Jahren fing ich an. Ein Freund meines Bruders, der mit ihm auf die Jagd ging, kam jeden Tag angeritten. Weiß Gott, der sah fesch aus in seinen Reithosen und dem Jagdrock. Er hat mich immer geküßt – das gefiel mir natürlich, und eines Tages ging die Sache vor sich auf dem Heuboden ... Ah, war das heiß im Heu! Danach trieben wir's über die Hutschnur.«

»Und was war das Ende von der Liebelei?«

»Er mußte weg. Aber andre ließen natürlich nicht lange auf sich warten.«

»Und jedesmal bilden Sie sich ein, Sie seien verliebt?«

»Du meine Güte – nein! Ich habe Donald sehr lieb, mehr als irgendeinen. Aber es ist ein Gefühl, das sich abnutzt.«

»Binnen kurz oder lang wird Ihnen einer begegnen, in dem Sie ganz und gar aufgehn. Dann wird sich aus all den flüchtigen Liebschaften eine große Leidenschaft entwickeln, die keinen Wechsel mehr kennt.«

»Meinen Sie wirklich? Ich weiß nicht recht.«

»Zweifeln Sie daran?«

»Meiner Ansicht nach kann mich ein Mann nicht vollständig absorbieren, ein einziger Mann mein Leben nicht ausfüllen.«

»Auch Donald nicht?«

»Donald ist ein Prachtmensch. Er packt mich bei den Schultern, zieht mich an sich und ruft: ›Nur nicht sprechen, nur nicht sprechen!‹ Manchmal ist er wild wie ein Indianer. Wissen Sie noch – an dem Morgen, ein paar Tage nach unsrer Ankunft?«

»Ihre Hochzeitsnacht?«

»Jawohl, meine Hochzeitsnacht.«

Wir interessieren uns für jeden und jede, der er selbst oder sie selbst ist, und dies Mädchen war sicher sie selbst, ganz sie selbst. Da reiste sie nun mit ihrer stillen, ehrbaren Mutter herum, die nicht das geringste ahnte, und verkörperte scheinbar einen Typus – Typus ist kaum das rechte Wort, denn sie war eine Ausnahme. Noch nie hatte ich eine ihres Schlags gesehn, eine von ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Unternehmungslust; das war doch wenigstens eine, die den Mut ihres Trieblebens hatte. Sie war mannstoll, sozusagen, aber dann und wann bekam ich doch eine andre Mildred zu Gesicht: wenn sie seufzte, wenn ein leiser, unbefriedigter Zug auf ihrem Gesicht hervortrat, und die andre Mildred tauchte nur einen Augenblick empor, wie eine Wasserblume oder eine Schlingpflanze an die Oberfläche eines Stroms.

»Ich habe schon schauderhaft schreckliche Zeiten durchgemacht. Ich würde lieber den ersten besten heiraten als ein uneheliches Kind bekommen. Manchmal bete ich – ich habe solche Angst. Dann sage ich zu Gott, wenn er mich diesmal heil davonkommen läßt, will ich's nie wieder tun. Aber irgendwie geht's dann wieder von neuem an ... Und Sie wissen doch, es ist meine feste Absicht, ein gutes Mädel zu sein. Man soll gut sein, das ist meine Überzeugung. Aber wahrhaftig, wenn man die Bibel liest – Ach, müssen Sie fort? Es war mir eine solche Erleichterung, mich mit Ihnen auszusprechen. Seh' ich Sie denn heut abend? Im Hotel ist doch sonst niemand, mit dem ich mich unterhalten kann. Mama wird Klavier spielen; und wenn sie Beethoven spielt, geht sie mir auf die Nerven.«

»Sie spielen Violine – nicht wahr?«

»Ja.«

Wieder trat der eigentümliche traurige Blick, der mir so bezeichnend für sie erschienen war, auf ihrem Gesicht zutage, und ich legte mir die Frage vor, ob dieser Ausdruck, der ihre Stirn jäh umwölkte, auf Dummheit oder auf eine plötzliche Verstandes- oder Gefühlsregung zurückzuführen sei.

»Schade, daß Sie nicht im Hotel essen.«

»Es tut mir auch leid. Ich esse mit Studenten im Quartier latin. Die würden Sie amüsieren.«

»Ich wünschte, ich wär eine Grisette.«

»Dann würd' ich Sie mitnehmen. Jetzt muß ich mich aber verabschieden. Ich muß noch mit meiner Malerei vorankommen.«

Am Abend kehrte ich erst spät ins Hotel zurück und brach am nächsten Morgen schon früh auf. Doch am übernächsten Tag überraschte sie mich im Luxembourg-Garten, und als wir selbander dahinschritten, erzählte sie mir, Donald sei abgereist.

»Er hatte keine andre Wahl – er mußte zurück. Er war doch ohne Urlaub aus dem Büro geblieben und hatte bloß zwei Pfund in der Tasche, mein armer Schatz. Ich weiß nicht, hab ich Ihnen eigentlich erzählt, daß er sich die zwei Pfund zur Reise pumpen mußte?«

»Nein, die kleine Tatsache haben Sie mir unterschlagen. Sehn Sie, Sie sind so ganz von Ihrer eignen Person in Anspruch genommen, daß Sie meinen, all das interessiere jeden andern ebenso wie Sie.«

»Das war unhöflich.« Und sie blickte mich vorwurfsvoll an. »Das ist das erstemal, daß Sie mir etwas Unliebenswürdiges gesagt haben. Wenn ich mit Ihnen geplaudert habe, dachte ich, es interessiere Sie. Außerdem glaubte ich, Sie interessierten sich auch ein bißchen für mich, und ich habe den weiten Weg gemacht –«

Ich war gerührt und bat sie dringend, mir zu glauben, daß meine Bemerkung im Spaß gefallen sei, nur um sie zu necken. Doch ich brauchte lange Zeit, bis ich sie dazu brachte, ihren Satz zu beenden. »Sie haben den weiten Weg gemacht, sagten Sie –«

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir morgen nach Rom fahren. Ich wollte nicht von hier fort, ohne Sie noch einmal zu sehn; aber ich habe mich, scheint's, in Ihnen getäuscht. Ihnen wär es ganz egal gewesen.«

Sie hatte ihren Violinkasten bei sich; der Vorschlag, ihr ihn zu tragen, schien der einfachste Ausweg aus meiner heiklen Lage; doch sie wollte ihn nicht aus der Hand geben. Ich fragte sie, ob sie in einem Konzert mitgewirkt habe oder ob sie aus der Stunde komme. Nein – ja warum habe sie dann ihren Violinkasten bei sich?

»Fragen Sie nicht! Lassen Sie mich in Ruhe! Es ist ganz einerlei. Ich kann jetzt doch nicht spielen, und vor zehn Minuten hatte ich noch solche Lust dazu.«

Diese leichten Temperamentswallungen waren nichts Seltenes bei Mildred; ich wußte, daß die jetzige bald vorübergehn werde. Um den Prozeß möglichst zu beschleunigen, schlug ich vor, uns zu setzen, und fing von Donald an.

»Ich will nichts von ihm hören. Sie haben mich beleidigt.«

»Schade, daß Sie von Paris fortgehn. Das ist der allerschönste Monat. Wie erquickend es hier ist – die weiche, gleichmäßige Wärme der Luft, – das Sonnenlicht schimmert wie ein Lebewesen durch die Blätter, das Wasser rieselt am andern Ende der Allee. Wir sind ganz allein hier, Mildred. Nun sagen Sie mir doch: warum haben Sie Ihren Violinkasten bei sich?«

»Na, wenn Sie's durchaus wissen wollen«, sagte sie, »ich hab ihn mitgenommen für den Fall, daß ich Sie treffen würde. Ich dachte, Sie möchten mich vielleicht einmal spielen hören. Morgen früh reisen wir. Ich kann im Hotel nicht spielen, in dem stickigen kleinen Raum, Und dann würde Mama mich auch begleiten wollen.«

»Spielen Sie mir hier im Luxembourg-Garten vor!«

»Hier kann man machen, was man will. Keiner kümmert sich um den andern.« Und sie deutete mit ihrem Sonnenschirm auf einen lang aufgeschossenen Dichter mit einer ihm über die Schultern fließenden Mähne, der am andern Ende der Allee auf und ab ging und seine Gedichte rezitierte.

»Ihr Spiel wird ihn vielleicht stören.«

»Wenn's ihm nicht gefällt, wird er sich verziehn. Aber ich habe keine Lust zum Spielen. Ich kann nicht spielen, wenn ich nicht dazu aufgelegt bin, und ich war so recht in Stimmung, bis Ihre Bemerkung –«

»Welche Bemerkung?«

»Sie wissen ganz gut«, antwortete sie.

Der Wunsch, sie hier im Garten Geige spielen zu hören, steigerte sich bei mir – es war ein bezaubernder Augenblick: das durch die transluciden Blätter fallende Licht und der lustwandelnde Dichter versetzten meine Gedanken in ein andres Zeitalter. Ich sah ein Bild vor mir entsteh« – darauf mich selbst, den Dichter und das Fräulein, das uns Geige vorspielte; wettere Gestalten zur Vervollständigung der Komposition waren nicht vorhanden. Cabanels Bild des Florentiners drängte sich dazwischen und störte meine Phantasieschöpfung: das Bild Dantes, der am einen Ende einer Steinbank einem geängsteten Mädchen seine Verse vorliest, während ihr Geliebter sie von dem Manne fortzieht, der in der Hölle gewesen und die Qualen der Verdammten mit angesehn, der dem durch den Luftraum taumelnden unglücklichen Liebespaar aus Rimini begegnet war und von ihren eignen Lippen ihr Schicksal vernommen hatte. Wie eine Eidechse liegt ein Wann auf einer niedrigen Mauer und lauscht der Erzählung des Dichters. Doch warum ein so bekanntes Bild beschreiben? Warum es überhaupt erwähnen? Nur weil sich sein Motiv aufdrängte und mir meinen Traum zerstörte, eine unfruchtbare Idee, die ich unbestimmt in der Natur gewahrte, ohne sie fassen zu können. Die trügerische Anregung zu einem Bild zog an mir vorüber, und so eifrig verfolgte ich die Vision, daß ich nicht die Kraft besaß, Mildred zu bitten, mir etwas vorzuspielen. Der Klang ihrer Violine mochte mir förderlich sein, aber er mußte von selbst kommen, so wie alles andre kam, ohne Folge, ohne Logik.

In diesem Augenblick vernahm mein Ohr die Töne einer Violine; ein alter Tanzrhythmus wurde gespielt, und in dem von der Sonne beglänzten Zwischenraum tauchten drei weibliche Wesen auf, die eine Gavotte tanzten, bald im Licht nach vorne kommend, bald in den Schatten zurückweichend. Die eine, die die Geige spielte, lehnte sich bisweilen an einen Baum; bisweilen schloß sie sich den andern an und spielte, während sie tanzte.

»Ich kenne die Gavotte. Wir wollen zu ihnen gehn. Ich will ihnen aufspielen, wenn es ihnen recht ist.«

Gar bald schien das geigende Fräulein in Mildred die bessere Spielerin zu erkennen. Es reichte seine Fiedel einem Zuschauer, und die Gavotte nahm ihren Fortgang, derart, daß die drei alten Damen knicksten, ihre Röcke aufnahmen und sich auf die Fußspitzen hoben mit der Anmut verflossener Zeiten. Niemals, glaub' ich, schien mir die Wirklichkeit so sehr ein Traum. ›Wer mögen die drei Damen nur sein?‹ fragte ich mich; und indem ich mich, wie ein Verzauberter, auf eine Bank sinken ließ, träumte ich, es wären drei Schwestern, letzte Sprossen einer adligen Familie, die im Verlauf mehrerer Generationen ihr Vermögen eingebüßt, bis ihnen schließlich nichts mehr blieb, so daß die armen alten Jungfern Mittel und Wege ersinnen mußten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich malte mir als Schauplatz ein großes Haus aus, das sie am folgenden Morgen räumen sollten, stellte mir vor, wie sie sich berieten in dem Glauben, betteln gehn zu müssen, bis die eine, die die Geige spielte, sagte, es werde ein Ereignis eintreten, das sie vor dem Schimpf des Bettelns bewahre. Noch bevor ihre letzte Brotkruste aufgezehrt sei, werde jemand kommen und ihnen sagen, ein Vermögen harre ihrer. Und also geschah es: an dem Tag, als sie ihre letzte Kruste teilten, fand die eine, die glaubensstark und zuversichtlich geblieben war, unvermutet einen alten Brief. Sie las so lange, daß die andern sie fragten, was denn ihre Teilnahme errege. ›Ich hab es euch ja gesagt‹, rief sie, ›wir werden gerettet werden, Gott in seiner großen Gnade wird uns nicht auf die Straße setzen und betteln gehn lassen. Der Brief hier enthält ganz ausführliche Anweisungen, wie man die Gavotte getanzt hat, als unsre Ahnen auf der Place des Vosges wohnten.‹ – ›Aber was nützt es uns denn, den richtigen Gavotten-Tanzschritt zu kennen?‹ fragte die jüngste Schwester. – ›Sehr viel‹, versetzte die ältere finster. ›Ich kann Geige spielen, und wir drei können tanzen lernen. Wir wollen im Luxembourg-Garten bei schönem Wetter die Gavotte tanzen – die echte Gavotte, wie man sie getanzt hat, als Madame de Sévigné in einer bemalten, von sechs Pferden gezogenen Kutsche vorfuhr und den mit Basreliefs von Jean Goujon geschmückten Hof ihres Hotels betrat.‹

Diese Geschichte träumte ich, als ich auf der Bank saß und der zierlichen, heiteren Musik lauschte, die wie ein lebendiges Wesen dahinfloß. Unter den Händen der alten Jungfer kratzte die Musik, wie abgestorbene Blätter auf einem Fußpfade rascheln, ohne Betonung, ohne Rhythmus; jetzt hüpfte die alte Gavotte dahin wie der Frühling, hold wie die knospenden Bäume, wie das Sonnenlicht auf dem Rasen. Mildred brachte den Gegensatz zwischen den gestoßenen und den gebundenen Tönen heraus. Wie lustig das klang! Erfüllt von der Mode der Zeit – Perücken, Degen, Verbeugungen, Galanterie! Wie gemächlich! Wie reizvoll! Wie trefflich sie es verstand! Wie ausgezeichnet die alten Damen danach tanzten! Wie entzückt alle waren! Sie spielte weiter, bis die alten Fräulein nicht mehr tanzen konnten und sich hinsetzten, um ihr zuzuhören. Nachdem sie einige wenige Melodien angegeben, die ich nicht kannte, spielte sie etwas, das ich unbedingt schon vorher gehört hatte – in der Kirche. Sie begann auf der G-Saite und spann den langen, langen, scheinbar endlosen Satz aus; er war so streng, eine solche Herausforderung des Protestantismus, daß ich an eine Seele auf ihrem Weg zum Stuhl des höchsten Richters denken mußte, die, einem Zwang gehorchend, unterwegs beichtet, wie sie der Lust gefrönt und Erlösung gesucht, und ihre Verteidigung fast in trotzigem Ton vorbringt. Mildred freilich konnte nicht begreifen, daß man sich religiös so erhoben fühlte, und doch hatte ihr Spiel den Gedanken in mir erweckt. Hatte man sie ihn spielen gelehrt? Gab sie den Gedanken einer fremden Person wieder? Ihr Spiel klang nicht wie ein Echo; es schien aus dem Herzen zu strömen oder aus einem unbewußten Selbst, einem früheren, vor der Geburt liegenden Selbst, das in seiner jetzigen Gestalt nur in der Musik hervortrat, von einer rätselhaften Strömung an die Oberfläche getragen, um von einer andern wieder verschlungen zu werden.

Sie spielte noch mehreres, ohne zu wissen, was sie gleich darauf spielen werde. Und dann, als ob sie einer plötzlichen Regung nachgebe, andre Dinge zu beichten, intonierte sie eine ganz schlichte, gesangvolle Weise, die dann und wann – den Eindruck machte es mir – von leisen, zitternden Geständnissen unterbrochen wurde. Mir war, als sah ich beim Scheiden des Tages in dämmrigem Boudoir eine der Frauengestalten von Alfred Stevens, nur viel verfeinerter – eine, deren Geliebter ihr untreu geworden, oder auch eine, die ihrer Liebhaber überdrüssig ist und, da sie nicht weiß, womit sie sich beschäftigen soll, zwischen Kloster und Tanzsaal schwankt. Ach, diese wunderschöne klagende Melodie – wie gut Mildred sie spielte! – daran sich das kleine Crescendo anschließt, und dann besinnt sich die Seele auf sich selbst, beweint ihre Schwäche, beichtet ihre Torheiten in wohlgesetzter, lieblicher Sprache, die scheinbar ihre Worte dem Zufall anheimgibt und doch so tiefe Dinge sagt, tief wie Bach. Nur in einer andern, leichteren, anmutigeren, offenbar mehr an der Oberfläche haftenden Form, die aber ebenso tief ist; denn wenn wir auf den Grund der Dinge gehn, sind sie alle tief, eins so tief wie das andre, genau wie alle Dinge seicht sind, eins so seicht wie das andre. Waren die Mystiker nicht zu allen Zeiten der Ansicht, daß die Dinge nicht in sich existierten, sondern im Auge, das sieht, im Ohr, das hört?

Eine Menge Zuhörer hatte sich eingefunden; denn Mildred spielte aus dem großen Schweigen heraus, das in jeder Seele ist, in der der Buhlerin so gut wie in der der Heiligen, und sie spielte weiter, ohne auf die Zahl der Menschen zu achten, die sie um sich versammelt hatte.

Als sie aufhörte und zu mir zurückkam, sagte ich: »Sie spielen wundervoll. Warum haben Sie gesagt, Sie mögen Beethoven nicht?«

»Das hab ich nicht gesagt. Sie wissen ganz gut, daß Mama die Appassionata nicht spielen kann.«

»Warum sind Sie nun nicht immer so?«

»Ich weiß nicht. Man kann nicht immer dieselbe sein. Ich fühle anders, wenn ich spiele. Die Stimmung kommt nur manchmal über mich. Früher hab ich viel gespielt, jetzt spiel ich nur gelegentlich, wenn ich mich dazu aufgelegt fühle.«

Wir gingen durch die Alleen an den Statuen vorüber, fast ohne sie zu beachten, so sehr waren unsre Gedanken noch bei der Musik.

»Ich muß jetzt nach Hause«, sagte sie. »Ich habe noch zu packen. Mama kann nicht packen, ich muß es für sie tun. Hoffentlich sehn wir uns eines Tages wieder.«

»Was hätten wir davon? Ich mag Sie nur, wenn Sie spielen, und leider sind Sie nicht oft in Stimmung.«

»Das tut mir leid. Vielleicht, wenn Sie mich besser kennen würden –«

»Sie sind doch jetzt verheiratet. Ich denke mir, Donald wird Sie in Rom abholen?«

»Nein – ich glaube nicht, daß er's einrichten kann. Er hat kein Geld dazu.«

»Und Sie werden ein andres Verhältnis anfangen?«

»Wer weiß! Nach den Erfahrungen dieser Woche ist mir alle Lust vergangen.« Sie blieb plötzlich vor einem Modewarenladen stehn und sagte: »Die Kragen da gefallen mir, die Stehumlege – sie sind das Allerneuste. Gefallen sie Ihnen so gut wie die hohen Stehkragen, die acht Zentimeter hohen? Als die modern waren, konnten die Herren kaum den Kopf bewegen.« Dann machte sie einige Bemerkungen über Krawatten und ihre Lieblingsfarbe – violett. »Wahrhaftig, da ist ein hübsches Violett. Mein armer Donald! Er ist bildschön. Ich möchte so gern ihm sechs Paar seidene Unterhosen schenken. Er hat nur ein Paar, und die Stiefel, die er anhatte – schrecklich. Mein armer Schatz!«

Danach wurde kein Wort mehr über Musik gesprochen. Ich kann nicht bestimmt angeben, was sie an diesem Tag im Luxembourg-Garten gespielt hatte; meine Liebe zur Musik war noch nicht völlig erwacht – was könnte es gewesen sein? Die Namen Bach und Chopin kamen mir in den Sinn. »Ich kann nicht von Musik sprechen«, sagte sie, als wir in die Rue du Bac einbogen, und sie eilte die Stufen des Hotels hinan, ganz erfüllt von der andern Mildred. Sie bat ihre Mutter, den Cake Walk zu spielen, und tanzte zu meinem Vergnügen den ›famosen Two-step‹, wie sie ihn in Nizza gelernt hatte. Es fiel mir auf, daß sie außerordentlich komisch aussah, als sie im Zimmer auf und ab hopste. Die Kinnlinie verzerrte sich, und das gibt dem Gesicht immer einen etwas komischen Ausdruck. Dann ging sie mit mir hinunter, und als wir an der Hoteltür standen, sagte sie:

»Ich will Ihnen etwas erzählen, das gestern passiert ist, als ich mit Mama aus war. Es war bei Cook im Büro. Als wir hineinkamen, sah ich einen Yankee – ah, wundervoll angezogen! Himmlische Lackstiefel! ›Du allerliebster, süßer Mann‹, dachte ich, ›wirst du mich denn gar nicht mal anschaun?‹ Und schon sah er mich an und machte mir ein Zeichen, so'n ganz kleines mit der Zunge – Sie wissen ja. Dann zog er sein Visitenkartentäschchen heraus, faltete eine Karte zusammen, legte sie hinter sich aufs Fensterbrett, warf mir einen Blick zu und trat zur Seite. Ich ging also hin und steckte sie ein. Mama hat nicht das geringste bemerkt, aber die jungen Leute, und ich bin wohl sehr rot geworden. Er bewohnt eine Etage in der Avenue de I'Opéra) er muß reich sein. Als ich nach Hause kam, schrieb ich ihm: da ich ihm angesehn hätte, daß er Amerikaner sei, wolle ich ihm sein ungewöhnliches Benehmen, das mich so in Erstaunen gesetzt, verzeihn. Ich führe morgen von Paris nach Rom, und wenn ihn sein Weg zufällig je in die Gegend brächte, Briefe p. Adr. Thomas Cook würden mich stets erreichen. Dann setzte ich meinen Namen darunter – aber er wird natürlich nie kommen.«

Ich habe Mildreds Geschichte zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens wahrheitsgemäß berichtet. Wer viel reist, trifft mitunter Menschen, deren Individualität so stark ausgeprägt ist, daß sie fortlebt. Mildreds Persönlichkeit ist mir viele Jahre lebendig geblieben, und ich habe diese Darstellung von ihr gegeben, weil sie mir geeignet scheint, einen Einblick in das Rätsel des Lebens zu gewähren, ohne dies Rätselvolle im mindesten zu zerstören.


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