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Heilung

Napoleon zu seinem Arzte Antommarchi:

»Der Mensch ist wie eine Festung, in die weder Sie noch ich hineinsehen können. Die Verteidigungsmittel dieser Festung sind aber mehr wert als Ihre Drogen. Ihre widerwärtigen Präparate sind zu nichts gut. Faßt man die Wirkung in ihrer Gesamtheit ins Auge, so sind diese Drogen der Menschheit bei weitem schädlicher als vorteilhaft. Ich bin nicht der Mann für Ihre Tränkchen!«

*

Der Arzt Radcliffe:

»Zu Beginn meiner Praxis hatte ich zwanzig Medikamente gegen alle Krankheiten, und am Schluß hatte ich keine einzige Arznei gegen zwanzig Krankheiten.«

*

Hippokrates:

»Die Natur findet in sich selbst, nicht durch äußere Beratung, die nötigen Bewegungen und Verrichtungen. Von niemand belehrt, ohne Schulunterricht, bewirkt sie, was zur Heilung nötig und nützlich ist.«

 

Die meisten Patienten, welche an einer schmerzhaften Krankheit leiden, nicht nur die Rheumatiker, bestürmen ihren Arzt mit der Bitte, er möge sie nur um jeden Preis so schnell als möglich von ihren Schmerzen befreien. Ungebildet, wie der moderne Mensch, auch der sonst Gebildete, nun einmal in Dingen, die seinen Körper betreffen, ist, glaubt er nämlich, der beste Arzt sei der, welcher sein Verlangen unverzüglich erfüllt.

Es gibt drei Möglichkeiten, Schmerzen zu beseitigen.

Die eine ist, den Nerv zu verhindern, daß er die lästigen Gefühle der Zentrale, dem Gehirn, meldet. Der Typus eines solchen Mittels ist das Morphium. Seine Hilfe ist von kurzer Dauer, denn sobald es zu wirken aufhört, sobald der Leitungsdraht wieder frei ist, stellt sich auch das Schmerzgefühl wieder ein.

Die zweite Methode besteht darin, dem Körper in dem Kampfe gegen den Krankheitsstoff in den Arm zu fallen, um ihn in der Entfaltung seiner Abwehrkräfte zu hindern. So entsteht ein trügerischer Waffenstillstand, welcher leicht mit einem wirklichen Frieden verwechselt wird, bis sich der Körper von neuem aufrafft, und Schmerz und Krankheit wieder auftreten. Es gibt eine Unzahl solcher Präparate, hauptsächlich die Salizylsäure und ihre Abkömmlinge, welche unter den verschiedensten Phantasienamen angepriesen werden. Man nennt sie antipyretische Mittel, weil sie das Fieber dämpfen und unterdrücken. Das Fehlerhafte dieser zweiten Methode ist nicht so offensichtlich, da der Körper meist eine Weile braucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Die schädliche Wirkung zeigt sich oft erst später, wenn die Krankheit in das chronische Stadium übergeht. Wer diese Medikamente verwendet, der gleicht einem Manne, der für das Linsengericht einiger schmerzfreier Abende seine zukünftige Gesundheit verkauft.

Nun bleibt noch die dritte Methode der Schmerzstillung. Diese hat nichts Wunderbares an sich, wenn man nicht die Fähigkeit des Körpers, Krankheiten mit seinen natürlichen Hilfsmitteln zu kurieren, als etwas Wunderbares bezeichnen will. Sie besteht nämlich darin, die Krankheit wirklich zu heilen, indem man die Bestrebungen des Organismus nicht stört, sondern sie im Gegenteil zu fördern sucht. Nur diese Art der Schmerzbekämpfung verspricht ein endgültiges Resultat und verhütet Rückfälle mit größter Wahrscheinlichkeit.

Was unter den erregenden Giften der Alkohol, das ist unter den beruhigenden das Salizyl. Beide haben ihren Katzenjammer gemeinsam, nur mit dem Unterschied, daß der Salizyl-Katzenjammer viel lästiger und peinvoller werden kann wie der alkoholische. Er ist nicht, wie dieser, eine vorübergehende Erscheinung, sondern bringt nicht selten ernsthafte, dauernde Schäden hervor. Trotzdem nimmt man die, harmlos als Nebenerscheinungen bezeichneten, Giftwirkungen in Kauf, um nur das Fieber um jeden Preis so schnell als möglich zum Verschwinden zu bringen.

Einfache Wahrheiten hatten von jeher das Schicksal, verdreht zu werden. Darum schwankt auch das Charakterbild des Fiebers, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, in der Geschichte.

Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts schien der Streit schon zuungunsten des Fiebers entschieden. Die »antipyretische« und »antithermische« Behandlung, das heißt die Behandlung mit abkühlenden Mitteln, sollte die einzig richtige sein. Ein wahrer Feldzug gegen die »Überhitzung«, in welcher man das größte Übel sah, wurde geführt. Man steckte, nach den Worten eines Zeitgenossen, den Kranken, sobald er eine Temperatur von 39 Grad hatte, alsogleich in kaltes Wasser oder stopfte ihn mit Chinin, Salizylsalzen und Antipyrin, und zwar so oft des Tages, als das Thermometer die unglückseligen 39 Grad zeigte. Ja, die wilden Antipyretiker, zu einem fiebernden Kranken gerufen, bestürmten diesen, ohne noch eine Ahnung von seiner Krankheit zu haben, blindlings mit fieberdämpfenden Mitteln.

Da man mit dieser Methode die Wehrkräfte des Körpers lähmte, während man die krankmachende Ursache ruhig weiterwachsen ließ, so hatte der Körper gegen zwei Fronten zu kämpfen. Nämlich einmal gegen den Arzt und zweitens gegen die Krankheit. Der Kranke mußte deshalb schon eine wahre Roßnatur haben, um den Kampf siegreich zu bestehen. Man sollte jenen Patienten wahrlich gleich den olympischen Siegern in Griechenland Denkmäler errichten mit der Inschrift: Er war stärker als Krankheit und Unnatur.

Aber es gibt Wahrheiten, die immer wiederkehren. Kaum sind sie totgesagt, wissenschaftlich begraben und degradiert zum Vorurteil des Volkes und zum Abscheu der Gebildeten, so tauchen sie doch mit der ihnen eigenen Hartnäckigkeit und Federkraft – einer Eigenschaft, welche jeder starken Wahrheit innewohnt – wieder auf.

Eine solche Wahrheit ist auch die Lehre von der Heilkraft des Fiebers.

Bald flaute nämlich die Begeisterung für diese widersinnige und unnatürliche Behandlung ab, als man sah, daß der Eisbeutel, das kalte Bad und die unzähligen Fiebermittel Krankheiten nicht zu heilen vermochten. Unverricht konstatierte, daß alle Fälle von Rotlauf und Lungenentzündung, welche in seiner Klinik mit Chinin und Salizyl behandelt wurden, viel längere Zeit zur Genesung brauchten als die gänzlich unbehandelten. Strümpell äußerte sich auf einem ärztlichen Kongreß, daß Typhuskranke, bei denen man das Fieber unterdrückte, viel schlechter daran waren als solche, bei denen man jede Therapie unterließ.

Gegenüber der früheren Behandlung stellte man insbesondere beim Gelenkrheumatismus eine auffällige Vermehrung der Rückfälle fest. Badt gab 1883 eine Statistik heraus über 324 Patienten, von denen 148 mit Salizyl, 176 ohne derartige Mittel behandelt wurden. Es ergab sich, daß die letzteren in kürzerer Zeit das Krankenhaus verlassen konnten als die mit Salizyl behandelten. Bei der Anwendung von Salizyl wurden nicht weniger als 31% Rückfälle registriert, ohne Salizyl jedoch weniger als die Hälfte, nämlich nur 13%.

Hauffe, ein Schüler Schweningers, hat 233 Gelenkrheumatiker nur mit heißen Bädern und warmen Umschlägen ohne jede Verwendung von Salizyl behandelt. Sein Erfolg war die große Seltenheit von Rückfällen, Gelenkversteifungen waren überhaupt keine zu verzeichnen, und die meisten Kranken konnten nach der Entlassung sogleich ihre Arbeit wieder voll aufnehmen.

Der Oberstabsarzt Menzer hat das Verhalten des Gelenkrheumatismus mit und ohne antipyretische Mittel untersucht, wobei er durch das militärische Dienstverhältnis Rückfälle leicht kontrollieren konnte. Er konstatierte sogar 44,2%, das ist fast die Hälfte der Kranken, welche unter der Salizyl-Therapie Rückfälle bekamen, während er ohne Salizyl 18% feststellte. Von den letzteren mußten nur 7,3% als dienstuntauglich entlassen werden, während von den Salizyl-Behandelten nicht weniger als 20%, also beinahe die dreifache Anzahl, dienstuntauglich wurden.

So war der strikte Beweis geliefert, daß es besser ist, den natürlichen Verlauf der Krankheit nicht zu unterbrechen. Mit aller Macht rang sich die uralte Erkenntnis wieder durch von der Unentbehrlichkeit des Fiebers bei der Heilung von Krankheiten.

Jeder Mensch hat Stunden, in denen ihm eine alltägliche Erscheinung so vorkommt, als hätte er sie zum erstenmal gesehen. Eine heiße Verwunderung befällt ihn, und er malt sich aus, wie es wohl ohne die betreffende Tatsache auf der Welt aussehen würde.

In einer solchen Stimmung wollen wir, unverwirrt durch Autorität und Vorurteil, das Phänomen » Fieber« näher betrachten.

Wenn man vom Fieber spricht, so denkt jeder gleich an Krankheitszustände. Die wenigsten wissen, daß das Fieber auch beim gesunden Menschen eine alltägliche Erscheinung ist. Wenn man nämlich die menschliche Temperaturkurve im Laufe des Tages betrachtet, so findet man, daß keine beträchtliche Arbeitsleistung ohne Erhöhung der Blutwärme vor sich geht. Es gibt demnach keine Leistung der Muskeln, der Drüsen (Magen, Darm, Leber usw.) und des Nervensystems ohne eine entsprechende Steigerung der Temperatur. So brauchen wir zum Beispiel für die Verdauung einen Wärmezuwachs von etwa einem halben Grad Celsius. Bei spielenden Kindern und marschierenden Soldaten hat man oftmals 38,5 Grad, ja, bei anstrengenden sportlichen Übungen sogar schon Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius gemessen. Landerer hat die Wärmesteigerung am arbeitenden Muskel als subakute Entzündung bezeichnet. Selbst die Denkarbeit verlangt eine Erwärmung des Gehirns. Man sagt nicht nur bildlich von einem schwierigen Fall: »Das hat mir den Kopf heiß gemacht.«

Die Abkühlung übt auf den Körper, wie wir wissen, gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Sie verlangsamt die Muskelbewegung, vermindert die Ausscheidung der Drüsen (kaltes Wasser zum Beispiel wirkt verdauungshemmend) und verringert die Empfindlichkeit der Nerven.

Diese Erscheinungen erklären sich nach dem Van T'Hoffschen Gesetz (RGT-Regel), wonach bei sinkender Temperatur die Geschwindigkeit der chemischen Prozesse in den Zellen abnimmt, während steigende Wärmegrade die Geschwindigkeit der Reaktionen beschleunigen. Wie sich Zucker im warmen Wasser schneller löst als im kalten, so gehen auch die Lösungs-, Aufsaugungs- und Abscheidungsvorgänge in der Zelle bei steigender Temperatur schneller vor sich als gewöhnlich.

Wärme ist also der unentbehrliche Begleiter jeder Zellenleistung. Wenig Wärme – wenig Leistung, viel Wärme – beschleunigter Stoffwechsel, vermehrte Leistung.

Zweifellos ist auch die Heilung von Krankheiten mit einer gesteigerten Leistung des Organismus verbunden. Daß dieser gesteigerte Betrieb des Körpers nur unter Erhitzung vor sich gehen kann, ergibt sich nach dem Gesagten von selbst, da ja nur in der Wärme die Zellen solchen Leistungen gewachsen sind.

Wenn wir uns nun die verschiedenen Krankheiten vor Augen halten, wie sie etwa durch Verletzungen, Verbrennung, Erfrierung, Erkältung, Vergiftung und Infektion entstehen können, so finden wir bei allen (wie es ja nach dem uns bekannten Gesetz nicht anders möglich ist) ausnahmslos eine Erhitzung, welche wir Fieber, oder, falls auf einen Teil des Körpers beschränkt, Entzündung nennen. Diese Erscheinung ist allen Krankheiten gemeinsam, von der kleinsten Fingerwunde bis zum schweren Typhus. Eine Ausnahme machen nur Erkrankungen, bei denen der Körper überhaupt nicht dazu kommt, sich zur Wehr zu setzen, wie etwa bei schwerer Blutvergiftung oder andererseits bei chronischen Leiden, bei denen der Organismus jeden Heilversuch aufgegeben hat.

Die fieberhafte Erhitzung des Blutes, als Vorbedingung jeder Arbeit und Heilung, also kurz gesagt jeder Leistung, hängt aber nicht nur allein am menschlichen Körper, sondern sie zeigt sich auch ausnahmslos im ganzen Tierreich.

Ja sogar die Zelle, das primitivste Lebewesen, reagiert auf krankmachende Einflüsse mit Fieber. Herz hat den Beweis dafür geliefert, indem er Hefezellen von gewöhnlicher Bierhefe künstlich infizierte. Ihre Temperatur erhöhte und der Stoffwechsel steigerte sich, so daß man von einem regelrechten Fieber sprechen kann. Herz betrachtet deshalb das Fieber als die Grundform der Reaktion, mit der die lebende Zelle Eingriffe aller Art beantwortet.

Wer sich diese Tatsachen vor Augen hält, dem weitet sich der Ausblick, und er erkennt, daß wir es im Fieber mit einer der wichtigsten Grundlagen für die Organisation alles Lebenden zu tun haben.

Ich glaube kaum, daß es ein Naturgesetz gibt, das so augenfällig ist wie dieses. Wenn jemand Atmen oder Blutzirkulation als eine zufällige oder nutzlose Erscheinung erklären wollte, so hätte er nichts behauptet, was mehr widersinnig wäre, als die Annahme, daß Fieber eine unbegründete und nutzlose Erscheinung sei.

»Gebt mir die Macht, ein Fieber zu erzeugen,
und ich will jede Krankheit heilen!«

Prof. Harleß.

»Das Fieber darf nicht nur nicht bekämpft werden, sondern ist ein großes Heilmittel, von dem nur zu wünschen wäre, daß man es künstlich erzeugen könne.«

Rufus v. Ephesus (um 100 v. Chr.).

*

Bei gesteigerter Körpertemperatur gehen die Oxydationsvorgänge im Blut und in den Geweben mit größerer Intensität vor sich. Durch diese gesteigerte Oxydation ist der Körper imstande, selbst größere Mengen von Mikroorganismen und ihre Zersetzungsprodukte zu verbrennen, unschädlich zu machen und auszuscheiden. Wir erkennen im Fieber ein mächtiges Heilmittel der Natur. Danach ist es verständlich, daß, wenn leichte Anzeichen uns von dem Beginn einer Infektion unterrichten, wir zu einem Mittel greifen, mit dem wir imstande sind, einen dem Fieber analogen Zustand herbeizuführen.

A. Frey.

Trotz der Unzahl von Krankheiten, welchen der Mensch ausgesetzt ist, gibt es also nur eine einheitliche Art der Abwehr, das ist die Steigerung der Blutwärme, »Fieber« genannt.

Kein Mensch hat noch eine Heilung erlebt, außer unter dem Bilde des Fiebers oder des teilweisen Fiebers, der »Entzündung«. Und niemand wird je eine andere erleben, mag die Krankheit heißen, wie sie will.

Mit der Gewalt eines großen Gedankens muß es über uns kommen, wenn wir erfahren, daß der Körper ein zentrales, einheitliches Verteidigungssystem besitzt, daß er nur ein Heilverfahren kennt – anstatt der vielen, mit denen wir die Natur korrigieren wollen –, heiße die Krankheit wie immer, nämlich das Fieber.

Wenn wir diesen Gedanken richtig erfassen, so erkennen wir, daß es nicht nötig ist, für jede Krankheit eine Spezialheilmethode zu erfinden. Denn die Verteidigung des Körpers muß im wesentlichen die gleiche sein gegen den Erreger der Tuberkulose, den Gonokokkus, die Spirochaeta Schaudinn, ebenso wie die Harnsäure und das Erkältungsgift. Mag uns auch die Art der sich in jedem Falle bildenden Schutzstoffe und Gegengifte unbekannt bleiben, es genügt, daß wir wissen.

Im Fieber liegt die Ursache aller heilenden Naturkräfte.


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