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Was ist Rheumatismus?

Der Rheumatismus ist eine wahre Plage für die Menschheit, ein Schmerzensbringer und Freudenstörer ersten Ranges. Mit der zähen Lästigkeit eines Parasiten heftet er sich an die Fersen des Menschen, keine Tropenregion ist so heiß, keine Polargegend so kalt, daß er ihm nicht als ungebetener Begleiter dorthin folgen würde. Die Bekämpfung des Rheumatismus ist deshalb ein ernstes Problem.

 

Mit dem Begriff »Krankheit« verbinden wir die Vorstellung einer sichtbaren körperlichen Schädigung. Aber es gibt auch Leiden, bei denen keine anatomischen Veränderungen zu finden sind. Das sind die wahren Schmerzenskinder der medizinischen Wissenschaft. Es geht damit dem Arzt wie einem Elektrotechniker, dessen Meßinstrumente auf der Schalttafel eine Störung anzeigen und der doch dem Kurzschluß nicht auf die Spur kommen kann.

Zu diesen Krankheiten zählt der Rheumatismus. Er hinterläßt seltsamerweise in den schmerzenden Geweben keine krankhaften Veränderungen. Insbesondere Muskelrheumatismen und Neuralgien entschlüpfen dem neugierigen Untersucher unter den Händen. Das wissen auch die Simulanten und »Rentenempfänger« recht gut, weshalb sie das Rheuma zu ihrer Lieblingskrankheit erwählt haben.

Tausende von Personen wurden schon seziert, welche zu Lebzeiten von Rheumatismus und Neuralgien geplagt waren, ohne daß man irgend etwas Auffälliges entdecken konnte. Keine Eiterung oder Anschoppung von Zellen, keine Wucherung und Entartung oder sonstwie krankhafte Erscheinung. Nur beim Gelenkrheumatismus findet man bei langwierigen Fällen auf sekundärem Wege entstandene, anatomische Veränderungen.

Selbst am lebenden Menschen wurde der Versuch gemacht ( Auerbach 1903 und Ad. Schmidt 1918), kleine Stückchen aus dem rheumatischen Muskelgewebe herauszuschneiden. Aber auch hier hat die Natur ihr Geheimnis nicht geoffenbart, denn die mikroskopische Betrachtung zeigte ein gesundes, normales Gefüge des Muskels, blieb also ebenso erfolglos wie die Untersuchung am Seziertisch.

So erscheint es verständlich, daß die Gelehrten über den eigentlichen Sitz der Krankheit immer noch nicht einig sind. Der Kranke weiß freilich, wo es ihm weh tut. Er kann die Stelle genau angeben, und bei der Betastung schreit er ach und weh. Aber da erscheint der Mediziner, welcher ihm erklärt, daß die persönliche Empfindung trügerisch sei. Die schmerzhaften Gefühle würden, wie bekannt, in den Nervenbahnen fortgeleitet, ja erzeugt. Deshalb könne man den Angaben des Kranken nicht trauen; denn ebenso wie Leute mit amputierten Beinen immer noch Schmerzen in den, gar nicht mehr vorhandenen, Zehen und Knien verspüren, ebenso könne der scheinbare Rheumatismus an irgendeiner näheren oder entfernteren Stelle der Nervenleitung sitzen. Schmidt behauptet zum Beispiel, der Schmerz beim Muskelrheumatismus ginge von den Nervenwurzeln im Rückenmark aus; das Rheuma sei also eigentlich eine Neuralgie dieser Nervenwurzeln. Julius Vogel (1854) macht die Nervenscheiden für den krankhaften Zustand verantwortlich, während Goldscheider (1917) den Angriffspunkt auf die im Krankheitsherd stationierten Gefühlsnerven verlegt. – Quincke (1917) ernennt das Bindegewebe zum Sitz des Leidens. Alles Theorien, für welche die Beweise fehlen, hier nur aufgeführt, um die allgemeine Unsicherheit in dieser Frage ein wenig zu demonstrieren.

Eine weitere Eigenschaft des Rheumatismus hat von jeher das Interesse der Ärzte und Laien erweckt, nämlich seine Flüchtigkeit. Das Wandern und Herumziehen der Schmerzen im Körper hat schon den griechischen Arzt Hippokrates (400 v. Chr.) auf die Idee gebracht, daß im Organismus eine »träge«, »schleimige« Flüssigkeit gebildet würde, welche bald gegen die Schleimhäute der Atmungsorgane, bald gegen die Muskeln oder Gelenke hinfließt und sich an den betroffenen Teilen in der Form des katarrhalischen oder rheumatischen »Flusses« äußert. Das Wort »Rheuma« heißt ja auf deutsch nichts anderes wie »Fluß« ( rheo = ich fließe, katarrheo = ich fließe herab).

Stückchen aus dem rheumatischen Muskel eines Lebenden in mikroskopischer Vergrößerung (nach Schmidt).

Gesunder Muskel in mikroskopischer Vergrößerung zum Vergleich mit dem obigen Bilde. Mit Ausnahme kleiner (normaler) Verschiedenheiten im Bau ist gegenüber dem rheumatischen Muskel kein Unterschied zu bemerken.

Katarrh und Rheumatismus entstünden demnach aus ein und demselben Krankheitsstoff. Es ist bezeichnend, daß die Ausdrücke Katarrh und Rheuma im Mittelalter absolut das gleiche bedeuteten, nämlich eine Krankheit, welche durch einen im Körper kreisenden Giftstoff ausgelöst wird. Dieser giftige Fluß solle durch Erkältung entstehen, daher der Ausdruck »kaltvergiftet«, welcher in alten Büchern an Stelle von »erkältet« zu finden ist. In der französischen Sprache heißt übrigens heute der Katarrh noch » rhume« und erkältet » enrhumé«.

Eine Richtung, welche der Franzose Lepois(1600) und der Italiener Santoro (1612) begründeten, läßt das im Blute kreisende Gift aus der unterdrückten Hautausscheidung bei plötzlicher Abkühlung aus »zurückgeschlagenem« Schweiß entstehen.

Fuller (1852) und Richardson (1860) suchten den giftigen Stoff des Flusses in der im menschlichen Stoffwechsel entstehenden Milchsäure, während Haig (1892) in seiner bekannten Theorie die Harnsäure als Ursache sowohl der Gicht wie auch des Rheumatismus bezeichnet. Heilner (1916) behauptet, daß weder die Harnsäure noch andere derartige Substanzen an der Krankheit schuld seien, sondern – es handelt sich besonders um Gelenkrheumatismus – das Versagen des natürlichen »Gewebschutzes«. Er nimmt an, daß sich die verschiedenen Gewebe im Körper durch eigenartige Säfte vor krankhaften Ablagerungen schützen. Fehlen diese Säfte, so geht die Ablagerung ungehindert vor sich.

Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wollte man alle Geheimnisse durch elektrische Strömungen erklären. Greiner (1841) deutete die rheumatischen Erscheinungen als eine Störung unserer Beziehungen zum »kosmisch-tellurischen Lebensgeist«. Als die Wunder des Radiums entdeckt wurden, hat man natürlich die radioaktiven Strömungen in der Atmosphäre zur Erklärung herangezogen, insbesondere dafür, daß die Rheumatiker wie lebende Barometer das Wetter vorhersagen können.

In neuerer Zeit verfiel man in das Extrem, alle Krankheiten durch die Tätigkeit der Bakterien zu erklären. Selbstverständlich wurde auch der Rheumatismus eilfertig sogleich als Infektionskrankheit definiert.

Immerhin haben sich die meisten Vertreter der Bakterientheorie zu einem Kompromiß herbeigelassen. So erklärt Leube (1901), daß die Erkältung nur die auslösende Ursache bilde, indem sie den Körper schädigt und so die Ansiedlung von Bakterien begünstigt. Es ist zu beachten, daß in dem Krankheitsherd beim echten Erkältungsrheumatismus niemals Bakterien gefunden werden. – Ad. Schmidt glaubt hingegen, daß die Bakterien, nachdem sie an der kranken Stelle nicht aufzufinden sind, irgendwo an einem anderen Orte des Körpers sitzen, von dort aus das Blut mit ihren giftigen Abfallprodukten überschwemmen und so das Rheuma hervorrufen. In diesem Falle wäre die Erkältung als Ursache ganz ausgeschaltet, was aller Erfahrung widerspricht.

Das Wesen des Rheumatismus läßt sich offenbar nur deuten, wenn wir zuvor wissen, was Erkältung ist.

Die Idee der Alten, daß die Erkältung eigentlich eine innere Vergiftung sei, gewinnt mit der fortschreitenden Wissenschaft immer mehr an Wahrscheinlichkeit. Schon das Erscheinen der Krankheit, entfernt von den abgekühlten Körperteilen, zum Beispiel Schnupfen nach Abkühlung der Füße, läßt vermuten, daß der Krankheitsstoff durch die Blutbahn transportiert wird. Diese Vermutung wird bestärkt durch das Auftreten von Schwellungen an den Drüsen, welche als Giftfilter bekannt sind, auch die fieberhaften Temperatursteigerungen lassen sich auf diese Weise erklären. Man konnte sich nur lange Zeit nicht mit dieser naheliegenden Idee befreunden, da es unwahrscheinlich schien, daß der Körper aus sich selbst ein derartiges Gift produziere.

Das fehlende Zwischenglied zu diesem Gedankengang hat die Blutforschung der letzten Jahrzehnte geliefert.

Das wichtigste wird edelste Baumaterial für die Zellen, aus denen sich unser Körper zusammensetzt, ist das Eiweiß, eine äußerst komplizierte chemische Verbindung. Jede Tier- und Pflanzengattung besitzt ihr eigenes Eiweiß. So gibt es ungeheuer viel verschiedene Eiweiße, welche sich nur durch geringfügige Abweichungen in der Zusammensetzung unterscheiden.

Aus den Nahrungsmitteltabellen, mit denen wir während des Krieges ausgiebig traktiert wurden, weiß jedermann, daß das Eiweiß, welches sowohl in der pflanzlichen Nahrung, besonders aber im Fleisch und, wie der Name sagt, im Hühnerei enthalten ist, als Nahrungsmittel unentbehrlich ist.

Spritzt man aber zum Beispiel einem Kaninchen das harmlose Eiweiß vom Hühnerei, also von einer fremden Tiergattung, in die Blutbahn ein, so zeigen sich heftige Vergiftungserscheinungen, Krämpfe und innere Blutungen. Dasselbe wäre natürlich geradeso beim Menschen der Fall, ebenso wie man durch Einspritzung von Hammelblut und gewöhnlicher Kuhmilch Fieber erzeugen kann und auch zu Heilzwecken schon gelegentlich erzeugt hat. Auch das tödliche Schlangengift, welches von der Schlange mit ihrem Giftzahn wie mit einer natürlichen Injektionsspritze in die Blutzirkulation des Opfers eingeführt wird, besteht aus eiweißartigen Substanzen, welche, vom Magen aus dem Körper zugeführt, ebenso harmlos und unschädlich sind wie das Hühnerei.

Daraus kann man entnehmen, daß der Körper gegen fremdes Eiweiß ganz abnorm empfindlich ist. Er wehrt sich eben verzweifelt gegen alles, was ihm den fein abgestimmten Bestand seiner inneren Chemie verderben könnte. Und da scheint es, daß er Stoffe, welche seiner eigenen Substanz sehr ähnlich sind, am meisten fürchten muß.

Ja, um Vergiftungserscheinungen hervorzurufen, bedarf es nicht einmal des fremden Eiweißes. Sogar die eigene Körpersubstanz kann dem Organismus gefährlich werden, wenn sie kleine, unvorhergesehene Veränderungen erleidet. Derartige Eiweißgifte können als Zwischenprodukte eines regelrechten Stoffwechsels oder im Verlauf eines gestörten Stoffwechsels entstehen. Wie bei gehemmter Luftzufuhr in einem Ofen das giftige Kohlenoxyd erzeugt wird, so müssen wir uns vorstellen, daß durch Hemmungen in der Oxydation aus dem Körpereiweiß giftige Zerfallprodukte hervorgehen können.

Eine solche Eiweißzerstörung findet zum Beispiel bei Verbrennungen statt. Darum tritt, wenn sich die Verletzung über große Hautflächen erstreckt, der Tod plötzlich unter den Symptomen einer schweren Vergiftung ein. Man hat gefunden, daß der Urin Verbrannter, wenn man ihn Tieren einimpft, als heftiges Gift wirkt. Ähnliche Folgen wie die Verbrennung hat ja auch die Erfrierung, welche in höheren Graden von der Verbrennung in keiner Weise zu unterscheiden ist. Man kann sich an flüssiger Luft genau so verbrennen wie an glühendem Eisen. Pfeiffer hat auf Grund eingehender Versuche solche Eiweißgifte näher definiert, Erklärungen, auf welche wir hier nicht weiter eingehen können. Man kann sich dies ähnlich vorstellen wie die Bildung des »Leichengiftes« im toten Körper, welches ebenfalls durch Eiweißzersetzung entsteht und, in die Blutbahn eingespritzt, gefährliche Wirkungen erzeugt.

Eine Bildung solcher Gifte, welche man wissenschaftlich Toxalbumine, Ptomaine nennt, geht auch beim Sonnenbrand (Gletscherbrand) vor sich. Die intensive Wirkung der ultravioletten Strahlen in großen Gebirgshöhen bringt die noch ungeschützte (ungebräunte) Haut zur Entzündung. Es kommt anscheinend zur Bildung von Eiweißzerfallstoffen, welche ein starkes Fieber erzeugen, das in extremen Fällen schwere Formen annimmt.

Auch die intensive Röntgenbestrahlung hat derartige Folgen. Sie erzeugt nicht nur örtliche Verbrennungen, sondern auch allgemeine Störungen, die man als »Röntgenkater« bezeichnet hat.

Wenn man den Harn von Menschen, die sich Erfrierungen und Frostbeulen zugezogen haben, untersucht, so findet man oft Veränderungen, welche für Vergiftungen charakteristisch sind.

Der Rheumatismus entspringt aus den kräftigen Wurzeln der starken oder andauernden Erkältung, oder aber aus einer an sich unbedeutenden schwachen Erkältung, welche erst zur Krankheit führt durch eine weitere Hilfsursache, wie: erbliche Belastung, Verweichlichung, Ermüdung, Gefäßeüberreizung, erschöpfende Krankheiten.

Schade (1919) hat bewiesen, daß tatsächlich Veränderungen im abgekühlten Gewebe vor sich gehen. Schon äußerlich fühlt sich ein solches Gewebe härter, teigiger und weniger elastisch an als normal. Aber auch die Funktion leidet unter der Kälte. Denn diese macht die Muskeln klamm, versetzt sie in einen schwerfälligen, trägen Zustand. Mit kalten Händen kann man bekanntlich nicht schreiben und Klavier spielen. Auch die Empfindlichkeit der Nerven läßt nach, so daß Verletzungen je nach dem Grade der Abkühlung wenig oder gar nicht mehr gefühlt werden. Kann man doch kleine Operationen mit Hilfe der Vereisung durch den Äther-Spray ganz schmerzlos ausführen.

Den beschriebenen Kältezustand der Gewebe nennt Schade » Gelose«. Die Gelose ist das äußere Zeichen für eine innerliche Veränderung in der Zelle selbst. Wie durch Untersuchungen mit besonders stark vergrößernden Mikroskopen nachgewiesen wurde, nimmt die Feinheit der Eiweißverteilung in den Zellen ab, die Zellflüssigkeit neigt zur Ausfällung oder Ausflockung. Anscheinend geht damit auch eine Veränderung des Eiweißes selbst einher, welches als Gift in die Blutbahn gelangt und die Erkältungskrankheiten erzeugt.

Wenn diese tatsächlich durch ein derartiges Gift hervorgerufen werden, so müßte man eigentlich Katarrhe und Rheumatismus auch durch andere Gifte gewissermaßen künstlich erzeugen können. Und das ist wirklich der Fall. Der Katarrh zum Beispiel, welcher durch Einatmung von Blütenstaub, also von körperfremdem Pflanzeneiweiß (Heuschnupfen), entsteht, gleicht dem Erkältungskatarrh wie ein Ei dem anderen. Ähnlich ist es mit den Reizkatarrhen der Zementarbeiter und der Arbeiter in den Thomasschlackenmühlen. Viele chemische Gifte und insbesondere auch die Absonderung von Bakterien rufen ähnliche Rheumatismen oder Katarrhe hervor wie die Erkältung. Ich erinnere nur an den »Jodschnupfen« als Begleiterscheinung beim Gebrauch von Jod, an den »Chinarheumatismus« als Folge von Chinin, die Rheumatismen bei Quecksilber- und Bleiarbeitern, bei der medikamentösen Verwendung von Brom. Zahlreiche Infektionskrankheiten, Typhus, Cholera, Scharlach, Masern, Tripper, Syphilis, Rotlauf sind häufig von rheumatischen Schmerzen begleitet. Die »Serumkrankheit«, welche dadurch entsteht, daß bei der Einspritzung eines Heilserums fremdes Eiweiß in die Blutbahn gelangt, spielt sich gewöhnlich unter heftigen rheumatischen Schmerzen ab.

Zweifellos haben die Muskeln, Gelenke und Nerven eine Affinität, eine Anziehungskraft für alle möglichen Gifte. Die meisten schädlichen Stoffe, welche herrenlos im Körper herumziehen, werden an ihnen festgeklebt und zurückgehalten. Der Grund dafür ist augenscheinlich, daß die schädlichen Substanzen aus der Zirkulation entfernt und dadurch verhindert werden sollen, in lebenswichtigen Organen Schaden zu stiften. Dazu bedarf es einmal der Festbindung und Verankerung in den Gelenken und Muskeln und anderseits der gewaltsamen Ruhigstellung dieses Giftdepots, da jegliche Bewegung eine vermehrte Blutzirkulation hervorruft.

Diese heilsame Fixierung der Gewebe geschieht mit dem Schmerz. Darum ist der Schmerz, wenn auch oft peinlich, lästig, ja unerträglich, der ihn sticht und reißt und mit eisernen Fesseln festbindet, ein wahrer Freund des Menschen. Denn er ist notwendig, um die verbotene Bewegung zu verhindern und dem Körper die ungestörte Regeneration zu ermöglichen.

Meine Leser, welche sich schon ein wenig in medizinischen Dingen auskennen, werden nun einwenden, daß der Körper nicht nötig habe, die Gifte in die Organe der Bewegung zu versenken. Sie werden mich darauf hinweisen, daß wir noch eine ganze Anzahl von Einrichtungen zur Unschädlichmachung von Giften besäßen, insbesondere die Lymphdrüsen, welche den wichtigen Organen als Giftfiltrierapparate, als »Kurzschlußsicherungen« vorgeschaltet seien. Darauf ist zu entgegnen, daß die Lymphdrüsen dem Ansturm nur genügen können, wenn es sich um kleinere Mengen schädlicher Stoffe handelt, nicht aber, wenn ein plötzlicher Notstand eintritt. Ohne diese Drüsen wäre übrigens der Rheumatismus zweifellos noch viel häufiger. Sticker (1916) konstatiert, daß die Ausrottung der lymphatischen Schutzorgane, wie sie zum Beispiel als Operation der Rachenmandeln eine Zeitlang in Mode war, eine erhöhte Disposition zum Rheumatismus schafft.

Jetzt taucht die Frage auf: » Warum erkälten sich nicht alle Menschen in gleicher Weise? Warum kennt der eine den Rheumatismus nur dem Namen nach, während beim anderen schon ein leises Lüftchen die gefürchteten Schmerzen erzeugt? Unterscheidet sich der Organismus des Rheumatikers durch irgendeinen Fehler in Bau und Funktion von dem des rheumatismusfreien Menschen?«

Damit komme ich auf die natürlichen Schutzeinrichtungen des Körpers gegen Erkältung zu sprechen.

Der Körper ist ängstlich darauf bedacht, seine Innentemperatur von etwa 37 Grad Celsius allen Hindernissen zum Trotz zu bewahren; denn die Erhaltung der Körperwärme ist eine der wichtigsten Grundlagen für unsere Existenz.

Dazu stehen ihm zwei Wege offen. Einmal die Vermehrung oder Verminderung der Wärmeerzeugung, dann die Regulierung der Wärmeabgabe durch die Haut.

Querdurchschnitt durch eine Arterie (Schlagader) von normaler Lichtweite. Innen das Innenhäutchen (Endothel), daran die in Falten gelegte elastische Zwischenhaut, weiter die breite Zone der Muskelfasern und außen das netzartige Bindegewebe, welches die Arterien mit den übrig. Geweben verbindet.

Wie der Kühler des Automobils mit seiner großen Oberfläche dazu dient, die Temperatur des zirkulierenden Wassers und damit den Motor abzukühlen, so würde auch die blutreiche Hautoberfläche als ein unerwünschter Kühler funktionieren, wenn sie, etwa durch einen kalten Luftzug, der Abkühlung ausgesetzt ist. Eine rasche Temperaturerniedrigung im Innern des Körpers wäre die Folge. Um dieser Gefahr zu begegnen, ziehen sich die zahlreichen, auf der ganzen Haut verästelten Blutgefäße so eng zusammen, daß nun die Zirkulation fast ganz abgedrosselt wird.

Dieselbe Arterie bei Abkühlung. Die Lichtung ist verengt, der Blutstrom ist entsprechend abgedrosselt.

Die Gefahr einer schädlichen Abkühlung der gesamten Blutmenge ist für den Augenblick behoben. Damit ist auch die Zeit gewonnen, durch Heizung des innerlichen Ofens die Wärmemenge dem Bedarf anzupassen.

Bei Eintritt der Reaktion. Das Gefäß ist stark erweitert, der Blutstrom findet offene Bahn.

Nun schädigen, wie bekannt, Abkühlung und Blutleere das Gewebe. Seine Konsistenz ändert sich, in den Zellen kommt es bei längerer Dauer zur Ausflockung des Eiweißes, kurzum, es treten die Erscheinungen der »Gelose« auf, über welche wir schon gesprochen haben. Die Zeit drängt, die abgekühlte Hautstelle darf nicht lange schutzlos der Kälte überlassen bleiben, wenn der Schaden nicht immer größer werden soll. Der Körper muß seinen eigenen Arzt spielen und schleunigst nachholen, was er, in der Sorge um die lebenswichtige Innentemperatur, vorher notgedrungen versäumte.

Dazu bedient er sich der sogenannten Reaktion. Sobald der innere Ofen nämlich geheizt ist, daß er das Wärmemanko ausgleichen kann, schickt der Organismus vermehrte Truppen an die Stelle, an welcher seine Patrouille augenblicklich unterlegen ist, indem er eine warme Blutwelle in das vorher im Stich gelassene Hautorgan sendet. Die eben noch verengten Gefäße an der Hautoberfläche erweitern sich mächtig, die eben noch blasse, blutleere Haut rötet sich, von einer Blutwelle durchpulst, viel stärker als im normalen Zustande. Das Experiment, welches die Abblassung und nachfolgende Hautrötung zeigt, kann jeder an sich selbst machen, indem er die Hand für kurze Zeit in kaltes Wasser eintaucht.

Die Reaktion hat demnach den Zweck, Gewebeschädigungen in den abgekühlten Organen wieder rückgängig zu machen und auszubessern, etwa entstandenes »Erkältungsgift« zu neutralisieren und die neuerliche Bildung desselben zu verhindern. Sie ist nichts anderes als eine Art kurze Entzündung mit allen Heilwirkungen der Entzündung, welche wir später ausführlicher besprechen wollen.

Wie das Ohr des Pferdes fortwährend in Bewegung und auf der Lauer ist, um Geräusche aufzufangen, so soll dieses wunderbare Spiel der Gefäße stets in argwöhnischer Bereitschaft sein, die Schwankungen der Temperatur zu parieren. Zu dieser Fähigkeit wird es durch Übung gestärkt, durch Mangel an Übung, in diesem Fall Verweichlichung genannt, geschwächt. Darum reagieren die luftgewohnten Körperteile, wie Gesicht, Hände usw., besser auf Wärme und Kälte als die durch Kleider geschützte Körperoberfläche.

Nicht nur die Verweichlichung stumpft das Spiel der Gefäße ab, sondern auch der Zustand allgemeiner Ermüdung und Erschöpfung. Die Erkältung überfällt geradezu den Menschen in seiner Schwäche, weshalb Bauern, Knechte, Mägde, Gärtner, Zimmerleute, Taglöhner und andere schwer arbeitende Berufe oft trotz bester Konstitution der Erkältung nicht widerstehen können. Nach Weintraud (1913) nimmt die Zahl der Gelenkrheumatismen beim Heere stets zu, wenn große Anstrengungen von den Truppen verlangt werden.

Ein weiteres Moment, welches die Entstehung des Rheumatismus begünstigt, ist der immer mehr überhandnehmende Mißbrauch künstlicher Reizmittel, allen voran des Alkohols und des Tabaks. Durch diese Genußgifte werden künstlich starke Reize auf das Gefäßsystem ausgeübt. Um das gewünschte Lustgefühl hervorzubringen, bedarf es immer gesteigerter Mengen, und schließlich reagiert das Gefäßsystem nur mehr auf scharfe und immer schärfere Reize. Derart abgestumpfte Blutgefäße antworten aber auf schwache Reize, wie zum Beispiel geringe Kälteunterschiede, nicht mehr in genügender Weise. Mangels einer prompten Reaktion geht die schleichende Schädigung der Gewebe ungestört vor sich, damit die Bildung des Erkältungsgiftes und in weiterer Folge das Entstehen des Rheumatismus. Bekannt ist ja, daß Alkoholberauschte den Erkältungen auffallend ausgesetzt sind. Auch Narkotisierte mit eingeschläfertem Gefäßsystem müssen vorsichtig vor Abkühlungen bewahrt werden.

Raucher 50% Vererbung 36% Alkoholiker 12%

W. Arnoldi hat festgestellt, daß unter seinen rheumatischen Patienten nicht weniger als 50% (d. i. die Hälfte) starke Raucher, 12% (d. i. ein Achtel) Trinker waren, während bei 36% (d. i. ein Drittel) das Vorkommen von Rheumatismus auf vererbte Anlage hinwies.

W. Arnoldi (1918) hat eine sehr interessante Statistik aufgestellt, aus welcher hervorgeht, daß unter seinen rheumatischen Patienten nicht weniger als 50 % starke Raucher und 12 % Alkoholiker waren. Ein Ergebnis, welches für die Richtigkeit unserer theoretischen Erwägungen spricht. Auch dieser Autor kommt im Verfolg seiner Untersuchungen zu der Ansicht, daß das Rheuma durch ungenügende Erweiterung der Gefäße bei Arbeit und Abkühlung entsteht.

36 % der Rheumatismusfälle führt er auf erbliche Anlage zurück. Ob diese Anlage einfach in einer angeborenen stumpferen Reaktion des Gefäßsystems besteht, ist experimentell noch zu beweisen.

Hatschek (1905) hat oft beobachtet, daß bei Rheumatikern die Reaktion unvollkommen eintritt. Ich selbst habe vielmals die Reaktionsprobe bei Rheumatikern angestellt, von denen viele eine blasse, blutleere Haut haben, mit dem Erfolg, daß die reaktive Rötung meist ungewöhnlich lang ausblieb.

Nachdem der Schutz des Körpers in der Reparatur des Kälteschadens durch die nachträgliche Blutwelle, Reaktion genannt, besteht, kann es uns nicht wundernehmen, daß starke Kältereize, welche auch ein apathisches Gefäßsystem in Bewegung setzen, im allgemeinen weniger Schaden anrichten als leise, unter der Reizschwelle liegende. Daher ist der schwache Zugwind, welcher kaum fühlbar ist, als Erkältungsgelegenheit so gefürchtet.

Diese Figuren zeigen das Auftreten des Muskelrheumatismus an den verschiedenen Körperstellen. Die mehr oder weniger starke Schraffierung soll die Häufigkeit des Befallenseins der einzelnen Muskeln andeuten (nach A. Schmidt).

Der Prager Professor Chodounsky (1905) hat in heroischer Weise dadurch, daß er sich extremen Temperaturen in schroffem Wechsel aussetzte, sich künstlich erkälten wollen. Dies gelang ihm aber nicht; denn ein Körper von starker Konstitution vermag mit Hilfe der Hautregulierung und inneren Wärmeproduktion auch solche Schäden auszugleichen. Anders dagegen ist es, wenn der Abkühlungsreiz unter der Schwelle des Bewußtseins liegt. Rubner (1890) hat versuchsweise Luftströme von etwa 1 Zentimeter Geschwindigkeit in der Sekunde, also 36 Meter in der Stunde, eine Geschwindigkeit, die so gering ist, daß wir sie nicht mehr wahrnehmen, auf den Arm einer Versuchsperson wirken lassen. Diese empfand nach einiger Zeit Kälte, ohne zu wissen, woher sie rührte. Rubner kommt zu dem Schlusse: »Die geringfügigste Luftbewegung, für unsere Instrumente unmeßbar und für die Haut nicht wahrnehmbar, wird wirksam. Was man Zug nennt, sind immer schon gröbere Luftbewegungen; nach meinen Ergebnissen kann man also auch von einem Zug getroffen werden, den wir nicht ahnen und dem wir nicht ausweichen können, weil wir ihn nicht sofort, sondern erst an den Folgen und vielfach zu spät erkennen,«

Der gut reagierende Mensch verhält sich wie ein empfindliches Präzisionsthermometer, welches auf geringe Schwankungen schon anspricht, weshalb sich bei diesem die schleichende Kälteschädlichkeit in bescheidenen Grenzen hält. Stumpfe Gefäße und Nerven dagegen lassen eine erhebliche Schädigung zu, ohne daß die erlösende Reaktion eintritt.

Das Resultat unserer Untersuchungen ist also: Der Erkältungsrheumatismus ist eine Selbstvergiftung, hervorgerufen durch eine Abkühlung, welche durch die Hautreaktion und die innere Wärmeproduktion nicht sofort neutralisiert wurde.


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